The Crystal Palace von Kalliope ================================================================================ Kapitel 25: Eisige Kälte ------------------------ „Deine Heimat?“, wiederholten Lyra, Leo und Grace wie aus einem Mund und schauten Sarin verblüfft an. Sie hatten ihn nie großartig etwas über sich erzählen hören, aber dass er ausgerechnet aus dieser mysteriösen Gegend, in die es sie verschlagen hatte, stammte, überraschte sie sehr. Sarin nickte und sein Blick wanderte über die schneebedeckte Landschaft in die Ferne. „Ja, hier bin ich aufgewachsen.“ Während Leo sich Schmutz von der Kleidung klopfte und Grace mit noch immer sehr blassem Gesicht die Steintreppe begutachtete, stellte sich Lyra neben Sarin und folgte seinem Blick. Sie kannte aus den Reiseführern keinen Ort, der mit diesem hier vergleichbar wäre. „Welche Region ist das? Wie Johto sieht es nicht aus.“ „Wir sind auch nicht in Johto.“ „Sondern?“ Sarin schaute sie an, sein Blick noch immer finster und die Gesichtszüge verbittert. „Das erkläre ich euch in Ruhe, wenn wir von diesem Berg runter sind und das Dorf erreicht haben.“ Grace lächelte ihm zu. „Klingt nach einer längeren Geschichte. Du bist uns auf jeden Fall eine große Erklärung schuldig.“ Der Angesprochene zuckte mit den Schultern und betrat die Steintreppe, die in schwindelerregender Höhe am Fels hinunter in das Tal mit dem Fluss führte. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, kehrte Schnee von den Stufen herunter und winkte seine Begleiter zu sich. „Haltet euch direkt am Fels und schaut nicht so oft nach unten, dann passiert euch schon nichts.“ „Sehr vertrauenserweckend“, kommentierte Leo die Treppe, schüttelte den Kopf und folgte Sarin, Grace direkt hinter sich. Lyra bildete den Schluss und hatte nicht so große Probleme wie Grace, die aussah, als würde sie jeden Moment wieder ohnmächtig werden. Ihre Hände zitterten und ihr Gesicht schien mittlerweile vollkommen blutleer zu sein, doch sie hielt sich tapfer und folgte den beiden Jungen bis nach ganz unten. Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, atmeten alle vier tief durch und schauten nach oben. Den Höhleneingang konnte man von hier aus kaum sehen und die Treppe schien im Nirgendwo zu verschwinden. Grace hielt sich an Leo fest und trank einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche. „Alles in Ordnung bei dir?“ Besorgt berührte Sarin ihre Schulter, ließ sie jedoch wieder los, als Grace tapfer nickte und die Flasche wegpackte. „Gut. Wir müssen dort entlang, folgt mir einfach.“ Schweigend gingen sie hinter Sarin am Fluss entlang, folgten den Biegungen in der Landschaft und ließen die Höhle weit hinter sich. Für Anfang Mai war es ungewöhnlich kalt und schon bald begannen die Jungtrainer zu frieren. Lyra schaute ihrem Atem dabei zu, wie er in der eisigen Luft gefror. „Wie lange dauert es noch?“ Sie mussten schon mindestens eine Stunde unterwegs sein. „Nicht mehr lange. Sehr ihr den See dort hinten? Da befindet sich auch das Dorf.“ Mit dem Ziel vor Augen lief es sich deutlich besser und die Gruppe legte noch einmal an Geschwindigkeit zu, um der Kälte zu entkommen. Dennoch brauchten sie noch ein gutes Stück, bis sie die ersten Häuser sehen konnten. An kleinen Stegen waren Boote befestigt und neben dem Dorf erstreckten sich rund um den See in das Tal hinein Plantagen mit Beeren und Früchten, doch irgendetwas an dem Anblick verunsicherte Lyra. Sie wusste nicht genau, was sie störte, bis sie Menschen und Pokémon erkennen konnte, die Löcher in den Häusern zunagelten, umgeknickte Bäume zerkleinerten und aus dem Weg räumten. Je näher sie kamen, desto größer wurde das Ausmaß der Zerstörung. Sarin stieß einen erstickten Laut aus, rannte los und sie hatten Mühe ihm zu folgen. Einige Menschen warfen ihnen misstrauische Blicke zu, doch als sie Sarin erkannten, wandten sie sich wieder ihrer Arbeit zu und ignorierten ihn. Die Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er auf den Hauptplatz des Dorfes einbog, wo die Zerstörung am größten war. Ganze Häuser waren zerstört, Dachziegel und Glas lagen in Splittern auf dem Boden verstreut. Als er eine junge Frau entdeckte, lief er zu ihr. „Leia, was ist hier passiert?“ Die Frau drehte sich zu ihm um, schloss ihn fest in die Arme und ihre dunkelroten Haare fielen in unordentlichen Strähnen ihren Rücken herab. „Es tut mir so leid, Sarin. Ich konnte nichts tun.“ Er biss sie auf die Unterlippe, erwiderte die Umarmung und ließ Leia los, als die anderen drei zu ihm stießen. „Das halbe Dorf ist zerstört, wie konnte das passieren? Haben sie…? Hat er…?“ Leia nickte schwach und winkte ihr Milotic zu sich. „Es waren zu viele, als dass wir etwas gegen sie hätten ausrichten können. Sie haben… oh Kyurem! Sie haben uns mit ihren Washakwil angegriffen. Ich schwöre dir, Sarin, sollte ich jemals die Gelegenheit bekommen Ministerin Katleen oder Ministerin Sofia das heimzuzahlen, werde ich es tun. Wir sind doch nur ein kleines Fischerdorf mit ein paar Plantagen. Was bringt es ihnen, wenn sie uns vernichten?“ „Sarin, was ist hier los?“ Verwirrt schaute Grace sich um und begutachtete die Schäden um sie herum. „Ich verstehe nicht, was hier passiert ist.“ Als hätte sie die Neuankömmlinge erst jetzt bemerkt, raffte Leia ihren purpurfarbenen Umhang und hob stolz das Kinn an. „Mein Name ist Leia und ich bin die Bürgermeisterin dieses Dorfes. Wer seid ihr und was wollt ihr hier?“ „Ist schon gut, Leia. Sie gehören zu mir“, besänftigte Sarin seine alte Bekannte. „Mein Name ist Lyra Hawkins. Das sind Grace Light und Leo Galloway“, stellte Lyra sich und ihre Begleiter vor. „Wir sind auf der Suche nach einer Freundin von mir und Sarin hilft uns dabei.“ „Allerdings wäre es interessant zu wissen, wo genau wir uns hier befinden“, ergänzte Leo. „Wären Sie so nett und würden uns verraten, in welcher Region wir gerade sind, Leia?“ Sie wirkte überrascht, antwortete jedoch nicht, sondern warf Sarin einen verschwörerischen Blick zu. „Sind das etwa…?“ Er nickte. „Ja, ich habe sie gefunden und hergebracht, so wie Yegor es mir aufgetragen hat.“ Leia quietschte vergnügt und schlug in die Hände. „Großvater wird sich über diese ausgezeichneten Nachrichten freuen. Ich bringe euch sofort zu ihm. Folgt mir!“ Lyra schaute Leo und Grace verwirrt an, doch an den ebenfalls verwirrten Blicken, die ihr begegneten, erkannte sie, dass sie nicht alleine mit ihren Gedanken und Fragen war. Unauffällig ließen die drei sich ein paar Meter nach hinten fallen, während sie Sarin und Leia durch das zerstörte Dorf bis zum Rand der Plantagen folgten. „Irgendetwas ist hier faul.“ Leo brummte eine Zustimmung. „Es scheint zu einer Epidemie zu werden, dass niemand mit der ganzen Wahrheit rausrückt. Meint ihr, Sarin steckt mit den anderen unter einer Decke?“ „Ich glaube nicht, dass er einer von den Bösen ist.“ In Grace‘ Blick spiegelte sich so etwas wie Bewunderung für Sarin, doch selbst sie musste zugeben, dass er sich merkwürdig benahm. „Warten wir einfach seine Erklärung ab. Er hat uns immerhin gesagt, dass er im Dorf alles erklären wird.“ „Alles, was ich will, ist Cassie zu finden“, sagte Lyra und verschränkte beim Gehen die Arme vor ihrem Oberkörper. „Aber Sarin hat uns bisher geholfen, also scheint er zumindest kein Feind zu sein. Wir sollten ihn über Nero, Aira und Aero ausfragen.“ „Ja, bestimmt weiß er mehr über sie. Er scheint ohnehin sehr viel mehr zu wissen, als er uns gegenüber zugibt.“ Leo knirschte mit den Zähnen und wirkte sehr unzufrieden mit der Situation, was Lyra voll und ganz verstehen konnte. Sie wollten doch endlich Antworten auf ihre Fragen bekommen, stattdessen wurden sie nun auch noch von Sarin hingehalten. Leia führte sie zu einem alten Mann, der gemeinsam mit seinem Nidoking umgestürzte Sträucher mit Beeren aufrichtete und neu einpflanzte. Schweiß glänzte auf seiner Stirn und trotz seines offenbar hohen Alters schien er keine Probleme mit der körperlich anstrengenden Arbeit zu haben. „Großvater, Sarin ist zurück und er hat Freunde mitgebracht.“ Dass Leia sie plötzlich als Freunde bezeichnete, ließ Lyra das Gesicht verziehen, doch sie hielt sich mit einem Kommentar zurück. Vielleicht würde der alte Mann ihnen Antworten geben. Yegor schaute von seiner Arbeit auf, musterte die Gruppe und klopfte seinem Nidoking auf die Seite, damit es sich eine kleine Pause gönnte. „Das sind sie also?“ Sarin nickte. „Ja. Zuerst war ich mir eine ganze Weile nicht sicher, aber wie du gesagt hast, hat sich alles gefügt. Das sind Lyra, Leo und Grace.“ „Nette Namen.“ Der Alte lachte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wie geht es euch, habt ihr die Teleportation gut überstanden? Die ersten Male war mir so schlecht, dass ich Nero vollgekotzt habe.“ Grace und Leo wechselten einen schnellen Blick. „Sie kennen Nero Blackwood?“ „Natürlich kenne ich den alten Miesepeter.“ Yegor winkte ab. „Aber alles der Reihe nach. Leia, sei so lieb und bereite für unsere Gäste etwas zu essen und Tee vor.“ „Soll ich nicht lieber dabei bleiben?“ „Nein, ich brauche dich hier nicht. Geh du nur.“ Leia wirkte verletzt, streckte jedoch schnell den Rücken durch und kehrte zum Dorf zurück, um der Bitte ihres Großvaters nachzugehen. Ihr Milotic schlängelte gemächlich hinter ihr her. Yegor schaute ihr einen Moment hinterher, dann musterte er die Jungtrainer erneut. „Das erste Pokémon eines Trainers ist das, mit dem man sein Leben lang die engste Bindung haben wird. Welche Starter habt ihr?“ „Felilou, Schillok und Luxtra, aber das ist doch nicht wichtig“, meinte Leo leicht genervt. „Wir würden viel lieber wissen, was Sie uns zu erzählen haben. Wie war Ihr Name noch gleich?“ „Ich bin Yegor, merkt euch das. Felilou, Schillok und Luxtra also… ja, das ist eine gute Basis. Darauf können wir aufbauen.“ „Allmählich sind wir das Warten leid.“ Nun verschränkte auch Grace die Arme vor ihrem Körper. „Wir wollen wissen, was los ist.“ Yegor seufzte. „Ihr müsst eine ganze Tonne an Fragen haben, aber alles zu seiner Zeit. Der Muffelkopf Nero hat euch wahrscheinlich nur mit halben Sachen abgespeist, nicht wahr? Ja, so kenne ich ihn, den guten, alten Kotzbrocken. Kommt mit zum Dorf, dann setzen wir uns ins Warme und können über alles reden. Sarin, kannst du Finn sagen, dass wir komplett sind?“ Sarin runzelte zwar die Stirn, nickte jedoch und wandte sich seinen Begleitern zu. „Bitte habt noch ein kleines bisschen Geduld. Ihr bekommt alle Antworten, das verspreche ich euch. Ich bin in einer Stunde zurück.“ Leo schaute ihm mit zusammengezogenen Augenbrauen hinterher, dann setzten sie sich wieder alle in Bewegung und gingen mit Yegor und seinem Nidoking zurück zum Dorf. Die meisten Häuser hatten Schäden, aber ein paar wirkten heil und zu einem dieser Häuser führte Yegor sie. Im Inneren stand Leia an einem Holztisch und deckte für sie alle Teller und Tassen ein. Kleine Brote mit Marmelade standen auf einem großen Holzteller, daneben dampfte eine dickbäuchige Kanne mit Yapabeertee. „Vielen Dank, Leia. Du kannst uns jetzt alleine lassen.“ Enttäuscht zog Leia sich nach draußen zurück. Es war offensichtlich, dass sie bei dem folgenden Gespräch gerne dabei gewesen wäre, doch ihr Großvater scheuchte sie zurück an die Arbeit. Lyra, Leo und Grace nahmen auf der einen Seite des Tisches Platz, während Yegor sein Nidoking in einen Aprikokoball zurückzog und sich ihnen gegenüber hinsetzte. „Tee?“ Alle drei lehnten vorerst dankend ab, woraufhin Yegor mit den Schultern zuckte und sich den Tee in eine Tasse goss, in die er großzügig Zucker gab. Nachdem er davon getrunken hatte, entspannte sich sein Gesicht und er wirkte zufrieden. „Also dann, ihr habt eine Menge Fragen, nicht wahr? Ich weiß nicht, wie viel ihr bisher wisst, daher werde ich euch einfach alles von Anfang an erklären, aber zuerst warten wir auf Sarin und Finn.“ „Wer ist Finn?“ Yegor lächelte Lyra an. „Euer letzter Gefährte. Dann seid ihr zu fünft und komplett. Alle endlich vereint.“ Damit konnte Lyra recht wenig anfangen, aber das war mittlerweile zur Gewohnheit geworden. Ihr blieb nichts anderes übrig als darauf zu warten, dass Yegor Licht ins Dunkel bringen würde. Wenn er Nero kannte, dann kannte er höchstwahrscheinlich auch Aira und Aero. Außerdem wusste er von dem Teleportationsmechanismus und schien ihn sogar selbst schon benutzt zu haben. Wenn es jemanden gab, der ihnen helfen konnte Cassie zu finden, dann er. Er musste ihnen einfach helfen können. Das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreitete, war nahezu unerträglich. Sarin ließ auf sich warten und Yegor sprach sie in der Zwischenzeit nicht mehr an. Erst als der Tee bereits kalt geworden war, klopfte es an der Tür. Mit einem Schwung kalter Luft trat Sarin ein, direkt hinter ihm ein schwarzhaariger Junge mit stechend türkisfarbenen Augen. Das musste Finn sein. Auch Sarins Augen waren von intensiver Farbe, wirkten aber grünlicher und wärmer. „Ah, da seid ihr ja.“ Yegor deutete auf die zwei freien Stühle neben sich, auf die sich Sarin und Finn setzten. Lyra versuchte freundlich zu lächeln, doch ihr Kopf brummte und Finns Blick ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Er schaute sie an, als würde er sie am liebsten auf der Stelle erdolchen wollen, so durchdringend war sein Blick. Gut gelaunt biss Yegor in eines der Brote. „Also dann, meine Lieben: Willkommen in der Zerrwelt!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)