Himitsu no Mahou von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 36: Der Zweck heiligt die Mittel ----------------------------------------                 Adir hatte es kommen sehen. Genau deswegen hatte er all das nicht gewollt; genau deswegen hatte er nicht an den Ratsversammlungen teilnehmen wollen, die irgendwie etwas mit Green zu tun gehabt hatten. Dass das nicht die richtige oder die verantwortungsvollste Entscheidung war, das wusste er und jetzt spürte er auch deutlicher denn je, dass er nicht vor den Ratsversammlungen fliehen konnte und niemals hätte fliehen dürfen. Er musste dabei sein. Anwesend sein bei diesem… Trauerspiel. Diesem furchtbaren, beschämenden Trauerspiel. Streit war verpönt unter den Wächtern, aber das bedeutete nicht, dass es solche Dinge nicht auch im Wächtertum gab - die Hikari taten zwar gerne so, als wären sie solchen Dingen erhaben, aber sie waren es nicht. Natürlich waren sie es nicht, denn trotz ihrer gleichen Farbe waren sie doch alle unterschiedlich; mit unterschiedlichen Meinungen und Herangehensweisen. Alleine der Fakt, dass sie aus so vielen verschiedenen Epochen stammten, konnte so manches Mal Grundbaustein legen für Dispute. Es hatte schon öfter offene Streitereien gegeben, es hatte nicht umgangen werden können, dafür saßen auch zu viele Hikari in den Ratsversammlungen, die alle ihre eigenen Kriegserfahrungen gemacht hatten und diese gerne geltend machen wollten auf diese oder jene Weise. In der Regel waren diese Dispute allerdings nur zwischen einigen; eher selten allumfassend und eigentlich hatten die Ratsmitglieder auch immer bewiesen, dass sie ihre eigenen Dispute beiseiteschieben konnten, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Streitereien hatten nie lange angedauert, die Vernunft hatte meistens gesiegt – immerhin waren sie im Jenseits, um gemeinsam das Wächtertum zu lenken und es erfolgreich durch den Krieg zu führen. Ihre Feinde waren immerhin die Dämonen.   Eigentlich. Aber dieses Problem - das „Yogosu-Problem“ - traf sie in ihrer Mitte. Es bohrte sich in ihren Kern und die von Adir bereits gefürchtete Teilung hatte schon längst stattgefunden. Eine Teilung war es auch nicht mehr länger - es war eine Zersplitterung. Eine Zersplitterung, die jetzt nur noch größer geworden war, nachdem Grey förmlich eine Bombe in ihre Mitte geworfen hatte. Adir hatte gehofft, dass das Yogosu-Problem eigentlich fürs Erste abgehakt sein würde, nun wo sie bei ihrem Bruder war und dass die Hikari sich, während sie abwarteten und auf Besserung hofften - jedenfalls tat Adir das - wichtigeren Dingen zuwenden konnten, sich wieder auf das besinnen konnten, was ihre wahre Aufgabe war. Adirs Hoffnung hatte sich eigentlich auch bewahrheitet, denn Green war lange kein direktes Thema mehr gewesen… gut, sie war ab und zu erwähnt worden, gut, man hatte unterschwellige Andeutungen gespürt, aber… Argh, wem machte Adir eigentlich etwas vor - sich selbst? Wollte er dieses Chaos, das eine einzelne Hikari auslöste, einfach nicht wahrhaben? In den Ratsversammlungen war sie vielleicht nicht das oberste Thema gewesen, aber in den Gängen des Jenseits hatte er es immer wieder gehört, hatte gesehen, wie Shaginai und Hizashi miteinander sprachen, wo das Thema eindeutig Shaginais Enkelin gewesen war, auch wenn es sofort verstummte, als Adir sich näherte… und hatte Shaginai ihm nicht erst gestern beim Schachspielen vorgehalten, dass Zeitschinden keine Früchte tragen würde und dass man nur das Unvermeidliche hinauszögere? Adir hatte gewählt, diese Worte nicht auf Green zu beziehen sondern auf das Spiel, aber die finstere Miene Shaginais hatte eigentlich keinen Zweifel offengelassen. Und der Anblick der Ratsmitglieder ließ auch keinen Zweifel offen, dass die Zersplitterung der Hikari bereits mehr als im Gange war! Es war unmöglich schönzureden, so gerne er es auch wollte… Adir kam es so vor, als wäre er auf einem Schlachtfeld! „… vielleicht sollten wir erstmal klären, wer die Schuld an unserem Schlamassel hat! Ich meine, Bla--...Grey hat eindeutig unsere Befehle missachtet. Er ist für dieses Chaos zuständig, nicht wahr? Sollte er nicht bestraft werden?“ Adir massierte sich die Schläfen, während Seigi natürlich die Situation ausnutzte, um Grey anzukreiden - es schrie ja auch danach. Die Frage, was Grey sich nur dabei gedacht hatte, plagte auch Adir - aber konnte man nicht zuerst andere Dinge klären?! „Seigi, hättest du nicht damals versagt, säßen wir gar nicht hier.“ Eine wütende Ader begann an Seigis Hals zu pochen, als Shaginai dies mit kaltem Unterton antwortete und mit schneidender Stimme erwiderte der Tausendtöter: „Der Grund, weshalb wir aber heute hier sitzen, ist eindeutig, weil Ihr Enkel Mist gebaut hat.“ Adir verspürte nicht die geringste Lust, seine Augen zu öffnen; er sah Shaginais wütendes Gesicht auch so vor seinem inneren Auge. „Fühlt es sich gut an, einen wohlerzogenen und talentierten Wächter zu beflecken, Seigi?“ Jetzt wurden sie schon beleidigend - warum musste das nur passieren… „Wohlerzogen?! Wie oft haben wir klargemacht, dass Yogosu nicht mit anderen Wächtern in Kontakt kommen darf - und der ach so wohlerzogene Halbhikari tut es dennoch?! Bin ich hier etwa der einzige, der seine Objektivität anzweifelt?! Das ist mehr als Befehlsverweigerung! Das ist Hochverrat!“ „Ja, Seigi, Grey hat sich unseren Befehlen widersetzt und es ist legitim, seine Objektivität anzuzweifeln, denn in der Tat, er hat ein etwas zu mitfühlendes Herz, aber im Endeffekt ist er immer noch mehr Hikari als du es je sein wirst.“ „Wie bitte?!“ Das Massieren seiner Schläfen intensivierte Adir nun, als könnte er damit die Stimmen ausfiltern. Er hoffte, dass Shaginai darauf nicht antworten würde, denn dann würde es definitiv eskalieren – in Lights Namen, warum musste Adir sich gerade glücklich schätzen, dass die beiden weit weg voneinander saßen! Als müsste er Handgreiflichkeiten befürchten – in Lights Namen, in Lights Namen, wer waren sie denn…   „Seigi hat aber nun einmal recht – Grey-san hat unseren Befehlen zuwidergehandelt und uns in ungeahnte, katastrophale Probleme hineingeworfen!“ Adir hatte ja gehofft, dass es nicht Shaginai sein würde, der antwortete, aber Hizashi war auch nicht besser… und obwohl Shaginais Stimme relativ ruhig blieb, als er antwortete, konnte Adir deutlich seine ungeduldige Wut heraushören:  „So lange Grey keine Aussage zu Protokoll gegeben hat, ist es reine Zeitverschwendung darüber zu diskutieren!“ Shaginais Ruhe war nur eine Fassade, dessen war Adir sich sicher. Eine unnütze Fassade, denn Adir glaubte, dass absolut niemand in diesem Saal im Moment als ruhig beschrieben werden konnte. Shaginai am allerwenigsten, denn er war, wie auch Adir und White, anwesend gewesen, als Hizashi aufgeregt und fahrig ins Jenseits gestürzt war. Adir glaubte, dass er Shaginais Gesicht, als Hizashi berichtete, was Grey offensichtlich getan hatte, nie vergessen würde – eine Mischung aus Schock, Wut und Widerwille das Gehörte zu glauben hatte sich auf seinem Gesicht vereint. Kurz hatten Adir und White – beide ebenfalls schockiert – befürchtet, dass Shaginai schnurstracks ins Diesseits stürmen wollte, um von Grey eine Erklärung zu verlangen. Stattdessen hatte er aber seine Wut heruntergeschluckt und die Ratsmitglieder zusammengetrommelt. Ob er Grey vertraute? Ja, er hing sehr an Grey – aber dennoch war Adir überrascht über Shaginais Reaktion, denn er hätte nicht gedacht, dass Shaginai wählte Grey zu vertrauen in… so einer Situation. Vielleicht vertraute er ihm auch nicht – vielleicht wartete er ab. „Wann ist er denn vorgeladen?!“ Eine aufgeregte Antwort Marys folgte auf Hizashis zornigen Ausruf: „Um 15 Uhr 15 - oh, nein, wartet, 16 Uhr 15…“ Sie wühlte in ihrem Stapel von Dokumenten, sie, die mit diesen neuen Ereignissen wohl die meiste Arbeit hatte, da sie immerhin für die Kommunikation zwischen den Hikari und den Wächtern zuständig war; jede öffentliche Veranstaltung, jede Rede, jede Verkündung fiel in ihr Arbeitsgebiet, es war daher nur allzu verständlich - eigentlich - dass sie nun mehr als durch den Wind war. Aber Verständnis schien momentan rar zu sein, wenn Adir Hizashis Antwort hörte: „Wenn wir nicht einmal Uhrzeiten richtig aufschreiben können, dann sehe ich sehr schwarz für die Zukunft.“ Papier donnerte auf den Tisch, als Mary sich wütend auftürmte und Adir leise in sich hinein stöhnte: „Möchtest du einen roten Strich daruntersetzen, Hizashi-Sensei, so wie früher?! Ach, nein, warte - ich hatte ja gar keine roten Striche, weil ich einen Rang Eins belegt habe!“ „Ich sehe nicht, wie das mit irgendetwas im Zusammenhang steht.“ „V-Vielleicht sollten wir erst einmal auf Grey-sans Bericht warten, um… um uns ein besseres Bild…“ Es glich einem Wunder, dass Lilis brüchige Stimme in diesem wütenden Strudel überhaupt vernommen wurde, aber weil Hizashi neben ihr saß, hatte er sie dennoch gehört und sprang sofort darauf an mit einer weitaus kräftigeren Stimme als die ihre: „Wir können uns bereits jetzt ein Bild davon machen, in was für einer unvorteilhaften Lage wir uns befinden! Dafür müssen wir nicht auf einen Bericht waren! Schon bevor ich den Unterricht abschließen konnte - schon nach der ersten Pause! - fragten mich die ersten Kinder, ob es gelogen wäre, dass Yogosu damals gestorben sei und ob ihre Eltern ihnen etwas Falsches erzählt hätten!“ Hizashis eigentlich immer sehr ernste Stimme knickte ein und wieder einmal fragte Adir sich, wie es nur sein konnte, dass ein Hikari, den er eigentlich als sehr kaltherzig einstufte, so ein großes Herz für Kinder haben konnte: „E-Es war schrecklich!“ Er klang bei diesem Ausruf nämlich wahrlich sehr leidend. Genau wie Mary, deren Feder manisch über ihre Notizen rauschte. „Wir brauchen so schnell wie möglich eine öffentliche Stellungnahme…!“ „Aber was sollen wir den Wächtern mitteilen? Dass es ein Fehler war?“ „Unter den Tisch fallen lassen wäre wohl…“ Mary fiel da ins Wort, während ihre Feder wieder wütend über das Papier fegte und dabei mehrere schwarze Kleckser ihren Tisch befleckten: „Unter den Tisch fallen lassen?! Dafür ist es zu spät! Grey-kun hat ganze Arbeit geleistet… Propaganda vom Feinsten! Mittlerweile weiß das ganze Wächtertum davon und mit jeder Minute, die wir hier verbringen mit nichts, sinkt unsere Glaubwürdigkeit!“ „Ist die Rede denn wenigstens angefangen worden?“ „Willst du sie schreiben, Hizashi?!“ „Wir hätten sie einfach hinrichten sollen, als sie das letzte Mal im Jenseits war…“ „Absolut! Dem stimme ich ganz zu.“ „Vater, wir waren uns einig, dass meiner Tochter die Möglichkeit gegeben wird, sich mit ihren Wächterwurzeln auseinanderzusetzen.“ „Ich bezweifle, dass eine solche Einigkeit ein zweites Mal errungen werden kann, White“, erwiderte Shaginai schneidend, aber ob seine Worte nun der Wahrheit entsprachen oder nicht, konnte man in diesem Moment nicht herausfinden, denn dafür hörten viel zu wenig Hikari zu, da viel zu viele wiederum damit beschäftigt waren… sich zu streiten, untereinander. So laut und unkontrolliert hatte Adir den Ratssaal noch nie erlebt und wieder huschte ihm ein Stöhnen über die Lippen, während er sich zurücklehnte und einen Seitenblick an die ebenfalls bedrückt aussehende White warf, die neben ihm saß. Es reichte - es war definitiv genug, Adir konnte sich dieses Trauerspiel nicht länger ansehen und als Mary tatsächlich gerade wütend und Hizashi giftig anfahrend den Saal verlassen wollte, richtete Adir sich mit einem Ruck in seinem Stuhl auf, die verwunderten Blicke Shaginais und Whites nicht beachtend. Zuerst wurde auch Adir von den anderen nicht beachtet, die zu aufgeregt waren, um Adirs Aufstehen zu bemerken, aber als seine Stimme ertönte, kamen die tosenden, wütenden Wellen des Ratssaals langsam zum Stillstand: „Wenn wir so weitermachen, wird die drohende Prophezeiung noch selbsterfüllend! Wir haben andere Krisen im Zusammenhalt überstanden, wir überstehen auch diese – zusammen! Also sänftigt eure Gemüter, meine Mithikari!“ Sofort wusste Shaginai diese ruhige Sekunde, in der alle weißen Augen zu Adir sahen, zu nutzen: „Adir hat vollkommen recht. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Situation, so ungünstig sie auch sein mag, uns zu Kopf steigt! Ansonsten wird die Prophezeiung, genau wie von Adir beschworen, sich wahrlich noch selbst erfüllen! Die Unreinheit Yogosus darf nicht auf uns übergehen!“ Zwar war es gut, dass sich die Gemüter augenscheinlich erst mal wieder beruhigt hatten - Mary setzte sich schon wieder - aber dennoch verzog Adir bei den Worten Shaginais ein klein wenig das Gesicht. So hatte er das nicht gemeint.              Es war erstaunlich, wie ruhig Grey war in Anbetracht der Lage, in der er sich befand. Ryô konnte gewiss nicht behaupten, dass er das Gemüt seines Herren und Freundes teilte; er versuchte es, aber es gelang ihm nicht - zu sehr fürchtete er die Wut der Hikari, die sich ohne Zweifel gegen Grey richten würde. Hizashi alleine war schon schlimm genug gewesen, als er Grey noch auf Sanctu Ele'Saces abgefangen hatte! Von seinem eigentlich so sonnigen Lächeln war nichts zu sehen gewesen... er war außer sich; durch den Wind hatte man wahrlich sagen können, wie er Grey überhaupt nicht zu Wort hatte kommen lassen... ihm war sogar unbemerkt herausgerutscht, dass er es gewesen war, der eine solche Situation bereits einmal verhindert hatte, indem er die Erinnerungen zweier Offiziere gelöscht hatte, als sie „zu neugierig“ waren und „zu viele Fragen“ gestellt hätten. Ryô musste sich eingestehen, dass er sich in diesem Moment richtig vor Hizashi gefürchtet hatte; immerhin hatte er gerade nebenbei zugegeben, dass er die Erinnerungen zweier hochrangiger Wächter mithilfe der Verbotenen Techniken gelöscht hatte, ohne dafür irgendwie beschämt zu klingen. Techniken, die auch für die Hikari verboten waren, für die auch sie eine Genehmigung brauchten und irgendetwas sagte Ryô, dass Hizashi keine Genehmigung eingeholt hatte, dass er das ganz selbst entschieden hatte... ob er seine Handlungen mit den Sonderregeln begründet hatte? Aber legitimierten die denn alles? Aber Grey war ruhig und respektvoll geblieben; war nur ein wenig blasser als normal geworden, als Hizashi drohend verkündet hatte, dass er sich vor dem Rat verteidigen müsse, da Hizashi schlecht jeden Wächter finden konnte, um deren Erinnerungen zu löschen! Ob er es getan hätte, wenn das nicht vollkommen unmöglich wäre? Eine kleine Stimme in Ryô sagte ihm, dass er Hizashi lieber alles zutrauen sollte... wie er da vor ihnen gestanden hatte, mit stechenden, wütenden Augen, seine Hand fahrig an seinem Hals…   „Ich wünsche Euch viel Glück, Grey-sama...“ Grey bedankte sich lächelnd dafür, während er den Schlüssel für das Jenseits hervorholte. „Wo ist Green im Moment?“ „Hikari-sama hat sich ins Bad begeben. Ich hörte sie noch mit Pink-sama darüber sprechen, dass ihr der Tag sehr gefallen hat.“ „Das freut mich zu hören. Er hat mir auch sehr gefallen.“ „Ich hoffe nur, der Preis dafür ist nicht zu hoch...“ „Kein Preis ist zu hoch, um Green zu retten.“ Warum hatte Ryô gewusst, dass Grey dies sagen würde?     Beinahe ertappte Grey sich dabei, wie er genervt mit den Augen himmelte, als er die Person entdeckte, die ihn in der Eingangshalle des Jenseits „Willkommen“ hieß. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass seine Mutter ihn zum Ratssaal geleiten würde, hatte sich auch darauf gefreut, sie wiederzusehen, vorher noch ein wenig Kraft zu tanken… aber stattdessen begrüßte ihn Seigi. Ein kleiner Teil von Grey, der nicht auf Ernsthaftigkeit versiert war, dachte voller bitterer Ironie, ob seine Bestrafung bereits angefangen hatte – ihm Seigi als Geleitperson zu stellen war für ihn jedenfalls eine Bestrafung. „Da kommt ja unser kleiner Regelbrecher schon – hat dich deine verseuchte Schwester angesteckt, was das Nichtbefolgen von Befehlen angeht, Blacky?“ Seigi grinste fahl, Greys Gesicht verfinsterte sich. „Dir gegenüber habe ich keine Rechenschaft abzulegen, sondern dem Rat.“ „Wovon ich ein Teil bin.“ Immer wieder stellte Grey sich die Frage, wie das eigentlich angehen konnte und noch nie hatte er darauf eine wirkliche Antwort erhalten, auch nicht von anderen Ratsmitgliedern. Von Shaginai hatte er immer nur Beschwerden über Seigi gehört; seine Mutter hielt sich eher bedeckt, da sie nichts Schlechtes über die Ratsmitglieder verbreiten wollte, aber Seigi sonderlich positiv gegenüber gestimmt war sie auch nicht. Was brachte seine Anwesenheit im Rat schon Konstruktives mit sich? Er hatte kein politisches Geschick und obwohl er schon drei Kriege sich hatte entfalten sehen, mangelte ihm auch das strategische Denkvermögen. Was tat er eigentlich im Rat außer den Einsatz von Gewalt zu verherrlichen? Auch jetzt lag Seigis Hand auf dem geflügelten Griff seines Schwertes, locker, wie Grey meinte, ruhend – aber auch bereit zu agieren, wenn es sein musste. Grey spürte, wie die Nervosität, die er die ganze Zeit versucht hatte von Ryô zu nehmen, langsam in ihm hochkam.    „Ja. Ein Teil. Und nun lass uns gehen, ich möchte nicht zu spät kommen.“ Grey ging an Seigi vorbei auf die zwei Tempelwächter zu, die ihre Miene absolut nicht verändert hatten. Grey schoss Greens Frage durch den Kopf, ob die beiden Tempelwächter überhaupt in der Lage waren, anders zu gucken – wenn er sie so ansah, während er seinen Namen und seinen Rang nannte, musste er unwillkürlich daran denken, dass er sie tatsächlich nie mit einem anderen Gesichtsausdruck gesehen hatte. „Hast du vor dem Rat vorzuheulen, dass Greeny dich gezwungen hat?“ Grey spürte, wie seine Augenbrauen zuckten, aber er unterdrückte jegliche andere Reaktion. Wenn es schon Seigi sein musste, der ihn zum Rat führte, konnte er dann nicht wenigstens ruhig sein? „Irgendeine Ausrede solltest du jedenfalls parat haben, Blacky.“ Seigi stand nun genau neben ihm und die Art, wie Seigi sich zu ihm herüberlehnte, kam Grey ziemlich bedrohlich vor – tatsächlich fast… wie die Eröffnung eines Kampfes. „Der Rat ist nämlich ziemlich außer sich und das alles nur wegen dir und deinem verseuchten Schwesterherzchen.“ Oft genug hatte Grey sich schon die Frage gestellt, was eigentlich Seigis Problem mit ihm war, warum er immer auf Provokation aus war – und obwohl er eigentlich zu dem Schluss gekommen war, dass Seigi einfach eine Hikari-untypische, provokative und aggressive Ader hatte, die sich irgendwie – wer wusste schon, warum – gegen ihn richtete, schoss ihm diese Frage wieder einmal durch den Kopf, als er ein gefährliches Leuchten in Seigis Augen sah. Hatte die Hand, die auf Seigis Schwertgriff lag, sich verkrampft? War sie nun bereiter als zuvor? Grey wusste es nicht, denn er wollte sich nicht die Blöße geben und den Blick senken, um Seigis stechenden Augen auszuweichen. „Bist du der richtige, um dieses Wort zu gebrauchen, Seigi?“ Ein hohles Lachen entfloh Seigi: „Meine Lichtmagie ist zwar mickrig, aber 100% Licht - anders als das Licht deiner Schwester.“ „Nun, das scheint ja nicht viel auszusagen, wenn man in den Geschichtsbüchern unter deinem Namen aufschlägt.“ Der Windwächter musste zugeben, dass er sich kurz darüber freute, dass das selbstbewusste Lächeln von Seigis Gesicht verschwand – es kehrte jedoch schnell wieder zurück, wenn auch eine Spur finsterer: „Ich würde aufpassen, wenn ich du wäre. Unter den momentanen Umständen könnte sich immerhin herausstellen, dass du eine Bedrohung für das Wächtertum bist… und – wer weiß! – vielleicht ist deine Schwester…“ Das, was Grey da zu hören glaubte, war nicht gerade ein Schwert, das aus seiner Scheide gezogen wurde – oder doch? „…nicht die einzige, die hingerichtet werden muss?“ „Seigi!“ Sofort als diese hohe Stimme ertönte, veränderte sich Seigis Gesichtsausdruck – er stürzte förmlich von seinem Gesicht herunter und er nahm eilends wieder Abstand zu Grey und tatsächlich, Grey sah es für einen kurzen Moment, Seigis Hand hatte sich um den Griff seines Schwertes gelegt und… es hatte sich wirklich ein Stück aus seiner verzierten Scheide gelöst. Und er sprach davon, dass Green eine Gefahr für das Wächtertum war?! Grey sollte sich lieber mit der Frage beschäftigen, wie Seigi es ins Jenseits geschafft hatte, anstatt sich darüber Gedanken zu machen, was er im Rat zu suchen hatte! „Mutter!“, entfuhr es Seigi tatsächlich ein wenig beschämt, als er die kleine Lili zwischen den beiden Tempelwächtern entdeckte, die wahrlich zur Abwechslung mal ernst aussah; aber ihre Entschlossenheit kam schnell ins Wanken, obwohl niemand irgendetwas gesagt hatte, um sie einzuschüchtern. „Muss ich mich etwa… wieder einmal für dich schämen?“ Seigi antwortete nicht und wäre Grey nicht damit beschäftigt, sich höflich vor Lili zu verbeugen und sie zu begrüßen, wäre ihm aufgefallen, dass Seigi zerknirscht dabei zusah, wie Grey Lili zu einem Lächeln brachte und dazu, sich zu freuen – ehe Seigi sich mit noch größerer Abneigung abwandte. „Warum bist du überhaupt hier, Seigi? Solltest du nicht bereits… im Ratssaal sein?“ Der Schwertkämpfer zwang sich zu einem Lächeln. „Ich wollte Grey nur warnen.“ Sowohl Grey als auch Lili war natürlich bewusst, dass das gelogen war. „Du sollst doch nicht lügen, Seigi… Werden momentan nicht schon genug Regeln gebrochen?“ Das Lächeln ihres Sohnes wurde nur noch steifer. „Ja“, begann er und warf einen schneidenden Seitenblick an Grey: „Finde ich auch.“ Wieder einmal war es Grey, dem Lili ein aufmunterndes Lächeln zuwarf: „Oh, ich denke, dass du dir gar keine Sorgen zu machen brauchst, Grey-san!“ Das Lächeln auf Seigis Gesicht war sofort dahin. „Es ist doch ganz eindeutig, dass die Hexe dich überredet hat, so ein Unding zu tun… Ansonsten würdest du doch niemals… dein Herz ist doch viel zu rein…“ Sofort, ohne das Zutun von Seigi oder Grey, warf Lili sich die flache Hand vor den Mund und entschuldigte sich für das Wort; es handele sich immerhin um seine Schwester… aber Grey entgegnete nichts; er bemühte sich weiter zu lächeln, sich in Gedanken fragend, ob das die Art war, wie Green im Jenseits umsprochen wurde. „Hexe“ und „verseucht“… das hatte er selbst nicht erlebt, aber er nahm auch nur an einigen wenigen Ratsversammlungen teil und wusste nicht, wie man im Jenseits außerhalb des Ratsaales über Green sprach. Scheinbar nicht allzu positiv… „Mutter, ich finde wirklich nicht, dass „Hexe“ das richtige Wort für sie ist.“ „Nein, nein, natürlich nicht, ich habe mich ja auch entschuldigt… Mein Sohn, warum bist du denn so aufgebracht?“ Grey war nervös, das spürte er nun auch – doch wie deutlich Lilis unbedachte Worte nicht zeigten, dass er das richtige getan hatte. Dennoch, als er zusammen mit Lili und Seigi an der hohen Doppeltür des Ratssaals angekommen war und das von filigranen, steinernen Händen gehaltene Regelbuch sah, das auf der Tür eingraviert worden war, wurde ihm mulmig zumute. Mehr als das: ihm jagte ein Angstschauer über den Rücken, er fühlte sich durchbohrt von den Augen des geflügelten Geschöpfes, das so glorreich das Regelbuch emporhielt und dessen Augen auf all jene gerichtet waren, die durch dieses Portal gingen. Grey schloss die Augen, wählte weder auf Lili noch auf Seigi zu achten und sammelte sich kurz, aber dann--- „Grey!“ „M-Mutte--“ Grey kam nicht weit, ehe er schon sämtliche Ernsthaftigkeit verlor; sie ging förmlich in Auflösung in der Umarmung seiner Mutter. Sie selbst schien sich nicht dafür zu interessieren, ob sie irgendwie gesehen wurden oder was andere dachten – in diesem Moment war sie einfach nur eine Mutter, die sich zutiefst Sorgen machte um ihren Sohn. Sie küsste jede seiner Wangen, seine Stirn – achtete gar nicht darauf, dass er versuchte, sie zu beruhigen – und schloss ihn dann noch einmal in die Arme. „M-Mutter“, versuchte Grey es noch einmal, völlig perplex, aber plötzlich auch völlig aufgelöst, als wäre er wieder ein Kind: „Ich… ich wollte dir… keine Sorgen machen…“ „Oh Grey, oh mein Sohn – mach dir doch um mein Befinden keine Gedanken…“ „Entschuldige, Mutter… e-entschuldige… Großvater und dir, ich…“ Da verstummte Grey aber auch schon, denn genau in diesem Moment, als White sich von ihm löste, die Hände an sein Gesicht gelegt hatte – kam Shaginai an ihnen vorbeigerauscht. Er sagte nichts, aber als er mit einem Ruck die Tür öffnete und Grey einen Blick zuwarf, teilte dieser auch schon genug mit:   „Wage es nicht, mich auch noch zu enttäuschen!“      Gespannt wurde Grey bereits von Ryô erwartet. Die Ratsversammlung hatte drei Stunden gedauert und genauso deutlich wie auf Ryôs Gesicht die Frage danach zu sehen war, was sich ereignet hatte, so sah Ryô auch deutlich, dass Grey ausgezehrt war. Er sah schrecklich aus; schrecklich mitgenommen und am Boden zerstört. „Grey-sama…“, begann Ryô voller Sorge auf seinen Herren zugehend, bis er die Teleportationshalle durchquert hatte und direkt vor ihm stand. Er musste seine an diesem Ort indiskrete Frage nicht ausformulieren; Grey wusste natürlich, was er wissen wollte. Sie stand ohnehin zu deutlich in Ryôs Bernsteinaugen geschrieben, in seiner gesamten Körpersprache, die er entgegen jeglicher Professionalität nicht unterdrücken, nicht zur Monotonie zwingen konnte. Grey hätte es auch nicht gewünscht, obwohl es ihn natürlich nicht freute, seinen Freund so besorgt zu sehen. Doch auch wenn er ihn so gerne aufgeheitert hätte, war er zu erschöpft dafür; zu erschöpft, um sich zu einem Lächeln zu bringen. Stattdessen machte er eine etwas ruckartige Geste mit der rechten Hand, womit er Ryô auf eine längliche Schatulle aufmerksam machte, auf der mittig das Wappen der Hikari funkelte. „Es ist alles wie gehabt, Ryô. Die Lügen gehen weiter.“     Wieder stand Grey dort an der Brüstung, unter sich die neugierigen, nach Wissen und Aufklärung verlangenden Augen der Wächter. Wieder war er dort, dieses Mal jedoch alleine, doch wieder da, um zu lügen.   Er war nicht nervös; öffentliche Kundgebungen waren etwas Normales für ihn, ganz egal wie viele Augen auf ihm lagen – er war nur traurig darüber, es wieder auf diese Art tun zu müssen. Das Lügen. Die Lügen breiteten sich aus, wurden immer allumfassender… wo sollte das nur enden? Ah, nein, er durfte so nicht denken, ansonsten würde es ihm schwerfallen zu lächeln; ansonsten würde man ihm ansehen können, dass das Lächeln kein echtes war. Aber es musste eines sein, immerhin hatte er freudige Botschaften zu verkünden – dass Green lebte. Sie lebte nun wieder offiziell, das war doch positiv. Das war doch das, was er sich erwünscht hatte von dem Ganzen. Alle Wächter wussten dank ihm, dank diesem Tag nun, dass Green am Leben war und auch wenn das für Hizashi und die anderen Hikari, die seiner Meinung waren, keinen Unterschied machte, was eine mögliche Hinrichtung Greens anging, so war sich Grey sicher, dass er Green damit mehr - um einiges mehr - Zeit verschafft hatte, sich zu beweisen. Zu beweisen, dass sie… nicht das war, was die Hikari von ihr glaubten… dass sie keine verseuchte, von Unheil und Unreinheit besessene Hexe war. An Green war nichts falsch. Sie hatte seinen Schmerz gespürt, ihn an der Hand genommen. In ihren strahlenden Augen lag keine Boshaftigkeit. Keine drohende Zerstörung für das Wächtertum war in dem Lächeln verbogen, das sie Grey heute geschenkt hatte...   „…Grey, dir muss bewusst sein, was für eine Gefahr von Yogosu ausgeht. Nicht nur die Prophezeiung zementiert dies, sondern auch die neuesten Werte.“ „… wir glaubten, dass das Element des Lichtes ewig gleichbleibend strahlen würde.“ „… aber die Daten, sie zeigen etwas anderes. Sie zeigen… Unreinheit im Licht.“ „… sie verseucht unser Element mit ihrer Unreinheit.“  „… es ist ein ernstes Anliegen, ernster als wir zu Beginn angenommen hatten.“ „… wir hätten sie gleich hinrichten sollen. Shaginai hatte ganz recht!“     Das Lächeln vor Greys innerem Auge wollte trotz dieser Worte nicht verschwinden.   Als Grey Ryô gefragt hatte, was er von Green hielt, hatte nicht einmal er Grey die Antwort geben können, die er sich so erhofft hatte. „Sie ist… Eure Schwester.“ Deutlich hatte Grey Ryô angesehen, dass diesem das Thema unangenehm gewesen war. Er wollte nicht über Green reden, da er nicht zugeben wollte, dass er dieselbe Meinung von ihr hatte wie die anderen. Sie verunreinigte das Element, das war nicht schönzureden… sie war ungehobelt, unhöflich und egoistisch und hatte mehr als einmal auf Greys Gefühlen herumgetrampelt, ihm die kalte Schulter gezeigt. Ryô hatte all das natürlich nicht gesagt, hatte sich zu einem Lächeln bemüht und von „deutlichen Besserungen“ gesprochen, aber Grey wusste es selbst.    Dennoch… Grey spürte noch, wie ihre Finger seine umschlossen…   „… es ist jetzt von größter Wichtigkeit, dass wir eine klare Linie weiterfahren. Mit Transparenz müssen wir den Schatten verbergen, den Yogosu auf uns, auf das Wächtertum wirft.“     Und deswegen musste Grey sich nun an dem erfreuen, was auch erfreulich war. Er musste lächeln und lächelnd weiter lügen. Für seine Schwester. Denn es gab etwas Wichtigeres als Regeln.     Mit donnernder Wut sauste die Faust Seigis auf seinen von ihm ohnehin verhassten Schreibtisch. „Das kann ja wohl nicht angehen?! Schon wieder! Schon wieder ist dieser verfluchte Halbling mit heiler Haut und unbefleckt davongekommen!“ Ein weiteres Mal sauste Seigis Faust hernieder--- „Und ich?! ICH musste mich vorm Kriegsgericht verteidigen, weil ich eine Schlacht geführt habe – die obendrein auch noch erfolgreich verlief?!“ Seigi war viel zu wütend, um irgendeinen Sinn oder irgendeine Gerechtigkeit in dieser schieren Ungerechtigkeit zu erkennen – für ihn war es nichts anderes als mit zweierlei Maß zu messen. Als er den Tod seiner Schwester gerächt hatte und es den Dämonen heimgezahlt hatte, hatte man ihn vor das Kriegsgericht gezerrt, obwohl er so viele Dämonen getötet hatte – einfach nur deshalb, weil er nicht um Erlaubnis gefragt hatte, pah! Und Grey?! Grey wurde mal wieder mit Samthandschuhen angefasst, der arme Grey, pah! Er war sogar gelobt worden! Er hätte ja gar keine andere Wahl gehabt, der arme Grey. Der arme, arme Grey. In was für einer verqueren Lage er war, in der er so schwere Entscheidungen treffen musste – oh ja, Seigi kamen die Tränen. „Ich bin mir bewusst, dass ich gegen den Willen des Rates gehandelt habe und ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten, die mein Vergehen nach sich ziehen wird, besonders bei Mary-san.“ Wie schlau von Grey, in diesem Moment zu Mary zu sehen: „Es war nicht meine Absicht, Ihnen nach der doch sehr arbeitsintensiven Hochzeit noch mehr Arbeit aufzubürden.“ War das nicht sogar eine leichte Verbeugung gewesen, dieser Schleimer?! „Doch waren meine Taten leider unvermeidlich. Green entwickelte durch ihre Bibliotheksaufenthalte eigenständig…“ War den anderen Hikari nicht aufgefallen, dass er seine Schwester vor ihnen beim Namen nannte und dass das doch eindeutig zeigte, dass er alles andere als objektiv war?! „… eine Neugierde für die anderen Teile unserer Reiche und bat mich darum, sie ihr zu zeigen. Hätte ich ihr diesen Wunsch verweigert, so wäre ihre Skepsis erregt worden.“ Seigi war da nicht still geblieben: „Du hättest ihre Erinnerungen löschen können.“ „Dem muss ich widersprechen, denn für eine Erinnerungslöschung und den damit verbundenen Einsatz der Verbotenen Techniken hätte ich eine Genehmigung benötigt, den Sonderregeln zum Trotz.“ Was für eine intelligente Antwort, die auch sofort Anklang fand. Besonders Shaginai schien trotz der ernsten Situation sehr zufrieden mit seinem Enkel zu sein. Wenn Seigi nicht alles täuschte, wirkte er sogar… stolz. Wie konnte man nur auf ihn stolz sein, auf dieses Gör - dieses Gör, das sogar von seiner Mutter erst einmal umarmt werden musste, ehe er… „Grey hat nach bestem Gutdünken gehandelt und ja, eine Erinnerungslöschung mag temporär eine Lösung sein, aber es gibt im Tempel sehr viel, das ein Interesse für die anderen Stützpunkte stimulieren kann – eine Schwärzung all jener Erwähnungen kann wohl kaum in unserem Interesse sein. Ich schlage vor, dass für Grey der Einsatz der verbotenen Techniken legitimiert wird…“ War es denn zu fassen, mit was für einer heilen Haut Grey nochmal davongekommen war?! Hätte Seigi das getan, oh, er wäre wahrscheinlich aus dem Jenseits hinausgeworfen worden, wenn das möglich wäre! Und seine Mutter – sogar seine Mutter war auf Greys Seite! Die Wut übermannte Seigi ein weiteres Mal - dieses Mal richtete sie sich jedoch gegen das, was auf dem Schreibtisch lag: mit einem Schwung seines Armes wurde all jenes zu Boden geschleudert und als hätte Seigi einen schweren Gegner erlegt, wurde sein treues Schwert aus der Scheide gezogen und direkt in das nächste Buch gebohrt, womit es nun senkrecht vor ihm in die Höhe ragte, denn der Schwertkämpfer hatte sich, immer noch wütend, aber viel mehr frustriert, auf den nun sehr chaotisch wirkenden Boden fallen lassen.   … im Endeffekt ist er immer noch mehr Hikari als du es je sein wirst…   „Es ist alles nicht fair, Elly.“ Mit der Hand in seinem Pony vergraben blickte Seigi auf und traf mit einem flehenden Blick sein eigenes Spiegelbild, das er in der glänzenden Klinge seines Schwertes erblicken konnte – dann wandte er sich seufzend ab. „Ich werde noch wahnsinnig.“     „… die Hikari bitten daher um Verständnis in dieser für uns alle schwierigen Situation – besonders Kurai Yogosu Hikari Green gegenüber bitten wir um Verständnis und Rücksichtnahme. Wir vertrauen natürlich darauf, dass das Licht sie eilends zurück zu ihren Wächterwurzeln führt, doch wird dies wohl ein Prozess sein, der ein wenig Zeit und harte Arbeit mit sich führen wird. Wir befinden uns alle in einer ungewöhnlichen und neuartigen Situation, doch gemeinsam werden wir den Weg zurück zur Normalität finden. Für jetzt lasst uns darüber erfreut sein, dass unsere Hikari zu uns zurückgefunden hat.“ Grey legte die Hand auf sein Herz, wie es nicht nur die Wächter unter ihm alle sahen, sondern auch die Hikari, die es per Videoübertragung auch im Jenseits verfolgten. Mary lächelte stolz darüber, wie tadellos Grey die Rede vortrug und wie gekonnt er jetzt eine Pause einlegte – die Hand auf die Brust zu legen war ein guter Einfall, wie sehr seine Körpersprache nicht die Herzen der Wächter berührte! Es hatte ein paar Stimmen gegeben, die der Meinung gewesen waren, man hätte Grey bestrafen müssen – aber waren die denn dumm? Ganz zu schweigen davon, was für ein enormer Verlust Grey gewesen wäre – so ein tadelloser Wächter! – so wäre eine Bestrafung Greys wohl das Dümmste gewesen, was sie hätten tun können, ganz egal wie sehr Seigi und auch Hizashi fluchten. Hizashi wusste natürlich auch, dass nichts so verdächtig und unprofessionell gewesen wäre wie eine Bestrafung von Grey. Das hätte absolut nicht zu dem Bild gepasst, das die Hikari jetzt von sich malen wollten. Nein, das wäre sehr dumm gewesen, dachte Mary, während Grey den letzten Teil ihrer Rede vortrug: „Ich jedenfalls bin überglücklich, meine kleine Schwester wieder in die Arme schließen zu können.“     Shitaya grummelte, als er sich neben seiner Frau an eine Säule lehnte. Er wirkte unzufrieden, obwohl er eigentlich höchst erfreut sein sollte – aber Säil konnte sich schon denken, weshalb Shitaya so ein Gesicht zog. „Gefiel dir die Rede Grey-samas nicht?“ Der Angesprochene verschränkte die Arme: „Ich weiß nicht, irgendetwas stört mich.“ „Ist es etwa die neue Hikari? Ich habe schon viele Beschwerden über ihr „ungewöhnliches“ Aussehen gehört – und über ihr Benehmen. Und über ihren Namen.“ „Ob sie nun braune oder rote Haare hat könnte mir nicht egaler sein. Äußerlichkeiten sind zweitranging; wichtig ist, ob sie sich als Hikari geltend machen kann.“ Säil legte lächelnd die Arme auf den Rücken. „Na, dann bist du wohl einfach darüber pikiert, dass Hikari-sama nicht zu unserer Hochzeit erschienen ist, obwohl die Hikari sicherlich auch gestern schon davon wussten, dass sie lebt und sich in der Menschenwelt aufhält.“ Shitaya grinste ertappt, sagte aber nichts: „Sie hat ganz schönes Glück gehabt, dass sie 16 Jahre lang in der Menschenwelt überlebt hat, besonders wenn man die ganzen Unruhen nach dem Ende des 7. Elementarkrieges bedenkt… und nur weil wir einen Bannkreis haben, bedeutet das ja nun einmal auch nicht, dass keine Dämonen sich in die Menschenwelt verirren können.“ Shitaya warf seiner Frau ein leichtes Grinsen zu, was sie erwiderte: „Also doch nicht ganz von dieser dramatischen Geschichte überzeugt?“ „Sagen wir meine journalistischen Sinne haben reagiert.“ Ihr Grinsen wurde noch breiter: „Ich werde mal ein wenig herumstochern, mal sehen, was sich finden lässt.“ Etwas anderes hatte Shitaya auch eigentlich gar nicht von seiner Frau erwartet; sie, die immerhin die am besten informierte Wächterin des Wächtertums war. Aber jetzt wandten sie sich wieder anderen Dingen zu: dem Grund, weshalb sie überhaupt dort waren, im Stadion von Sanctu Ele’Saces. Die Sonne war bereits fast hinter der Tribüne untergegangen und der Platz des großen Stadions lag dunkel vor ihnen. Sie waren die einzigen, die zu dieser Stunde dort anwesend waren. „Glaubst du, Saiyon-kun schafft das?“ „Entweder jetzt oder er wird es nie schaffen“, antwortete Shitaya seiner Frau, um die er nun einen Arm legte, während sein Blick sich verfinsterte, als Saiyon den Verband ablegte und sein großer Bruder zum ersten Mal seit vielen Jahren das sah, was sich darunter befand: ein lila Mal, das von seiner Schulter bis fast zu seinem Handgelenk ging. Als er es das letzte Mal gesehen hatte, hatte es sich noch nicht so weit ausgebreitet... es sah schmerzhaft aus. Shitaya hoffe inständig, dass der Arzt recht behielt und es wirklich ganz allein an Saiyon lag und dass er das Mal wirklich selbst überwinden konnte. Denn was würde passieren, wenn das Zeichen sich über seinen gesamten Körper ausbreitete? Shitaya biss die Zähne zusammen, diese Frage wollte er gar nicht beantwortet haben. „Du schaffst das, Brüderchen…!“ Saiyon hörte diese erbauenden Worte nicht, denn dafür stand er zu weit weg und war bereits zu konzentriert: Er hatte seine Augen geschlossen und konzentrierte sich ganz auf sein Element. Das Element des Windes, welches er schon so viele Jahre nicht mehr gespürt hatte. Mehr als zehn Jahre war es her, dass er das letzte Mal sein Element beschworen hatte... Aber jetzt musste er es schaffen. Wenn nicht, würde er ewig ein Unterwächter sein, ewig im Schatten seines Bruders bleiben und meilenweit entfernt von seinem Engel. Der Gedanke an sie genügte und er bekam Herzklopfen, wollte genau wie Grey seine Hand auf seine Brust legen, um das Klopfen seines Herzens zu beruhigen. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er sich so wohlgefühlt, so ausgefüllt, so voller Leben nur bei dem Gedanken an eine einzige Person. Und das einzige, was er schaffen musste, war ein paar Böen zu erzeugen. Ein wenig Wind… die kleinste Reaktion würde schon genügen… Er musste an Green denken. Zuerst streckte Saiyon den gesunden Arm aus und dann, ganz langsam, seinen versiegelten – und sofort verzog sich sein Gesicht, sofort verweigerte sich sein Körper, denn sein Arm reagierte mit Schmerzen auf diese eigentlich doch so simple Bewegung, doch der Windwächter blieb eisern. Er spürte wie das Mal aufleuchtete, aber noch keine Anzeichen auf Windmagie, obwohl er so inständig versuchte, mit seinem Element in Kontakt zu treten – die Luft um ihn herum war unbewegt, kein einziger Windhauch und das obwohl sein Arm so sehr schmerzte, als würde er jeden Moment auseinanderspringen. Tapfer biss er die Zähne wie auch die Augen zusammen, um dem Schmerz standzuhalten – er konnte ja nicht sehen, dass das Zeichen rot wurde. „Saiyon, hör auf!“, hörte er Shitaya rufen, doch er machte keine Anstalten, auf ihn zu hören. Säil hielt ihren Mann fest: „Wenn du jetzt dazwischen gehst, wird er es nie schaffen!“ Dann spürten sie es: Es zog Wind auf. Er war zwar nicht besonders stark, doch er war vorhanden und mit erstaunten Augen sah das frisch vermählte Ehepaar, dass es sich um Saiyon sammelte. Kurz hörten sie nur das sachte Rauschen des Windes, bis Saiyon sich herumdrehte und Freudentränen an seinen Wangen herunterliefen. Das Mal auf seinem Arm war schwarz geworden, begann nun langsam abzuperlen wie Ruß oder Staub, der von ihm fiel, vom Wind davon getragen wurde und sich auflöste. „Aniki! Ich hab es geschafft…! Seit zehn Jahren spüre ich endlich wieder mein Element…“ Saiyon wischte sich lächelnd die Tränen aus den Augen: „…ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was das für ein herrliches Gefühl ist!“ Auch Shitaya musste seine Tränen zurückhalten, als er auf seinen Bruder zu rannte und ihn stürmisch umarmte: „Unsere Eltern wären so stolz auf dich gewesen…!“ „Glaub mir, sie werden stolz auf mich sein, wenn ich Greens Getreuer bin!“ Shitaya grinste nur und beide drehten sich zu Säil herum, die ihre beiden Männer ebenfalls freudig anlächelte. „Säil-chan! Ich denke, wir brauchen heute ein Festessen!“   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)