The Crystal Palace von Kalliope ================================================================================ Kapitel 7: Tanztheater ---------------------- Sonnenstrahlen drangen durch den geblümten Vorhang in das Doppelzimmer und zauberten helle, farbige Flecken an Wände und auf Bettdecken. Felilou streckte sich schnurrend, ließ den Schwanz ein wenig kreisen und stupste dann seine Trainerin maunzend mit der Nase an, bis diese ebenfalls die Augen öffnete und stöhnend einen Blick auf die Anzeige der Digitaluhr warf. „Neun Uhr schon?“ Lyra drehte sich nach ihrer rhetorischen Frage vom Bauch auf den Rücken, kraulte das lilafarbene Katzenpokémon hinter den flauschigen Ohren und betrachtete das Farbenspiel neben sich an der sonst schneeweißen Wand. Ihr Blick wanderte weiter zu Cassandra, die völlig mit ihrer Bettdecke verknotet war und – genau wie Golbit neben ihr – noch tief und fest schlief. Bei dem Anblick von Cassies himmelblauem Schlafanzug, auf dem kleine Bibor und Sniebel abgebildet waren, die gemeinsam Erdbeer-Cupcakes aßen, huschte ein Grinsen über Lyras Gesicht. Sie selbst trug ein marineblaues T-Shirt, das ihr mindestens zwei Größen zu groß war und sich deshalb gut als Nachthemd missbrauchen ließ. Vorne über der Brust prangte in weißen Lettern der Schriftzug „Supertrainer“ – sie wusste nicht mehr, woher sie dieses Shirt überhaupt hatte, vermutlich hatte sie es in der Wäscherei des Waisenhauses abgegriffen und nicht auf den Spruch geachtet. Als Bewegung ins Zimmer kam, weil Felilou und Lyra aufstanden, wachte auch Golbit auf und blinzelte ihnen neugierig entgegen. „Golb!“ Es schien ihnen wohl so eine Art guten Morgen zu wünschen, jedenfalls antwortete Felilou mit einem gedehnten miauen und trottete anschließend wieder Lyra hinterher. „Cassie, aufwachen“, rief Lyra Cassie zu, während sie sich frische Unterwäsche und Socken aus ihrem Rucksack nahm. Als sie sah, dass ihre weißhaarige Freundin sich murrend rührte, schüttelte sie lächelnd den Kopf und lud sich auch noch ihren dünnen Frühjahrspullover und die Jeans auf. „Ich bin jetzt im Badezimmer, wir können ja dann nachher frühstücken gehen und anschließend ins Tanztheater.“ „Ist gut“, brummte Cassie und zog sich die Bettdecke über das Gesicht. Nachdem Lyra das Zimmer verlassen hatte, fand sie jedoch auch keinen Schlaf mehr, denn Golbit turnte mit seinem nicht geringen Gewicht am Fußende des Bettes herum, sprang schließlich auf den Boden und lief auf der Suche nach Beschäftigung umher. „Stell nichts an“, mahnte Cassie ihr Pokémon, schlug grummelnd die Decke zur Seite und stand ebenfalls auf, wobei sie mehrmals herzhaft gähnen musste. Die viele Lauferei an den beiden Vortagen hatte sie sichtlich erschöpft, aber im Moment überwog trotzdem die Freude, dass sie fernab vom Waisenhaus in Ebenholz City nun in Teak City waren und den Kimono-Girls später einen Besuch abstatteten. Nachdem sich beide Mädchen im Badezimmer fertig gemacht hatten, gingen sie zusammen mit ihren Pokémon in die Kantine des Pokémoncenters, wo sie sich Brötchen, Quark und Marmelade holten. Felilou bekam Pokémonfutter und ein kleines Schälchen Milch, für Golbit hatte die hiesige Schwester Joy Cassandra eine kleine Tüte mit Spezialfutter geschenkt, das extra für junge Pokémon war und viele Kalorien und Vitamine enthielt, damit ihr erhöhter Energiebedarf gestillt werden konnte. Besonders für Golbit war dies wichtig, da es schon bald über neunzig Kilogramm Gewicht angesammelt haben würde. Sie beeilten sich unbewusst mit dem Essen, packten Geldbeutel, Taschentücher und ein paar Kleinigkeiten in ihre Jackentaschen und machten sich schon nach einer halben Stunde auf den Weg in die Stadt. Teak City war nicht riesig, man konnte alles bequem zu Fuß erreichen, wenn man nichts gegen einen kleinen Fußmarsch einzuwenden hatte. Nach einer Viertelstunde hatten sie das Tanztheater erreicht und blieben vor dem eindrucksvollen Gebäude stehen. Kunstvoll ragte das Tanztheater zwischen Blumenbeeten und sauberen Wegen auf. Es war eindeutig im asiatischen Stil gehalten und man konnte dem Theater ansehen, dass es schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, dennoch strahlte es Würde, Schönheit und Eleganz aus – diese Attribute trafen auch auf die Kimono-Girls im Inneren zu, wie Lyra und Cassandra gleich feststellen durften. Die beiden Mädchen stiegen einige wenige Stufen zur Veranda hinauf, schoben dann die Schiebetür zur Seite und traten in einen Vorraum. An einer Wand stapelten sich die Sitzkissen, die bei den Vorführungen im großen Raum auf dem Boden lagen. Die Papiertür zu dem Raum mit der Bühne stand weit offen und so bemerkte man ihr Kommen sofort. Eine junge Frau mit einer kunstvoll hochgesteckten Frisur kam auf sie zu, verbeugte sich leicht zur Begrüßung und machte sie dann darauf aufmerksam, dass das Theater noch geschlossen war und Besucher während der Probenzeiten nicht erwünscht waren. „Oh, wir sind nicht deshalb hier“, sagte Cassie sofort und suchte Bestätigung in Lyras Blick. „Wir waren gestern Abend bei dem Arenaleiter Janosch und er hat uns zu dem Weisen Aero und seiner Schwester Aira geschickt. Wir würden gerne mit Aira reden, ist das möglich?“ „Mit Meisterin Aira?“ Das Mädchen runzelte nachdenklich die Stirn und wirkte etwas verunsichert. „Ich frage nach, einen Moment bitte.“ Während sie zu einem anderen, schon etwas älteren Kimono-Girl lief, bewunderten Lyra und Cassie den Kimono, der mit dunklen Rankenmustern bestickt war. Schon nach wenigen Sekunden kehrte die Kimono-Girl-Schülerin zurück und schenkte ihnen ein höfliches Lächeln. „Bitte entschuldigt, dass ihr warten musstet.“ „Oh, das macht nichts“, meinte Lyra sofort und erwiderte das Lächeln. Ein wenig befremdlich kamen ihr diese Kimono-Girls ja schon vor; sie wusste einfach nicht, wie sie sich ihnen gegenüber richtig verhalten sollte. Nach einigen Minuten betrat eine alte Frau den Raum und sofort nahm sie alle Präsenz für sich ein. Sie strahlte etwas aus, was ihr sofort den größten Respekt aller Anwesenden sicherte und auch Lyra und Cassandra konnten sich dieser unsichtbaren Kraft nicht erwehren. „Ihr habt nach mir verlangt?“ Die langen, grauschwarzen Haare waren zu einem Knoten am Hinterkopf gebunden, in dem eine gelbe Lilie zusammen mit unauffälligem Goldschmuck steckte. „Folgt mir.“ Die alte Dame winkte sie zu sich heran und ging dann sofort einen schmalen Gang entlang ans andere Ende des Tanztheaters, wo sich ihr Zimmer zu befinden schien. Nachdem sie sich auf einen gemütlich aussehenden Stuhl gesetzt hatte, deutete sie auf eine antike Holzbank, auf der Lyra und Cassie sich niederließen. „Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns nehmen, Meisterin Aira.“ Lyra versuchte möglichst viel Ehrerbietung in ihre Stimme zu legen, wobei sie sich nicht einmal großartig anstrengen musste, denn in Airas Anwesenheit geschah dies automatisch. Erst jetzt fiel Lyra zudem auf, dass halb unter dem Mahagonischreibtisch ein mit Kissen gefülltes Körbchen stand, in dem sich ein Psiana zusammengerollt hatte und hin und wieder mit den Ohren zuckte, wie es auch Felilou tat, wenn es mit geschlossenen Augen der Umgebung folgte. Aira bedeutete ihnen mit einer schlichten Handbewegung zu schweigen. „Ich weiß, warum ihr hier seid. Lyra Hawkins und Cassandra… White, richtig?“ Die beiden nickten, wagten aber nicht zu sprechen, bevor Aira geendet hatte. Zwar fragten sie sich, woher Aira von ihnen wusste, aber genauer dachten sie darüber nicht nach. Airas wache Augen beobachteten die beiden Mädchen genau und registrierten jeden Atemzug, den sie tätigten. Schließlich legte das älteste Kimono-Girl die Hände ineinander und lehnte sich zurück. „Ich bin bereit euch bei eurer Suche nach Vergangenheit und Wahrheit zu helfen, allerdings werde ich nur mit einer von euch sprechen. Entscheidet euch, wer geht und wer bleibt, die Bank ist nicht breit genug für zwei Personen.“ Augenblicklich fühlte Lyra Trockenheit in ihrem Mund. Natürlich war es unbequem sich zu zweit auf die Bank zu quetschen, aber Airas Forderung versetzte ihr einen Stich mitten ins Herz. Hier ging es um Cassies Vergangenheit, um ihre wirren Träume, um ihr mysteriöses Erscheinen als Kind vor dem Waisenhaus und auch um Golbit, aber sie war immer an Cassies Seite gewesen, hatte sie da nicht das Recht auch jetzt hier zu sein? Cassandra fühlte sich ebenso schlecht, denn sie rutschte von einer Pobacke auf die andere und hielt den Blick gesenkt. Betretenes Schweigen machte sich zwischen ihnen breit, bis Lyra zuerst sprach und für sich selbst schon eine Entscheidung getroffen hatte. „Ich werde Cassies Glück nicht im Weg stehen, aber versichern Sie mir vorher erst, dass Sie auch wirklich Informationen für uns haben.“ Aira lächelte für einen Moment, dann hatte sie wieder ihren neutralen Gesichtsausdruck. „Ich könnte euch vieles erzählen, doch in der Tat besitze ich einige Erinnerungen, die euch weiterhelfen könnten.“ „Lyra…“ „Ist schon gut“, unterbrach sie ihre beste Freundin und lächelte ihr aufmunternd zu. „Das hier ist wichtig für dich und wenn Aira nur mit einer von uns reden möchte, dann werde ich gehen und draußen auf dich warten.“ Cassandra erwiderte ihren Blick, bis sie plötzlich aufstand und Lyra mit sich zurück in den Stand zog. „Es tut mir leid, Meisterin Aira, aber ich bin nur hier, weil ich Lyra habe. Wenn Sie nicht mit uns beiden reden wollen, werden wir das akzeptieren, doch ich werde Lyra nicht ausschließen. Wir sind ein Team und wenn sie geht, gehe ich auch.“ In Lyras Augen blitzte etwas auf, dann schaute sie direkt in Airas Gesicht, die noch immer ihr Pokerface trug. „Damit vertust du eine große Chance, Cassandra.“ „Mag sein, aber es gibt in dieser Angelegenheit nur ein Wir bei Lyra und mir.“ Cassie verbeugte sich höflich vor der Meisterin, nickte Lyra dann zu und verließ leicht angesäuert das Tanztheater. Lyra folgte ihr und sobald sie vor der Tür an der frischen Luft waren, fiel sie der Weißhaarigen um den Hals. „Das hättest du nicht tun müssen, Cassie.“ „Du hättest doch dasselbe für mich getan und ich denke, dass es an der Zeit ist, dass ich das auch einsehe. Wir sind doch beste Freundinnen und diese Sache soll nicht zwischen uns stehen.“ Entschlossen nickte Lyra. „Danke.“ Gerade machten sie sich auf den Weg zurück zur Straße, als ihnen das junge Kimono-Girl von vorhin hinterherrief. „Wartet bitte auf mich!“ Sie blieben stehen und schauten sichtlich überrascht zu dem Mädchen, das einen in dunklen Stoff gehüllten Gegenstand vor sich her trug. „Meisterin Aira schickt mich, um euch das hier zu geben. Sie lässt ausrichten, dass ihr die erste Prüfung bestanden habt. Nur wahre Freundschaft ist ein Band, das auch in allen Situationen halten kann.“ „Was meint sie damit?“ Irritiert nahm Cassandra das Stoffpäckchen, packte es jedoch noch nicht aus. Lyra dämmerte es bereits und sie atmete tief durch. „Dann war das gerade eben eine Prüfung von Meisterin Aira? Sie hat nie gewollt, dass wir uns darauf einigen, dass nur eine von uns bei ihr bleibt. Aber weshalb?“ „Das kann ich euch nicht sagen.“ Airas Schülerin schenkte ihnen ein mildes Lächeln, als wollte sie den beiden Mädchen gegenüber dadurch eine Art von Mitleid ausdrücken. „Meisterin Aira ist sehr weise und oft weiß sie viel mehr, als sie zeigt. Dennoch solltet ihr auf ihr Urteil vertrauen, auch wenn sie euch gegenüber nichts Tiefergehendes verlauten ließ. Wenn sie denkt, dass ihr diesen Gegenstand haben solltet, dann nehmt ihn und setzt ihn mit derselben Weisheit ein, mit der sie ihn euch vermacht hat.“ „Ich verstehe nicht, woher sie überhaupt von uns weiß“, mischte sich Cassie ein und begann den dunklen Stoff von dem Gegenstand zu wickeln. Als sie wieder aufschaute, war das Lächeln aus dem Gesicht der Schülerin verschwunden. Stattdessen sah sie Cassie mit einem unergründlichen Blick an und die beiden Waisenmädchen hegten keinerlei Zweifel daran, dass auch Airas Schülerin mehr wusste, als sie ihnen gegenüber zugab. „Wir vertrauen darauf, dass ihr euren Weg fortschreitet.“ „Unseren Weg?“, wiederholte Lyra nachdenklich. „Wir müssen zurück ins Waisenhaus, uns bleibt nicht viel Zeit hier in Teak City.“ Das junge Kimono-Girl begann wieder zu lächeln, wenn auch geheimnisvoll. „Man kann keinen Weg anfangen und auf einmal rückwärts laufen. Es kommt immer der Tag, an dem man sich seinem Schicksal stellen muss. Man kann fortlaufen und sich verstecken, doch früher oder später wird es einen immer finden.“ Lyra klappte beinahe der Unterkiefer herunter, als ausgerechnet der Ratschlag ihrer verstorbenen Mutter aus dem Mund der Anderen erklang. „Woher…?“ Doch sie kam gar nicht dazu, ihre Frage zu Ende zu stellen. Die Schülerin wurde von einem anderen Kimono-Girl gerufen, verabschiedete sich mit einer Verbeugung und ließ Lyra und Cassie mit mehr Fragen als Antworten stehen. „Was sollen wir denn dazu sagen?“ Cassie hatte die Stirn gerunzelt, widmete sich allerdings schnell wieder Airas Geschenk und packte es vollständig aus. Zum Vorschein kam eine Steinplatte, die Granit ähnlich sah, die Farbe Chromoxidgrün besaß und etwa handgroß mit einer kleinen, halbkreisförmigen Einbuchtung in der Mitte einer Kante war. Die Rückseite der Steinplatte war glatt geschliffen, ebenso die Ränder, wobei es aussah, als hätte die Platte noch einen Gegenpart, denn die Kante mit der kleinen Einbuchtung zeigte deutliche Spuren einer Bruchkante. Zudem zierten Kratzer die Oberseite, in die ein seltsames Muster aus Schnörkeln eingraviert war. Ein Riss zog sich durch die Mitte der Platte. Wo auch immer sie herkam, sie musste einiges mitgemacht haben, um in die Hände von Aira und nun in die von Lyra und Cassandra zu gelangen. „Was ist das für eine Platte?“ Neugierig nahm Lyra sie in ihre Hände, kam aber zu keinem Ergebnis. „Und was machen wir jetzt damit?“ Cassie fuhr ratlos die Muster auf der Oberseite nach. „Vorerst sollten wir sie einfach aufbewahren. Was auch immer das für eine Platte ist, es ist Aira äußerst wichtig, dass wir sie in unserem Besitz haben.“ Lyra, die ebenso wie Cassie eine Seite der Steinplatte umfasst hielt, fing den Blick ihrer besten Freundin ein. In den Gesichtern der beiden spiegelte sich ein und derselbe Gedanke wieder und im nächsten Moment brachten sie ihre gesamte Kraft auf, um den tiefen Riss in der Mitte als neue Bruchkante zu nutzen und die Platte in zwei gleichgroße Stücke zu zerbrechen. Was auch immer das für eine Platte war, falls sie ihr Geheimnis eines Tages lüfteten, dann würden sie es zusammen tun und jede von ihnen sollte vom jetzigen Zeitpunkt an eine Hälfte der chromoxidgrünen Steinplatte bei sich tragen. Dieses Rätsel umfasste sie beide und sollte es eine Lösung dafür geben, dann würden sie sie gemeinsam finden – denn nur zusammen konnten sie die Platte wieder zusammensetzen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)