Himitsu no Mahou von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 11: Schneeweiße Erinnerungen Teil 1 -------------------------------------------                  Schneeweiße Erinnerungen Teil 1          „Gary, wo hast du denn Sibi gelassen?“ Greens Stimme wurde von ihrem dicken weinroten Wollschal beinahe verschluckt, welchen sie sich um den Hals geschlungen hatte und der ihr beinahe bis zur Nase reichte. Es war ein kühler Morgen Anfang Dezember, daher war Greens Kleidungswahl verständlich, dennoch wunderte Gary sich doch ein klein wenig darüber, da die Temperatur noch nicht unter Null gefallen war; er selbst hatte es nicht für nötig gehalten, einen Schal anzuziehen - und Green trug nicht nur einen enorm dicken Schal, sondern auch Handschuhe und Ohrwärmer, als würde sie durch den tiefsten Winter stapfen wollen, obwohl es doch nur zur Schule ging.   „Er meinte, er wäre krank. Mit anderen Worten: er schwänzt.“ Gary zuckte ratlos mit den Schultern, um zu verdeutlichen, dass dies nichts Ungewöhnliches war. „Warum schwänzt er?“, fragte die Wächterin, während sie in die Metro stiegen, nachdem Green mal wieder vergebens darum gebettelt hatte, dass sie sich doch teleportieren könnten. Wozu hatte man eine Fähigkeit, wenn man sie nicht nutzte? Doch Gary ließ da nicht mit sich reden. Er meinte, dass dies nicht Sinn der Sache wäre und manchmal sollte man einfach so tun, als wäre man ein Mensch wie alle anderen auch – obendrein wollte er nicht gesehen werden, wenn er auf dem Schulgelände aus dem Nichts auftauchte. Natürlich wusste Green, dass er recht hatte, dennoch versuchte sie es immer wieder und sie war sich sicher, dass, wenn sie diese Fähigkeit ihr Eigen nennen könnte, sie es aller Vernunft zum Trotze tun würde. „Das kann ich dir auch nicht sagen. Vielleicht hat er nur einfach keine Lust auf die Schule“, antwortete Gary, als wäre dies etwas Unnormales und enorm Verwunderliches in deren Alter. „Klingt plausibel. Allerdings hat er mich heute Morgen noch gar nicht besucht.“ „Was allerdings nicht plausibel klingt“, gab Gary zu und versuchte das Thema zu ändern, denn er hatte plötzlich eine leichte Ahnung, was es mit Siberus Schwänzen auf sich haben könnte, obwohl er ihn heute morgen gar nicht gesprochen hatte, außer der Mitteilung, dass sein kleiner Bruder „krank“ wäre und daher zuhause bleiben würde – dass er nicht krank war, das wussten sie beide. Jetzt, wo er so darüber nachdachte, kam ihm plötzlich der Gedanke, warum er „krank“ war – ob es etwas mit dem Vorhängeschloss in Greens Stube zu tun hatte? Für Siberu wäre es kein Problem dieses zu brechen, geschweige denn in ihre Wohnung zu gelangen und er hatte Gary den gesamten Abend mit merkwürdigen Überlegungen geplagt, von wem Green Briefe erhielt und warum diese so geheimnisvoll versteckt werden müssten. Daher würde es Gary nicht wundern, wenn sein Bruder just in diesem Moment versuchte, das Geheimnis zu lüften. „Wegen gestern Abend…“, fragte Gary daher, um vom eigentlichen Thema abzulenken; zu einem Gespräch, welches für ihn sowieso von größerem Interesse war und welches genau genommen auch wichtiger war, sagte Gary seinem Gewissen. Green sah ihn an und seufzte, als sie seinen ernsten Gesichtsausdruck sah. Ehe sie antwortete befreite sie ihren Mund von dem Schal, da es im Zug sowieso warm genug war – und voll genug, wie Green wie jeden Morgen bemerkte. „Gary, ich hab dir da doch schon alles erzählt. Was willst du denn noch wissen?“ „Sie hat nicht gesagt, wer sie war?“   „Nein, hat sie nicht. Wie ich bereits gesagt habe, hat sie nur darüber gemeckert, dass ihr meine Freunde seid. Wegen Dämonen und so“, antwortete Green während sie die Augen verdrehte. Sie hatte Gary nicht erzählt, dass die Fremde gesagt hatte, dass sie Green niemals respektieren würde, so wie es die „Regeln vorschrieben“, denn sie wusste nicht, was sie damit gemeint hatte. In ihren Ohren klang das alles ziemlich unzusammenhängend. „Verständlich.“ Green sah auf, aus ihren Gedanken geweckt.  „Findest du?“ „Green, Dämonen und Wächter sind seit Ewigkeiten verfeindet. Was wir gerade tun - freundschaftlich miteinander eine Konversation führen - ist im Prinzip nichts anderes als ein Verrat.“ „Ein Verrat - wem oder was gegenüber?“, fragte Green verwundert. „Unseren Rassen gegenüber“, antwortete Gary, als hätte er es auswendig gelernt. Greens verwundertes Gesicht wurde ernster, als sie seine Worte hörte und eine Weile schwieg sie, lauschte nur den Geräuschen der Metro, welche über die unterirdischen Schienen raste und ließ das Gerede der Menschen um sie herum über sich hinweg schwappen, wie auch die murmelnde Musik der vielen Musikspieler, welche in den Ohren der Menschen steckten und viel zu laut eingestellt waren. Erst als die beiden aus der Metro stiegen und den Weg Richtung Schule einschlugen, sagte Green: „Du bist wohl ein genauso großer Dämonenstreber wie du es in der Klasse bist, was?“ Von diesem merkwürdigen Satz überrumpelt starrte Gary seine Begleiterin an, skeptisch wie er diese Aussage nun interpretieren sollte. Umso mehr überraschte es ihn, Greens Lächeln zu sehen, welches größer wurde als sie ausführte: „Du hältst dich immer an die Regeln, egal welche es sind. Aber keine Sorge. Falls du zur Rechenschaft gezogen wirst, sagst du einfach ich war so süß, dass du dich hast überreden lassen!“ Green lachte, als sie sah, wie Gary rot wurde und ebenso lachend löste sie sich nun von seiner Seite, um einige Stufen der Treppe hinter sich zu lassen, die zum Eingang der Schule führten. Verdattert blieb der Halbdämon stehen, um ihr hinterher zu sehen, nicht verstehend, wie das Thema so leicht für sie abgehakt sein konnte. „Kommst du, Gary?“ Aber, obwohl er sie nicht verstehen konnte: süß war sie wirklich. „Ja, bin ja schon da.“ Das musste er sich eingestehen.       „Ist sie nicht einfach das Niedlichste, dass du jemals gesehen hast?!“ Obwohl Gary sich am Vormittag noch eingestanden hatte, dass Green schon irgendwo süß war, konnte er der Meinung seines Bruders nicht 100% zustimmen, denn so sehr war er von der Niedlichkeit des Mädchens nicht überzeugt, welches auf dem Bild zu sehen war, das Siberu ihm vor die Nase hielt. Seinem Bruder war es doch tatsächlich gelungen, die geheimnisvolle Schublade zu öffnen und er hatte nun dessen Inhalt in der Stube der beiden Brüder entleert. Ein mittleres Chaos war ausgebrochen, bestehend aus einem Haufen von Fotos und Briefen. Besonders die Fotos lagen in Siberus Augenmerk und nachdem Gary überrumpelt begrüßt worden war, setzte auch er sich auf deren Sofa, um sich die Fotos anzusehen, sich bewusst, dass dies ein Bruch der Privatsphäre war – aber im Prinzip war es Siberu gewesen, der diesen Bruch verübt hatte und er hatte Gary da mit hinein gezogen, indem er ihm das Foto unter die Nase gehalten hatte. Es war also im Prinzip nicht Garys Schuld, sondern Siberus. Ha, dachte der Stachelkopf, er war definitiv zu lange mit seinem Bruder und mit Green zusammen gewesen. Deren Einstellung zu Regeln färbte jetzt schon ab!          „Ist das wirklich Green-chan?“, fragte Siberu und zeigte auf die Fotos, die auf dem Tisch lagen, welche alle ein braunhaariges Mädchen zeigten. Allerdings war Siberus Frage nicht verwunderlich gewesen, denn besonders große Ähnlichkeit hatte dieses Mädchen nicht mit der Green, die der Rotschopf kennengelernt hatte. Das Mädchen auf den Bildern hatte nichts mit der selbstbewussten, immer lächelnden Green gemein, die sie beide kannten. Die Augen des abgebildeten Mädchens waren groß und erschienen unendlich tief zu sein; eine unendliche dunkelblaue Tiefe ohne einen einzigen Lichtfleck, der diese erleuchten konnte. Der Gesichtsausdruck war leer, ihre Lippen zeigten genau so wenig Gefühl wie ihre Augen; starr und ausdruckslos sah die kleine Green in die Kamera, als würde sie nicht bemerken, dass sie fotografiert wurde. Ihre Haare waren damals kürzer gewesen als heute; das hellbraune Haar, welches ihr bis zu ihren schmalen Schultern reichte, war zu zwei Zöpfen geflochten, was wirklich einen süßen Eindruck hinterließ, besonders, da die Schleifen beinahe übergroß waren, doch ihr Gesicht war so kalt, dass es nahezu unheimlich erschien; besonders wenn man daran dachte, dass sie zum Zeitpunkt des Bildes nicht älter sein konnte als sechs Jahre. „Da muss sie noch in Deutschland gelebt haben“, konstatierte Gary und fügte hinzu: „In diesem Waisenhaus.“ Nachdenklich ließ er seinen Blick über den Tisch gleiten, wo noch mehr Bilder das gleiche Motiv zeigten, doch alle Motive waren von derselben Ausdruckslosigkeit geprägt; auf keinem der Bilder lachte das kleine Mädchen. Manchmal saß es auf einer Schaukel und starrte in den Himmel, ohne zu bemerken, dass es fotografiert wurde, auf anderen lag es auf einem weiß bezogenen Bett, andere zeigten es beim Lernen, beim Ball spielen (wo es auch nicht lachte oder irgendeine Form von Enthusiasmus zeigte), Bilder, wo es lustlos im Essen herum stocherte oder durch den Schnee stapfte – dieses Bild war es, welches ihm besonders ins Auge sprang, denn es erinnerte ihn sofort an den heutigen Morgen. Auf dem Bild trug es einen genauso langen Schal, wie Green ihn am Morgen getragen hatte und eine große Mütze fiel tief in sein Gesicht hinein, so, dass seine leeren Augen kaum noch zu erkennen waren. „Woher weißt du das?“, fragte Siberu mit Skepsis in der Stimme und als Gary aufsah, wurde er auch ebenso beäugt. Doch davon ließ der Größere sich nicht beunruhigen und erwiderte seinen Blick: „Logisches Denken, Silver. Ehe sie nach Japan kam, war sie in Deutschland. Deine Green-chan ist in einem Waisenhaus aufgewachsen, wusstest du das etwa nicht?“ Die Wortwahl seines großen Bruders schien ihn zu freuen, denn Siberu stolperte nicht darüber, dass Gary etwas über Green wusste, was er offensichtlich nicht wusste. Gary schüttelte innerlich mit dem Kopf; wie einfach es doch war, seinen Bruder zu beeinflussen. „Ich finde Green-chan auf den Bildern ja süß und so, aber warum sieht sie so…so…unnormal aus?“ Das erste Kommentar, was Gary daraufhin auf der Zunge lag, unterdrückte er, denn er musste an deren gemeinsame Kindheit denken, wo Siberu auf ziemlich vielen Bildern mehr Ähnlichkeit mit einem Mädchen gehabt hatte – doch das war ein Thema, auf welches er nicht angesprochen werden wollte, denn Siberu konnte sich wohl selbst nicht mehr erklären, warum er so gerne Zöpfe getragen hatte… „Das kann ich dir nicht erklären. Green und ich haben nicht so eine tiefe Beziehung zueinander, dass sie mir ihre Vergangenheit anvertraut.“ Auch dies schien Siberu zu freuen, denn er grinste breit: „Vielleicht vertraut Green-chan mir sie ja an!“ „Ja klar, deswegen bist du ja auch gezwungen, ihre Erinnerungsstücke zu stehlen.“ Der Angesprochene antwortete nicht darauf, sondern grummelte nur irgendetwas, was Gary wählte zu überhören. Statt zurück zu argumentieren, reichte er seinem Bruder nun einen der vielen Briefe mit den Worten: „Du kannst sie doch sicherlich übersetzen?“ Gary nahm den Brief mit zusammengekniffenen Augen entgegen, doch hatte nicht im Sinn ihn zu lesen, geschweige denn zu übersetzen. „Ja, ich kann deutsch, aber ich habe nicht im Sinne, mein Wissen dafür zu gebrauchen, in Greens Privatsphäre einzudringen. Das geht nun wirklich entscheidend zu weit.“ Wieder gelang es Siberu nicht zu antworten, denn sein Bruder unterbrach ihn, indem er fortfuhr: „Nutz deine Zeit lieber für etwas besseres, denn wenn Green es uns nicht erzählt, scheint es uns ja auch nichts anzugehen und mich interessiert auch nicht, mit wem sie schreibt.“ Eigentlich sollten dies Garys letzte Worte darstellen, doch Siberu kommentierte die Aussage seines Bruders recht effektiv: „Aber es interessiert dich, warum Green-chan solch ein Geheimnis daraus macht.“ Gary wurde ein wenig rot, da er ertappt worden war. Doch er ließ nicht klein bei und beharrte dennoch darauf, dass reine Neugierde ihm nicht die Berechtigung dafür gab. Dies waren nun endgültig seine letzten Worte und samt Tasche zog er sich in sein Zimmer zurück, um sich seiner Lieblingsbeschäftigung hinzugeben: dem Lernen.     Damit war das Thema für Gary erst einmal abgehakt: die Briefe, samt Green und Siberu, waren vollkommen im Fluss von Zahlen und Buchstaben verloren gegangen. Erst, als er Richtung Mitternacht seine Bücher beiseite gelegt hatte, um sich noch einen Mitternachtsnack zu machen, kamen diese Gedanken wieder zum Vorschein, denn Siberu hatte nicht hinter sich aufgeräumt und so lagen die Bilder mitsamt der Briefe noch in der Stube verteilt. Gary seufzte tief, doch ließ sich nicht davon abbringen in die Küche zu gehen, um den Kühlschrank zu erforschen. Nach kurzem Nachdenken entschied er sich doch dazu, sich nur einen Tee zu machen und einen Apfel dazu zu essen. Während er darauf wartete, dass das Wasser im Wasserkocher zu brodeln begann, ertappte er sich selbst dabei, wie er über die Theke hinweg lugte, die die Küche und die Stube voneinander trennte. Das „Pling“ des Wasserkochers weckte ihn allerdings aus seinen Gedanken und schon wandte der Halbdämon sich seinem Tee zu, nur um beim Vorbeischreiten noch einen Blick auf das Chaos in der Stube zu werfen, welches ihn auch dazu verleitete, stehen zu bleiben. Er nahm einen Bissen von seinem roten Apfel, sah auf den Absender und ehe er sich versah, hatte er den Brief bereits in der Hand. Doch er drehte ihn nicht herum, denn in diesem Moment setzte seine Vernunft wieder ein – das konnte er doch nicht machen, das ging doch nicht… Aber er war ja nicht wie sein Bruder, er würde den Inhalt der Briefe ja für sich behalten! Er würde das neugewonnene Wissen ja nicht missbrauchen. Und schneller als er es bemerkte, hatte er schon den Brief geöffnet und wollte gerade anfangen zu lesen, als… „Auf frischer Tat ertappt!“ Verärgert über sich selbst sah Gary auf, als er diese Stimme hörte und entdeckte natürlich einen grinsenden Siberu, in dessen Zimmertür stehend. Wohlwissend, dass Gary in die Falle seines kleinen Bruders gelaufen war, konnte er seine Tat nicht leugnen und es ärgerte ihn ungemein. „Dann kannst du dein Wissen ja auch mit mir teilen, was, Aniki?“ Immer noch grinsend setzte der Rotschopf sich an den Tisch und stapelte die Briefe auf einen Haufen, dabei fröhlich summend. Es war nicht zu übersehen, dass er sich sehr darüber amüsierte, dass es ihm gelungen war, Gary eine Falle zu stellen, in die er auch noch hineingefallen war. Ohne einen Ton von sich zu geben, setzte Gary sich vor ihm hin und entschied sich dazu, das einfach über sich ergehen zu lassen. Ohne auf seinen erfreuten Bruder zu achten, überflog er den ersten Brief, jedoch nicht ohne Kommentar: „...was für eine Krakelschrift... wie von einer Sechsjährigen.“ „Du kannst es doch lesen?“ Gary schaute seinen Bruder über den Rand des Briefes stirnrunzelnd an. „Wenn man mich nicht unterbrechen würde, wäre es vielleicht möglich.“ Von diesem spitzen Kommentar ließ Siberu sich nicht beirren und sagte: „Gut! Dann schieß mal los!“ Doch sein großer Bruder zögerte. Sollte er seinem Bruder helfen? Er hatte den Brief ja schon halb gelesen...aber wenn Siberu den Inhalt des Briefes auch wusste, konnte Gary die Schuld immer noch auf ihn schieben, falls sie denn ertappt werden würden. Zwar war Gary eher nach einem Seufzen zumute, doch er räusperte sich und begann den Brief vorzulesen:   „Liebe Schwester Green...“ „Wie bitte?!“ „Silver, sei still! Immerhin sind die Wände ziemlich dünn – du willst doch nicht riskieren, dass Green etwas mitbekommt falls sie noch wach ist.“ Diesmal konnte er ein Seufzen nicht unterdrücken. „Ich lese die Fehler lieber nicht vor, denn in diesem Satz waren schon zwei...erinnert mich an Pink. Sei still, während ich vorlese, oder ich lasse es…:   Ich hoffe, dir geht es gut in Japan. Hier läuft alles wie immer. Es hat schon Anfang November angefangen zu schneien, gestern war es so schlimm, dass wir nicht raus durften! Das fand ich sehr schade... Wie du weißt liebe ich ja das Schlittschuhlaufen!   Stell dir vor! Wir haben einen Wettkampf gemacht wer am besten ist im Schlittschuhlaufen! Die Jungs haben es mal wieder ausgenutzt um anzugeben, aber ich hab gewonnen!   Letztens kamen wieder neue Kinder hierher, darunter auch ein Mädchen aus Amerika (glaube ich jedenfalls…). Sie versteht nur leider kein Wort Deutsch... es ist schwer mit ihr zu reden, auch die Lehrer kommen nicht gut an sie heran. Aber sie ist so hübsch! Ich glaube, darum wird sie auch schnell ein Zuhause finden. Ich hab noch keine neuen Eltern, aber ich will auch nicht weg. Ich will nur zu dir. Ich vermisse dich so!   Ich muss jetzt leider aufhören; gleich müssen wir essen.   Ich freu mich schon auf deine Antwort!   In Liebe, Kari   Ich warte auf dich."   Es herrschte Schweigen zwischen den Brüdern. Gary bemerkte sofort, dass Siberu enttäuscht war von dem Inhalt des Briefes: kein Drama, kein schreckliches Geheimnis. Es war ein ganz ordinärer Brief, ohne irgendetwas, was merkwürdig erscheinen könnte. „Die hat mehr Fehler als Pink...", begann Gary das Gespräch, während seine Augen die krakeligen Worte beinahe angewidert ansahen. „Ein Mädchen...“, Siberu sah zutiefst nachdenklich aus und ging nicht auf die Worte seines Bruders ein, während dieser den Brief auf den Stubentisch legte. „Eine Brieffreundschaft mit einem deutschen Mädchen, wahrscheinlich eine Bekanntschaft aus dem Waisenhaus, wo Green gelebt hat. Das würde auch erklären, warum dieses Mädchen Green mit „Schwester“ betitelt hat, obwohl sie keine leibliche Schwester hat.“ „Und du bist sicher, dass genau das im Brief stand?“ Seufzend, eine Spur genervt, richtete Gary sich auf und bemerkte sofort, dass Siberu dies gar nicht zu gefallen schien; er hielt bereits die anderen Briefe in der Hand, erpicht darauf, auch diese von seinem Bruder übersetzt zu bekommen. Doch diesen Zahn zog Gary ihm schnell, genauso schnell wie die Reste des Apfels in dem Mülleimer landeten. „Du wirst dich schon auf mich verlassen müssen...oder du kannst jedes einzelne Wort im Wörterbuch nachschlagen und ich bezweifle, dass du diese Schrift überhaupt entziffern kannst.“ Gary sah ihm an, dass sein Gegenüber etwas einwerfen wollte, anscheinend ahnte er das Ziehen des Zahnes, und fuhr fort: „Und genau das wirst du jetzt tun müssen, wenn du die Briefe übersetzen willst, denn ich werde ins Bett gehen. Also, Gu-“ „Aber du hast gerade einen Tee getrunken, das ist doch der perfekte Auftakt für eine lange Nacht!“ Seufzend schüttelte der Angesprochene den Kopf und federte sich von dem Rand der Küchentheke ab, an welcher er eben noch gelehnt hatte, um die Richtung zu seinem Zimmer einzuschlagen. „Ich habe nicht gesagt, dass ich mich schlafen legen werde, aber ich werde auf jeden Fall etwas anderes tun, als dir dabei behilflich zu sein, Green auszuspionieren.“ Er sah, dass Siberu ihn unterbrechen wollte und kam ihm schnell zuvor: „Ein Brief war mehr als genug. Du wirst die Briefe und die Bilder morgen wieder zurückbringen, ohne, dass Green es bemerkt – und damit legen wir den Fall zu den Akten, haben wir uns verstanden?“ Siberu öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch nicht nur der Tonfall seines Bruders, sondern auch sein Blick, war der eines großen Bruders, welcher sein letztes Wort gesprochen hatte. Normal war Siberu niemand, der sich diesem Blick beugte, doch ehe er etwas erwidern konnte, wünschte Gary ihm schon eine „Gute Nacht“ und verschwand in seinem Zimmer. Der Rotschopf sah ihm kurz hinterher, hin– und her gerissen, ob er seinem Bruder so lange auf die Nerven gehen sollte, bis dieser ihm helfen würde, oder ob er die Briefe morgen wirklich zurückbringen sollte, in eine verschlossene Schublade, an die er so schnell wohl nicht wieder gelangen würde. Er sah sich die Briefe an und plötzlich kam ihm ein neuer Gedanke; ein Gedanke, der ihm außerordentlich gefiel.     Die gepriesene Kraft des Koffeins hatte seine Wirkung gezeigt, denn Gary hatte erst kurz vor drei Uhr endlich Schlaf gefunden – nur um unsanft knapp drei Stunden später aus den Federn gerissen zu werden; von etwas anderem als seinem digitalen Wecker, welcher eigentlich erst eine Stunde später klingeln sollte und sich daher noch ruhig auf seinem Nachtschrank über einem Haufen Bücher türmte. Eigentlich war Gary kein Morgenmuffel, dennoch begrüßte er das schrille Kreischen der Türklingel nicht gerade; besonders nicht, nachdem ihm nur drei Stunden Schlaf vergönnt gewesen waren. Er wollte das Klingeln überhören und drehte sich noch einmal um, doch nachdem es auch nach verstrichenen Minuten nicht aufhörte, richtete Gary sich grummelnd auf, in Gedanken sowohl seinen Bruder verfluchend, dass dieser sich nicht dazu erbarmt hatte, die Tür zu öffnen, als auch die Person, die um halb sieben wie ein Verrückter an deren Tür klingelte. Als er Pink vor seiner Tür stehen stand, wunderte er sich daher wenig. Er zwang sich zu einem freundlichen Lächeln und wollte gerade höflich „Guten Morgen“ sagen, als Pink ihm zuvor kam: „Ich brauche deine Hilfe!“ Diese von Verzweiflung geprägten Worte wurden deutlich von ihrem Aussehen unterstrichen, denn die großen blauen Augen waren blank vor Tränen und offenbar hatte sie es eilig gehabt zu ihm zu kommen, denn sie hatte wohl vergessen sich wie sonst ihre Zöpfe zu binden und obendrein trug sie noch ihren „Hello Kitty“-Schlafanzug, versehen mit einer Kapuze, an der Katzenohren befestigt waren und die sich im gleichen Rhythmus wie Pink auf und ab bewegten.   „Was ist denn passi-“  „Ich brauch wirklich ganz, gaaaaaaaanz dringend deine Hilfe!“ Gary atmete tief durch, um seine Nerven nicht zu verlieren, an denen Pink gerade ordentlich zerrte, besonders als sie seinen Arm packte und flehend zu ihm empor sah: „Wirklich gaaanz dringend!“ „Es würde uns schon einen gewaltigen Schritt voranbringen, wenn du mir sagen würdest, worum es geht!“ Obwohl er sich kooperativ zeigte, befreite Gary sich aus Pinks Umklammerung worauf Pink nicht achtete, als sie endlich etwas anderes tat, als um Hilfe zu flehen: „Es handelt sich um Green-chan!“ Die Neugierde, aber auch Besorgnis spiegelte sich sofort in den grünen Augen des Halbdämons wieder, als er Pink fragte, ob sie in einen Kampf geraten war oder anders in Gefahr schwebte. Die Antwort Pinks beruhigte ihn jedoch schnell: „Nein, ich glaube… ich glaube, sie ist krank.“ „Okay, also keine akute Gefahrenlage. Warte, ich zieh mich nur schnell um…“ Die letzten Worte wählte Pink geschickt zu überhören, als sie sich wieder seinen Arm schnappte und den nur in einen blauen Pyjama gekleideten Gary durch das Treppenhaus in die Wohnung nebenan zerrte. Dort angekommen zeigte sie auf Greens Zimmertür, als wüsste Gary nicht, wo sich diese befand. Ohne etwas zu sagen, drückte sie ihm daraufhin ein Fieberthermometer in die Hand und presste ihn in Richtung der Tür. „Pink! Ich kann selbst gehen!“ „Gary? Bist du das?“ Im gleichen Moment wie Green, ebenfalls im Pyjama, an der Tür ihres Zimmers auftauchte und ihn verwundert, aber auch ein wenig angstvoll ansah, verschwand Pink in ihrem eigenen Zimmer und ließ die beiden alleine im Wohnzimmer. Gary warf Green das Thermometer hin, welches sie geschickt auffing, doch ehe sie etwas sagen konnte, fragte er sie: „Also Green, warum willst du die Schule schwänzen?“ Ohne rot zu werden, oder sich anders zu verraten, antwortete Green gekonnt: „Ich weiß nicht, was du meinst. Ich schwänze für gewöhnlich nicht.“ „Dann hast du dir offensichtlich ein Beispiel an Silver genommen, aber nicht alle Tricks gelernt. Du solltest auf die Anzeige des Thermometers sehen, ehe du es jemand anderem zeigst, denn ich bezweifle stark, dass du 51° Fieber hast.“  Nun wurde Green doch ein wenig rot, als er sie auf frischer Tat ertappte, doch wählte das Schweigen anstatt irgendetwas zu erwidern. „Wir schreiben heute keinen Test oder Ähnliches. Was hält dich davon ab zum Unterricht zu erscheinen?“ „Das geht dich nichts an.“ Kühn verschränkte sie ihre Arme vor ihrer Brust und entlockte Gary damit ein Paar hochgezogene Augenbrauen. Er fühlte sich wie ein Vater, der seine ungezogene Tochter daran erinnerte, dass sie Verantwortung zu tragen hatte; Verantwortung für sich selbst und dass es sich nicht gehörte, der Schule fern zu bleiben. „Ich komm nachher vorbei und hole die Hausaufgaben ab.“ Dies schienen Greens letzte Worte zu sein, denn sie wandte sich von Gary ab und wollte sich gerade in ihr Zimmer zurückziehen, doch Gary hielt sie von diesem Vorhaben ab: „Green, das ist…“ Doch ehe er mit dem Tadeln anfangen konnte, unterbrach sie ihn schon: „Gary, ich hab gesagt, es geht dich nichts an.“ Und mit diesen Worten verschwand Green in ihrem Zimmer und hinterließ Gary alleine im Wohnzimmer, der gewiss nicht gewillt war, ihr hinterher zu gehen. Stattdessen ging er zurück in seine eigene Wohnung, wo Siberu gerade aus der Dusche kam und dabei war, seine Haare zu bürsten. Er schien Garys schlechte Stimmung zu bemerken, denn er wollte offensichtlich etwas sagen, doch sein Bruder kam ihm zuvor, denn ihm fiel etwas an Siberu auf, was seine Laune nicht gerade besserte; er trug nicht seine schwarze Schuluniform, sondern seine Freizeitkleidung. „Hast du etwa auch nicht vor zur Schule zu gehen?“ „Wieso „auch nicht“?“ Gary hatte nicht vor, die eben geführte Diskussion noch einmal zu führen und schüttelte daher nur ratlos mit dem Kopf, doch auch eine Spur verärgert. Ehe er in seinem Zimmer verschwand, um sich ebenfalls umzuziehen, allerdings um in seine Schuluniform zu schlüpfen, sagte er: „Frag Green doch selbst, sie ist ebenfalls von akuter Bocklosigkeit befallen.“ Damit war das Thema für Gary gegessen und abgestempelt zu den Akten gelegt, denn er wollte sich nicht von der Unlust der beiden den Tag samt des Unterrichts verderben lassen. Der Gedanke, dass es sich bei beiden nicht um Unlust handelte, kam ihm nicht; jedenfalls nicht in der ersten Stunde, sondern erst, als Sho ihn in der Mittagspause in der Bibliothek aufsuchte, mit der Frage wo Siberu und Green steckten. Der Angesprochene seufzte, doch antwortete, dass Siberu krank war. Doch gerade als er Green ebenfalls für krank erklären wollte, unterbrach Sho ihn: „Und Green hat dir sicherlich gesagt, dass sie krank ist, nicht wahr?“ Überrascht sah Gary sie an, doch sein Blick wurde nicht erwidert; stattdessen sah Sho hinaus zum Fenster, welchem Gary nur einem kurzen Blick schenkte: draußen schneite es nach wie vor; es hatte in der Nacht angefangen und Tokio in ein weißes Kleid gehüllt. Doch viel interessanter als den Schnee fand Gary Shos Blick, denn es war nicht oft vorgekommen, dass er sie ernst gesehen hatte. Sie bemerkte seinen Blick und wandte sich vom Fenster ab, mit den Worten: „Green mag keinen Schnee.“ Mit diesen Worten kehrte Sho ihm den Rücken zu und wollte gerade zwischen den Bücherreihen verloren gehen, doch Gary hielt sie auf: „Was meinst du damit?“ Nur einen kurzen Moment blieb der Rotschopf stehen, schien einen Augenblick zu überlegen, ob sie es ihm sagen sollte oder nicht. Letzten Endes deutete sie ein Zucken mit den Schultern an und sagte, ohne sich umzudrehen: „Ja, was mein‘ ich wohl damit…mir hat sie es nie erzählt. Vielleicht erzählt sie es dir ja?“      Egal wie lange Gary über die Worte Shos nachdachte, er konnte keine Antwort darauf finden, was hinter ihren Worten lag, genauso wenig wie er eine Idee hatte, was mit Green los war, denn er glaubte nicht mehr, dass es einfach nur damit etwas zu tun hatte, dass sie keine Lust auf die Schule hatte: immerhin war sie stets sehr erpicht darauf zur Schule aufzutauchen,  da es Geld kostete. Es lag etwas anderes dahinter. Gary hob den Kopf zum weißen Himmel: Es hatte aufgehört zu schneien, denn es war kälter geworden. Sollte Greens Verhalten etwa wirklich etwas mit dem Schnee zu tun haben? Er konnte sich dies nur schwer vorstellen und konnte sich im Moment nicht genau daran erinnern, ob Green auch das letzte Jahr zu gleichen Zeit gefehlt hatte.    Mit dem Kopf schüttelnd ging der Halbdämon in den Wohnblock, holte die Post aus dem Briefkasten und stieg die Treppen empor, um seine Tasche in dem Wohnzimmer seiner Wohnung abzustellen und sich erst einmal umzusehen, doch sein Bruder war nicht anwesend. Noch einmal schüttelte er den Kopf und verschwand daraufhin in seinem Zimmer, um sich umzuziehen. Er verschwendete keine Gedanken daran, wo sein Bruder stecken könnte, denn das plötzliche Verschwinden seinerseits war er bereits seit langem gewohnt. Er würde schon wieder kommen. Gerade als er seine vorgezogene Alltagskleidung, einen einfachen schwarzen Pullover, über den Kopf gezogen hatte, klingelte es an der Tür und das gute Gespür des Halbdämons verriet ihm, dass es Green war und sofort war seine Neugierde von Neuem geweckt. Als er die Tür öffnete, wunderte er sich zu allererst über das breite Lächeln, welches das Gesicht der Wächterin zierte; immerhin war das letzte Wort, welches sie an ihn gerichtet hatte, doch ziemlich ruppig gewesen und alles andere als freundlich. Doch auf dem zweiten Blick stich ihm etwas ins Auge, was ihn noch mehr verwunderte: obwohl Green nur eine Tür neben ihm wohnte und somit nur ein paar Schritte zwischen den beiden Wohnungen lagen, hatte sie sich nicht nur eine Jacke angezogen, sondern auch einen Schal. „Hallo, Gary! Ich wollte die Hausaufgaben abholen, kann ich reinkommen?“ Und ohne, dass es ihm gelang zu antworten, drängte Green sich an ihm vorbei in die Wohnung. Während er Green zweifelnd ansah, schloss er die Haustür hinter sich und offensichtlich bemerkte Green seinen Blick, denn sie erklärte ungeduldig: „Es ist kalt da draußen. Die Heizung des Treppenhauses muss kaputt sein.“ „Du trägst eine Jacke und einen Schal; ich denke, du wirst es überleben.“ Einen kurzen Moment sahen sich die beiden an, ohne etwas zu sagen, bis Greens Augen sich eine Spur verengten und Gary sich bereits auf eine Diskussion vorbereitete, doch diese blieb aus. Stattdessen setzte sie wieder ihr Lächeln auf und dieses Mal stach einem die Falschheit des Lächelns nur so ins Auge; sie war gar nicht zu übersehen. Wozu war dieser Aufstand ihrerseits nur gut? Es konnte doch nicht wirklich etwas mit dem Schnee und der dazugehörigen Kälte zu tun haben…oder etwa doch? Es war sehr ersichtlich, dass Green etwas gegen dieses Klima hatte, doch nur wegen niedrigen Temperaturen so ein ungewöhnliches Verhalten? „Was ist los mit dir, Green?“ Gary wusste nicht, ob es einen neuen Nutzen hatte, Green direkt darauf anzusprechen, aber er war einfach zu neugierig und anders als Siberu mochte er den Weg hintenherum nicht. Er zog es vor, Informationen direkt von der Quelle zu erhalten. Doch offenbar war Green keine sprudelnde Quelle, die bereitwillig Informationen herausrückte. Ihr Lächeln verschwand nicht, doch wurde ein wenig steif, als sie antwortete: „Ich weiß nicht, was du meinst, Gary. Mir geht es eben nicht so gut und die niedrigen Temperaturen tun meinem Immunsystem nicht gut.“ „Du hast ein ausgezeichnetes Immunsystem; du warst nicht oft krank.“ Green hob verblüfft die Augenbraue und sagte grinsend: „Ach, das weißt du? Hast du Buch geführt oder was?“ Umgehend wandte Gary sein Gesicht ab, doch Green entfiel nicht, dass er rot geworden war; anscheinend war es ihm peinlich, dass er wusste, wann sie in der Schule war und wann nicht. Darüber grinsend befand Green das Thema für abgehakt und wollte gerade wieder zu ihren Hausaufgaben zurückkehren, doch Gary schien etwas dagegen zu haben. Seine Wangen waren weiterhin mit einem leichten Rotschimmer bedeckt, doch sein Gesicht zeigte dennoch Ernsthaftigkeit, als er sie wieder ansah und sie fragte: „Sagtest du nicht, dass du mir vertraust?“ Das Grinsen auf Greens Gesicht verschwand, als er diese unfaire Waffe gegen sie anwandte; eine Waffe, die sie selbst vor einiger Zeit auf sich gerichtet hatte, als sie sich auf die Sache mit dem Vertrauen eingelassen hatte. Schon bereute sie es. Aber warum? Sie wusste, dass zum Vertrauen auch Risiken gehörten und dass das Erzählen der jeweiligen Geheimnisse dazu gehörte. Offenheit war ein Fundament des Vertrauens – doch so weit war Green noch nicht. Sie war neu auf dem Gebiet und diesen Schritt wagte sie nicht zu gehen. „Meine Vergangenheit geht niemanden etwas an. Ich hinterfrage deine auch nicht.“ Ihre Antwort fiel ruppiger aus, als sie es geplant hatte, denn eigentlich war sie nicht irritiert darüber, dass er sie ausfragte. Vielleicht war sie über sich selbst irritiert. Nachdem Green kurz schweigend in eine andere Richtung gesehen hatte, blickte sie wieder zurück zu Gary, welcher sie ebenfalls schweigend ansah. Er schien nicht weiter nachfragen zu wollen; das konnte sie in seinen Augen sehen, doch da war mehr… „ANIKI! ICH HABS! ………….. Green-chan!?“ Umgehend wirbelten sowohl Gary als auch Green herum, als sie diese Stimme hörten, die einer Person gehörte, welche urplötzlich in der Wohnungstür stand. Gary wurde sofort skeptisch, als er seinen Bruder in der Tür stehen sah; besonders als ihm auffiel, dass er etwas in der Tasche hatte. Ihn beschlich das komische Gefühl, dass das Theater von gestern Abend noch nicht vorbei war. Doch auch Siberu wurde skeptisch, wenn auch aus einem anderen Grund: ihm schien nicht zu entgehen, dass die Stimmung zwischen Green und Gary angespannt war. Zwar konnte er nicht beurteilen, was die Spannung hervorrief, doch es gefiel ihm ganz und gar nicht, denn natürlich gingen seine Gedanken in eine vollkommen entgegengesetzte Richtung als zuvor: „Stör ich etwa?“ Er musste nichts weiter erklären, es war nur allzu deutlich, woran er dachte und sofort schlug die Röte in Garys Gesicht mit neuer Kraft zurück. Schneller, als dass Green reagieren konnte, hatte Siberu die Arme von hinten um Green geschlungen und drückte sie an sich, während er sagte: „Keine Sorge, Green-chan! Die schlimmen Gedanken verschwinden gleich wieder, gaaaanz ruhig, alles wird gut, jetzt bin ich ja hier.“ „Eeeeh, ich glaube, du hast da was missverstanden, Sibi…“ Gary schüttelte den Kopf und himmelte mit den Augen, ehe er sich herum drehte und ohne ein weiteres Wort in seinem Zimmer verschwand: offenbar wurde es ihm zu bunt, dachte Green – oder hatte sie ihn etwa verletzt? „Der kann doch jetzt nicht einfach abhauen! Na warte, das wird ein Nachspiel geben, Aniki…!“ Das Mädchen in seinen Armen entschied sich dazu, dass es wohl besser war, den Rotschopf in dem Glauben zu lassen, dass zwischen ihr und Gary „irgendetwas“ vorgefallen war, als ihm die Wahrheit zu sagen: sie konnte nicht noch einen gebrauchen, der sie mit Fragen löcherte. Stattdessen befreite sie sich mühselig aus der Umarmung und nahm ein paar Meter Sicherheitsabstand, worüber Siberu nicht gerade begeistert schien. Trotzdem setzte er schnell wieder ein Grinsen aufs Gesicht und um sie dazu zu bewegen länger zu bleiben, fragte er sie, weshalb sie eigentlich gekommen war – sie war jawohl kaum wegen Gary gekommen, sagte er mit einem vielsagenden Grinsen. „Nein, ich bin wegen meinen Hausaufgaben gekommen…nichts weiter.“  „Achso. Die Hausaufgaben“, entgegnete Siberu ein wenig verstimmt; anscheinend hatte er geglaubt, sie würde antworten, dass sie wegen ihm gekommen war. Doch anstatt sich von ihrer Antwort entmutigen zu lassen, entgegnete er: „Was hältst du davon, wenn wir sie zusammen machen?“ Sämtliche Alarmglocken Greens läuteten, als er diesen Satz sagte, unterstrichen mit einem breiten Grinsen, denn auch ihr war klar, dass ihn die Hausaufgaben nicht interessierten. Anstatt sich etwas anmerken zu lassen, grinste Green ebenfalls, als sie dankend ablehnte.  „Danke, Sibi, aber obwohl Gary ein ziemlicher Langweiler ist, mache ich die Hausaufgaben doch lieber mit ihm.“ „Also mit mir sind die Hausaufgaben sicherlich… unterhaltsam.“ „Sibi, sag mal, wie alt bist du eigentlich?“ Sein Grinsen verschwand, als sie diese Frage stellte und verwundert sah er sie an; die Frage, wie sie plötzlich auf dieses Thema kam stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Dennoch antwortete er wahrheitsgemäß: „Ich bin 15.“ Überrascht schwieg Green, als sie diese Antwort hörte: er war nur 15?! Bedeutete  das, dass sie für einen Typen geschwärmt hatte, der ein ganzes Jahr jünger war als sie? Irgendwie fiel ihr schwer zu glauben, dass er erst 15 sein sollte, immerhin reagierte er auf einige Dinge gänzlich anders, als andere in seinem Alter.  „Du bist eindeutig frühreif; deine Betonung des Wortes „unterhaltsam“ war nämlich sehr zweideutig.“ „Hahaha, ja, bin ich wahrscheinlich! Liegt wohl an meinem Dämonenblut.“ Das Grinsen des Rotschopfs wurde breiter, während er in sich hinein lachte; scheinbar fasste er es als ein Kompliment auf, was eigentlich nicht Greens Intention gewesen war. Sie war immer noch von sich selbst erstaunt, dass sie tatsächlich für einen Jungen geschwärmt hatte, der so viel jünger war als sie.  Sie entschied sich dazu, dass es besser war, wenn sie jetzt ging; besonders falls Gary sich dazu entscheiden sollte, aus seinem Zimmer zu kommen, denn auf eine zweite Runde des vorigen Gespräches war ihr nicht zumute. Überraschenderweise kam Siberu ihr zuvor: „Deine Hausaufgaben bring ich dir morgen rüber, oki? Fertig, versteht sich…“ Dankend ergriff Green dieses Rettungsseil und mit strahlendem Gesicht sagte sie: „Gut! Danke, Sibi! Du bist wirklich der Einzige, auf den ich mich verlassen kann!“ Das Lachen Siberus wurde eine Spur erfreuter, als ihm diese Ehre zuteilwurde, welches er auch noch aufrecht erhielt, bis Green sich von ihm verabschiedete und die Wohnung verließ. Doch kaum war die Wächterin aus der Tür verschwunden und diese hinter ihr geschlossen, löste sich dieses Lächeln in Luft auf und an seiner Stelle trat ein boshaft triumphierendes Lächeln, als er folgendes verkündete:  „Aniki…ich verlange eine Stellungnahme von dir!“ Diese Worte ließ er kurz im Raum hängen, sich bewusst, dass sein Bruder es auf jeden Fall gehört hatte, bis er sich von der Tür abwandte und sich an das Sofa lehnte, wo er, mit Blick zu Garys Zimmertür, sagte: „Sonst erzähl ich dir auch nicht, was ich herausgefunden habe…“     Siberu kannte die Neugierde seines Bruders gut genug, um sich selbst bereits als Gewinner zu küren, denn natürlich hatte Gary gesehen, dass sein kleiner Bruder ein Objekt in der Tasche gehabt hatte. Diese Tatsache, zusammen mit seiner Abwesenheit an diesem Tage und dazu noch Greens mysteriöses Geheimnis, brachte ihn schnell aus seinem Zimmer - wenn auch missvergnügt, denn ihm war seine Schmach bewusst. Doch bevor er seine Neugierde befriedigt bekam, wusste Siberu diese Situation noch für sich auszunutzen, indem er erst einmal ein anderes Thema ansprach: „Also, spuck‘s aus; hast du dir nun ein Beispiel an mir genommen oder nicht?“ Gary hatte genauso wenig Lust Siberu reinen Wein einzuschenken wie Green es gehabt hatte, denn er wusste nicht so recht, ob er das Wissen, was er an diesem Tag erhalten hatte, oder eher die Spekulationen, denn Wissen konnte man das nicht so recht nennen, teilen sollte. Siberu würde ihn wahrscheinlich genauso zweifelnd angucken, wie Gary dieses Problem ansah. Da Gary am Fenster lehnte und hinaussah, fiel ihm auf, dass es wieder angefangen hatte zu schneien. Hieß das etwa, dass Green wieder nicht zur Schule auftauchen würde? Was für eine Ausrede würde sie sich diesmal einfallen lassen? „Hej, ich rede mit dir.“ Garys Augen wandten sich widerspenstig vom Fenster ab und sahen zu seinem Bruder. „Ich habe schon lange gelernt, dein schwachsinniges Gelaber zu überhören.“ Und Siberu hatte gelernt, seine Einwände und Versuche das Thema zu wechseln, zu ignorieren. Siegessicher stemmte er die Hände in die Hüfte und sagte: „Du kannst es auch gleich aufgeben; du besitzt weder das Können und die Fähigkeiten – ganz zu schweigen vom Aussehen! -  um dich mit mir messen zu können. Also, lass mich dir eins gesagt haben: Green-chan gehört mir, klar?“ Erschöpft himmelte Gary mit den Augen und entschied sich, darauf nicht weiter einzugehen.  „Gut, wenn wir dieses Thema jetzt abgehakt haben, können wir ja fortfahren. Was hast du herausgefunden?“ Der Rotschopf überlegte kurz, ob er die Diskussion nicht doch weiter ausführen wollte, doch die Worte brannten zu sehr auf seiner Zunge, um noch weiter zurückgehalten zu werden und so erzählte er seinem Bruder, was vor zwei Stunden passiert war.     Besagte zwei Stunden vorher befand Siberu sich am anderen Ende von Tokio, mitten im feinen Schneegestöber, welches die Straßen weiß malte und die vielen großen Häuser um ihn in eine malerische Winterlandschaft tauchten, die hier, fernab von Tokios Getümmel und Chaos, ungestört schlummerte. Siberu zog sich die schwarze Kapuze weiter ins Gesicht, während er sich nach dem Haus, oder eher der Villa, umsah, welche er suchte. Eigentlich hatte er nichts gegen den Schnee, aber dennoch störte ihn das Klima im Moment, denn zu kostbar war ihm seine Frisur.    Vor einem großen Haus, welches im westlichen Stil gebaut worden war, blieb Siberu stehen, nicht, weil ihm sein sechster Sinn verriet, dass sich in so einem Haus viel zu holen befand, sondern weil das goldene Ziffernblatt, welches sich aus dem Schnee erhob, ihm verriet, dass es sich hierbei um das von ihm gesuchte Haus handelte. Um sicher zu sein, wischte er den restlichen Schnee des Hausschildes weg und ein Name kam zum Vorschein: Kitayima. Genau der Name, den er gesucht hatte. Siberu konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen – wie er sich auf das freute, was ihm bevorstand! Er mochte dieserlei Vorhaben; kleine, reizvolle Herausforderungen, die den Alltag in der Menschenwelt auflockerten und für Spannung sorgten; ein Gedanke, den Green zu teilen schien, wenn er an die letzte Woche dachte … sie war überraschend gut gewesen, musste Siberu zugeben. Green hatte beinahe ein natürliches Talent dafür. Aber nein! Nicht jetzt darüber nachdenken; über Green konnte er später genug schwärmen – Konzentration! Doch anstatt die Klingel zu betätigen tat er so, als würde er das Haus bewundern und ging daraufhin weiter, als wäre nichts geschehen. Erst, als er aus einem sicheren Abstand andere Personen an dem hohen Haustor vorbei gehen sah, entschied er sich, dass die am Zaun befestigte Kamera genug gesehen hatte und teleportierte sich hinter den zwei Meter hohen Zaun an die linke Hauswand, an die er sich drückte, um nicht gesehen zu werden. Da er das Haus nicht vom Inneren kannte, wäre es nicht schlau gewesen, sich direkt hinein zu teleportieren, da er womöglich noch mit etwas zusammen gestoßen wäre. Das Fenster zu seiner rechten war dunkel und als er hinein lugte, sah er, dass es sich um einen kleinen Raum nur mit Uhren gefüllt handelte. Da er Uhren nicht als gefährlich einstufte teleportierte er sich hinein und wurde prompt von dem Ticken der vielen Zeitmesser begrüßt. Große, kleine, moderne, antike; alles was man als Uhr bezeichnen konnte, sammelte sich hier in diesem Raum zusammen, aufgeräumt und geputzt. Doch anstatt dieser Sammlung Respekt zu zollen, wurde Siberu eher wahnsinnig von dem aufdringlichen Ticken der vielen Uhren und legte daher eilig sein Ohr an die einzige Tür, die er finden konnte; schnell fand er heraus, dass der Flur, der dahinter lag, verlassen war. Doch nicht nur sein Gehör verriet ihm dies, sondern auch sein dämonischer Instinkt: die Aura des Uhrensammlers hielt sich nämlich in der zweiten Etage auf.   Froh, das Zimmer hinter sich lassen zu können, schlüpfte er leise hinaus auf den spärlich beleuchteten Gang und bekam vom Haus schnell den Eindruck eines europäischem Spukhaus; dunkel, beklemmend und alles andere als seine Gäste willkommen heißend. Was kam als nächstes? Eine Folterkammer? Siberu unterdrückte ein Lachen, als er sich dies vorstellte und ging weiter, auf der Suche nach dem, was er suchte. Viele der Dinge, die hier auf Kommoden und Regale standen, sahen überaus wertvoll aus und die antiken Uhren, die er im letzten Zimmer gesehen hatte, brachten garantiert ebenfalls ein nettes Sümmchen ein. Doch nein! Fokus, Siberu, Fokus! Es kam überhaupt nicht in Frage, dass er sein Ziel außer Augen verlor. Es ging immerhin um Green! Gerade als der unerlaubte Besucher sich dem nächsten Raum zuwenden wollte, hörte er Schritte, die eindeutig näher waren, als er es eigentlich hatte angenommen – und obendrein war es nicht nur eine Aura, sondern gleich zwei. „Und ich sage dir Asuka, mein sechster Sinn irrt sich nie.“  „Ai-cha-„ „Untersteh dich! Ich heiße Kaira. K-A-I-R-A, verstanden? NICHT „Ai-chan“ - wie oft denn noch?!“ Die Sprechende und die, die angeschnauzt wurde, bogen um die Ecke, im gleichen Moment, wie Siberu sich in Sicherheit brachte. Die eine konnte der Rotschopf zweifelsohne als Kaira identifizieren, doch das Mädchen, was sie begleitete, kannte er nicht und er war sich sicher, dass ihm ein so exotisches Aussehen im Gedächtnis geblieben wäre: ihre eisblauen Haare, welche zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, ergaben einen perfekten Kontrast zu ihrer braungebrannten Haut und auch ihre Kleidung untermalte diesen Kontrast wunderbar, denn diese war violett und obendrein passte sie nicht zur jetzigen Jahreszeit, denn sowohl ihr Oberteil, als auch ihre knappen Shorts, sahen danach aus, als hätte sie nicht bemerkt, dass es draußen schneite. Zwar war sie älter als er, dennoch brachte ihn ihr Aussehen zu einem Grinsen, denn schlecht sah sie nicht aus. Besonders ihr Körperbau war… vorteilhaft, ganz im Gegensatz zu Kairas, welcher eher als drahtig beschrieben werden konnte und nicht besonders feminin wirkte.   Das unbekannte Mädchen, welche Kaira „Asuka“ genannt hatte, verschränkte die Arme hinterm Kopf und grinste breit. „I‘m so sorry… Ai-chan. Hört sich doch viel süßer an, weiß gar nicht was du hast - und bis du mich nicht geschlagen hast, habe ich noch das Recht, dich zu nennen wie ich will!“ Um ihre Worte zu unterstreichen zwinkerte sie Kaira zu und fuhr fort, während ihre Begleiterin anscheinend vor Wut kochte, als sie daran erinnert wurde.  „Für deinen sechsten Sinn hättest du mich trotzdem nicht wecken müssen…immerhin stehe ich für das Sicherheitssystem des Hauses, womit es vollkommen einbruchssicher ist!“ Davon hatte Siberu nichts mitbekommen. „Wie bitte?! Du hast geschlafen, während ich dabei war, den Rekord zu brechen?!“ „Ja, meinen schlägst du eh nicht. Da hab ich mir erlaubt zu schlafen…ich bin so hundemüde, das glaubst du nicht! Ich hätte nicht die gestrige Nacht durchmachen sollen…“ Diese Worte wurden von einem herzhaften Gähnen unterstrichen und brachten ihre Müdigkeit deutlich zum Ausdruck. „Und sind deine Sicherheitsvorkehrungen auch wirklich dämonensicher?“ „… mein neues System schon, da es mit einem Bannkreis ausgerüstet ist. Aber, ej! Ai-chan, hast du noch Pockys? Die mit Erdbeergeschmack? Ich liebe die Dinger…ich lass‘ dir auch die mit Minze, wenn du willst!“ Geschickter Themawechsel; trotzdem musste sie wohl dringend ein Update installieren, denn Siberu hatte auf jeden Fall kein Problem gehabt, hineinzukommen. Während Kaira ihre Freundin anbrüllte, sie fräße ihr noch die Haare vom Kopf, hatte der Rotschopf endlich glaubte das gefunden zu haben, das er gesucht hatte. Das Problem dabei war nur, dass der Gegenstand etwas ungünstig platziert war: er befand sich in der Brusttasche Kairas. Aber was anderes war ja eigentlich auch nicht zu erwarten…ok, das war ein Hindernis, aber keines, welches er nicht bewältigen konnte. Sie zu verletzen war keine Option, denn er glaubte nicht, dass ihm das besonders viele Pluspunkte bei Green einbrachte und jeder Minuspunkt war einer zu viel. Außerdem wäre das ohnehin eine Verschwendung von gutaussehenden Mädchen…also wählte er die schmerzlose Version; eine der leichtesten Techniken, aber wahrscheinlich auch einer der brauchbarsten: ein Schlafzauber. Einfach. Aber genial. Das Mädchen, was ohnehin schon übermüdet war, wanderte als erstes in das Reich der Träume, mit einem fast schon dankbaren Lächeln. Ein wenig schwerer tat Kaira sich, doch nach kurzem Widerstand ihrerseits folgte sie ihrer Freundin. Zufrieden über seine Arbeit kam Siberu aus seinem Versteck heraus und beäugte seine Opfer grinsend, ehe er sich über Kaira beugte. „Dankeschön, die leih‘ ich mir mal aus!“ Mit diesen Worten schnappte sich Siberu den Gegenstand aus Kairas Brusttasche: eine goldene, aufwendig dekorierte Taschenuhr, welche sich bereits auf den zweiten Blick als keine normale Uhr entpuppte: das erste Ziffernblatt sah völlig normal aus, außer dass unter den herkömmlichen Zahlen auch die römischen geschrieben standen. Dieses Ziffernblatt konnte man beiseite schieben und eine verstellbare Digitalanzeige kam zum Vorschein. Diese zeigte jedoch nicht nur die Uhrzeit an, sondern auch das Jahr und das Datum. Doch auch dieses konnte man verschieben und unter eben dieser kam die letzte kleine, runde Scheibe zum Vorschein und kaum, dass Siberu diese enthüllt hatte, erschien ein kleines Hologramm der Welt, wo als momentaner Standort selbstverständlich Japan gekennzeichnet war. „Wow cool!“, staunte Siberu nicht schlecht, als er dieses kleine Meisterwerk der Technik in seinen Händen hielt, feingearbeitet und ins Detail verliebt. Zwar besaß er nicht die gleiche ausgeprägte Neugierde wie sein Bruder, dennoch war diese in diesem Moment geweckt und ohne darüber nachzudenken berührte Siberu den roten Punkt, der sich über Japan befand und fuhr mit diesem über den kleinen Globus, bis der Rotschopf, grinsend wie ein kleines Kind, den Finger vom Hologramm löste, ohne darauf zu achten, dass der Punkt sich über Sibirien befand. Er wollte die Uhr gerade einstecken, als diese sich von selbst zusammenklappte und sich in Luft auflöste – zusammen mit Siberu. Noch bevor er seine Augen wieder öffnete, konnte er nicht drum herum den drastischen Temperaturabfall zu bemerken und als er seine Augen öffnete, unterstrich die weiße Sicht die Kälte: Schnee, so weit das Auge reichte - und in dieser Wallung an Schnee reichte die Sicht nicht gerade weit. „Ach, du scheiße!“ Das Fluchen brachte ihn auch nicht weiter, sondern eher das gelobte Teleportieren, denn auf die erneute Hilfe der Uhr konnte er dankend verzichten. Zurück in Tokio atmete er erleichtert auf: das würde eindeutig nicht sein Traumreiseziel werden! Aber immerhin hatte er das gefunden, was er gesucht hatte: denn er glaubte, oder eher hoffte, wenn er auch noch die Zahlen auf der Digitalanzeige verändern würde, könnte diese Uhr einem vielleicht als Zeitmaschine dienlich sein. Diese besagte Uhr unterlag nun Garys prüfendem Blick. Er war sich nicht ganz sicher, ob er den Worten seines Bruders trauen konnte; zwar wusste er, dass Zeitwächter in der Tat in der Lage dazu waren, durch die Zeit zu wandeln, doch er war kein Zeitwächter, also behagte ihm der Gedanke, durch die Zeit zu reisen, gewiss nicht; besonders, da er Siberus Enthusiasmus nicht teilte. Dieser saß momentan seelenruhig auf dem Sofa, ihm gegenüber, und war damit beschäftigt, seine Haare nach dem sibirischen Schneesturm zu föhnen. „Und du bist wirklich der Meinung, dass du weißt, wie dieses Ding funktioniert?“, fragte Gary, nachdem er die Uhr auf den Tisch gelegt hatte und nun Siberu skeptisch ansah.    „Jap, und wie ich das meine! Man kann das erste Ziffernblatt beiseite schieben. Darunter kommt dann eine Digitalanzeige mit-“ „Danke, das habe ich schon herausgefunden“, antwortete der Ältere von den beiden, als er auf Siberus Beschreibung hin die Uhr wieder in die Hände genommen hatte und diese nun noch ein zweites Mal untersuchte, wobei er besonders das Ziffernblatt genauer in Betracht nahm. „Sag mal, Silver, wie kamst du überhaupt auf die Idee, diese Uhr zu klauen?“ Der Angesprochene sah ihn verwundert an. „Na, Green-chan hat uns doch erzählt, dass diese Furie eine Zeitwächterin ist …“ „Das meinte ich nicht.“ Sein Blick wurde streng, als er seinen Bruder scharf ansah: „Es ist überaus unüberlegt, einen Wächter zu bestehlen… Allgemein finde ich, dass du die Beschafferei hier in der Menschenwelt unterlassen solltest. Eine solche Handlung ist hier nämlich kriminell.“ Der Angesprochene schnaubte und winkte den Vorwurf seines Bruders mit der Hand ab: „Ich wusste schon, warum ich dir nichts von unserem Hobby erzählen wollte, du elendiger Spießer …“ Als Gary das Wort „unserem“ hörte, horchte er merklich auf: „“Unserem Hobby“? Wie darf ich das denn verstehen?“ Siberu setzte eine Unschuldsmiene auf und sah sich geheimnistuerisch im Raum um, bis Gary mit Nachdruck nachhakte. „Naja, du weißt doch, Aniki … Green-chans Rechnung von gestern?“ „Ja?“   „Die war wohl ziemlich hoch.“ „Ja und?“ „Und Pink muss ja auch was essen.“ „Worauf willst du hinaus?“ „Naja, da hat mich Green-chan um Rat gebeten.“ „Um… Rat?! Warum geht sie zu dir, um Rat zu erhalten--- warte.“ Gary schien es zu dämmern und das, was er gerade begann zu verstehen, schien ihm so gar nicht zu gefallen: „Du hast sie zum Stehlen angestiftet?! Das ist dein Rat?!“ Sofort verteidigte Siberu sich: „Ne-ein! Ich habe sie nicht zum Stehlen angestiftet, sie hat mich um ein paar Tipps gebeten … Green-chan ist selbst schon erfahren auf dem Gebiet! Das habe ich – ehrlich gesagt – schon geahnt und sie hat wahrscheinlich auch geahnt, dass ich mich damit auskenne … wir waren dann zusammen unterwegs – und eins kann ich dir sagen; sie hat’s drauf! Also für einen Menschen, ehm, Wächter.“ Der Rotschopf kicherte grinsend in sich hinein, Garys fassungslosen und auch verärgerten Blick ignorierend. „Green… stiehlt? Schon die ganze Zeit? Ohne deinen Einfluss?“ „Ja, wusstest du das denn nicht?“, antwortete Siberu, den Triumph, dass er in so kurzer Zeit etwas über Green wusste, was Gary nicht wusste, genießend. „Nein, das wusste ich nicht.“ „Naja, warum solltest du auch – als ob sie einem Spießer wie dir so etwas erzählen würde! Aber sie hat ja jetzt mich, hehe! Wir sind immerhin auf der gleichen Wellenlänge!“ „Ihr solltet es beide nicht tun.“ „Natürlich.“ „Ich meine es ernst, Silver. Du, als Dämon, das ist eine Sache – aber Green, als Hikari …“ „Pff! Willst du dich für’s Jenseits bewerben? Da oben haben die sicherlich noch Platz! Brauchst nur noch weiße Kleidung, dann kannst du dich zu ihnen gesellen – aber zuerst widmen wir uns jetzt meinem neusten Beutezug, okaaaay?“ Auf Siberus Kommentar nicht weiter eingehend konzentrierte Gary sich nun tatsächlich wieder auf die aktuelle Errungenschaft seines Bruders und setzte wieder zum Tadeln an: „Ist dir eigentlich klar, dass du einen Wächter bestohlen hast, und dass das für große Probleme sorgen kann? Wächter sind verbunden mit ihren Waffen - wenn das hier also eine Waffe ist, hat sie sicherlich schon mitbekommen, dass ihre Uhr fehlt. Zeitwächter sind nicht zu unterschätzen, wie wir gestern am eigenen Leib erfahren haben …“ „Ach, das habe ich alles unter Kontrolle!“ Skeptisch hoben sich die Augenbrauen des älteren Bruders, die Gefahr witternd, sobald Siberu behauptete, dass er alles unter Kontrolle hätte. „Das hier“, fing Siberu an und zeigte auf die Uhr: „Ist ja eine Zeitmaschine, und mit der reisen wir zurück in die Zeit-“ „“Wir“?“ „Ja, wir. Du kannst mir nichts vormachen, Aniki! Ich weiß, dass dich Greens Vergangenheit genauso interessiert wie mich, also hör zu! Danach reisen wir zu dem Zeitpunkt zurück, wo ich die Uhr gestohlen habe und machen die Tat rückgängig. Tataaaa!“ „Davon abgesehen, dass ich deinen Plan als fragwürdig einstufe…wir haben beide kein Recht, in Greens Vergangenheit herumzuschnüffeln. Wenn sie es uns nicht von alleine erzählen will, dann müssen wir es akzeptieren.“ Der Angesprochene verdrehte die Augen. „Ja, genau, wir akzeptieren es.“ Eine kurze Pause, während die beiden sich ansahen und auch Gary sich bewusst wurde, dass er es eigentlich genauso wenig akzeptieren wollte wie Siberu. Doch er war gut erzogen, im Gegensatz zu Siberu, und seine Moral verbot es ihm, in die Vergangenheit einer anderen Person einzudringen. Besonders, wenn diese Person es nur allzu deutlich gemacht hatte, dass sie nicht wollte, dass jemand es erfuhr. Während Gary mit sich selbst und seiner Neugierde rang, war Siberu kurz in seinem Zimmer verschwunden, zusammen mit der Uhr. Als er samt dieser wieder in die Stube zurückkehrte, fragte er seinem Bruder noch einmal, ob er nicht mitwollte, zusammen mit den Worten, dass er auch alleine gehen würde. „Ich habe doch „nein“ gesagt! Green würde uns umbringen!“ „Jap, sie würde uns mehr als einen „Light Spirit“ hinterher hetzen…aber, was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß, ne?“ Weiterhin rang Gary mit sich selbst, aber nun auch mit dem Gedanken, dass er Siberu wohl kaum auf so eine gefährliche Reise gehen lassen konnte. Dieser Vollidiot war viel zu voreilig, handelte viel zu unüberlegt und war sich den Gefahren einer Zeitreise sicherlich obendrein nicht bewusst. Gary konnte Siberu nicht alleine gehen lassen…oder war das nur eine Ausrede für sich selbst, um mitzukommen?   Während Gary weiter gegen sein Gewissen ankämpfte, veränderte der Rotschopf die Zeitdaten der Uhr und verkündete plötzlich erfreut: „So, es geht los!“ Gary, der gerade unsanft aus seinen Gedanken gerissen wurde, gelang es nicht, sich aus dem Griff seines Bruders zu befreien, als dieser seinen Arm packte. Auch die Worte des Protestes verschwanden denn sie gingen unter im Meer der Zeit…     24.12.1994   Gary rang nach Luft, was sich als ein schweres Unterfangen herausstellte, denn sein Bruder lag auf ihm drauf, wurde jedoch schnell beiseite geschubst, ohne Rücksicht auf den Rotschopf zu geben, denn Gary war alles andere als angetan von dessen plötzlicher Entscheidung. „Ich hatte nicht einmal zugestimmt!“ „Zurück kommst du jetzt jedenfalls nicht mehr, also find dich damit ab“, antwortete Siberu ärgerlich, allerdings nicht über seinen Bruder, sondern darüber, dass seine Frisur schon wieder hinüber war, obwohl er sie gerade erst gerichtet hatte. Schon wieder wegen Schnee! Verfolgte ihn dieser? Unterdessen beschloss Gary sich dazu, erst einmal ruhig die Lage zu überblicken und klaren Kopf zu bewahren. Es war dunkel um sie herum, da die Wolken den Mond verdeckten, dennoch konnte Gary dank seines Dämonenblutes schemenhaft die Konturen von Tannenbäume entdecken, die sich um sie herum befanden und genauso vom Schnee eingehüllt wurden wie alles andere in diesem Wald. Lautlos fiel der Schnee vom Himmel herunter und hatte dafür gesorgt, dass der Boden des Waldes nicht mehr auszumachen war, denn der Schnee hatte eine Höhe von 20-30 Zentimetern erreicht. Es war bitterlich kalt und sie befanden sich irgendwo im Nirgendwo. „Silver, wo sind wir? Und vor allen: wann sind wir?“ Der Angesprochene erhob sich und tat es seinem Bruder gleich, indem er sich auch erst einmal umsah. „Tja…wo: … irgendwo in Deutschland.“ „Ach was, hätte ich nicht gedacht. Geht das vielleicht auch ein wenig genauer? Kennst du das Bundesland vielleicht?“ Das war mal wieder typisch sein Bruder und genau der Grund, weshalb es vielleicht doch gut war, dass Gary anwesend war auf dieser kopflosen Mission: mal wieder rannte er planlos drauf los und sich darauf verlassend, dass andere das Denken für ihn übernahmen. „Bundesland?“, fragte Siberu verwirrt und fügte hinzu: „Keine Ahnung, ist doch auch vollkommen egal.“ „Ist das hier gerade Zufallsprinzip…?“ „Nein! Wie sind 100% richtig!“ „Super: das nächste Mal sollte ich wirklich die Planung übernehmen. Und in welcher Zeit? Das müsstest du nun wirklich wissen.“ „Weinachten 1994, zwei Wochen vor dem ersten Foto. Zufrieden, Anik-“ Die Worte des Rotschopfes blieben ihm im Halse stecken, denn plötzlich stolperte er über etwas, dass er in der weißen Menge nicht gesehen hatte. Laut fluchend richtete er sich wieder auf, putzte sich den Schnee von der Kleidung, während Gary grinsend die Augen verdrehte. „Silver, ohne dein „Dämonen-Sein“ in Frage zu stellen: Du siehst doch genauso gut wie ich, oder?“ Als Antwort zeigte Siberu anklagend auf etwas, das fast vom Schnee verdeckt war und daher kaum zu erkennen war. „Ich bin über etwas gestolpert, klar?! Das passiert jeden Mal, besonders, wenn es so zugeschneit ist, ok?!“, rechtfertigte sich Siberu und wollte gerade seine Wut an dem, wie er annahm, Stamm auslassen, als sein Bruder ihn an dieser Tat hinderte. „Das ist kein „etwas“, sondern  ein „jemand“.“     3.12.2005 Japan/Tokio   „Gewonnen! Mal wieder, hahaha! Oh, und da fällt mir doch noch ein, dass ich dir etwas erzählen wollte, Ai-chan!“ Daraufhin ließ das blauhaarige Mädchen den Controller fallen, mit dem sie gerade noch siegreich das Spiel für sich entschieden hatte und streckte sich auf dem Kissen aus wie eine Katze, ehe sie nach einem ihrer geliebten Pockys mit Erdbeergeschmack griff und belustigt dabei zusah, wie Kaira sich über die 7te Niederlage ärgerte. Diese wandte sich nicht vom Bildschirm ab, als sie antwortete: „Schon wieder, ich fasse es nicht! Wie machst du das nur!? Schummelst du und das ist das, was du vergessen hast, zu sagen?“ „Brauch ich nicht, meine Berechnungen lassen mich sowieso nie in Stich. Nein, ich meinte, dass dein sechster Sinn dich vorhin nicht getäuscht hat.“ Nun war der Bildschirm doch uninteressant und langsam drehte Kaira den Kopf und sah zu dem grinsenden Mädchen neben ihr. „Wie bitte?! Ich habe mir die Aura also nicht eingebildet und auf dein System ist alles andere als Verlass?!“ „Du hast nicht das neue System. Du bezahlst ja nichts dafür und die Materialkosten sind nun mal nicht umsonst! Und warum ich nichts gesagt habe? Nun…weil…“ Entschlossen schüttelte sie die Müdigkeit ab und sprang voller Tatendrang auf: „Weil ich vorhabe, mein neues Suchsystem auszuprobieren! Der Besucher hat nämlich was mitgehen lassen… und ja, er hat deine Uhr. Das da an deinem Handgelenk ist eine gute Fälschung.“  Zuerst sah Kaira entsetzt die Uhr an ihrem Handgelenk an, dann zurück zu Asuka, welche mit erhobenem Zeigefinger erklärte: „Das da ist eine ganz normale Uhr, belegt mit einem Illusionszauber. Unser kleiner Besucher war gar nicht so dumm.“ Anstatt die Farbe zu verlieren, riss Kaira sich zusammen und entschied sich dazu, dass sie sämtliche Diskussionen für später aufbewahren würde.  „Los, lass uns  meine Uhr zurück holen! Und ich hoffe für dich, dass dein Suchsystem eins a funktioniert!“     Fertiggestellt: 13.01.11   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)