The Crystal Palace von Kalliope ================================================================================ Kapitel 31: Verlorene Rettung ----------------------------- Tagsüber hatten sie es nicht gewagt das Feuer erneut zu entzünden und schon am Nachmittag war Lyra sicher, dass ihr Magenknurren die Wachen des Kristallpalasts anlocken würde. Laut Grace, die sich als ihre persönliche Krankenschwester sah, war es ein gutes Zeichen, dass ihr Körper Hunger verspürte und nach Essen verlangte, doch Lyra war sich dessen nicht so sicher. Gegen Abend war der Großteil beider Arme milchig und lichtdurchlässig geworden und es breitete sich Stunde um Stunde über ihren Bauch Richtung Beine aus. „Sie hat nicht mehr viel Zeit übrig“, hörte sie Finn sagen. Zusammen mit Sarin stand er am Höhlenrand und wartete darauf, dass die Sonne unterging, damit sie ihre gepackten Sachen schultern und sich an den Abstieg auf der anderen Seite des Bergkamms machen konnten. Vermutlich dachten sie, dass sie leise genug flüsterten, um Lyras Aufmerksamkeit nicht auf sich zu ziehen, doch dem war nicht so. Sie hatte zwar die Augen geschlossen und saß an Arkani gelehnt auf dem Boden, lauschte allerdings jedem Wort der beiden. „Ich weiß.“ Sarin klang müde und besorgt. „Es sind nicht viele Fälle dokumentiert, in denen Menschen durch den Zeitenspiegel im Spiegelsaal gingen und diese Zeitreisen beschränkten sich stets auf maximal wenige Stunden.“ „Mir war schon immer klar, dass dieser Spiegel nur Unheil bringt.“ Finn machte einige Schritte und kickte dabei einen kleinen Steinsplitter locker vor sich her. „Dialga und Palkia sind mächtige Pokémon, ihre Kraft sollte nicht in ein menschliches Gebrauchsobjekt gebannt sein.“ „Unsere Vorfahren wussten vermutlich nicht, was für eine Gefahr der Spiegel darstellt.“ Einen Moment herrschte Schweigen, dann fuhr Finn fort: „Sarin, du weiß genauso gut wie ich, dass kein Mensch über diese Macht verfügen sollte. Der Zeitenspiegel ist exklusiv für die Wächter und die Königsfamilie gedacht, aber ich finde es nicht richtig.“ Dann sagte er, mit gesenkter Stimme, sodass Lyra sich anstrengen musste, um ihn doch noch zu verstehen: „Wir sollten ihn vernichten. Wenn wir schon einmal im Palast sind, sollten wir dafür sorgen, dass Lyra geheilt wird und so etwas nie wieder passieren können. Sie könnte sterben. Sie wird sterben.“ Lyra lief es eiskalt den Rücken runter. Sterben? Sie wollte nicht sterben, sie hatte eine Mission, Cassie. Unruhig rutschte sie umher, was Arkani aufscheuchte und damit auch Sarin und Finn, die ihr Gespräch augenblicklich mit einem besorgten Blickwechsel beendeten. „Hast du gut geschlafen?“, erkundigte Sarin sich, ging zu ihr und half ihr hoch. „Bis zum Sonnenuntergang dauert es noch eine knappe halbe Stunde. Siehst du, der Himmel färbt sich bereits rot.“ „So gut, wie man auf Steinboden schlafen kann“, erwiderte sie, rang sich ein erschöpftes Lächeln ab und tätschelte Arkanis Flanke. Dann befestigte sie mit Sarins Hilfe ihren Rucksack wieder auf Arkanis Rücken. Finn nickte ihr wortlos zu, als er nach draußen trat und zum wiederholten Mal überprüfte, ob die Panzaeron-Patrouille irgendwo zu sehen war. Er winkte Grace und Leo zu sich, steckte für einige Minuten die Köpfe mit ihnen zusammen, dann kehrten sie zu dritt zurück. „Wir haben einen Schlachtplan gemacht.“ Lyra lehnte sich gegen Arkani. Alleine das Stehen strengte sie an und wo sie letzte Nacht noch problemlos selbst für einige Zeit umherlaufen konnte, brauchte sie nun Grace‘ Pokémon, das sie wärmte und stützte. „Wie sieht der Plan aus?“ „Du kommst nicht direkt darin vor.“ Finns Worte klangen harsch und ließen Lyra leicht zusammenzucken, doch er erläuterte unbeirrt, wie sie vorgehen wollten. „Wir warten, bis die Sonne komplett untergegangen ist und es dunkel wird, dann kann man uns nicht mehr aus der Luft erkennen. Für den Abstieg zum Palastgelände werden wir, wenn es gut läuft, etwa eine halbe Stunde brauchen. Der Hang ist steil, aber es gibt einen Trampelpfad, auf dem wir von alleine ins Straucheln und Laufen geraten werden. Unten erwartet uns das großflächige Plateau, das bis zum Meer führt. Direkt an den Klippen steht der Kristallpalast, aber wir werden uns ein kleines Stück weiter westlich halten und zu den Stallungen vordringen. Diese sind im Regelfall so gut wie nicht bewacht. Von dort aus gelangen wir in den Garten des Palasts und können uns so weit heranschleichen, dass wir durch einen Geheimgang ins Innere kommen. Wenn wir uns genau an den Plan halten, wird man uns erst bemerken, wenn wir schon längst drinnen sind.“ Nun schaltete Sarin sich ein. „Finn und ich kennen den Palast wie unsere Westentasche. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wo Cassandra sein kann. Entweder hat man sie in die Kerker im Untergeschoss gesperrt, was wir aber für unwahrscheinlich halten, oder aber sie ist im Seitenflügel bei den Gästezimmern. Wir teilen uns auf. Finn, Grace und du gehen zum Spiegelsaal, Leo und ich holen Cassie. Wir müssen uns auf jeden Fall beeilen.“ „Nein, das geht so nicht, ich komme mit euch zu Cassie!“ „Lyra, sei nicht albern“, schalte Finn sie und schnaubte. „Du kannst nicht einmal gerade stehen, geschweige denn kämpfen. Grace und ich bringen dich zum Zeitenspiegel und dann sehen wir zu, dass wir dich wieder in den Normalzustand bekommen. Sarin ist Cassies Bruder, er kann auf sie aufpassen.“ „Und wenn es zu Kämpfen kommt?“ Grace legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Dann werden wir kämpfen. Sarin und Finn sind die stärksten von uns, mit Arkani können wir dich schnell zum Zeitenspiegel bringen und Sarin kann sich den Weg zur Not mit Lucario und Golgantes freikämpfen.“ Sarin nickte ihr zuversichtlich zu. „Wir treffen uns dann wieder bei den Stallungen und gehen zusammen zurück in die Berge.“ Lyra mochte den Plan nicht, gab sich jedoch mit hängenden Schultern geschlagen und setzte sich auf Arkanis Rücken. Der Plan stand und sie hatten nur diesen einen Versuch. Alles hing davon ab, dass sie unerkannt zu den Stallungen, durch den Garten und zum Geheimgang kamen. Der Abstieg war, so wie Finn es prophezeit hatte, sehr steil. Arkani rutschte immer wieder mehrere Meter am Stück und wäre es nicht so kräftig gewesen, wäre es mitsamt Lyra den Hang hinuntergerollt. Grace folgte mit Sarin, beide kamen mehr rutschend als gehend voran und schürften sich die Handflächen auf, zuletzt ging Leo, neben dem Finn bequem auf Rosis Rücken flog. Sie brauchten statt der geplanten halben Stunde etwas länger, kamen aber alle nacheinander durchgeschwitzt und kaputt auf dem Plateau an – bis auf Finn, der energiegeladen und beschwingt von Rosis Rücken kletterte, seinem Trikephalo einen Klaps auf die Flanke gab und sie zurück in ihren Aprikokoball zog. Schweigend schlich die Gruppe hinter Sarin her. Trotz der Dunkelheit, die die Nacht mit sich brachte, hielten sie sich in den Schatten der Bäume auf, die immer wieder in unregelmäßigen Abständen auftauchten, bis sie das Schloss sehen und das Rauschen des Meeres hören konnten. Sarin gab ihnen ein Handzeichen und sie alle kauerten sich hinter eine Reihe von Aprikokobäumen, die bereits zum königlichen Grundstück gehörten und Zeugen einer alten Plantage waren, die man vor knapp einhundert Jahren zum größten Teil gerodet und in den Schlossgarten verlegt hatte. „Sehr ihr die Gebäude dort hinten?“ Sarin flüsterte und schaute sich immer wieder misstrauisch um. „Das sind die Stallungen. Zwischen unserer Positionen und den Ställen liegt etwa ein halber Kilometer braches Land, wir können uns dort draußen nicht mehr verstecken, also müssen wir schnell sein. Finn nickte. „Dahinter bietet uns der Garten wieder mehr Schutz. Der Geheimgang ist gut getarnt, aber wir müssen nach einem Tamotstrauch Ausschau halten. Es ist der einzige im ganzen Garten, unter ihm befindet sich eine Falltür, die in einen unterirdischen Gang führt. Wenn wir diesem Gang folgen, kommen wir im Untergeschoss raus.“ „Wofür braucht ein Schloss einen Geheimgang nach draußen?“, fragte Grace und reckte leicht den Hals. Sarin lächelte sie an. „Das ist für den Fall, dass es eine Revolte gibt und man einen der Herrscher in den Kerkern einsperrt. Nur Mitglieder der Königsfamilie kennen diesen Geheimgang und wissen, wie man ihn vom Kerker aus öffnet.“ „Sehr vertrauenserweckend.“ Leo war die ganze Zeit über sehr still und in sich gekehrt gewesen, stand nun jedoch als erster auf und nickte den anderen zu. „Wir sollten keine Zeit verlieren. Rüber zu den Ställen, durch den Garten, rein in den Kristallpalast und dann teilen wir uns auf. Ein Mädchen mit silberweißen Haaren sollten wir doch finden können.“ Grace legte ihre Hand auf seine. „Wir schaffen das.“ Auch Lyra schlug ein und kurz darauf hatten sie alle fünf ihre Hände übereinander gelegt. „Wir schaffen das.“ Sie nickten sich gegenseitig zu und ohne auf ein Kommando zu warten, begannen sie hinaus auf das Grasland zu rennen. Die Zeit verging gefühlt viel zu langsam und Lyra hatte ständig Angst, dass man sie entdeckte, doch sie erreichten die Stallungen, drückten sich an die lange Außenwand der Westseite und atmeten schnaufend durch. Von dieser Position aus konnten sie weder den Garten noch den Palast sehen, doch das Rauschen der Wellen war deutlicher zu vernehmen. Das Meer musste ganz nah sein und mit ihm die Klippen, die laut Finn und Sarin den sicheren Tod für jeden bedeuteten, der über sie stürzte und kein Flug- oder Wasserpokémon war – und selbst bei diesen wollte Finn nicht garantieren, dass sie einen Sturz aus der Höhe in die gefährlichen Strudel und hohen Wellen überlebten. „Das … ging einfach …“ Grace lächelte und keuchte, aber auch ihr hatte der Sprint zugesetzt und kleine, feine Schweißperlen hatten sich unterhalb ihres lockigen Haaransatzes gebildet. „Keine Wachen … weit und … breit.“ Sarin nickte zögerlich. „Ja, das war einfach. Ich hätte nicht gedacht, dass wir es schaffen.“ „Du hattest Zweifel?“ Leos Stimme war lediglich ein wütendes Zischen, dann riss er sich wieder zusammen, rieb sich über die Nasenwurzel und drehte Sarin den Rücken zu. „Los, kommt, wir müssen weiter.“ „Bist du sicher, dass es hier keine Wachen gibt? Nur weil wir nicht sofort welche gesehen haben …“ Weiter kam Lyra nicht, denn in genau diesem Augenblick brach innerhalb der Stallungen ein Tumult aus. Die Glasscheiben zerbrachen, ein heller Kreideschrei zerriss die Stille der Nacht und schwarzer Rauch, der nur von einer Rauchwolke stammen konnte, drang aus den Fenstern nach draußen. Sarin riss Grace mit sich, der Arkani natürlich sofort folgte und Lyra dabei unsanft durchschüttelte. „Verdammt, wir müssen sofort zum Geheimgang!“ Aus dem Inneren kamen Schreie, es brach ein Tumult aus und mehrere Wachen rannten, dicht gefolgt von einem Mann und einer Frau in glänzenden Rüstungen, die die Farbe von einem Golbit-Körper hatten. „Da sind sie!“ Die Frau, die hinter den anderen gelaufen war, boxte sich einen Weg an die Spitze frei und ihr kinnlanges, braunes Haar wehte unter ihrem Helm hervor, an dem sieben lange, grüne Federn befestigt waren. „Ministerin Katleen, scheiße!“ Es dauerte keine Sekunde, in der Sarin und Finn sich mit einem Blick darauf geeinigt hatten, dass sie hier nicht entkommen konnten. Sie mussten kämpfen. Sarin packte Grace am Handgelenk. „Planänderung, du musst Lyra sofort zum Spiegelsaal bringen.“ „Sarin, das kann ich nicht alleine!“ „Grace, hör mir zu! Erinnerst du dich an die Wegbeschreibung, die ich dir gegeben habe?“ Als sie nickte, drückte er sie für einen winzigen Augenblick an sich. „Dann schnapp dir Arkani und Lyra und lauf, so schnell du kannst!“ „Wieso wussten sie, dass wir hier sein würden?“ Die Stimme gehörte zu Leo, vor dem bereits Luxtra und Walraisa Stellung bezogen hatten. Beide Pokémon stellten sich Ministerin Katleen und ihrem Stolloss entgegen, doch sie bekam sofort Unterstützung von einem zweiten Stolloss und dessen Trainer, den Finn sogleich als Minister Eyvan identifizierte. Hinter ihnen strömten weitere, normale Wachen aus dem Stalltor wie aus einer offenen Wunde und zogen dabei die letzten Ausläufer der Rauchwolke hinter sich her. Lyra wollte protestieren, doch Arkani rannte los, neben seiner Trainerin her, die ihr Schillok rief. Dank der Hydropumpe, die ihr Ziel zwar nicht traf, aber für genügend Ablenkung sorgte, konnten sie einen Vorsprung von gut zwei Dutzend Metern erhaschen. Irgendwo hinter ihnen stürzte Rosi sich brüllend ins Gefecht und Finn verpasste einem Wachmann, der ihm zu nahe kam, einen kräftigen Kinnhaken. Lyra krallte sich fester in Arkanis Fell, versuchte sich den Bewegungen des Feuerpokémon anzupassen, doch ihre Muskeln besaßen nicht mehr genügend Kraft. Etwas Silbriges blitzte mitten im Getümmel auf. Cassie. „Cassie!“ Lyra wollte umkehren, doch Grace lief weiter. Nein, sie konnte Cassie nicht alleine mitten im Kampfgeschehen lassen, sie konnte nicht … Noch ehe Lyra ein zweites Mal darüber nachdenken konnte, ließ sie Arkani los, rollte sich von seinem Rücken herab und landete hart auf der Erde, was ihr die Luft aus den Lungen drückte. Es geschahen mehrere Dinge gleichzeitig, die alle wie in Zeitlupe vor ihr abliefen. Cassandra riss sich von Prinz Melik, der sie am Arm gepackt hatte, los, stolperte jedoch über einen am Boden liegenden Wachmann und stürzte direkt in die Arme einer weiteren anwesenden Ministerin, die sie in einen Schraubstockgriff nahm. Leos Pokémon wurden von den beiden Stolloss immer weiter zurück gedrängt und ein Steinhagel traf Walraisa mit solch heftiger Präzision, dass es bereits nach wenigen Sekunden im Kampf besiegt zusammenbrach. Rosi und Finn kämpften wie wilde Tiere, waren aber von einer Überzahl umzingelt. Sarin rannte auf seinen Bruder, Prinz Melik, zu. Meliks Schwert, das sich hob und Sarins Körper traf. Grace, die ebenfalls gesehen hatte, was mit Sarin geschah. Ihr schriller Schrei. Arkanis wütendes Heulen. Ein Flammenwurf, der direkt über Lyra hinwegfegte und eines der Stolloss in die Brust traf. Und zuletzt eine Unbekannte, die wie aus dem Nichts auftauchte. Lyra sah in eine erwachsene Version ihres eigenen Gesichts. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)