Himitsu no Mahou von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 5: Winteralbtraum Teil 2 -------------------------------- Die Sonne des späten Nachmittags brach durch die dicken Schneewolken hervor und erhellte ein beinahe ausnahmslos in Blau getauchtes Zimmer: blaue Sessel, blauer Bettbezug, blaue Gardinen – sogar der Pyjama des Mädchens, welches im Bett lag, besaß einen bläulichen Ton. Als die Strahlen der Sonne in das Zimmer hineinkamen und auf das Gesicht des Mädchens schienen, regte es sich zum ersten Mal seit mehr als zehn Stunden, um schlussendlich langsam zu erwachen. Verschlafen sah Green sich um und schnell veränderte sich ihr schlaftrunkener Blick; er nahm einen verwirrten Ausdruck an, als sie bemerkte, in was für einem Zimmer sie war – und dass sie das verlassene Zimmer nicht kannte. Mit dämmernder Skepsis setzte sie sich in dem blauen Bett auf und beäugte diese fremde Umgebung, in der das Einzige, was als ihr privates Hab und Gut gelten würde, ihre eigenen nassen Kleider waren, welche über der Heizung hingen. Obwohl Green deutlich das Pochen ihrer Verletzungen spürte, dämmerte ihr plötzlich, wo sie sich befand: gütiger Gott! Sie war in einem Jungenzimmer! Und irgendjemand, wahrscheinlich ein männliches Individuum, hatte ihre Kleider gewechselt!  Green wurde rot vor Scham und sprang aus dem Bett – ihre Verletzungen straften diese übereilige Tat sofort, was die Wächterin zu einem ärgerlichen Fluchen brachte, doch dabei fiel ihr auf, dass der Zimmerbewohner nicht nur ihre Kleidung gewechselt hatte, sondern auch Verband um ihre Wunden gebunden hatte. Doch Green war zu sehr von Scham erfüllt, um irgendeine Form von Dankbarkeit in sich zu spüren. Kurzerhand fing sie an, das Zimmer zu untersuchen. Mit gekonnten Fingern und ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen, suchte sie das Zimmer nach Informationen ab, die sie wohlmöglich zu dem Zimmerbewohner führen könnten. Nach fünfzehn Minuten stellte sich jedoch heraus, dass ihre Suche vollkommen umsonst war. Sie fand nicht einmal so etwas wie ein Haar - mit anderen Worten musste Green zu anderen Mitteln greifen, wenn sie herausfinden wollte, wem dieses Zimmer gehörte. Sie nahm die Türklinke in die Hand, um eben diese zu öffnen, damit sie sehen konnte, welche Nummer dieses Zimmer besaß. Doch genau in dem Moment, wo sie auf den Gang trat, hörte sie eine wohlbekannte Stimme:  „Green! Na endlich hab ich dich!“ Die Gerufene drehte sich um und sah Sho, wie sie winkend auf sie zugerannt kam. Ehe Green etwas sagen konnte, fing Sho bereits an, sie mit Fragen zu belagern: „Sag mal, wo warst du?! Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht, als ich bemerkt habe, dass du nicht in deinem Bett lagst! Und …“ Dann musterte sie Green und verstummte kurz.  „Was ist das für ein Schlafanzug?“ Ihre Verwunderung blieb nicht lange erhalten, denn plötzlich grinste Sho und ihre Freundin wusste sofort weshalb. „Ich weiß genau, was du denkst, Sho. Aber so ist das alles nicht gewesen …“ Doch Sho hörte gar nicht auf sie. „Was hattest du denn in einem Jungenzimmer verloren, huh?“ Green sprach sofort dagegen an und beteuerte, dass sie sich ganz und gar nicht rumgetrieben hatte – und dass Sho nicht von sich auf andere schließen sollte. „Und wie erklärst du mir, dass du hier bist? Und dass du einen anderen Schlafanzug anhast? UND dass du mir nichts gesagt hast?!“ Ja, das waren gute Fragen – wie sollte sie es ihr erklären? Es gab keine Erklärung … keine, die sie Sho erzählen konnte jedenfalls. Sie konnte ihr wohl kaum sagen, dass sie gegen einen Dämon gekämpft hatte und dass sie hier wieder aufgewacht war – dass sie selbst keine Ahnung hatte, wie sie hierher gekommen war. Da fiel Green noch etwas Anderes ein, was ihre Wut auf den Zimmerbewohner doch senkte: Er musste sie aus dem See gerettet haben … „Die Beweise liegen klar auf der Hand, Green!“, unterbrach Sho ihre Gedanken mit erhobenem Finger und einem Grinsen. „Die Beweise kannst du dir an den Hut stecken.“ „Und wie willst du mir das hier erklären?!“ „Glaub doch, was du willst“, antwortete Green erschöpft von dieser Diskussion und Shos unbändiger Neugierde. Das letzte Wort war für Green gefallen und Sho schwieg – fürs Erste. Doch Green war sich nicht sicher, ob sie nicht bereits eine weitere Schlagzeile im Kopf hatte. Man würde meinen, dass Sho keine Story über ihre Freundin schreiben würde, aber das war leider nicht der Fall: Sie machte vor gar nichts Halt. Plötzlich bemerkte Sho Greens Verband an ihrem Arm und ihr Grinsen verschwand. „Ähm, Green woher hast du diese Verletzung?“ „Ach, das … die kommt von einem Stur- …“, weiter kam sie jedoch nicht, denn ihr fiel Shos geschocktes Gesicht auf. Es konnte ja nichts mit ihrer Verletzung zu tun haben, da sie dies ja bereits kommentiert hatte - doch Green musste nicht fragen, Sho gab bereits eine Antwort auf Greens Verwunderung: „Wie willst du in diesem Zustand nur tanzen! Ganz zu schweigen von einem Kleid …“ Shos Antwort löste die Verwunderung Greens keineswegs auf, sondern steigerte sie viel eher: Fragend sah sie sie an, während Sho ihre Hände vor lauter Schreck vor ihr Gesicht schlug. Irgendwie konnte Green sich nicht vorstellen, dass der plötzliche Schreck etwas damit zu tun hatte, dass deren Lehrer sicherlich nicht über Greens lange Abwesenheit erfreut sein würden – es wäre nicht Shos Art, sich über so etwas Gedanken zu machen. Schneller als es Green lieb war, veränderte sich auch schon der Gesichtsausdruck ihrer Freundin und entschlossen ballte sie ihre Faust. Ratlos sah Green dieser Geste zu, doch langsam wurde sie dann doch unruhig. „Keine Sorge, Green! Das bekommen wir schon hin, verlass dich auf mich.“ „Was bekommen wir hin?“ „Na, das wirst du doch wohl nicht vergessen haben.“ „Ich befürchte ja“, antwortete Green mit wachsender Nervosität. „Heute Abend ist der von mir organisierte und daher famose … Tanzabend!“ Die Angesprochene schlug sich die Hand vor ihr Gesicht, da es ihr plötzlich wie Schuppen vor den Augen wieder einfiel: Shos vollkommen abstruse Idee. Sie hatte Green tatsächlich davon erzählt, nur hatte diese es in dem ganzen dämonischen Trubel vollkommen verdrängt – namentlich die Idee Shos, einen Tanzabend zu veranstalten. Dort sollten laut ihrer Planung nicht nur alle aus deren Klasse teilnehmen dürfen, sondern auch alle anderen Besucher des Hotels, welche sich in deren Alter befanden. Ein kluger Schachtzug, immerhin kannte Sho alle ihre Mitschüler überaus genau und wusste, dass sie noch mehr Gäste anlocken musste, wenn sie sich erfolgreich und gut verkuppeln wollte. „Ich komme nicht mit“, sagte Green automatisch, nachdem ihr klar wurde, was Sho vorhatte. „Natürlich tust du das!“, antwortete Sho mit erhobenem Zeigefinger und fuhr auch schon fort: „Ich bin sicher, dass ich ein Kleid dabei habe, wo man deine Verletzungen nicht sieht.“ „Ich mache bei deinem verdammten Spiel nicht mit, Sho. Aus, Ende.“ „Musst du dieses kitschige Gehängsel anhaben?“ Sie zeigte auf das Glöckchen, welches um den Hals ihrer Freundin unscheinbar hing und lenkte Green davon ab, dass sie sich eigentlich darüber aufregen wollte, dass Sho ihre Meinung offensichtlich nicht zur Kenntnis nahm. „Ja, muss ich. Es ist mir sehr wichtig.“ Green wollte gar nicht herausfinden, was passieren würde, wenn sie es nicht bei sich trug. Pink hatte, kurz nachdem sie es ihr anvertraut hatte, gesagt, dass es wichtig war, dass sie es immer bei sich trug - und das war das einzige Mal, dass Pink ernst gewesen war, was wohl was heißen musste. Sowieso wollte Green es nicht ablegen. Nicht nur weil es ihre Waffe war, sondern auch, weil sie auch ohne Pinks Worte spürte, dass sie das Glöckchen regelrecht brauchte, wobei sie nicht genau wusste, woher dieses Gefühl stammte. Selbst beim Sport, wo man ja eigentlich keinen Schmuck tragen durfte, legte sie es nicht ab, was Sho bereits gewundert hatte. Als Sho es sich einmal angeschaut hatte und Green es für diesen Zweck abgelegt hatte, hatte sie eine unheimliche und ihr unerklärliche Nervosität gespürt. Eben dieses Gefühl war es, was ihr sagte, dass sie ihr Glöckchen bei sich haben musste … dass sie unter keinem Umstand davon getrennt sein wollte. Es war ihr egal, welche und ob es Konsequenzen haben würde, sie ertrug dieses Gefühl des Entzugs schlichtweg nicht. Nur wusste die Wächterin nicht, wie sie es dem Mädchen ihr gegenüber erklären sollte. Der Gedanke, dass sie von einem Glöckchen abhängig war, klang schon merkwürdig genug – es auszusprechen und es erklären zu wollen, war reiner Wahnsinn. Doch Sho fragte nicht. Sie sah Green zwar missvergnügt an, doch das hatte eher damit zu tun, dass Green sich ihren Kleidungsvorstellungen nicht unterordnen wollte. „Gut“, sagte sie dann schließlich. „Ich finde schon etwas, wo das Ding nicht so sehr auffällt und was deine Verbände versteckt.“ „Musst du nicht, ich hab doch gesagt, dass ich nicht mitgehe …“ Die Angesprochene ignorierte ihre Proteste weiterhin. Sie ging an ihr vorbei und ließ Green, obwohl sie ihr hinterherrief, auf dem Gang vor dem fremden Zimmer alleine zurück.     Green war schlecht gelaunt, als Sho am Abend ihren gesamten Bestandteil an Kleidern auf dem Boden ausgeleert hatte, um auch ja den richtigen Überblick über ihr Hab und Gut zu haben. Ihre Freundin fragte sich, wie sie all diese Kleider in ihren Koffer bekommen hatte, denn es handelte sich um eine richtige Auswahl an Kleidern. Doch dies war nur ein mitwirkender Faktor für ihre schlechte Laune: der Hauptgrund allerdings war der, dass sie nichts über das geheimnisvolle Zimmer und den noch geheimnisvolleren Besitzer herausgefunden hatte – obwohl sie es mit allen Mitteln der Kunst versucht hatte. Kurz nachdem sie sich angezogen hatte, hatte sie es auf normalen Wege probiert, indem sie an der Rezeption um Auskunft gebeten hatte. Doch die Frau weigerte sich; es verstieße gegen die Regeln, meinte sie. Green war nicht in der Stimmung, sich über Regeln Gedanken zu machen - als ob sie es jemals getan hätte. Auf diese Weise fand sie herzlich wenig heraus, nämlich gar nichts. Dazu kamen noch die pochenden Schmerzen ihrer Verletzungen, die sie bei jeder noch so kleinen Bewegung an den gestrigen Kampf qualvoll erinnerten. Warum war diese engelshafte Frau nicht wieder erschienen, um sie zu heilen? Diese Verletzung war zwar nicht tödlich wie die erste, aber schmerzen tat sie dennoch. Momentan war es ihr auch nicht so wichtig, wer diese Frau war; Hauptsache, ihre Schmerzen würden verschwinden. Aber sie sollte es vielleicht lieber hinterfragen, genau wie sie ihren fragwürdigen Retter hinterfragte – und alles andere! Was war nur in diesem einen Monat aus ihrem Leben geworden? Wäre Pink nicht bei ihr aufgekreuzt, wäre das alles nicht geschehen und sie würde sich in diesem Moment nur über Shos Einkleidungsversuche aufregen – oder darüber, dass ihr Lehrer ihr mit heftiger Strafarbeit gedroht hatte, sobald sie wieder in der Schule waren. Wenn die Minazaiis nicht ihre Adoptionseltern wären, hätte man ihr wahrscheinlich mit Schlimmerem gedroht.   „Wer ist Pink?“ „Pink ist … huh?“ Green wandte sich überrascht an Sho, deren ahnungsloser Blick dem von Green momentan sehr ähnlich war. Konnte Sho plötzlich Gedanken lesen oder wie war sie plötzlich auf Pinks Namen gekommen? Diese Frage musste Green ihr nicht stellen, denn sie kam selbst zu einer Antwort: Sho hatte Greens Handy in der Hand. Umgehend sprang Green vom Fenstersims, auf dem sie eben noch gesessen hatte, herunter und wollte das Handy gerade zurückerobern, als die etwas größere Sho sich so renkte und streckte, dass sie nicht herankam. „Sho, gib es mir“, sagte Green geduldig und ohne auf Shos Spielereien einzugehen. „Wer ist Pink?“, wiederholte Sho grinsend ihre Frage. Die Angesprochene seufzte tief und überlegte kurz, bis sie sich dazu entschied, einen von Shos Schwachpunkten auszunutzen: Green streckte die Hände aus, packte ihre Freundin unter den Armen und begann sie zu kitzeln. Obwohl Sho sich verzweifelt zur Wehr setzte und versuchte, jegliches Lachen zu unterdrücken, gelang es ihr nicht lange und schnell erfüllte ihr Gelächter deren Zimmer und sie verlor Greens Handy. Die Besitzerin fing es auf, ehe es zu Boden fiel und erlöste Sho von ihren unfreiwilligen Qualen. „Green!“, sagte Sho immer noch lachend. „Das war gemein!“ Die Angesprochene klappte ihr Handy auf und sah sage und schreibe 36 Anrufe in Abwesenheit – alle von Pink. „Einige Dinge gehen dich nun mal nichts an, Sho!“, antwortete Green, ihre Augen jedoch nicht von dem Display abwendend. „Das ist ja wohl noch gemeiner! Ich dachte, wir wären Freundinnen - und Freundinnen haben keine Geheimnisse voreinander!“ Green steckte ihr Handy in ihre Rocktasche und erhob den Zeigefinger, welchen sie vor Shos Gesicht platzierte und meinte: „Jeder, der vor dir keine Geheimnisse hat, ist dumm.“ Sho wusste, dass Green das nicht böse meinte und lächelte ein wenig beschämt. „Aber ich kann dir versichern, dass es kein Junge ist“, meinte Green, denn natürlich war ihr klar, dass es Sho darum ging. „36 Anrufe sind aber schon ziemlich viel.“ „Ja, sie ist sehr … eigen.“ „Ich würde das eher aufdringlich nennen. Oder vielleicht ist etwas bei ihr passiert?“ Dies löste doch Unruhe in Green aus. Etwas passiert? Das könnte sehr wohl wahr sein. Was wenn irgendein Dämon aufgetaucht war? Was wenn sie Pink wieder mitnehmen wollten? Und Green war viel zu viele Kilometer von ihr entfernt, konnte ihr nicht helfen … Die Wächterin schluckte, während sie ihre kleine, pinke Freundin anrief. Sie bemerkte kaum Shos neugierigen Blick dabei. Doch Pink nahm das Handy nicht ab, es ertönte nur das monotone Piepen in Greens Ohr: was ihre Nervosität nicht gerade minderte. „Ach, Green, mach dir keine Sorgen! Was soll ihr schon passiert sein“, sagte Sho in der Absicht Green aufzuheitern, da sie ihren bleichen Blick bemerkt hatte. Was sollte schon passiert sein? Eine Menge! Aber das konnte Green ihr wohl nicht sagen. Was sollte sie tun? Es später noch einmal versuchen? Und selbst wenn etwas passiert war … wie sollte Green zu ihr gelangen? Green wunderte sich plötzlich über sich selbst und ihre Gedanken. Dafür, dass sie Pink so gut wie nicht kannte, machte sie sich ganz schöne Sorgen um sie – etwas, was sie überhaupt nicht gewohnt war. „Komm, Green. Ich hab dir ein Kleid ausgesucht. Du probierst es später noch einmal mit dem Anrufen.“ Auch Sho war wohl aufgefallen, dass Green sich ernsthafte Gedanken um Pink machte, denn ihre Stimme klang besorgt und verwundert. Sie war es wohl genauso wenig gewohnt, dass Green sich solche Sorgen um andere machte wie umgekehrt. Doch versuchend dies zu überspielen, hielt Sho ihr das genannte dunkelblaue Kleid hin. Green seufzte und ergab sich ihrem Schicksal.     Mit hochgesteckten Haaren, gehüllt in feine Stoffe und auf hohen Schuhen, waren Green und Sho wie so viele andere auf dem Weg zu dem von Sho organisierten Tanzabend. Doch kaum waren sie um die erste Ecke gebogen, packte der Rotschopf Green am Arm und zerrte sie zurück. Green keuchte auf, da Sho zu ihrem Leid den kaputten Arm gepackt hatte und ihre Freundin in diesem Moment leider herzlich wenig darauf achtete. Wahrscheinlich würde sie sich mehr Sorgen um das eventuelle Brechen der Hacke von Greens Schuhen machen, als um ihren Arm. „Was zum Teufel?!“, zischte Green ihrer Freundin zu, doch diese zeigte nur um die Ecke. Die Wächterin blickte um eben diese, doch zog den Kopf sofort zurück, wie Sho es auch tat. Zum einen hatte Green festgestellt, dass sie in einer Sackgasse gelandet waren und zum anderen, dass ihr privater Nachhilfelehrer dort gerade eine angestrengte Diskussion mit einem rothaarigen Jungen führte. Green hatte das gleiche gedacht wie Sho, als sie ihn gesehen hatte: dass dieser Junge wahrlich einfach unverschämt gut aussah. „Was hat unser Klassenstreber mit einem so heißen Typen zu tun?“, fragte Sho Green leise. Diese wusste, dass es sie verdammt nochmal nichts anging, was die beiden zu diskutieren hatten, aber sie war ebenfalls zu neugierig, was die beiden miteinander zu tun hatten. Nur leider sprachen sie sehr leise, obwohl sie sich zu streiten schienen: „... ich komme sehr gut alleine zurecht … Du musst dich nicht einmischen!“, sagte Gary. „Ich will dir doch nur helfen!“ „Helfen?! Du machst alles nur viel schlimmer, als es ohnehin schon ist.“ „…. Du kannst dich auf mich verlassen … Du weißt doch, ich ...“ „…-ver, ich weiß ganz genau, dass du nur deinen Spaß haben willst … Du nimmst nichts seriös …“    „Vertrau mir! Ich weiß, was ich tue ...“ „Immer wenn ich diesen Satz gehört habe, ging irgendetwas schief.“ Das war das letzte Wort, was die beiden Mädchen hörten, obwohl sie angestrengt lauschten. Doch nur wenige Sekunden versuchten sie verzweifelt, etwas zu hören, ehe ihnen bewusst war, dass nichts mehr zu hören war. Green kam aus deren Versteck hervor und war genau wie Sho überrascht, niemanden mehr vorzufinden. Wie war es möglich, dass der Gang, wo er doch eine Sackgasse war, ausgestorben vor ihnen lag?     Green nippte unruhig an einem Weinglas, welches natürlich nicht mit Wein gefüllt war, sondern mit Orangensaft, Sho dabei beobachtend, wie sie immer wieder den Tanzpartner wechselte. Von Weitem grinste sie immer mal wieder Green zu und forderte sie mit ungeduldigen Handbewegungen dazu auf, sich ihr anzuschließen, indem sie sich ebenfalls einen Tanzpartner suchte. Doch Green verzichtete, denn sie weigerte sich weiterhin, sich auf Shos Spiel einzulassen. Obendrein hatte sie keine Lust, mit einem Jungen aus ihrer Klasse zu tanzen. Nicht, dass sie nicht tanzen konnte; damit hatte das gewiss nichts zu tun. Ihre Verletzungen hörten nicht auf zu pochen und zu brennen, weshalb sie der Tanzfläche lieber fernblieb: Außerdem sah sie immer wieder nervös auf ihr Handy, welches sie mitgenommen hatte, falls Pink sie wieder anrief, doch der letzte Anruf war am Vormittag gewesen. Gerade als Green das Handy abermals aufklappte, um Pink wieder anzurufen, wurde ihr Vorhaben unterbrochen; von einer ihr unbekannten Stimme, die sie zum Tanzen aufforderte. Während Green sich umdrehte, antwortete sie monoton: „Nein, tut mir leid, mir geht es nicht gut …“ Die Wächterin geriet ins Stottern, als sie denjenigen erkannte, der vor ihr stand: es war der rothaarige Junge, den sie vor etwa einer Stunde mit Gary zusammen gesehen hatte. Seine schulterlangen roten Haare glänzten im Licht, wie auch seine dunklen roten Augen, die seine Haare ziemlich gut ergänzten. Ein charmantes Lächeln zierte sein perfekt zugeschnittenes Gesicht, welches kindlich, aber doch männlich zugleich wirkte. „Schade, dass es dir nicht gut geht“, sagte der gutaussehende Unbekannte und sein Lächeln wurde zu einem leichten Grinsen, welches ihm sogar noch besser stand als das Lächeln und beschämt bemerkte Green, dass sie rot geworden war bei diesem Anblick. Sie schluckte, ohne es zu bemerken. „Ich hätte dich zu gerne zum Tanzen entführt.“ „I-ich denke, ein Tanz kann nicht schaden.“ Oh Gott! Dachte Green – seit wann war sie so schüchtern und begann zu stottern? Kam das nur von seinem vorteilhaften Aussehen? Green versuchte, sich abzulenken, denn sie musste an etwas anderes denken: Was hatte er mit Gary zu tun? Über was hatten sie gesprochen? Wer war er?! Das waren die Fragen, die sie sich stellen sollte und vielleicht würde ein Tanz ja ein wenig Aufklärung geben. Wenn sie wenigstens seinen Namen herausfinden würde … dann könnte sie Untersuchungen anstellen. Sie beschloss für sich selbst, dass dies eine gute Ausrede war – eine, mit der sie leben konnte.   Green klappte das Handy wieder zu und verdrängte die Schüchternheit schnell hinter einem gelassenen Lächeln. „Aber ich möchte erst einmal wissen, mit wem ich das Vergnügen habe. Aus meiner Klasse bist du auf jeden Fall nicht.“ Diese Aussage brache ihn zum Lachen, doch es hielt nicht lange, ehe er wieder lächelte. „Du gefällst mir.“ Das warf Green umgehend wieder aus dem Konzept. Was für ein Charmeur! Und wahrscheinlich war er auch noch ein Casanova – und sie konnte es ihm nicht einmal verübeln. „Mein Name ist Nakayama Siberu“, antwortete er und streckte daraufhin seine Hand nach Green aus, in einer geübten, doch unheimlich eleganten Art. Das Mädchen bemerkte, wie ihr Herz sich beschleunigte, als sie seine Hand ergriff, er sie festhielt und sie von ihrem Stuhl hochzog. „Und dein Name ist?“, fragte er, als er sie bereits auf die Tanzfläche begleitet hatte und die Hand an ihre Taille gelegt hatte. Green gestand sich ein, dass sie das mochte. Sie mochte, dass gerade ein langsames Lied gespielt wurde. Sie mochte seine roten Augen, die sie anstrahlten, obwohl sie so dunkel waren. „Najotake Green.“ Er grinste wieder, erwiderte nichts auf ihren ungewöhnlichen Namen, obwohl die meisten sofort fragten, wie man auf die Idee kam, sein Kind nach einer Farbe zu benennen. Er drückte sie ein wenig fester an sich, bewegte sich zur Musik ohne die Augen von ihr zu lösen, was auf Gleichsamkeit beruhte. Green fiel sofort auf, dass Siberu ein geübter Tänzer sein musste, denn er musste nicht auf seine Bewegung oder Schritte achten. „Darf ich dich Green-chan nennen?“ Die Angesprochene kicherte ein wenig dezent, drückte seine Hand ein wenig fester und sagte, mit einem schelmischen Lächeln: „Wird das nicht etwas zu persönlich?“ „Und wenn ich will, dass es persönlich wird?“ Greens Herz begann schneller zu schlagen, als er sie so anlächelte, um seine Worte zu unterstreichen. Doch so leicht würde sie es ihm nicht machen. Er sollte sich nicht einbilden, dass sie sich ihm ausliefern würde, nur weil er mit so einem guten Aussehen gesegnet war und dazu noch mit schmeichelnden Worten umgehen konnte. Außerdem wusste Green genau, dass man solchen Jungs am wenigsten vertrauen sollte. „Ich glaube, du solltest nicht so voreilig sein, Siberu-san.“ Diese Aussage gefiel ihm nicht, das bemerkte sie sofort und der Triumph erfreute sie, denn sie war stolz darüber, dass sie standhaft geblieben war und gekontert hatte. Wenn Sho an ihrer Stelle gewesen war, hätte sie sich Siberu sicherlich ohne Wenn und Aber um den Hals geworfen. Aus den Augenwinkeln sah sie zu ihrer Freundin herüber, die zwar immer noch einen Tanzpartner hatte, aber doch mehr auf Green und Siberu konzentriert war als auf ihn und das Tanzen. Green konnte nicht sagen, ob es Eifersucht oder Begeisterung war, was sie in ihren Augen sah. Wahrscheinlich eine Mischung von beidem. Doch gerade als Green sich wieder Siberu zuwenden wollte, entdeckte sie hinter Sho noch jemanden, der ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Nahe der Tür lehnte Gary sich mit verschränkten Armen an die Wand und sah den Tanzenden zu. Nein, er sah Green und Siberu zu, die anderen interessierten ihn nicht. Doch irgendwie war sein Blick nicht nur bloße Neugierde, sondern irgendwie finster und ernst. Green fragte sich, ob das wohl Eifersucht zu bedeuten hatte … doch irgendetwas sagte ihr, dass es nicht so war. Aber was war es dann? Hatte es etwas mit dem Gespräch zwischen den beiden zu tun? „Green, wo guckst du denn hin?“, unterbrach Siberu ihre Gedanken und sie wandte sich sofort von dem Stachelkopf ab und zurück zu dem genauen Gegenteil. Siberu grinste, sah aber nun ebenfalls zu Gary. „Ich glaube, da ist jemand eifersüchtig.“ Green ging nicht darauf ein, da sie sich sicher war, dass Gary nicht eifersüchtig war. „Kennst du ihn?“ Siberu sah sie wieder an und deutete ein Achselzucken an. „Oberflächlich würde ich sagen. Aber, Green, was interessiert mich das? Du interessierst mich. Und ich will diesen Tanz mit dir genießen.“ Dieser Satz hatte seinen erwünschten Effekt. Green wurde rot und dachte nicht darüber nach, skeptisch zu werden, was sie normalerweise geworden wäre. Ihr fiel nicht einmal auf, dass Siberu Gary ein überlegenes Grinsen zusandte und dieser sich wütend abwandte. Als das Lied vorbei war, wollte Green eigentlich weitertanzen, doch Siberu entschuldigte sich. „Ich muss leider wieder los. Meine Zeit hier war nur begrenzt.“ Green gefiel das nicht; ihre Hand, die immer noch in Siberus lag, drückte sie ein wenig fester als sie ihn fragte, ob sie sich wiedersehen würden. Er zog das Mädchen näher an sich heran und Greens Herz machte einen gewaltigen Hüpfer, als Siberu ihre Haare küsste. „Das hoffe ich, immerhin will ich dich noch Green-chan nennen dürfen!“ Er schenkte ihr noch ein letztes Grinsen, ehe Green ihn in der Menge verlor. Kurz blieb sie stehen, sah ihm mit pochendem Herzen hinterher, ehe ihr bewusst wurde, was sie tat und darüber kopfschüttelnd errötete. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich herum, um wieder zum Tisch zu gehen, wo Sho bereits auf sie wartete, um einen ausführlichen Bericht zu hören. Green fing an, auf sie zuzugehen, wobei sie nun bemerkte, dass Gary nicht mehr im Saal war. Dann geschah es. Ein enormer Schmerz zuckte durch Greens Herz, als hätte man einen Teil herausgerissen. Ihr Sichtfeld verschwamm zuerst, ehe es sich verdunkelte, im Takt mit steigenden Schmerzen, die nicht von ihren Verletzungen stammten. Ihre Knie brachen ein, und ehe sie zu Boden stürzte, hatte sie bereits das Bewusstsein verloren.     Von weit her drangen Stimmen an Greens Ohren. Sie konnte die Stimmen nicht verstehen, konnte nicht hören, was sie sagten oder zu wem sie gehörten. Alles, worauf sich ihre Sinne momentan konzentrierten, waren Schmerzen. Es waren keine stechenden Schmerzen, die ihren Körper heimsuchten, es war ein anhaltender Schmerz, der in ihr brannte … und sie hatte das Gefühl, dass es von Sekunde zu Sekunde schlimmer werden würde. Sie war schwach, müde, kaputt. Green konnte sich nicht einmal dazu aufbringen, ihre Augen zu öffnen oder sich überhaupt zu bewegen. Alles war in diesem Moment zu anstrengend. Nur eine Sache wollte sie haben, nur für eine Sache würde sie sich jetzt bewegen: „…Wo … ist … mein Glöckchen?“ Sie hatte ihr Glöckchen nicht bei sich. Es war nicht in der Nähe – sie spürte es. Wo war es? Wo war es? Jemand nahm ihre Hände, die sie hochgestreckt hatte, ohne es zu bemerken. „Green, wie schön, dass du wieder bei Bewusstsein bist …! Ich hab mir …“ Green öffnete die Augen, sah Sho an, welche sie nur verschwommen sehen konnte, und hörte den Rest ihrer Worte kaum noch. Sie wollte ihr Glöckchen haben. Alles andere war nicht von Bedeutung. „… du hast wahrscheinlich eine Blutvergiftung. Aber das wird schon wieder, Green! Du musst dich einfach nur ausruhen. Bleib im Bett, bis ein Arzt kommt.“ Nein, ein Arzt würde ihr nicht helfen können. Es war das Glöckchen … warum war es nicht in ihrer Nähe? „Der Arzt des Hotels ist nur leider außer Haus und momentan wütet ein Schneesturm, es kann also kein Arzt kommen … ruh dich einfach aus, Green. Alles wird gut …“ „S-Sho … ich brauche das Glöckchen …“ „Es ist nicht hier, Green.“ „…Wo ist … es? … Ich brauche … es …“ „Ich werde es für dich suchen, ja? Ich finde es, das verspreche ich dir. Aber jetzt ruh dich aus.“ Sho verstand es nicht. Wie sollte sie es auch verstehen? Sie spürte nicht diesen Schmerz in ihrer Brust, dieses verzweifelte Verlangen … Wieder wurde ihre Sicht von kleinen schwarzen Pünktchen gesprenkelt und sie spürte, wie die Bewusstlosigkeit sie wieder zu sich holen wollte, doch sie konnte Sho noch etwas sagen: „…Ich muss … mit Pink reden …“ „Ruh dich aus, Green.“ Und wie auf Befehl verlor Green wieder das Bewusstsein.     Doch egal wie verzweifelt Sho suchen würde, sie würde es nicht finden, denn es befand sich komplett außerhalb ihrer Reichweite. Gänzlich an einem anderen Ort, weit entfernt von irgendwelchem Schneetreiben und in einer sternenklaren Nacht, wo sicherlich nicht geschlafen wurde, so wie Green es nun gezwungenermaßen tat. Der Person, welche das Glöckchen hatte, war viel eher nach Feiern zumute, während sie das kleine Schmuckstück immer wieder in die Luft warf, um es gekonnt wieder aufzufangen. „Schade, schade, schade … warum musste die Kleine gerade die Glöckchenträgerin sein? Sie wäre sicherlich eine gute Partie gewesen.“ Er seufzte tief und fing das Glöckchen wieder auf, um es dann auf seinem Zeigefinger zu balancieren, wo es im Licht des Halbmondes glänzte. Er besah es sich kurz und fragte sich, ob es wahr war, was man sich über dieses Ding erzählte, denn es sah ziemlich unscheinbar aus. Bevor er sich jedoch in diesen Gedanken verlaufen konnte, spürte er, wie jemand hinter ihm auftauchte, doch dies brachte ihn nicht dazu, sich zu seinem Besucher umzudrehen, denn ihm war klar, wer ihm Gesellschaft leistete und genauso wusste er auch, dass er jetzt eine Standpauke zu hören bekommen würde.    „Silver, was in aller Welt hast du vor?“ Der so Angesprochene richtete sich auf und wandte sich dem Besucher nun doch zu. „Was ich hier mache? Ich tue das, was du schon längst hattest tun sollen!“ Silver sah ihn neckisch mit einem Grinsen an, doch sein Gegenüber blieb ruhig. „Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen.“ „Du bist doch nur eifersüchtig, Blue. Glaubst du etwa, ich hätte deinen Blick vorhin nicht bemerkt?“ Der Angesprochene verdrehte die Augen und seufzte erschöpft. „Silver, du hast mal wieder keine Ahnung. Jetzt gib mir das Glöckchen.“ „Warum sollte ich, bitte schön? Ich habe es bekommen, du warst ja nicht dazu in der Lage.“ „Ich wiederhole mich ungerne, aber: Du hast schlichtweg keine Ahnung.“ „Was willst du mit dem Glöckchen, huh? Die Lorbeeren einheimsen, die ich mir verdient habe?“ Jetzt seufzte Blue wieder, diesmal allerdings mit einer Spur Ärgernis. „Ich könnte mich ein drittes Mal wiederholen, aber langsam wird es mir zu blöd.“ Er streckte die Hand aus und verlangte ein weiteres Mal nach dem Glöckchen. Silver sah zuerst seine Hand an, dann steckte er das Glöckchen in seine Hosentasche und stellte sich in Angriffsposition. „Dann wirst du schon gegen mich kämpfen müssen.“ Sein Gegenüber schüttelte genervt, aber auch erschöpft den Kopf. „Dass du immer alles mit Gewalt aus dem Weg räumen musst.“ „Das klingt ja wie ein Vorwurf - als ob das so unnormal wäre für uns Dämonen!“ Silver grinste und machte eine abweisende Handbewegung, als er sagte, er müsse sich das Glöckchen schon auf diese Art holen müssen, ansonsten würde er es gewiss nicht bekommen. „Mein werter Bruder wird doch wohl nicht eingerostet sein?“, sagte Silver herausfordernd. Der Angesprochene seufzte ein weiteres Mal, schien jedoch immer noch nicht Lust am Kämpfen gefunden zu haben. Er verschränkte die Arme und sagte: „Sag, Silver, wie geht es eigentlich Rui?“ Silvers Kampfhaltung fiel vollkommen zusammen, als er bei dem Klang von diesem Namen zusammenfuhr, doch nicht nur das, er wurde augenblicklich blass. „D-Das wagst du nicht …“ Die unsichere Stimme des Rotschopfes entlockte dem Bruder ein kleines Grinsen. „Ich glaube, sie vermisst dich ganz schön, immerhin warst du die letzten zwei Tage hier, nicht wahr, Silver? Ich denke, es wäre nett von mir, wenn ich sie rufen würde – du vermisst sie doch sicherlich auch.“ „Nein, Blue, nein! Das machst du nicht, ich warne dich …!“ „Wenn du mir das Glöckchen gibst, überlege ich es mir vielleicht anders.“ „Nie im Leben!“ Das Grinsen von Blue wurde noch breiter, wahrscheinlich, weil er wusste, dass er das Glöckchen so oder so erhalten würde. Um seinem Bruder zu beweisen, dass er es ernst meinte, hob er langsam den Arm und wie auf Kommando unterbrach ihn Silver bei seinem Versuch, Rui zu rufen. „Ja, ja schon gut! Ich geb es dir, nur lass Rui da bleiben, wo der Pfeffer wächst!“ Wieder grinste Blue, als er die Hand austreckte und das Glöckchen verlangte. Wiederwillig sah der Rotschopf seinen Bruder an, grummelte ein paar Schimpfwörter, ehe er das Schmuckstück aus seiner Tasche holte und es Blue gab. „Das war unfair.“ „Wie gesagt, Silver. Man muss nicht alles mit Gewalt lösen.“ Blue ließ das Glöckchen nun in seine eigene Tasche gleiten und wollte gerade aufbrechen, als Silver ihn davon aufhielt: „Liegt mein Gefühl richtig, wenn es mir sagt, dass du damit nicht in unsere Heimat zurückkehrst?“ Blue antwortete ihm nicht, sondern sah nur hinaus in die dunkle Nacht. Am Horizont verfärbte der Himmel sich bereits langsam; die Schwärze verblasste und würde bald die ersten Strahlen der Sonne freigeben. „Du weißt, wenn du das jetzt tust, bist du deinen Rang los, wenn nicht sogar …“ Jetzt war es Silver, der seufzte. „Und das alles nur wegen eines Mädchens? Das passt gar nicht zu dir, Aniki. Ich erkenne dich kaum wieder.“ Der Angesprochene wandte sich von dem anfänglichen Morgengrauen ab und sah seinen kleinen Bruder an. „Du missverstehst die ganze Sache, du hast …“ Silver unterbrach ihn mit etwas zu lauter Stimme: „Dann erklär es mir doch! Ich verstehe das hier nämlich wirklich nicht.“ „Ich erklär es dir, wenn ich Genaueres weiß. Bis dahin …“ Blue erhob den Finger und sagte langsam und deutlich, als würde er mit einem Kleinkind reden: „Misch dich nicht ein! Es ist besser für dich, glaub mir.“ Mit diesen Worten verschwand Blue im Nichts. Silver sah auf den Fleck, wo sein Bruder gerade noch gestanden hatte und wiederholte seine Worte in einem genervten Tonfall. Besser für ihn? Das sah Silver anders, nämlich genau umgekehrt. Es war für Blue besser, wenn Silver sich einmischte, solange es noch nicht zu spät war.     In Greens Zimmer herrschte eine tödliche Ruhe, wenn man von ihren regelmäßigen schwachen Atemzügen absah. Draußen tobte weiterhin der Schneesturm und untermalte die Stille des Raumes mit seinem unbarmherzigen Rhythmus verbreitet durch die klappernden und pochenden Fensterscheiben. Sho saß noch an Greens Bett, kämpfte mit der Müdigkeit, die immer mehr an ihr nagte. Doch Sho wollte dem Drang nach Schlaf nicht nachgeben; sie musste wach bleiben. Jemand musste auf Green aufpassen – auch wenn Sho nicht viel mehr tun konnte, als regelmäßig den kalten Waschlappen auf Greens Stirn zu wechseln. Der Versuch, gegen das steigende Fieber zu kämpfen, schien jedoch vergeblich zu sein. Sie verstand es nicht … so langsam konnte das Fieber doch sinken, doch stattdessen schnellte die Temperatur nur weiter aufwärts. Sho machte sich schreckliche Sorgen um sie und wünschte sich, der Schneesturm würde endlich nachgeben, so dass ein Arzt zu Hilfe eilen konnte. Der Rotschopf seufzte tief und überlegte, ob sie etwas lesen sollte, um wach zu bleiben, als ihre Augen ein weiteres Mal zufielen. Sie schreckte noch einmal erschrocken über sich selbst auf, doch konnte sich nicht mehr lange gegen die Müdigkeit wehren, die sich über sie senkte. Kaum dass Sho eingeschlafen war, öffnete Green langsam die Augen. Ihr Sichtfeld war unscharf und schien auch nicht im Sinn zu haben, sich irgendwie zu verbessern. Ihr Herz pochte unablässig und im immer schnelleren Takt, bis sie jemanden verschwommen vor ihrem Bett ausmachte. Sie wusste nicht, wer es war, denn sie konnte ihn nicht erkennen. Aber eins wusste sie: Er hatte ihr Glöckchen. Greens Hände streckten sich nach der Person aus, ohne dass sie über diese Bewegung nachgedacht hatte; es geschah vollkommen automatisch. Sie sagte etwas, verlangte das Glöckchen. Ihr gesamter Körper verlangte nach dem Glöckchen. Sie wusste, sie würde es sich mit Gewalt holen, würde er es nicht herausrücken. Wenn es sein müsste, würde sie dafür töten. Aber er gab es ihr. Und kaum lag das kleine Ding in ihren Händen, spürte Green, wie sich ihr gesamter Körper entspannte. Ihre Schmerzen ließen nach, ihr Sichtfeld klärte auf, sie gewann wieder an Farbe und ihr Herz beruhigte sich. Bis sie denjenigen erkannte, der vor ihrem Bett stand und sie aufmerksam beobachtete: „G-Gary?!“     Fertiggestellt: 25.03.09 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)