Freundschaften, Feindschaften von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: Märchenstunde ------------------------ VI. Märchenstunde Lance streckte sich genüsslich auf der Tagesdecke seines Hotelzimmerbettes aus. Brian war… einfach hinreißend. Nicht einer von den Kerlen, die für eine schnelle Nummer alles stehen und liegen ließen und danach nicht mal die Haarfarbe dessen hätten nennen können, den sie gerade gefickt hatten. Wie eine Delikatesse nach all dem Fastfood. Aber er war gebunden. Noch. Er hatte auf den ersten Blick erkannt, dass Brians kleines Blondchen kaum mehr war als eine glänzende Trophäe. Seine Jugendlichkeit mochte beschwingen und im Bett mochte er einiges zu bieten haben – aber gewiss keine Erfahrung. Und als Ehemann… Wie sollte ein Mann wie Brian mit so einem hohlen Früchtchen ein befriedigendes Gespräch führen können? Kannte der überhaupt andere Themen als die neuste Party, die neuste Band, den neusten Designer…? Und Brian bot ihm seit Jahren wohl ein gesichertes Auskommen, da lohnte es sich wohl, den älteren Mann bei Laune zu halten… Zuwendung, hohle Versprechungen… Er kannte das. Wenn das Konto nur prall genug gefüllt war, kamen sie wie die Maden in den Speck, diese Blender. Und Brian, warum hatte er…? Vielleicht hatte er in ihm etwas gesehen, was gar nicht da war, aber er sich ersehnte. War darauf reingefallen. Das passierte auch den Besten, Lance konnte ein Lied davon singen. Doch allmählich schien sich Brian zu besinnen. Oder der andere hatte den nächsten Fressnapf erspäht und zeigte jetzt sein wahres Gesicht. Oder er begann zu merken, dass Brian ihm entglitt… Aber er machte sich keine Illusionen. Brian war schon länger nicht mehr daheim gewesen, bei seinem Sohn. War das auch ein Grund, warum Justin…? War es ihm zu viel geworden, allein mit dem Kind? Er an Brians Stelle hätte so etwas auch nicht an die große Glocke gehängt. Sie mochten einen guten Draht zueinander haben – aber sie kannten sich noch nicht so lange, dass man über so etwas sprach… Der Blonde war auf dem Abmarsch. Gut. Blieb noch das Kind. Lance konnte Kinder nicht ausstehen. Er erinnerte sich an seine Kindheit… das stete Gefühl der Überflüssigkeit, während seine Mutter oder Stiefmutter oder Stiefmutter Nummer Zwei, Drei, Was-auch-immer in Richtung des nächsten Gala-Dinners entschwand. Oder in Richtung des nächsten Ehemanns. Oh ja, er wusste, wie das war mit der Ehe. Einer bezahlte. Der mit dem dickeren Geldbeutel. Die Gegenwart von Kindern erinnerte ihn daran, wie es war, nichts ausrichten zu können. Aber das war lange her. Er war ein Mann der Tat – wie er es Brian gesagt hatte. Er legte die Hände nicht in den Schoss und wartete, bis das Glück ihm hold sein wollte. Er griff danach, darauf war er stolz. Das Kind… Hatte Brian nicht Verwandte, wo es aufwachsen könnte? Schwule Männer und Kinder – was sollte das auch schon. Dafür waren sie nicht zuständig. Wäre wahrscheinlich auch besser für den kleinen Jungen… so könnte er es Brian schmackhaft machen. Aber erst mal Blondi. Der hatte sofort angebissen. Künstlerstipendium… Lance hatte keine Meinung zu solchen Farbklecksern. Kunst langweilte ihn. Überflüssige Zeitverschwendung… Er hatte nur zehn Minuten auf das Gelabere seiner Mutter am Telefon hören müssen, die ja ständig durch die In-Szene New Yorks stöckelte, schon lieferte sie ihm die Idee. Sie war ein bisschen misstrauisch geworden, als er auf einmal echtes Interesse gezeigt hatte. Aber sie hatte ihm dennoch bereitwillig jedes Stipendium für junge Künstler, das wahrscheinlich je vergeben worden war, aufgezählt. Und dieses stand gerade aus. London. Perfekt. Und Brians Nichts von einem Mann war natürlich sofort darauf gestürzt. Er hatte es auch nicht anders erwartet. Jetzt hieß es weitermachen. Er schloss die Augen, stellte sich Brian vor, diese schimmernden Augen, in denen das Licht vielfarbig reflektierte, die stolze Haltung, dieser kleine schiefe Zahn… Vielleicht hatte er schon schönere Männer als ihn gesehen. Mit mehr Muskeln. Ausgeglicheneren Gesichtszügen. Mit Zähnen wie Perlenschnüre. Aber nicht mit diesem… Strahlen? Etwas, das tief aus ihm drang und physisch kaum fassbar war, wenn er in seiner Arbeit aufging… auf der Weihnachtsfeuer war es wie ein Leuchten gewesen… Oder war er nur so betrunken gewesen? …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Brian saß auf einem Hocker an der breiten Fensterfront und ließ den Blick über den schneebedeckten Garten, der sich in der Dunkelheit vor ihm ausbreitete, gleiten. Unerschlossenes Land. Aber bald würde der Frühling kommen. Gus saß zu seinen Füßen und puzzelte gedankenverloren mit seinen Legosteinen. Ab und an entfuhr ihm ein leises Glucksen, wenn er eine Idee hatte oder die Steine sich so fügten, wie er es geplant hatte. Justin summte leise irgendetwas, während er seinen Pinsel, einer unsichtbaren Logik folgend, über die Leinwand zog. Es war nicht mehr dieses wilde Toben wie bei Brians Heimkehr, eher wie ein versunkener, lockender Tanz, der Muster herbeirief, Formen und Farben verflocht in einem nimmermüden Rhythmus. Brian schob seine Brille auf seine Nase und widmete sich der Lektüre einer Tageszeitung. Er hatte immer gerne die Nachrichten gelesen, sorgsam von vorne bis hinten, durchdacht und geschrieben von Journalisten, die ihr Handwerk verstanden – nicht diesen Müll, den das Internet gerne ausspuckte. Das Wissen, das er sich so aneignete, war immer ein Vorteil gewesen. Man wusste nie, was man noch brauchen konnte. Und außerdem war es… interessant? Anregend? Irgendwie so. Er hatte Mikey nie verstanden, der sich lediglich für die Klatschseite interessieren konnte. Oder für die Regenbogenpresse. Aber da kam er wohl nach Debb. „Ich bin müde, Papa“, sagte Gus schließlich. Brian schaute auf und legte die Zeitung beiseite. „Soll ich dich ins Bett bringen?“ Gus nickte, und er hob ihn hoch. Als er wieder zurück ins Obergeschoss trat, war Justin dabei, in seinem kleinen Chaos-Badezimmer die Pinsel einzuweichen. Das Licht im Atelier war gedimmt. Brian lehnte sich an den Türrahmen und sah zu. Als Justin fertig war, trat er an ihn heran und sah zu ihm hinauf. Sein linker Wimperkranz trug noch immer einen weißen Farbfleck. „Was ist?“ fragte Brian lächelnd. „Soll ich dich jetzt auch ins Bett schleppen?“ Justin zwinkerte ihm amüsiert zu und meinte: „Ein sehr verlockender Vorschlag. Aber nur, wenn ich dir dort noch eine Gutenacht-Geschichte erzählen darf.“ „Spiele ich eine Rolle darin?“ fragte Brian mit hochgezogener Braue. „Du bist der Prinz in der goldenen Rüstung… hey!“ keuchte Justin, als er sich gepackt und über Brians Rücken geworfen fand. Dann nutzte er die Gelegenheit und ließ seine Rechte unter Brians Hosenbund tauchen, um dort Halt zu suchen. Brian umschlang Justins Hüfte und setzte sich in Bewegung. Die Treppe runter war gar nicht so einfach, aber er verstand es, Haltung zu bewahren, auch wenn Justin nicht die Chance verpasste, ihm kräftig in die Kehrseite zu kneifen. „Aua, ich dachte Künstlerhände seien voller zarter Raffinesse…“ „Sei froh, dass ich kein Schlachter bin…“ „Will ich mir besser gar nicht vorstellen. Oder? Schlachter? Mit so ‘ner schwarzen Lederschütze?“ „Ich sehe nicht gerade aus wie ein Lederbär“, warf Justin ein. „Bei deinen seltenen Leder-Auftritten als männliche Nutte im Namen der Gerechtigkeit oder im Namen der Weihnachtsstimmung warst du doch durchaus überzeugend.“ „Ach ja? Sieh an, sieh an… Du stehst da drauf!“ „Ich sage ja nur…“ „Jaja“, sagte Justin, als Brian die Schlafzimmertür aufstieß und ihn rücklings aufs Bett plumpsen ließ, „gib‘s ruhig zu.“ „Naja… Dein Hintern in so ein Teil gequetscht hat schon was…“ „Soll ich Morgen losrennen und mir Chaps und nen Harness besorgen…?“ stichelte Justin. „Irgendwie schwer vorstellbar… Aber wenn ich sowas sage, hast Du morgen in einem der leer stehenden Kellerräume einen kompletten Dungeon installiert, also bin ich lieber friedlich.“ „Was – Angst?“ provozierte Justin grinsend, während er mit den Beinen Brian an sich zog. „War nie so mein Ding, mir den Arsch versohlen zu lassen“, erwiderte Brian, während er sich hinunter sinken ließ. „Obwohl du es zuweilen echt verdient hast!“ stellte Justin fest und verpasste ihm einen leichten Tritt. „Was habe ich hier losgetreten… Sonnenschein auf dem S/M-Trip?“ fragte Brian und drängte ihn nieder. „Hey, du hast mir doch Mal den Hintern versohlt“, stellte Justin fest, während er begann, sich genüsslich an Brian zu reiben. „Das ist ewig her“, bemerkte Brian, sein Gewicht immer mehr auf den anderen verlagernd, „und war absolut gerechtfertigt.“ „Du Prügel-Pädagoge!“ kommentierte Justin eiskalt und leckte seinen Hals entlang. „Gut, dass Mrs. Lennox außer Hörweite ist. Ich würde Gus niemals schlagen. Bei Dir bin ich mir gerade nicht mehr so ganz sicher…“, brachte Brian hervor, schnappte sich Justins Handgelenke und zog sie in fester Umklammerung über seinem Kopf auf die Matratze, dass dieser keuchend ausatmete. „Was?“ fragte Justin und schlug die blauen Augen riesig zu ihm auf, während er sich scheinheilig etwas wehrte. „Wer würde mir denn den Hintern versohlen - mit absolut unkeuschen Absichten? Ich bin doch so ein Unschuldslamm… Wer würde denn so etwas… Schmutziges mit mir machen…? Meine Willenlosigkeit derart unverschämt ausnutzen…?“ Brian starrte ihn an, dann verzogen sich seine Lippen zu einem frohlockenden Lächeln. „Du bist so ein verdammtes Luder, Justin!“ Justin verzog das Gesicht und blinzelte: „Ein… Luder?! Ich?! Aber warum… warum… sagst du so etwas… Böses zu mir?“ „Sonnenschein…“, murmelte Brian warnend und löste seinen Griff. Justin entschlüpfte ihm und drehte sich auf den Bauch, ihn mit verhangenem Blick über die Schulter an starrend. „Na gut“, sagte er dann schicksalsergeben, während das Leuchten in seinen Augen eine andere Sprache sprach, „machen wir eben Kuschelsex, wenn du das gerne möchtest.“ Kleiner Mistkerl. Mieser kleiner Mistkerl, dachte Brian, als er den laut lachenden Justin über seine Knie zerrte, seinen eigenen Mundwinkeln befehlend, gefälligst unten zu bleiben. So viel zum Thema Dominanz… Das erstaunliche an Justin war, dass er von einer Sekunde auf die andere umschalten konnte – und Brians Körper darauf wie einem Automatismus folgend reagierte. Eben hatte Justin sich ihm noch völlig ausgeliefert, dann fand er sich selbst niedergedrängt und seiner Sinne beraubt, dass er zu keiner Gegenwehr mehr in der Lage war, nur noch dazu, sich anzubieten und zu betteln und zu fordern und zu drängen, egal nach was… Kein Trick dieser Welt war je dazu in der Lage dazu gewesen, ihm dermaßen jeder Ratio zu berauben. Aber hier brauchte er auch keine Bremse. Es war scheißegal, was jeder andere auf dieser Welt dachte - die hatten ja keine Ahnung… das hier waren nur sie… ausprobieren, ausloten, erfinden, wiederholen, auf die Spitze treiben… Reiz… Vertrautheit… wild… zärtlich… alles… Schwer atmend kamen sie wieder zu sich. Justins Gesicht war in Brians Schulterbeuge vergraben. „Jetzt tut uns wohl beiden der Arsch weh“, murmelte Justin. „Ja. Und das ist deine Schuld!“ brachte Brian hervor, während sein Herz sich allmählich wieder beruhigte. „Diese Nummer ist durch für diesen Abend“, lächelte Justin an seinem Hals. „Jetzt will ich Kuschelsex.“ „Was? Du langweiliger Spießer… Aber vorher will ich meine Gutenacht-Geschichte“ sagte Brian und züngelte an seinem Ohr, dass Justin sich wand. „Okay…“, murmelte Justin. „In einer fernen Stadt vor… meiner Zeit, da wurde ein Kind geboren. Nennen wir es… Lancilot. Sein Vater war ein fieser Geldhai, seine Mutter war eine geldgeile Schlampe. Lancilot war der Kronprinz, aber seine Eltern waren sehr beschäftigt. Sein Vater mit Geld scheffeln und junge Weiber heiraten, seine Mutter mit auf Partys rumhängen und reiche Ehemänner abgreifen… Lancilot wuchs bei europäischen Au Pair-Mädchen auf, die scharf auf New York – aber nicht auf ihn - waren. Als Lancilot älter wurde, erinnerte sich sein Vater an ihn und bestimmte ihn zu seinem Erben. Lancilot war fleißig und brav, sein Vater war zufrieden mit ihm. Da gab es nur ein Problem. Lancilot wollte einfach keine passende Prinzessin finden. Die eine war ihm zu dick… die andere zu alt… die nächste zu dumm. Heimlich schlich Lancilot los in die verbotenen Tempel der Sünde und hoffte, da keine Prinzessin zu finden – sondern einen Prinzen. Sein Vater erfuhr davon – und heiratete vor Verzweiflung eine zweiundzwanzigjährige Russin mit Namen Katarina. Lancilot fand einen Prinzen. Und noch einen. Und noch einen. Aber keiner war ihm auf Dauer Recht. Denn er verstand nicht, was sie von ihm wollten. Wenn sie „Liebe“ sagten, verstand er nur „Geld“. Das tat ihm schrecklich weh. Und er schrie: Du bist nicht mein Prinz! Du bist eine geldgeile Schlampe! Genau wie meine Mutter und meine Stiefmütter – inklusive der armen Katarina, die davon aber nie etwas erfuhr. Lancilot blieb allein. Dann schickte sein Vater ihn los, auf eine Reise in ein fernes Land, damit er noch mehr Geld scheffeln konnte, um seine abgelegten Weiber zu finanzieren. Und Lancilot brach auf. Er packte seine Siebensachen, seinen Boss-Mantel, seine Gucci-Treter, seinen Prada-Kulturbeutel und zog wacker in ein Land weit, weit fort. Lancilot hatte seine Hoffnungen völlig aufgegeben, da traf er ihn: Den Prinzen in der goldenen Rüstung! Und er war nicht in Wirklichkeit ein armer Bettelknabe, der nur die Krallen nach seiner Kohle ausstrecken wollte. Und er war wunderschön! Und klug! Und er lächelte Lancilot an! Aber der Ritter befand sich in den Fängen eines fiesen blonden Zauberers, der den ganzen Tag nur vor sich hin murmelnd durch sein ausgebautes Dachgeschoss zuckelte und ungeheuerliche Dinge trieb. Der Zauberer hatte einen Gehilfen, einen bösen Zwerg, der ständig seine Aufmerksamkeit wollte, gefüttert, Schlafen gebracht werden oder gar zum Fußball. Lancilot brach es fast das Herz. Er beschloss den armen Ritter in seiner goldenen Rüstung zu erretten. Er erzählte einer guten Fee, dass der Ritter und der Zauberer und der Zwerg nicht gut zueinander gewesen seien. Viel mehr noch – dass der Ritter gefährlich sei für Zwerg und Zauberer. Damit er endlich von ihnen weg könne. Und den Zauberer steckte er in eine Kiste und schickte ihn in ein Land jenseits des Ozeans. Und den Zwerg… Den schickte er auch fort. Vielleicht zu seiner Großmutter, der bösen Hexe? Oder zu seiner anderen Großmutter, der anderen bösen Hexe? Dann wäre der Ritter in der goldenen Rüstung endlich frei. Und Lancilot wäre glücklich. Bis er ihm sein Geld abknöpft, versteht sich.“ Brian lag lauschend auf Justins Brust. „Ich mag Geschichten mit Happy-End“, murmelte er. „Kuschelsex?“ wisperte Justin in sein Haar, nicht ganz ohne fiesen Unterton. „Kuschelsex“, bestätigte Brian, dem das keinesfalls entging, und ließ seine Finger in Justins Spalte tauchen, dass diesem ein Aufkeuchen entfuhr „aber so richtig!“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Daphne?“ „Ja….“ „Mann, ich versuche schon seit Tagen, dich anzurufen! Hatte es schon fast aufgegeben! Was ist denn los!“ rief Justin in Hörer. „Hatte zu tun“, presste Daphne hervor. „Mann, mute Dir doch nicht so viel zu, jetzt da du…“ „Ich bin schwanger! Nicht krank!“ „Okay… Da bin ich wohl nicht so der Kenntnisreichste…“ „Allerdings!“ „Willst du dich jetzt am Telefon zoffen? Was ist los mit dir? Mensch, Daph…“ Sie atmete schwer durch: „Entschuldige, Justin. Ich bin nur grad etwas von der Rolle.“ „Alles okay mit dir und… dem Baby?“ „Ja, sie ist gesund.“ „Sie?“ „Ja.“ „Glückwunsch.“ „Danke… Aber ich bin jetzt gerade wirklich in Eile…“ „Daph!“ „Was denn?“ „Was geht da vor sich? Irgendetwas ist doch nicht okay, verarsch mich bitte nicht!“ Daphne schwieg. Dann sagte sie: „Sie haben das Projekt gestrichen.“ „Dein Stipendium?“ „Ist flöten. Aber nicht nur. Das ganze Projekt ist im A… Eimer.“ „Scheiße. Das tut mir echt leid.“ „Ja.“ „Was ist passiert?“ „Ethik-Komission. Haben den Laden dicht gemacht. Prof. Marissol ist sonst wohin verduftet, bevor sie ihn schnappen konnten.“ „Daphne!“ entfuhr Justin. „Wo, zum Geier, steckst du da drin!“ Schweigen. „Nichts. Kann ich nicht sagen.“ „Daph…“ „Nein!“ sie hörte sich an, als würde sie gleich heulen – oder um sich prügeln. „Wir können dir helfen…!“ „Danke, Jus, wirklich. Aber das geht im Moment nicht. Ich melde mich, okay?“ „Und was willst du jetzt machen?“ „Ich brauche ein neues Projekt…“ „Schon was in Aussicht?“ „Noch nicht…“ „Und was ist mit dem Baby…?“ „Was soll schon sein?“ „Nicht, dass du da Frankensteins Baby ausbrütetest nach dem ganzen Genetik- Sch…“ „Nein!“ fuhr Daphne ihn an. „Sie – hörst du – sie! Ist nicht Frankensteins Tochter! Sie ist völlig normal! Völlig gesund!“ „Ist ja okay!“ Schweigen. „Hast du schon einen Namen?“ „Lilly“, sagte Daphne kurz angebunden. „Das ist… nett… Aber bekommst du das hin – Studium, Baby…?“ fragte Justin besorgt. „Geht schon.“ „Und was ist mit dem Vater – kann er nicht helfen?“ Daphne schwieg. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Die Knöpfe seines MP3-Players in den Ohren schlenderte Justin durch die langen Gänge des Supermarktes. Es liebte es einzukaufen, die Feinkostabteilung zu durchstöbern, nach Neuigkeiten Ausschau zu halten, das Gemüse oder den Fisch kritisch zu beäugen, während vor seinem inneren Dinge Visionen von dem entstanden, was man daraus machen könne. Und wie es schmecken würde… Es war fast wie der Kauf von Farben, Pinseln und Leinwänden - bloß viel entspannender. Der Einkaufwagen wies bereits gewisse Ähnlichkeiten mit dem Turm von Babel auf. Er nahm ein paar exotische Früchte von einem Ständer. Irgendwelcher unbekannte Kram aus Südostasien… sah aus wie vom Mars… wie das wohl schmeckte? Was machte man damit? Mitnehmen? Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, beschloss er und lud ein. Er konnte sich ja später im Internet schlau machen. Er sah sich weiter um. Granny Smith für Brian, der gerade versuchte seine eingebildete Gewichtszunahme rückgängig zu machen… Er hatte gerade zwölf Stück abgezählt und beäugte sie noch einmal kritisch, als eine Hand sich auf seine Schulter legte. Erschrocken fuhr er herum, beinahe seine Beute fallen lassend. „Justin?“ drang es durch das sanfte Schwingen der Jazz Musik, mit der er seine Ohren gegen das Supermarkt-Gedudel abschirmte und die ihn in heitere Einkauflaune versetzte Irritiert starrte er den jungen Mann an, der ihn angesprochen hatte. Es dauerte eine Sekunde, dann stellte sich die Erkenntnis ein. „Oh, hi… Ethan.“ Er rupfte sich die Stöpsel aus den Ohren. „Na, das ist ja Mal ein Zufall! Wie geht es Dir?“ fragte Ethan und lächelte ihn Zähne zeigend an. „Ganz gut“, brachte Justin hervor, während seine Gedanken wirbelten. Für den hatte er Brian sitzen lassen? Er Idiot. Ethan war ja ganz niedlich, hatte ihm das Blaue vom Himmel herunter versprochen, all die Sachen, die er hatte von Brian haben wollen… und der Sex… naja… da war Brian sowieso nie zu schlagen gewesen. Aber es war ihm eine heilsame Lektion gewesen, ohne die er später wohl nicht… Er besann sich: „Und selber? Immer noch wieder zurück im Schränkchen?“ „Mann, Justin… du weißt doch, wie das ist!“ antwortete Ethan und zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Eigentlich… nein“, erwiderte Justin etwas schärfer als beabsichtigt. „In der Musikbranche herrschen andere Regeln als auf dem Kunstmarkt. Habe ein paar von deinen Kritiken gelesen – Glückwunsch!“ wechselte Ethan das Thema. „Äh… danke.“ Er hatte sich einen feuchten Dreck um Ethans Karriere geschert, nachdem sie sich getrennt hatten. War er ein mieser Ex-Freund? Aber war das nicht der Job eines Ex-Freunds, mies zu sein? Vor allem, wenn er belogen und betrogen worden war… Brian hatte wenigstens vor seiner Nase Rumgefickt. Wortwörtlich. Juhu. „Und sonst so? Auf Besuch in Pitts? Ich dachte, du seist in New York. Da bin ich eigentlich auch mittlerweile, besuche nur ein paar alte Studienkollegen“, plauderte Ethan. „War ne Zeit in New York, aber nein, ich wohne wieder hier“, antwortete Justin wahrheitsgemäß, die Tüte mit den Äpfeln vor seine Brust ziehend. „Echt? Warum das denn? Die Szene tobt doch im Big Apple!“ stellte Ethan ein wenig zu enthusiastisch für Justins Geschmack fest. „Und ich tobe hier. Mit großen Äpfeln, sogar im Plural“, sagte Justin und hielt seine Tüte mit Brians Lieblingssnack hoch. Ethan lachte auf und entblößte dabei erneut seine strahlend weißen Zähne. Justin besann sich auf seine Manieren: „Und wie läuft es bei dir so?“ „Gut. Laufe noch als Semi-Geheimtipp, aber es geht voran. Hab ein paar Solo-Auftritte nächste Woche. Meine erste Platte hat sich ganz gut verkauft, eher in Europa als hier. Besprechungen in Klassik-Zeitschriften. Aber ich kann nicht nörgeln. Planst du eigentlich eine Party?“ fragte er mit Blick auf Justins bis zum Rand vollgestopften Einkaufswagen. „Bei mir ist immer Party… Das ist ein Familieneinkauf“, antwortete Justin kurz angebunden. „Du kaufst für deine Mutter und Molly ein?“ fragte Ethan erstaunt. „Nö…“, murmelte Justin. „Du hast ne eigene Familie?“ fragte Ethan verdattert. „Oh Gott, du trägst ja nen Ehering! Äh… Glückwunsch!“ „Danke…“, antwortete Justin so gelassen wie möglich und musste an den Ring denken, den Ethan ihm damals geschenkt hatte. Er hatte ihm ihn um die Ohren gepfeffert. Das hatte er mit diesem hier garantiert nicht vor, denn dieser war echt – in mehr als einer Hinsicht. „Sag schon, wie ist er so?“ fragte Ethan neugierig. „Tja, du kennst ihn ja…“, erwiderte Justin nur und starrte Ethan ins Gesicht. „Was? Wen?“ fragte dieser verwirrt, die störrischen Locken mit der Hand zurück streichend. „Na wen schon?“ versetzte Justin. Ethan starrte ihn verständnislos an, dann dämmerte es ihm: „Du… du hast Brian geheiratet???“ „Haargenau“, sagte Justin und spähte in Richtung der Bananen. Gus mochte sie zermust mit ein wenig Nougatcreme. Er auch. Joan weniger. Und Brian hielt diese Speise für eine mittelalterliche Foltermethode. „Aber… aber war er dir nicht ständig untreu?“ hakte Ethan nach. „Eigentlich nicht. Dank dir ist mir das klar geworden“, knallte Justin ihm vor den Latz. „Aber er hatte doch ständig andere Kerle…?“ bohrte Ethan weiter, immer noch ein wenig entgeistert aussehend. „Willst du wirklich diese alten Kamellen wieder aufwärmen? Hatte er. Aber er hat mich deswegen nie belogen. Das kann man von dir nicht gerade behaupten“, hielt Justin dagegen. Ethan schwieg kurz. Dann sagte er: „Hätte sowieso nichts geändert.“ „Was meinst du?“ fragte Justin jetzt überrascht. „Weil du ihn geliebt hast, oder? Die ganze verdammte Zeit. Egal, wie viele andere Kerle er gefickt hat. Egal, wie ätzend er sich benommen hat. Aber wahrscheinlich kenn ich da nur die Hälfte der Geschichte.“ Es war keine Frage. Es war eine Feststellung. Justin senkte den Blick. „Mmm, da hast du wahrscheinlich Recht.“ „Fandest du das nicht ein wenig unfair mir gegenüber?“ ein gewisser verdrossener Unterton war nicht zu überhören. „Echt Ethan. Es tut mir leid, okay, wenn dich das verletzt. Aber du warst ja auch nicht ganz sauber, wenn wir das genau betrachten. Hinzu kommt, dass ich es damals noch nicht kapiert hatte. Nicht… wirklich.“ Ethan musterte ihn „Ja“, sagte er langsam, „dagegen kann man wohl nichts machen. Aber… bist du zumindest glücklich damit?“ Justin sah ihn an. Ethan war aufrichtig. „Ja“, antwortete er schließlich, „das bin ich wohl.“ Ethan nickte ihm zu. „Das… das freut mich“, sagte er. Justin entspannte sich, er lächelte: „Und du? Wie geht es dir?“ Ethan seufzte: „Naja, viel Arbeit. Übungen, Aufnahmen, Konzerte… und der Deal steht ja noch -offiziell bin ich nicht schwul.“ „Ich begreife nicht, wie du das aushältst!“ meinte Justin kopfschüttelnd. „Ich muss. Ich will meine Musik. Aber ich will nicht bis an mein Lebensende an Straßenecken spielen müssen“, erwiderte Ethan mit gesenktem Blick. Diese langen Wimpern… ein wenig wie Brians, vielleicht hatte er ihn damals deswegen… aber der Augenausdruck war ein anderer. Er hatte nichts Störrisches, nichts Mutwilliges, hinter dem etwas anderes lauerte wie ein gefangenes Tier… „Das hat Brian dir doch damals eingeimpft“, stellte Justin klar. „War das so offensichtlich? Aber er hatte recht. Arm zu sein ist nicht immer ein Zeichen von Romantik“, hielt Ethan dagegen. Justin hielt lieber den Mund, als er an seine Lebensumstände dachte. Aber er kannte das Gefühl, pleite zu sein und verzweifelt Geld zu brauchen. So war er beinahe bei einer Gang Bang-Party vollgedröhnt im Sling gelandet… oh Gott! Ein Schauder überlief ihn, als er daran dachte. „Stimmt schon irgendwie. Aber diese Heuchelei…“, murmelte er nur. „Und“, wechselte Ethan das Thema, „den ganzen Tag nur damit beschäftigt, deinen Gatten zu betüddeln oder hast du noch Zeit für einen alten Freund?“ Justin wollte schon ablehnen, aber dann besann er sich. Es war nichts Falsches daran, ein wenig Interesse an einem Menschen zu zeigen, der ihm mal wichtig gewesen war. Die Wut war verraucht. Und ein wenig neugierig war er inzwischen auch wieder, wie es Ethan so ergangen war. Oder diskreditierte ihn das jetzt als miesen Ex-Freund? „Okay“, sagte er. „Brian ist ein großer Junge und muss nicht betüddeld werden – das würde er sich auch ziemlich verbieten. Wir können ja die Tage nen Kaffee trinken gehen oder so?“ Nicht dass Brian das nicht durchaus zu genießen wusste… solange man es nicht beim Namen nannte… „Super“, sagte Ethan. „Moment, ich gebe dir meine Nummer…“ …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… „Mann, Drew, das ist einfach… ich weiß auch nicht…“ entfuhr Emmet, als er sich gewand um die eigene Achse drehte. „Ja, ist echt schön hier, nicht?“ lächelte der stämmige Football-Star. „Ich bin ja eigentlich ein richtiges Stadtkind. Ich konnte gar nicht schnell genug vom Land verschwinden. Kaum achtzehn und … schwups… weg war ich. Aber das hier ist… Wow. Ein richtiger Wald!“ Emmet lachte ausgelassen. „Ich gehe hier gerne spazieren, wenn ich nachdenken muss. Es ist so… friedlich. Keine Menschen. Nur die Natur. Es tut gut“, bestätigte Drew etwas in sich gekehrter. „Oh schau Mal! Eichhörnchen!“ entfuhr Emmet entzückt und wies ins Geäst. Drew spähte hinüber. „Sie sehen vielleicht ganz nett aus“, meinte er, „sind aber ganz schön zänkische Biester.“ „Mmm“, meinte Emmet, „das trifft wahrscheinlich nicht nur für sie zu… Aber was meinst du, wenn du ein Tier wärst, was würdest du sein wollen?“ Drew schüttelte zunächst den Kopf, dann überlegte er. „Ich glaube… Ich wäre gern ein Vogel… fliegen zu können wäre schon toll…“ „Frei wie ein Vögelchen?“ fragte Emmet. „Ja… ein wenig… der Boden und alles dort hat dann nichts mehr zu bedeuten… und du?“ „Ich wäre gern Hauskatze bei Debbie. Ich würde immer ein warmes Plätzchen haben, ständig gekrault werden, mit italienischem Essen vollgestopft werden und müsste mir über meine Figur keine Sorgen machen.“ „Das letzte wäre wohl der einzige Zustand zu jetzt…“ Emmet lachte: „Stimmt. Und dass Carl mich dann mit ins Bett lassen würde, um zu kuscheln.“ „Du willst mit Carl kuscheln?“ fragte Drew amüsiert. „Nicht direkt, obwohl so ein richtiger Bär auch was hat… Aber wem sage ich das…“ „Ich bin doch kein Bär! Ich bin ein Vogel, schon vergessen?“ „Ein fliegender Bär?“ Jetzt musste Drew auch lachen. „Oh Gott, wie sähe das denn aus?“ „Auf jeden Fall würden wir dann rohe Steaks ins Futterhäuschen vor Debbs Schlafzimmerfenster stopfen müssen…“ „Keine Angst. Ich komme auch ohne einen Fressköder gerne vorbei.“ „Möchtest du?“ fragte Emmet. „Was?“ „Uns besuchen kommen daheim?“ Drew überlegte. „Ich würde Debbie und Carl schon gerne mal wieder sehen… Sie waren damals echt nett zu mir, weißt du, als die ganzen Paparazzi mich belagert haben.“ „Das haben sie gerne getan. Sie würden sich bestimmt freuen… Carl wird dich garantiert wegen der letzten Spiele löchern…“ „Das ist kein Problem.“ „Okay… Dann betrachte dich als eingeladen… Nächste Woche irgendwann?“ Drew nickte und betrachtete die schneebedeckten Bäume, die stumm in die Landschaft ragten. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Justin! Justin!“ „Gus?“ Justin saß auf der Wohnzimmercouch und blätterte in einem Katalog für professionellen Künstlerbedarf, kleine Merkzettel an die Seiten klebend, die etwas Interessantes hergaben. Er hatte den Vormittag über im Atelier gearbeitet, ein wenig an seiner abstrakten Plastik herum gepuzzelt und Firniss auf zwei Leinwänden aufgetragen. Um eins hatte er Gus aus dem Kindergarten abgeholt und sie hatten im Diner zu Mittag gegessen, Debbie einen Besuch abstattend. Zuhause hatte Gus darauf bestanden, draußen im Schnee spielen zu wollen, also hatte Justin ihn in seinen Thermoanzug gestopft, den Brian zähneknirschend heran geschafft hatte. Immerhin war er von Calvin Klein – und nicht von Prada. Gus hätte auch Walmart getragen, etwas, was er sich dringend abgewöhnen sollte, wollte er nicht eines Tages von seinem Vater wegen modischer Verirrungen enterbt werden, dachte Justin in sich hinein grinsend. Brian mochte sich zwar in einigen Punkten auch aus eigenem Entschluss verändert haben – ein Fashion-Victim war und blieb er. Justin konnte sich schon denken, warum – aber was sollte es. Wenn es ihm Spaß brachte… Wenn die Mode Welt die Staatsform einer Diktatur annehmen wollen sollte, würde Brian zu den vordersten Kandidaten gehören… Er selbst hatte nichts gegen gute Kleidung, aber das Label war ihm dabei ziemlich schnurz. Aber die Welt würde schon ganz schön untergehen müssen, bevor sich Brian dieser Meinung anschließen könnte. „Justin!“ kam Gus ins Zimmer gestürzt, eine kleine Matschspur hinter sich her ziehend. Justin warf den Katalog auf den Couchtisch und fing ihn auf, bevor er seine kleinen dreckigen Füße auf den hellen Angora-Teppich setzen konnte. Gus quietschte begeistert und klammerte sich fest. Ergeben ertrug Justin, dass sich die kalten nassen Schuhe jetzt in seine Kehrseite bohrten, um Halt zu finden. „Was ist denn los, Gus?“ fragte er den aufgeregten Jungen. „Komm mit! Ich muss dir etwas zeigen! Du musst mit raus!“ Justin musste innerlich lächeln, bemühte sich aber um eine strenge Miene. „Wie heißt das, Gus?“ Gus machte kurz ein ratloses Gesicht, dann rief er: „Du musst mit raus – bitte! Bitte! Los! Bitte!“ „Naaaa…..?“ machte Justin, nicht locker lassend. Gus musterte ihn jetzt fast beleidigt, dann sagte er: „Bitte, lieber Justin, komm doch mit raus. Ich möchte dir etwas zeigen.“ „Gerne, lieber Gus“, antwortete Justin und strich ihm bestätigend übers Haar. Er hätte schwören können, dass der Kleine eine Grimasse gezogen hatte. Da hieß es hart bleiben. Und wenn Gus dachte, er ließe sich weich kochen, dann hatte er sich geirrt. Das hatten schon ganz andere versucht. Er parkte den Jungen neben der Tür, wo er ungeduldig herum hibbelte, und zog sich Schuhe und Jacke über. Kaum war er mit der Hand durch den Ärmel, hatte Gus ihn auch schon geschnappt und zerrte voran, während er sich um einen halbwegs gemessenen Schritt bemühte. Gus steuerte den Bereich vor der Vorderfront an, wo sich wohl irgendwo unter dem Wildwuchs und dem Schnee Blumenbeete befinden mussten. Er deutete stolz lächelnd auf einen Punkt am Boden. Zunächst sah Justin gar nichts, dann zeichnete es sich ab. „Blumen!“ erklärte Gus stolz. „Richtig“, lächelte Justin, „das sind Schneeglöckchen.“ „Schneeglöckchen“, wiederholte Gus andachtsvoll und ließ die Information sacken. „Aber ich höre gar nichts?“ fragte er schließlich. „Die läuten auch nicht. Sie wachsen im Schnee und sehen aus wie… nun… kleine Glocken“, erklärte Justin. „Das ist ja Betrug“, stellte Gus fest. „Dafür können die Blumen doch nichts… Menschen haben ihnen diesen Namen gegeben, weil sie sie an diese Dinge erinnert haben“, versuchte Justin die Sache zu klären. „Aha“, meinte Gus, „nennt Papa dich deshalb immer Sonnenschein – obwohl du gar nicht leuchtest und auch nicht am Himmel rumfliegst?“ „Äh.. ja… wahrscheinlich…“ „Trotzdem unlogisch.“ „Die Blumen sind doch dennoch schön, oder?“ Gus nickte. Dann fragte er: „Können wir sie pflücken?“ „Möchtest du das?“ fragte Justin. „Dann können wir uns drinnen über sie freuen. Aber nur kurz. Denn dann verwelken sie.“ Gus schaute ihn mit großen Augen an. „Nein, sie sollen hier bleiben. Aber ist ihnen… nicht kalt?“ „Nein. Sie mögen dieses Wetter. Und wir können ja zu ihnen hinaus und uns hier über sie freuen.“ „Stimmt!“ Jetzt lächelte Gus wieder. Ein Quietschen war zu hören. Brian schob das Tor zur Auffahrt auf, der altertümliche Zaun hatte keine Fernsteuerung. Kurz darauf parkte er die Corvette auf der Einfahrt und schlängelte sich hinauf. Genau genommen klappte er sich auseinander, das Auto war nicht gerade für Männer seiner Körpergröße maßgeschneidert. Gus hopste auf und nieder und winkte. „Huhu! Papa!“ schrie er. „Nanu?“ fragte Brian und setzte vorsichtig seine Füße auf die Schneedecke, „was treibt ihr denn da?“ Er trat etwas steif zu ihnen hinüber, Justin hätte wetten können, dass seine Zehen schon wieder am Erfrieren waren… unbelehrbar… aber Brian in Landend-Stiefeln… da wahrscheinlich eher nackt… Gus präsentierte stolz seine Entdeckung und Brian blieb nichts anderes übrig, als sich von ihm mit seinen neuesten Erkenntnissen belehren zulassen. Dann zeigte Justin Erbarmen und sagte: „Mir wird ein wenig kalt… Willst du auch mit rein kommen Gus?“ „Nein“, sagte der kleine Junge, „ich bleibe noch ein wenig bei den Schneeglöckchen. Dann sind sie nicht so allein.“ Gemeinsam traten sie ins Haus, während Gus sich anschickte, um die Blumen Schnee aufzutürmen, um ihnen ein „Zuhause“ zu bauen. Was auch immer die Pflanzen davon halten mochten… Brian schälte sich aus seinem Mantel und konnte es kaum verdecken, wie eilig er es hatte, in die Nähe der nächsten Heizung zu kommen. Während Justin noch seine Schuhe weg stellte, war er bereits Richtung Küche entschwunden, wo er sich, unter dem Vorwand, am Küchentisch seine Verkaufsstatistiken bei einer Tasse Kaffee durchzugehen, an den Heizkörper drängen konnte. Justin folgte ihm, das Offensichtliche ignorierend, und durchstöberte den Kühlschrank nach einem kleinen Snack. „Ich habe Ethan beim Einkaufen getroffen“, sagte er. Brian gab einen Laut von sich, der sich wie ein gleichermaßen Desinteresse wie Verächtlichkeit ausdrückendes „Pfffft“ anhörte. „Ich geh die Tage mit ihm einen Kaffee trinken“, sagte er. „Mmm, ja“, murmelte Brian und wühlte in seinem Aktenberg. „Will Paganini Junior wieder seinen Bogen über deinen Klangkörper streichen?“ fragte er, ohne aufzublicken. „Selbst wenn, würde das wohl keinen Unterschied machen. Er ist kein… schlechter Mensch. Ich schulde ihm nichts. Aber ein paar Worte mit ihm zu wechseln, ist schon okay.“ „Wenn du meinst“, sagte Brian und kritzelte unter irgendetwas seine Unterschrift. „Ich wollte es dir nur sagen.“ „Hast du ja jetzt... Wo ist dieser dämliche Vertrag…?“ „Ja“, seufzte Justin, „habe ich wohl. Ich wollte es dir nur sagen… Es hat nichts mit uns zu tun…“ „War das nicht immer mein Spruch?“ erwiderte Brian hart. „Mann, Brian! Du weißt doch, wie ich das meine!“ Brian legte den Stift bei Seite und rieb sich die Augen. Ohne Lesebrille war das Aktenwälzen wohl nicht so das reine Vergnügen. „Ja“, sagte er etwas sanfter, „schon okay, Justin.“ „Gut“, meinte dieser, Brian fest anschauend. „Und…“ „Na, was? Noch mehr Ex-Liebhaber an der Frischfleischtheke getroffen?“ „Das musst du gerade sagen… Du hast ja nicht mal vor dem Gemüse halt gemacht! Nein, es geht um Daphne.“ „Die glückliche Mama in spe? Darfst du der Patenonkel werden oder was?“ „Bisher nicht. Aber…“ „Was aber?“ fragte Brian mit noch immer leicht missmutiger Miene. „Ich habe mit ihr telefoniert. Irgendwie… Ich weiß nicht… Irgendwie habe ich ein ganz mieses Gefühl.“ „Irgendwas mit dem Baby?“ fragte Brian, jetzt aufmerksam. „Das wohl nicht. Aber sie war total neben der Rolle. Ihr komischer Super-Genie-Prof ist von der Ethik-Komission platt gemacht worden und hat Land gewonnen. Ihr Promotionsprojekt ist zum Teufel. Sie ist ziemlich ausgeflippt, als ich mal angetestet habe, ob das mit dem Baby irgendetwas damit zu tun hat – es ging ja um irgendwelchen Fortpflanzungkram – aber da ist sie total ausgetickt. Und den Vater will sie auch ums Verrecken nicht benennen. Und Hilfe wollte sie auch nicht.“ Brian legte nachdenklich den Kopf zur Seite. Dann sagte er: „Du kannst sie nicht zwingen. Wenn sie deine – oder unsere – Hilfe möchte, wird sie sich melden.“ „Ja, ich weiß. Aber sie ist meine Freundin. Ich finde es… zum kotzen, dass sie mich nicht lässt.“ „Man kann niemanden zwingen.“ „Trotzdem Scheiße“, sagte Justin. „Sie heißt übrigens Lilly.“ „Wer?“ fragte Brian verwirrt. „Das Baby… Daphnes… Tochter…“ „Wie Lilly Monster?“ „Mach bloß nicht solche Späße in ihrer Gegenwart!“ „Nein danke, dazu erinnere ich mich zu gut an Daphnes letzten tätlichen Angriff.“ „Wann war das…? Irgendwann um den Dreh muss sie schwanger geworden sein?“ „Ich war’s nicht.“ „Schon klar.“ „Und was ist mit dir?“ „Haha, sehr witzig.“ „Naja, du hast sie doch schon einmal…“ „Einmal und nie wieder. Und wenn das von daher stammt, wäre das die längste Schwangerschaft der Welt, damit würde sie jede Elefantenkuh schlagen.“ „Netter Vergleich.“ „Wahrscheinlich kennen wir ihn nicht.“ „Bestimmt. Ansonsten wäre er wohl kaum scharf auf Daphne gewesen…“ „Oder sone Samenspende von irgendeinem Olympiasieger-Nobelpreisträger?“ „Warum denn das, wenn sie uns hat?“ „Wohl wahr…“ „Hättest du’s gemacht?“ fragte Brian. „Ich weiß nicht“, überlegte Justin, „im Prinzip wohl schon. Wenn auch nicht unbedingt jetzt gleich.“ „Mikey hat mich neulich damit genervt.“ „Womit?“ „Ob wir unsere Familie nicht um mindestens fünf bedürftige Schreihälse aus den Krisenregionen dieser Welt aufstocken wollen.“ Justin musste fast lachen bei dem Gedanken daran, wie Mikey das Brian gefragt haben musste – und wie die Reaktion ausgesehen haben dürfte. „Nein, lass mal“, sagte er. „Im Augenblick ist mir Gus vollends genug. Vielleicht ändere ich irgendwann meine Meinung… Haust Du dann ab Richtung Lateinamerika?“ „Hätte wenig Sinn – da gibt‘s noch mehr Balgen als hier. Aber warne mich bitte vor, bevor Du hier mit Klein-Anthony aus Trinidad aufkreuzt, damit ich mir vorher eine ordentliche Spritze mit Morphium setzten kann, die mindestens achtzehn Jahre hält.“ „Mache ich“, versprach Justin grinsend und gab ihm einen Kuss auf die Schläfe. Brian reckte sich und schlang rückwärtig seine Arme um ihn. „Aber zuerst lösen wir unsere dinglicheren Probleme.“ „Die da wären?“ fragte Justin, sich herabbeugend. „Eine mich in deiner Gegenwart immer wieder befallende Enge in meiner Hose – vielleicht könntest du Dir das nachher Mal anschauen, rein aus Vorsicht? Und den guten Lance… Bereit für Phase zwei?“ Justin lachte leise: „In beiden Fällen: Ja!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)