Sub Iove - Unter freiem Himmel von Ixtli ================================================================================ Spolia opima ------------ Die drei einzigen Schüler, die auf Bähbem Manor lebten und unterrichtet wurden, saßen gemeinsam an der Frühstückstafel und wirkten dabei wie völlig Fremde, die sich in der U-Bahn zwangsweise gegenüber saßen, bis ihre Station, an der sie aussteigen würden, endlich gekommen war. Helena hatte nur die Hälfte dessen gegessen, was auf ihrem Teller gelegen hatte. Sie saß mit gesenktem Kopf da und las in dem Buch, das aufgeschlagen auf ihrem Schoß lag. Ihre beherrschte Mimik ließ nicht darauf schließen, um was für ein Buch es sich handelte. Irgendetwas zum bald beginnenden Unterricht wäre schlüssig, doch Helena brachte es fertig, mit dem gleichen unbewegten Gesicht, mit dem sie Formeln studierte, ein unterhaltsameres Buch zu lesen. Makoto saß mit ernst zusammengezogenen Augenbrauen da; fast ein Spiegelbild der stoischen Helena. Er schob das Essen auf seinem Teller hin und her, als wären es Spielfiguren auf einem Spielbrett aus Porzellan. Er hatte keinen großen Appetit und saß eigentlich nur pro forma hier, bis der Unterricht anfing; weil dazusitzen und beschäftigt zu wirken besser war, als Itsuki anzusehen und nicht an den Tagesanbruch denken zu müssen. Der einzige, der tatsächlich hungrig war, war Itsuki, der mit großem Appetit sein mittlerweile viertes süßes Brötchen aufschnitt, um es mit gesalzener Butter zu bestreichen. Er liebte den Gegensatz dieser beiden Geschmäcker, die erst im Mund miteinander vermischt eine wirklich harmonische Einheit bildeten. Ohne von ihrem Buch aufzusehen, unterbrach Helena die spärliche Geräuschkulisse, die lediglich aus dem Rascheln umgeblätterter Buchseiten und Makotos übers Porzellan kratzender Gabel bestand. "Ihr verbreitet eine unglaublich schlechte Stimmung, ohne dass ihr überhaupt etwas macht." "Wir gehen nur spärlicher mit unserer Energie um, Helena", antwortete Itsuki und biss herzhaft in sein Brötchen. Makotos Lippen wurden zu zwei schmalen Strichen. "Ach, und wozu?" Helenas Spitzfindigkeiten waren manchmal unfreiwillig komisch, fand Itsuki. Sie lebten alle Drei schon lange genug miteinander auf Bähbem Manor, als dass sie sich über solche Dinge wie schlechtgelaunte Mitschüler am Morgen noch ärgerten. "Wer weiß", entgegnete Itsuki fröhlich und ließ den letzten Bissen seines Brötchens in seinem Mund verschwinden. "Der Tag hat ja erst angefangen." Just in diesem Moment hob Makoto den Kopf und begegnete Itsukis, ihm über die Teetasse hinweg zugeworfenen, amüsierten Blicken. Ihm stockte der Atem, als Itsuki den Mund zu einer weiteren Entgegnung öffnete. Die Gabel, die ihm fast aus der Hand glitt, vollführte eine Pirouette und stieß dabei gegen eine Aprikose, die wie eine Billardkugel vom Teller rollte. Schnell beförderte Makoto die Frucht zurück auf ihren Platz. Helenas und Itsukis Geplänkel ging in eine Richtung, die Makoto nicht vor Helena und auch niemand anderem ausgebreitet sehen wollte. Itsuki wäre es zuzutrauen, dass er sich, von Helenas Fragerei angestiftet, dazu verleiten ließ, mehr preiszugeben, als vielleicht gut war. Alleine schon um Helena mit seinen verschlüsselten Antworten zu weiteren neugierigen Fragen zu bewegen, die er dann mit noch undeutbareren Antworten umgehen konnte. Und Helena würde weiter nachhaken. Bis sie irgendwann das letzte Wort hatte. Makoto betete darum, dass es dieses Mal anders ausgehen würde, als die vielen Male zuvor, und er wurde tatsächlich erhört. Helena schien das Interesse an Itsukis kryptischem Gesagten verloren zu haben. Sie zuckte kurz mit den Schultern und wandte sich wieder dem Buch in ihrem Schoß zu. Itsuki grinste triumphierend. Makotos erschrockenes, noch um einen Ton bleicher gewordenes Gesicht ließ es jedoch zu einem sanfteren Lächeln werden. Er hatte Helena ein wenig aufziehen und nicht Makoto noch weiter einschüchtern wollen. Itsuki seufzte leise, nahm die Stoffserviette von seinem Schoß und legte sie neben seinen Teller. Der Stuhl glitt geräuschlos über den Teppich, als Itsuki ihn beim Aufstehen zurückschob. Makoto folgte seinem Beispiel und auch Helena klappte endlich ihre Lektüre zu. Die leisen Schritte von nebenan ließen Itsuki aufmerksam den Kopf heben. Wie an jedem Morgen der vergangenen Wochen ging dieses Ritual vonstatten. Itsuki hätte mittlerweile die Uhr danach stellen können. Schmunzelnd hörte er den Geräuschen aus Makotos Zimmer zu. Gleich würde sich die Tür öffnen und dabei über den Teppich schaben. Makoto würde – natürlich nicht, ohne vorher noch die Tür sorgfältig hinter sich abzuschließen – den Flur hinunter gehen, die Haupttreppe hinauf in den vierten Stock nehmen und nach zwei weiteren langen Fluren schließlich im Musikzimmer ankommen. Itsuki selbst würde dann, nachdem Makotos Schritte verklungen waren, noch einige Minuten – meistens zwanzig - abwarten, ehe er ihm folgte, damit er Zeit genug hatte, das Musikzimmer zu erreichen und noch etwas für sich sein konnte. Dann würde er genau den gleichen Weg nehmen. Makotos Tür öffnete sich langsam. Sie schabte über den Teppich und dann war es für einen Moment still. Aufmerksam wartete Itsuki auf das Geräusch des Schlüssels im Schloss, wenn Makoto sein Zimmer absperrte. Wieder war das Schabegeräusch zu hören, mit dem die Holztür, die sich mit den Jahren verzogen hatte, zurück ins Schloss glitt. Doch statt Makotos Schritten auf dem Flur, hörte Itsuki sie wieder von nebenan aus dessen Zimmer. Ernüchtert musste er feststellen, dass Makoto sich scheinbar dazu entschlossen hatte, heute mit dem Ritual zu brechen. Makoto stand noch einen Augenblick vor seiner wieder geschlossenen Tür. Seine Hand ruhte unentschlossen auf dem kalten Messingknauf und glitt schließlich langsam daran hinab. Das erste Mal seit Wochen hatte er sich nicht dazu überwinden können, wie jeden Morgen vor Tagesanbruch hinauf in den dritten Stock zu gehen, wo der Flügel stand. Nun, um ganz ehrlich zu sein, war es nicht das erste Mal, dass er nicht hatte gehen wollen, allerdings war es heute Itsuki, den er nicht sehen wollte, statt des leidigen Flügels. Und damit hätte Itsuki wieder gewonnen. Makoto lachte leise auf. Wahrscheinlich würde er genau das von Makoto erwarten; dass er sich verkroch. Er hatte im Musikzimmer gelacht und gestern hatte er sich während des Frühstücks ebenfalls köstlich darüber amüsiert, was im Musikzimmer geschehen war, auch wenn er und Itsuki die einzigen waren, die diese versteckten Botschaften in ihrem eigentlichen Zusammenhang kannten. Zielstrebig griff Makoto erneut nach dem Messingknauf. Er drehte ihn und zog die Tür auf. Vorsichtig lauschte er in die Dunkelheit des Flures. Aus Itsukis Zimmer kamen keinerlei Geräusche und der fehlende Lichtschein auf dem Teppich vor dessen Zimmer sagte Makoto, dass er vermutlich noch gar nicht wach war. Itsuki schrak auf, als er Makotos Türschloss zuschnappen und seine Schritte an seinem Zimmer vorüber gehen hörte. Er musste er sich zwingen, nicht sofort aus seinem Zimmer zu stürmen. Atemlos versuchte er, Makotos Weg die Treppe hinauf zu verfolgen. Wie weit war er jetzt schon? Die Treppe musste er schon hinter sich haben. Nervös biss sich Itsuki auf die Unterlippe, während er nachdachte. Nein, heute konnte er keine zwanzig Minuten warten! Itsuki riss seine Zimmertür auf und ging nach draußen. Makoto war nirgendwo mehr auf dem langen Flur zu sehen, also war er tatsächlich gegangen und hatte es sich nicht plötzlich wieder anders überlegt. Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprintete Itsuki die Treppe in den vierten Stock hinauf. Das Holz des Handlaufs unter seinen Händen war glatt und kühl. Am oberen Absatz angekommen, vergaß Itsuki seine Hand rechtzeitig vom Geländer zu nehmen und stieß prompt gegen den Pfosten, auf dessen Spitze eine Putte mit einem Traubenklotz in der erhobenen dicken Faust pausbäckig zu ihm hinunter lächelte. Der Schmerz zog sich durch seinen gesamten Unterarm, doch Itsuki schüttelte ihn so schnell ab, wie eine lästige Mücke, die sich ihm auf den Arm gesetzt hatte, um ihm das Blut auszusaugen. Wie still es in dem Haus doch war. Bis jetzt war es Itsuki nie wirklich aufgefallen. Aber heute morgen kam es ihm anders vor als sonst, obwohl es das wahrscheinlich nicht war. Das einzige, das ihn tatsächlich an der herrschenden Stille störte, war wohl die Tatsache, dass er Makoto nicht hörte, obwohl er keinen allzu großen Vorsprung zu ihm haben konnte. Den Gedanken beiseite schiebend, legte Itsuki den letzten Flur zum Musikzimmer hinter sich und stand schließlich vor der großen zweiflügeligen Tür. Er sammelte seinen Atem, legte die Hand auf den Türgriff und zog sie schwungvoll auf. Makoto sah auf, als er die Schritte hörte. Einen Moment hatte er gedacht, Itsuki wäre ihm gefolgt, doch er war alleine in dem Zimmer, in das er sich zurückgezogen hatte. Sich noch einmal kontrollierend umblickend nahm er ein Buch aus dem hohen Regal und schlug es auf. "Du verdammter Idiot", fluchte Itsuki und wusste nicht, wen er eigentlich damit meinte. Sich selbst, Makoto, oder den Flügel, der mit zugeklapptem Deckel dastand und nicht den Eindruck erweckte, dass so schnell jemand auf ihm spielen würde? Die Bank davor war leer. Itsuki stand alleine im Musikzimmer und spürte, wie sich etwas in seinem Bauch verkrampfte. Er hob die Blicke zu dem aufgemalten Himmel, der durch das fehlende Licht von draußen noch nicht ganz so prächtig aussah wie sonst, und seufzte enttäuscht. Tagelang narrte Makoto Itsuki. Jeden Morgen verließ er sein Zimmer und ging davon. Itsuki hatte bereits mehr als einmal darüber nachgedacht, Makoto einfach abzufangen, aber er war sich sicher, dass dieser ihm in dem Fall erst recht nicht sagen würde, was er die ganze Zeit über tat. Als er immer ungeduldiger wurde, hatte Itsuki ihn während der gemeinsamen Mahlzeiten und während des Unterrichts darauf angesprochen, doch Makoto schwieg beharrlich. Und genauso wenig hatte er ihm sagen wollen, wo es ihn hin verschlug, wenn er wie jemand durch die Flure von Bähbem Manor schlich, der etwas zu verbergen hatte. Aber was hatte Makoto schon zu verbergen? Er ging ihm einfach aus dem Weg, sonst nichts. Zumindest war es das, was Itsuki vermutete. "So sieht man sich wieder." Itsuki schlenderte gemächlich auf Makoto zu, der vor einem der Regale stand, das bis unter die hohe, schmucklose Decke reichte. So locker, wie er zu wirken versuchte, war er nicht. Itsuki musste sich sehr beherrschen, langsam auf Makoto zuzugehen, der vor dem Regal stand und die Titel auf den Buchrücken studierte, und ihn nicht gleich mit sämtlichen Fragen zu bestürmen, die ihm seit Tagen schon auf der Zunge brannten. Die Bibliothek. Darauf war er nur gekommen, weil es das letzte Zimmer auf Bähbem Manor war, das sie betreten durften, ohne hinterher unangenehme Fragen beantworten zu müssen. Das war auch so eine Folge ihres schiefgegangenen Abenteuers in den Ruinen von Bähbem Manor. "Ich glaube, die Damen und Herren auf den Ölschinken im Treppenhaus hatten noch nie so viel Betrieb hier erlebt, wie die letzte Zeit", witzelte Itsuki hilflos und wartete darauf, dass Makoto darauf reagierte. Was er nur bedingt tat. "Warum hast du nicht Helena gefragt? Die wusste, wo ich bin." Itsuki verzog das Gesicht. Helena. Daran hatte er tatsächlich nicht gedacht. Die Hände in den Hosentaschen vergraben und mit hochgezogenen Schultern, als fröstele es ihn, durchquerte Itsuki den Raum. Die Bibliothek verbreitete genau die umgekehrte Stimmung, wie das heitere Musikzimmer. Die Tapeten hier waren einfarbig gehalten, ohne besondere Muster, und dunkles Holz dominierte die Einrichtung. Der dicke Teppich, mit dem der Raum ausgelegt war, schluckte sämtliche Trittgeräusche. Wenn man nicht alleine davon schon eingeschüchtert war und möglichst leise durch den Raum ging, dann tat man es, weil man erwartete, dass einem beim leisesten Geräusch, das über das Blättern in einem Buch hinausging, ein Bibliothekar aus irgendeiner dunklen Ecke ein wütendes 'Sssssssscht' zuzischte. Natürlich gab es hier keinen Bibliothekar. Dunkle Ecken allerdings schon. Makoto hatte nur die Stehlampen und Tischleuchten eingeschaltet, die ein sanfteres Licht verbreiteten als der große Kristalllüster an der Decke. Fast reglos stand er vor der Wand aus Regalen. Er hatte den Kopf leicht nach vorne geneigt und zog gerade ein Buch zur Hälfte hervor. Itsuki trat so nahe an Makoto heran, wie er es für angebracht hielt und lehnte sich seitlich gegen das Bücherregal. Eine Weile beobachtete er ihn stumm. Makotos, Itsuki zugewandte Gesichtshälfte lag im Halbschatten. Seine gesenkten Wimpern warfen Schatten auf seine Wangen, die wie die langen Beine eines Insekts aussahen. "Das hat vielleicht gedauert, dich zu finden." Itsuki lächelte, doch Makoto fand es wohl nicht sonderlich erwidernswert. "Jetzt sag bloß, du hast vergessen, wo mein Zimmer ist", konterte Makoto. Er schob das gerade erst herausgezogene Buch zurück an seinen alten Platz und wandte sich dem nächsten zu. "Der Punkt geht an dich." Itsukis Mundwinkel sanken. Er konnte Makoto ja kaum sagen, dass er ihn lieber im Musikzimmer wieder getroffen hätte. Dort, wo sich Makoto wohlzufühlen schien, bevor Itsuki sich eingebildet hatte, ihm die offensichtlichen Dissonanzen auf eine andere Art zu harmonisieren, als vielleicht üblich. "Du tust so, als ob ich dir was Schlimmes angetan hätte..." Makoto schwieg beharrlich. Die Finger seiner linken Hand glitten die erhabenen Goldlettern eines Buches entlang. Der Zauberer von Oz stand da in verschnörkelter Schrift. "Habe ich das etwa?" Itsuki versuchte, die Antwort in Makotos erstarrter Mimik abzulesen und wünschte sich nichts so sehr, als dass sie 'Nein' lauten würde. "Nein", erwiderte Makoto tonlos. Überrascht erhellte sich Itsukis Gesicht für einen Moment. Er sah zu, wie Makotos Finger ziellos über die unterschiedlichen Buchrücken strichen und dann wieder eines aus der Reihe zogen. Langsam wirkte es wie ein Ablenkungsmanöver, fand Itsuki. Er legte seine Hand auf das Buch, für das sich Makoto wahllos entschieden hatte, denn er war wieder im Begriff, es in die Reihe zurückzubefördern, und nahm es ihm aus der Hand. Makotos Finger wanderten wieder zum Zauberer von Oz, als berührte es ihn nicht, dass Itsuki ihm das Buch weggenommen hatte. "Ja, ich weiß, wo dein Zimmer ist." Kaum merklich drehte Makoto sein Gesicht Itsuki zu und begegnete dessen leichtem Schmunzeln. Er hielt das Buch, das er Makoto aus der Hand genommen hatte, und verließ seine an das Regal angelehnte Position. Itsuki ging und Makoto sah ihm stumm nach. Als sich die Tür der Bibliothek schloss, fielen Makotos Blicke auf die Lücke in der Buchreihe, zu der sich gleich darauf eine zweite hinzugesellte. Itsuki konnte sich ein erleichtertes Seufzen nicht völlig verkneifen. Er sah auf das Buch in seiner Hand hinab. Klassische Sagen und Mythen prangte dort in dicken Lettern. Noch nie zuvor hatte er Odysseus so gut verstehen können wie jetzt. "Heim nach Ithaka", rief Itsuki den finster dreinschauenden, gerahmten Gesichtern an den Wänden fröhlich zu. "Makoto?" Leises Klopfen folgte. Und dann wieder: "Makoto?" Der Angesprochene saß wie zu einer Skulptur erstarrt an seinem Schreibtisch. Die Deckel des aufgeschlagenen Buches in seinen Händen wollten sich schließen, hielten aber noch einen Moment inne. Erneut klopfte es an der Tür gefolgt von Itsukis gedämpfter Stimme. "Es ist zu spät, ich weiß, dass du da bist. Das Licht brennt und ich kann es unter der Tür sehen." Makoto klappte sein Buch zu, legte es beiseite und ging zur Tür, ohne diese jedoch zu öffnen. "Und wie kommst du darauf, dass ich dir trotzdem öffnen werde?" Makoto wartete kurz und lauschte. Er hörte es von draußen leise Scheppern, als ob ein Metallgefäß zu Boden gefallen wäre. Itsuki fluchte etwas Unverständliches vor sich hin. "Ich komme immerhin auf Knien angekrochen." Itsukis Stimme verlor sich in der endlosen Schwärze des langen Flurs, ohne dass ihm seine Bitte erfüllt worden wäre. Er konnte hören, wie Makoto auf seiner Seite der Tür leise lachte. Und es klang nicht so, als ob er ihn überzeugt hätte. Itsuki hatte die Stirn gegen das dunkle Holz gelehnt und dachte nach. Die Kühle ging angenehm auf seine erhitzte Stirn über. "Gib deinem Lapis-Herz einen Ruck und lass mich in deinen Tempel." "So, so, in meinen Tempel willst du. Auf Knien..." Itsuki musste selbst über seine Worte lachen. Wenn Makoto nur endlich die Tür öffnen würde, dann könnte er sehen, dass er tatsächlich davor kniete. Itsuki verlagerte sein Gewicht etwas von einem Bein auf das andere. So langsam wich sämtliches Gefühl aus seinem Körper unterhalb der Knie. "Ich bringe dir auch die Rüstung des größten und edelsten Feldmannes aller Zeiten", versuchte er es noch einmal. "Schön, eigentlich ist es nur der Kopf..." "Etwa der von Bähbem?" Makotos Hand fuhr zum Türgriff. "Nein, der eines edlen Feldmannes, sagte ich doch." Das sich entriegelnde Schloss klang wie ein Pistolenschuss in der abwartenden Stille des Flures. Ein Streifen Licht fiel auf Itsukis Gesicht und wurde immer breiter je weiter sich Makotos Tür öffnete. Makoto musste den Blick senken. Itsuki hatte nicht gelogen und kniete wirklich vor seinem Zimmer. In dem dunklen Flur sah er aus wie ein Gespenst. Das Licht aus seinem Zimmer spiegelte sich silbrig in dem metallenen Gegenstand, den Itsuki in den Händen hielt und nun etwas anhob, damit Makoto ihn sehen konnte. "Itsuki, du bist einer der größten Spinner aller Zeiten", entfuhr es Makoto verblüfft, als er erkannte, was Itsuki da in den Händen hielt. "Wenn das rauskommt, blüht uns das gleiche Schicksal, wie deinem geköpften Ritter..." "Und damit es nicht rauskommt, müsstest du den Helm nur nehmen, damit ich aufstehen kann, und mich reinlassen." Itsuki hob den silbern glänzenden Helm Makoto entgegen, der sich endlich erbarmte und ihn nahm. Ächzend stand Itsuki auf. Seine Knie schmerzten höllisch. Makoto drehte den Helm in der Hand und betrachtete ihn sich von allen Seiten. Er war schwer und Makoto fragte sich, was erst der Rest der Rüstung an Gewicht haben musste. Eigentlich war so etwas nicht unbedingt dazu geeignet, um damit ordentlich kämpfen zu können. Das Visier quietschte schrill als er es einen Spalt weit öffnete. "Und damit bist du die Treppe auf Knien hinaufgekrochen?" "Natürlich!" Itsuki schloss die Tür hinter sich. "Ich hatte ja zuerst die ganze Rüstung mitbringen wollen, aber die hat zu laut gescheppert." "Ich habe mich wohl geirrt", Makoto, der erst zu verblüfft für eine Reaktion gewesen war, lachte nun. "Du bist der größte Spinner aller Zeiten." "Danke", erwiderte Itsuki geschmeichelt. Makoto platzierte den Helm auf seinem Schreibtisch. Als er sich wieder zu Itsuki umwandte, sah er wie der sich müde auf sein Bett fallen ließ. Unbeholfen schob Makoto den Helm etwas hin und her. "Was meinst du, wie lange es dauert, bis man den Frevel bemerkt?" Itsuki, der wie selbstverständlich mitten auf Makotos Bett lag und seine Arme und Beine weit von sich gestreckt hatte, lächelte verschmitzt. "Sollen sie doch! Ich fürchte mich nicht vor dem Gefolge des Ritters." "Und aus welchem Märchenbuch hattest du die Idee dazu?" "Ein bisschen was aus der Jupiter-Mythologie und ein bisschen was von was-weiß-ich-noch-alles." "Eine sehr freie Interpretation der Jupiter-Mythologie." "Ich musste eben etwas improvisieren. Aber Tempel ist Tempel und Opfer ist Opfer, meinst du nicht?" Itsuki hatte die Augen geschlossen und Makoto erwartete fast, dass er gleich einschlafen würde. "Was für ein symbolträchtiger Akt." Makoto, der die ganze Zeit über gegen die Schreibtischplatte gelehnt dagestanden hatte, verließ seinen Platz. "Gern geschehen." Etwas störte Itsuki an dem Bettzeug. Eine Stelle war nicht so erholsam weich wie die anderen. Er stützte sich auf seinem Ellenbogen ab, suchte mit der anderen Hand nach dem störenden Objekt und hielt gleich darauf ein Buch in seiner Hand. Er drehte es in seiner Hand, bis der auf dem Kopf stehende Titel richtig herum war und er ihn lesen konnte. Der Zauberer von Oz. "Du hast einen eindeutig besseren Lesegeschmack als ich", witzelte Itsuki. "Vermutlich." Makoto hob leicht die Schultern und lächelte gespielt selbstgefällig. "Er führt jedenfalls nicht zu solch seltsamen Auswüchsen wie deiner." Itsuki lachte so laut, dass Makoto sich nicht gewundert hätte, wenn es bald wieder an der Tür klopfen würde. Er legte den Zeigefinger an seine Lippen und 'Ssscht'e in möglichst ernster Bibliothekarsmanier, ehe er selbst lachen musste. Immer noch lachend ließ sich Makoto neben Itsuki auf das Bett fallen. "Weißt du noch, Helena war früher von diesem Buch regelrecht besessen." Itsuki blätterte durch das Buch und sah sich die Scherenschnittbilder darin an. Die Erinnerung an ihre Kindheit, die schon so fern schien, ließ Itsuki wehmütig lächeln. "Einmal hat sie zu dir gesagt, du wärst wie die Vogelscheuche." "Als ob ich das jemals vergessen könnte", brummelte Makoto. Es war nicht gerade die schönste Erinnerung, die er an das Buch hatte. "Und gleich darauf sagte sie, dass das nicht stimme, du seist eher der Zinnmann, worüber du dich noch mehr geärgert hattest. Du hast Tagelang kein Wort mehr mit ihr gesprochen." Makoto verdrehte die Augen. "Das war kein allzu großer Verlust." "Ja, das stimmt wohl." Itsuki legte das Buch beiseite. Er drehte sich zu Makoto herum und legte seine Hand auf dessen Brust. Seine schlanken Finger fuhren Makotos Rippenbogen entlang. Das aufgeregte Pochen darunter beruhigte sich langsam. "Sie hat keine Ahnung." Makotos Hand schob sich unter Itsukis Kinn und hob es etwas an. Der auffordernden Berührung folgend, rutschte Itsuki höher, bis sein Gesicht auf gleicher Höhe mit Makotos war. Makoto wich Itsukis Blicken nicht mehr aus. Auch nicht, als einige Augenblicke später ihre unbekleideten Körper wenigstens etwas von dem Verlangen zu stillen versuchten, das über die Jahre, die sie in einer so lieblosen Umgebung wie Bähbem Manor hatten verbringen müssen, doch nie hatte unterdrückt werden können. Zum fünften Mal fiel das Stück Holz zu Boden. Itsuki fluchte und versuchte erneut, mit klammen Fingern den Holzscheit hochkant auf dem Hackklotz zu positionieren. Er blieb stehen. Itsuki bewegte sich so langsam und vorsichtig, wie er konnte als fürchte er, dass beim kleinsten Lufthauch, das Holz wieder umfallen könnte. Er nahm das Beil in beide Hände, hob es über den Kopf und ließ es mit der Klinge voran auf den Holzscheit niedersausen. In zwei Teilen fiel der gespaltene Scheit neben dem Hackklotz in das mit Raureif überzogene Gras und Itsuki bejubelte seinen Erfolg. Verständnislos schüttelte Makoto seinen Kopf. Der Haufen gespaltener Scheite neben ihm wuchs weiter regelmäßig an, während Itsuki gerade den ersten zur benötigten Größe zerschlagen hatte. Früher als gedacht hatte das Gefolge des edlen Ritters gleich am nächsten Morgen den Frevel an dessen geschändeten Leib entdeckt und sich sofort auf die Suche nach dem fehlenden Kopf gemacht. Nach einer gründlichen Zimmerdurchsuchung, die den ganzen Tag über gedauert hatte, hatte man den Helm schließlich in Makotos Zimmer gefunden, wo er wie eine Trophäe auf dessen Schreibtisch thronte. Makoto hätte Itsuki dafür den Hals umdrehen können, musste aber erstaunt feststellen, dass der die Schuld dafür auf sich nehmen wollte. Weil aber das Beweisstück eben bei Makoto gefunden worden war, hatte Lehrer Isshiki kurzerhand alle beide zu einer – wie ihm schien - angemessenen Strafe verdonnert. "Was für eine reaktionäre Methode, uns zu bestrafen." Weiße Atemwölkchen begleiteten Itsukis verärgerte Worte. Es war Herbst und der Morgen noch empfindlich kalt. "Als ob uns das Holzhacken irgendetwas brächte." "Das soll es wahrscheinlich auch nicht." Gekonnt schlug Makoto den nächsten Holzscheit in zwei Hälften. "Wir sollen wohl nur unsere gesparte Energie besser zu verwenden lernen." "Wäre Sommer, wüsste ich auch was besseres mit meiner Energie zu tun..." Lustlos schlug Itsuki das Beil in den Hackklotz, wo es im Holz stecken blieb. Behende schwang er sich auf das Mäuerchen, das den Teil, an dem das Holz gehackt wurde, von dem abgrenzte, wo es aufgestapelt wurde. Eine Weile sah er Makoto amüsiert zu, der nicht wirkte, als ob ihn die Strafe stören würde. "Ich weiß gar nicht, was die Aufregung soll", beschwerte sich Itsuki. Er warf einen finsteren Blick zu Bähbem Manor hin. Hinter einigen Fenstern brannte bereits Licht. "Zu jedem Gruselschloss gehört mindestens eine geköpfte Person." "Das ist wahrscheinlich jedem hier außer Helena klar, aber du hättest es nicht unbedingt zu Lehrer Isshiki sagen müssen." Makotos Schlag hallte durch das weitläufige Gelände und wurde, von den riesigen, uralten Bäumen, die es umgaben, aufgehalten und zurückgeworfen. Itsuki verzog seinen Mund zu einem schiefen Lächeln. Mit welcher Hingabe Makoto doch das Holz hackte. "Bist du der Meinung, wir hätten diese Strafe verdient?" Makoto biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Die eiserne Klinge sauste herab und zerteilte das nächste Stück Holz. "Du denkst das wirklich, oder?" Itsuki war tatsächlich verblüfft. "Kein Wunder, die Strafe kommt ja auch von jemandem, der dir besser gleicht, als jeder Zwilling es je könnte", spottete er verbittert. Die Klinge, die durch die Luft zischte, als Makoto sie erneut auf den hochkant aufgestellten Scheit schlug, verfehlte das erste Mal ihr Ziel. Sie rutschte am Hackklotz ab und bohrte sich daneben in die Erde. Wütend zog Makoto sie heraus. Feuchte Grasbüschel und dunkle Erdbrocken hingen an der Klinge und rieselten zu Boden. Er hob das Beil über den Kopf und warf es so weit von sich, wie er konnte. Nach einigen Metern landete es dumpf raschelnd im taunassen Gras. "Guter Wurf!" Itsuki lachte und klatschte Beifall. Er verstummte erst, als sich Makoto zu ihm herumdrehte. Er sah nicht wütend aus, eher resigniert. Langsam näherte er sich Itsuki, der noch immer auf der Mauer saß, und blieb dicht vor ihm stehen. Itsuki beobachtete jede Regung in Makotos Gesicht und versuchte sie zu interpretieren. "Findest du wirklich, dass das, was passiert ist, bestrafenswert ist? Alles?" Nachdenklich und ohne etwas bestimmtes zu fixieren sah Makoto an Itsuki vorbei. "Noch ein Jahr und dann sind wir hier weg", murmelte er. Kein aufgemalter Himmel mehr. Keine verriegelten Türen mehr und keine Menschen, die sich ihnen gegenüber ebenso verschlossen benahmen. Makoto trat so nah an Itsuki heran, dass er die Mauer an seinen Beinen spüren konnte. Er schlang seine Arme um Itsukis Taille, drückte sich fest an ihn und lehnte seinen Stirn erschöpft gegen dessen Schulter. Itsukis Finger strichen sachte über Makotos Kopf. War es denn wirklich bestrafenswert, was sie getan hatten? Alles? Makoto presste seinen Mund gegen Itsukis Hals, dessen kühle Haut sich langsam darunter erwärmte. "Nein, noch nicht." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)