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Himitsu no Mahou

von

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Dreizehntausendfünfhundertsiebenundachtzig Dämonenleben und ein Menschenleben - Teil 3

Aurora hatte Safiya gesehen, als sie aus dem Tempel geflohen war. Sie hatte ihr, genau wie Seigi, die Möglichkeit geben wollen, alleine zu sein. Nach einigen Stunden aber war die Sorge zu groß geworden und sie hatte sich dazu entschlossen, sie abholen zu gehen. Sie wusste wo sie war, denn sie konnte nur an einem Ort sein.

 

Aber es war zu spät gewesen.

 

Sie sah nur noch den Schatten des Dämons, der sich zu der Wächterin mit der nun leuchtenden Handfläche herumgedreht hatte – kurz starrten sich die ungleichen Wesen an – dann war er verschwunden. Aurora hatte somit das ungeborene Kind Safiyas retten können – aber nicht dessen Mutter. Weit aufgerissen lagen ihre toten weißen Augen da; auf dem Boden. Ohne Blut, ohne Wunde, ohne irgendein Anzeichen eines Kampfes, aber dennoch war die Todesursache trotz des immer dichteren Tränenschleiers Auroras deutlich zu erkennen. Das Glöckchen. Es war zerstört worden.

 

Nur noch die Spitze des lebensnotwendigen Glöckchens war an dessen Kette befestigt; der Rest des Schmuckstücks lag, in vielen kleinen Einzelteilen, über Safiyas Brust verstreut. Es war ein Sakrileg; ein tödliches Sakrileg, dem Hikari sein Glöckchen zu zerstören – aber es war auch ein sofortiger Tod. Das brachte Seigi aber im Moment wenig Trost. Nichts konnte seiner unruhigen Seele Trost spenden – der Unruhe, der Rastlosigkeit, die ihn dazu brachte, im Wartezimmer mit ebenfalls leuchtender Handfläche auf und ab zu gehen; dazu verdammt nichts tun zu können. Er konnte nur auf und ab gehen, ansonsten würde er wahnsinnig werden. Er war nicht einmal imstande dazu, die Anwesenheit der Elementarwächter zu bemerken; auch für Elisabeths Anwesenheit war er blind, die seinen Gesichtsausdruck besorgt musterte, wenn ihr dichter Tränenschleier es zuließ. Was sah sie da auf seinem Gesicht? Es war eine eigenartige, starre, verbissene Entschlossenheit – noch war es keine Trauer, noch war die Nachricht, obwohl sie so deutlich war, noch nicht zu ihm vorgedrungen. Die Nachricht, dass Safiya tot war.

Seigi sah aus, als würde er sich für einen Kampf wappnen – aber es gab keinen Kampf, in dem er das Leben seiner Schwester würde retten können. Es war bereits zu spät und der Kampf, der im Moment tatsächlich ausgefochten wurde, war ein Kampf, an dem Seigi nicht teilnehmen konnte – der Kampf um das Überleben des ungeborenen Kindes.

Doch dieser Kampf dauerte lange. Er erschöpfte alle Anwesenden, die alle auf eine gute Nachricht in dieser schrecklichen, traurigen Zeit hofften – er dauerte so lange, dass er sogar Seigi zum Stillstand zwang; er hatte ihm die widerspenstige, sich gegen die traurige, aber unvermeidliche Tatsache wehren wollende Energie ausgesogen, so dass Seigi nun am Ende seiner Kräfte vor der Operationstür stehen blieb.

Elisabeth wusste nicht, wie lange sie in diesem sich endlos erstreckenden Moment feststeckten, ehe die Tür sich öffnete und Aurora mit einem erschöpften, müden Gesichtsausdruck heraustrat. Die Anspannung erreichte sofort ihren Höhepunkt – was würde sie sagen? Lebte das Kind? Hatten sie es retten können?

„Es lebt. Der Lichterbe ist schwach, aber gesund.“ Aurora lächelte energielos:

„Es ist ein Junge.“ Auch wenn Elisabeth die Worte nicht hatte verstehen können, so war es sehr deutlich, dass Aurora eine gute Nachricht überbracht hatte – nicht nur an ihrer Körpersprache konnte sie es ablesen, sondern auch an der der anderen Wächter, deren Haltung sich deutlich entspannten; einige seufzten erleichtert auf. Nur von einem Wächter war die Anspannung nicht gefallen: Seigi hatte nur kurz erleichtert über diese gute Nachricht gelächelt, dann war er, ohne um Erlaubnis zu bitten und ohne die nötigen Vorkehrungsweisen in den Operationssaal getreten.

In der Mitte lag sie – seine kleine Schwester. Umringt von zwei, drei Tempelwächtern, die bereits damit begonnen hatten, ihren Körper von Blut zu säubern. Da hing auch der letzte Überrest des Glöckchens. Seigi hörte die Stimme eines Arztes nicht, die ihn wohl dazu aufforderte, zu warten; er achtete auch nicht auf die Tempelwächter, die er mechanisch zur Seite schob. Obwohl er wusste, dass das Leuchten ihrer Handflächen bedeutete, dass seine kleine Schwester gestorben war, war er dennoch zu erstarrt und zu erschrocken über den Anblick seiner geliebten Schwester, die leblos und starr auf dem Operationstisch lag.

Kurz entglitt ihm… alles. Mit aufgerissenen Augen starrte Seigi in das Gesicht Safiyas, zu ihrem zersplitterten Glöckchen.

„Hikari-Seigi-sama…“ Doch er hörte es nicht. Er wusste nicht einmal wer versucht hatte ihn anzusprechen, ihn zu erreichen. Sein Blick war unfähig, sich von den geschlossenen Augen, dem blassen Gesicht seiner Schwester abzuwenden.

„Sie ist nicht tot… nein… das kann nicht…“ Völlig entmachtet fiel Seigi vor Safiyas Leiche auf die Knie, ihre kalte Hand nehmend, an seine Augen drückend, die Tränen, aber nicht die Trauer, zurückhalten könnend.

 „…Wähl die Ewigkeit… Bitte! Lass mich nicht allein… ich brauche dich…! Safi… meine teure, kleine Schwester… Ich flehe dich an! ... Wähl die Ewigkeit!“ Sie musste die Ewigkeit wählen! Sie durfte nicht die Stille wählen; sie durfte es nicht! Keinen Augenblick zweifelte Seigi daran, dass Safiya nicht rein genug war, um ins Jenseits zu dürfen – aber sie musste es auch wählen – die Stille oder die Ewigkeit – sie musste es wählen, es war ihre Wahl… und sie würde nicht die Stille wählen, oder? Oder?! Sie durfte nicht!

Er wiederholte diesen Satz oft, immer wieder, bis Aurora ihn auf die Beine zog und ihn irgendwie beschwor aufzustehen – die Wächter sollten ihre Arbeit machen, Seigi sollte sie ihre Arbeit machen lassen. Arbeit. Sie mussten tun, was Wächter in diesem Moment zu tun hatten – genau wie Seigi, der sich plötzlich aufrichtete, sich schweren, aber aufgewühlten Herzens von seiner Schwester abwandte und sein Wort an seine Wächter richtete. In seinen Augen spiegelte sich keine Trauer mehr, sondern brennende Wut und Hass.

„Lasst uns diesen verfluchten Dämonen zeigen, dass wir diese Sünde nicht ungesühnt lassen!“

 

 

… … … … … „Du hast eigenmächtig gehandelt, Seigi! Eigenmächtig und unverantwortlich!“ Erst da erwachte Seigi – er erwachte mit einem Stoß, als hätte er geschlafen, als wäre er in Trance gewesen. Verwirrt sah er für einen kurzen Moment aus: er schien nicht zu wissen, worüber die Ratsmitglieder überhaupt sprachen… weshalb er hier war. Ahja, der Kampf. Er bekam mal wieder eine Standpauke… wegen eines Kampfes. Dem Kampf, dessen Zeugnisse noch auf seiner Kleidung und seinem Gesicht zu sehen waren. Die Schwertscheide hatte sich rötlich gefärbt; das Blut des in Rot getauchten Schwertes besudelte mit stetigen, roten Tropfen den weißen Marmor unter seinen Füßen. Angewiderte, weiße Augen – Dämonenblut im Jenseits… zum Glück verätzte es, sobald es den Boden berührte… und wie schrecklich Seigi aussah… unheimlich, bedrohlich gar.

Seigis Hauptankläger ließ sich von diesem Bildnis nicht verunsichern; der Hauptankläger war allerdings dieses Mal nicht Hizashi. Hizashi verhielt sich ruhig, die Hände auf dem Tisch gefaltet, eher interessiert an den Geschehnissen, die Seigi verübt hatte, als davon wütenden Abstand zu nehmen wie die anderen Hikari. Aber Hizashi war nicht der einzige Hikari, der nicht empört war; Adir konnte sich der Ablehnung der anderen Hikari ebenfalls nicht anschließen. Er hatte Safiya gemocht und war betrübt über ihren Tod; zur gleichen Zeit machte er sich aber auch Sorgen um Seigi, dessen stumpfe, von Rot umrandete Augen verständlich, aber doch bedenklich waren.

„Wir sind nicht im Krieg!“, donnerte der Hikari weiter:

„Ein direkter Angriff auf die Dämonen ist daher ein Verstoß gegen die heiligen Regeln!“ Seigi reagierte nicht auf seine Worte. Er blickte nur langsam auf die große Anzeigetafel hinter dem wütenden Hikari, auf die die Ergebnisse der Schlacht geschrieben standen, die er eben noch angeführt hatte. Die Zahlen sagten ihm, dass knapp 5000 Dämonen eliminiert worden waren… 5000 Dämonen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Er hatte nicht gezählt, wie viele sie getötet hatten; wie viele er getötet hatte. Er hatte… vergessen zu zählen. Er hatte… vergessen zu zählen.  

„Ich habe es als Kriegserklärung gedeutet, dass sie eine Hikari getötet haben“, erwiderte Seigi mechanisch klingend. Die herniedersausende Faust klang alles andere als „mechanisch“:

„Es liegt nicht an dir, irgendetwas zu deuten! Ob eine kriegsähnliche Handlung ausgeführt worden ist oder nicht, liegt im Ermessen des Rates! Nicht in deinem!“ Noch einmal kollidierte die Faust mit dem Tisch:

„Du bist nicht einmal Regime-Führer! Du verfügst nicht einmal über die Erlaubnis, eines unserer Bataillone führen zu dürfen! Das ist Amtsmissbrauch!“ Dass der Hikari sich in seiner Rage gerade selbst widersprach, bemerkte der kaum zuhörende Seigi nicht. Er horchte auch nicht auf, als Hizashi sich nun mit einem strahlenden Lächeln in die ziemlich einseitige Diskussion einmischte:

„Sachte, sachte, Alexandar-san. Jemanden anzuklagen obliegt dem Kriegsgericht…“ Hizashi wurde unterbrochen:

„Und da wird er auch gleich…“ Er begann fiebrig zu schreiben:

„… morgen hingeschickt werden!“ Jetzt war es Adir, der sich einmischte:

„Morgen ist die Beisetzung und Trauerfeier Safiyas.“

„Dann eben übermorgen!“

„Wir müssen auch einen Zeitpunkt finden, wann wir Seigi der Öffentlichkeit als neuen Regime-Führer vorstellen“, bemerkte Mary, die Seigi schon die ganze Zeit nicht hatte ansehen können.

„Erst einmal soll er heil aus dem Kriegsgericht herauskommen!“

„Das wird er schon“, begann Hizashi überzeugt auf die Zahlen weisend:

„4830 Dämonen ausgelöscht, dagegen nur 79 tote Wächter. Das ist eine sehr gute Quote. Besonders gemessen an der Zeit, die diese Schlacht gedauert hat…“ Hizashi ließ es tatsächlich so klingen, als wäre das ein Grund zum Feiern, doch in Seigi kam kein Stolz oder Freudenstimmung auf. Das tat es auch nicht, als die Hikari sich einstimmig darüber erfreut zeigten, dass das Kind Safiyas glücklicherweise ein Erbe des Lichts sei. Wäre es kein Lichterbe gewesen, dann hätten sie sich ungeahnten Problemen gegenüber gesehen… die Freude war daher in der Stunde des Unglücks – für andere, nicht für Seigi - groß gewesen. Auch Seigi hatte sich gefreut. Jedenfalls hatte er erleichtert gelächelt. Doch man sah ihm an, dass es nur aufgesetzte Freude gewesen war.

Nein, der einzig wahre Grund zur Freude wäre es gewesen, wenn Safiya die Ewigkeit gewählt hätte. Aber das hatte sie nicht. Seine Mutter war vor dieser Ratsversammlung zu ihm ins Diesseits gekommen, um es ihm zu sagen. Aber sie hatte es nicht über die Lippen bringen können, die Worte… dass ihre geliebte Tochter die Stille und nicht die Ewigkeit gewählt hatte… wenn ihr denn überhaupt die Wahl gegeben worden war. Aber daran zweifelte Seigi nicht. Safiya war eine exzellente Hikari gewesen… sie hätte die Wahl, ob sie ein Leben im Jenseits wünschte, bekommen. Aber sie hatte abgelehnt. Lili hatte ihn einfach nur angesehen und war in Tränen ausgebrochen. Seigi war stehen geblieben. Hatte ihr beim Weinen zugesehen. Wollte er sie umarmen? Er wusste es nicht. Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte er es nicht gekonnt. Also ließ er sie einfach weinen, ohne etwas zu sagen… ohne etwas zu tun.     

 

 

Ohne wirklich an irgendetwas zu denken beobachtete Seigi, wie das Blut sich in rotes Wasser verwandelte und herunterlief. Einfach nur herunterlief und verschwand. An einigen Stellen war das Blut bereits hart geworden; das von oben herabkommende Wasser, das seine Haare durchweichte und versuchte ihn reinzuwaschen, während Seigi mit halbgeschlossenen Augen gegen die fliesenbedeckte Wand der Dusche lehnte, konnte nicht das gesamte Blut auf einmal abwaschen. Es hing fest, zwischen seinen Fingern, als wolle es seinen Körper nicht verlassen, als gehöre es schon zu ihm. Seigi tat nichts, um den Prozess zu beschleunigen. Er sah einfach nur zu.

„Seiji?“ Elisabeths Stimme ertönte zusammen mit einem sachten Klopfen. Seigis Antwort folgte sofort, mechanisch erklingend:

„Geh.“ Dann entschied er sich aber doch anders:

„Geh… bitte. Ich will alleine sein.“ Er hörte nichts mehr; kein Klopfen, keine Stimme. Nur absolutes Schweigen, das ihn zurück in seine abschottende Gedankenlosigkeit hinabriss. Wie lange Seigi einfach nur unter dem Wasser stehen blieb, wusste er nicht. Aber irgendwann, als alles Blut bereits versiegt war und er wieder weiß war, trat er aus der Dusche und begann mit mechanischer Gleichgültigkeit, seine Haare trocken zu reiben, nicht daran denken wollend, dass Safiya immer gesagt hatte, dass er seine Haare lang wachsen lassen sollte. Das würde ihn nur beim Kämpfen stören, hatte er geantwortet… aber kämpfen war doch nicht alles… doch, war es.

Seigi vergaß, die Knöpfe seiner gesäuberten Uniform zu schließen, die er sich nur achtlos überwarf. Er hatte ebenfalls vergessen, dass Elisabeth an seiner Tür geklopft hatte, weshalb er nun ziemlich überrascht aussah, als er das Menschenmädchen vor sich stehen sah.

„Elly, ich hatte gesagt, ich will alleine sein.“ Seine Stimme klang nicht wirklich wie ein Vorwurf; eher… erschöpft. Aber war das… war das ein kurzes Aufflammen eines Lächelns? Ein Lächeln, weil er insgeheim gehofft hatte, dass sie doch da bleiben würde? Er sagte nichts, sah sie einfach nur mit diesem eigenartigen Gesichtsausdruck an; lange, dann schlug er die Augen nieder, schien sich abwenden zu wollen, doch genau in dem Moment streckte Elisabeth getrieben von besorgter Intuition die Arme aus – und Seigi nahm die einladenden Arme an, schlang seine um sie, ging auf die Knie und hielt Elisabeth fest umschlungen.

Worte, deren Sprachen sich nun vermischten, sprudelten förmlich aus seinem Mund, dessen Inhalt Elisabeth zwar nicht verstehen konnte, aber dessen traurigen Ursprung… den verstand sie. Und genauso verstand sie auch, dass keine Antwort vonnöten war. Einfach nur halten. Das war alles, was sie in dem Moment tun konnte… und das war bereits mehr, als was er von ihr verlangte.

Später, als Seigis bebende Schultern zur Ruhe gekommen waren, saß er auf seinem Bett, das Gesicht nach oben zu einem Dachfenster gerichtet und spielte gedankenverloren mit dem rostbraunen Haar des Mädchens, welches mit dem Kopf auf seinem Schoß eingeschlafen war. Kein Licht war in seinem Zimmer entzündet worden; das einzige Licht, das hier existierte, war das Licht der Sterne, nun, da die Wolken verschwunden waren und Seigi durch das Dachfenster hinaus in den klaren Sternenhimmel blicken konnte.

Es war lange, lange her, dass er geweint hatte. Seine Augen brannten ein wenig, waren leicht gerötet, aber… er fühlte sich besser. Nein, „besser“ war nicht das richtige Wort. Er fühlte sich… wissender. Ja, er verstand es jetzt...  

Er war der Mörder Safiyas. Nicht irgendein Dämon. Wenn Seigi Elisabeth nicht hierher gebracht hätte, hätte Safiya nie das gesehen, was sie zur Flucht getrieben hatte.

Ja, Seigi wusste von den Gefühlen seiner Schwester, unter denen sie so sehr gelitten hatte – Gefühle, die sie sich selbst verboten hatte, aber dennoch waren sie Seigi nicht entfallen. Er war gleichgültig seinen Mitwächtern und seinem Umfeld gegenüber, ja. Aber Safiya… Safiya war ihm nicht gleichgültig gewesen. Er hatte ihre Gefühle für… ihn… bemerkt. Wahrscheinlich schon früher, als sie es selbst gewusst hatte. Nie hätte sie den Mut aufbringen und sie ihm gestehen können. Die Gefühle waren ihr geheimer Schatz und nie hätte sie ihn aufgeben wollen. Nicht einmal nach ihrer Verlobung. Zu dieser hatte Seigi sie sogar noch ermutigt…

Er hatte immer nur das beste für sie gewollt! Doch das konnte sie nicht an der Seite ihres Bruders haben… Er konnte sie nicht so lieben, wie sie es sich erwünscht hatte. Das hatte sie, genau wie er, gewusst! Trotzdem hatte sie sich an einen dünnen Faden der Hoffnung geklammert. Aber worauf hatte sie denn gehofft?

Seigi jedenfalls hatte gehofft, dass der Mann an ihrer Seite ihr hätte helfen können. Dass sie dank ihm verstehen würde, dass es nichts brachte, die Gefühle für Seigi am Leben zu erhalten. Er hatte gehofft, dass jener dünne Faden der Hoffnung einfach verschwinden würde.

Stattdessen hatte er Safiya nicht nur zu Fall gebracht.

Sondern erwürgt.

 

 

Die Bestattung fand am Tage darauf statt. Die einzige Gelegenheit bei der alle, sogar die Hikari, in schwarz gekleidet waren. Für Elisabeth war die ganze Beerdigung Ursache großer Verwirrung. Safiya würde nicht in einer Kiste in der Erde ewig ruhen. Bei den Wächtern war es nicht Brauch, die Verstorbenen zu beerdigen; stattdessen würden die verstorbenen Hikari  in einem Glassarg ruhen, auf einem Friedhof, der nur für die Lichterben vorgesehen war… gelegen auf einer kleinen, abseits fliegenden Insel des Tempels. Ein Friedhof, der aus großen Hallen bestand, deren Decken getragen wurden von hohen, korinthischen Säulen. Schmucklose, kahle Hallen, die nur von magisch entzündeten Lichtern in deren Kerzenhaltern leicht erhellt wurden, die zwischen den vielen Särgen aufgestellt worden waren. In diesen ruhten die Lichterben für alle Ewigkeit, in einem Zustand der Zeitlosigkeit; ihre toten Körper würden sich nie verändern, würden ewig in dem Zustand bleiben, in dem sie jetzt waren, ruhend mit ihrer treuen Waffe auf der Brust, über die sie alle ihre Hände gefaltet hatten, in einer erhabenen und edlen Manier.

Wie eigenartig diese toten Körper auf Elisabeth wirkten… ihre weißen Gesichter geisterhaft im flackernden Licht der Kerzen, ruhig und ernst. Auf der einen Seite sahen sie aus, als würden sie zutiefst konzentriert schlafen, auf der anderen Seite waren sie so in sich versteinert, dass sie absolut nicht länger lebendig aussahen… tot. Daher war es umso merkwürdiger zu sehen, wie Lili neben ihrem eigenen Sarg stand und still in den Armen einer anderen Hikari weinte, während ihr eigener Körper in dem Sarg neben ihr ruhte. Ihr Körper wirkte toter als ihr Geist.

Elisabeth verstand natürlich nichts von dem was gesprochen wurde; alles was sie tun konnte war sich selbst immer wieder die Tränen aus den Augen zu wischen, während sie mit ihrer anderen Hand Seigis festhielt, der darauf bestanden hatte, sie die ganze Zeit neben sich haben zu wollen.

Auch noch als die Beerdigung zu Ende war, hielt er ihre Hand fest in seiner, schien sie gar nicht mehr gehen lassen zu wollen – auch nicht dann, als Seigi von seinen Mithikari angesprochen wurde, die ihm erst jetzt Beileid aussprachen, auf das Seigi allerdings kaum reagierte. Was brachte geheucheltes Beileid schon? Beileid brachte auch niemanden zurück… 

„Seigi, ich hoffe, du weißt, dass du den Posten deiner Schwester übernehmen wirst?“ Natürlich wusste der Angesprochene das, weshalb er die weibliche Hikari, die ihn auf das Offensichtliche aufmerksam gemacht hatte, nur müde ansah und antwortete:

„Das weiß ich.“

„Und du bist dir deiner Aufgaben bewusst? Deinen neuen Aufgaben? Sie werden nicht mehr nur daraus bestehen, das Schwert zu schwingen!“ Noch bevor Seigi antworten konnte, hielt Adir den Arm vor seine Mithikari und unterbrach das Gespräch mit einem höflichen Lächeln:

„Ich mir sicher, dass Seigi weiß, was zu tun ist, sobald er zum Regime-Führer ernannt werden wird.“ Die Angesprochene wandte sich leicht beleidigt ab und antwortete nicht.

„Wenn du Hilfe benötigst, Seigi…“, begann Adir seinen Gesprächspartner traurig, aber auch aufmunternd anlächelnd, wie auch Elisabeth, der er kurz zugenickt hatte:

„… dann stehe ich dir gerne als Ansprechpartner zur Verfügung und werde versuchen, dir so gut es geht zu helfen.“

 

 

Diese Hilfe tat bitter Not, denn die bevorstehende Papierarbeit, die auch zu den Tätigkeiten eines Hikari gehörte, stellte sich als Seigis ärgster Widersacher heraus; besonders wenn diese elendige Papierarbeit kombiniert wurde mit Besuchen im Jenseits, die in seinen Augen nichts anderes waren als unnütz. Unnütz und absolute Zeitverschwendung, die nur dafür sorgte, dass sich Seigis Laune schwärzer färbte als jede Nacht. Seigis geliebtes Schwert hing nutzlos an seiner Hüfte, das Kämpfen übernahmen seine Wächter; jetzt auch bei Einsätzen außerhalb Europas. Das regte seine Laune nicht gerade an. Er hasste es, tatenlos irgendwo herumzusitzen und sich mit Problemen auseinanderzusetzen. Er war ein Hikari, den man aktivieren musste und das nicht mit dem Unterschreiben von irgendwelchen Dokumenten, die ach so wichtig sein sollten. Er brauchte das Schwert in seiner Hand – keine Feder!

Als Seigi gerade eine der Schreibfedern vor lauter frustrierter Wut an die Wand warf, kam Elisabeth in sein Arbeitszimmer, die die neben ihren Kopf an die Wand gepfefferte Feder verdattert ansah.

„Wenn ich noch eine dieser Federn sehe, werde ich wahnsinnig!“ Seigi schlug entmachtet die Hände über dem Kopf zusammen, während Elisabeth sich einen Stuhl nahm und sich zu ihm an den Schreibtisch setzte.

„Soll ich dir vielleicht helfen?“, fragte sie mit einem aufmunternden Lächeln. Der Angesprochene schielte kurz mit einem beleidigten Schmollmund zu ihr herüber, wie ein Kind, das seine Hausaufgaben nicht machen wollte:

„Das ist eine gute Idee – du kannst mir dabei helfen, diesen Haufen Müll zu verbrennen.“ Elisabeth lachte leise und brachte Seigi trotz seiner miesen Laune verborgen hinter seinen auf dem Tisch liegenden Armen zu seinem Lächeln. Als er das Zucken seiner Mundwinkel allerdings bemerkte, verschwand das sachte Schmunzeln wieder, denn ihm war wieder eingefallen… dass er es Elisabeth immer noch nicht gesagt hatte. Die Hikari übten langsam immer mehr Druck aus; heute erst hatten sie betont, wie dringend jetzt eine „Gute Nachricht“ sei, die das Wächtertum von dem Verlust Safiyas ablenken könne – und nichts war so ablenkend wie die Heirat eines Hikari. Er hatte nun wirklich lange genug gewartet! Zwei Monate waren seit dem Tod Safiyas vergangen - worauf wartete er denn?

Ja, worauf wartete er eigentlich - genau diese Frage stellte er sich selbst. Seigi hatte sie sich erst heute Morgen gestellt, in einer der wenigen ruhigen Minuten, die er hatte genutzt hatte, um seinen neugeborenen Neffen zu besuchen. Er stellte sie sich eigentlich dauerhaft; nicht nur, wenn er sah, wie liebevoll Elisabeth sich über die kleinen Finger des Kindes freute.   

Seigi richtete sich wieder in seinem Stuhl auf, sie entschlossen anblickend, alles Selbstbewusstsein aufbringend, um seine Röte zu verbergen.

„Weißt du, Elly, ich müsste morgen nichts in Jenseits…“ Elisabeth fiel ihm mit einem strahlenden Lächeln ins Wort:

„Das bedeutet dann ja, dass du endlich wieder trainieren kannst!“

„Höh?“

„Naja…“ Sie kratzte sich verlegen am Hinterkopf und fuhr fort:

„Seitdem du nicht mehr trainierst, bist du so schlecht gelaunt…“ Seigi sah sie belustigt an und antwortete:

„Ach, wirklich? Ist mir gar nicht aufgefallen… aber es ist wahr. Ich vermisse es, das Schwert zu schwingen. Das war jedoch nicht…“ Er zögerte kurz, herrschte sich selbst an, sich zusammenzureißen:

„… das was ich sagen wollte, Elly. Morgen Mittag, wenn die Dämonen Ruhe geben, dann hätte ich ein wenig Luft und dann…“ Und dann?! Urgh, Seigi verfluchte sich selbst, dass er nie im Voraus plante und daher jetzt ins Stocken geriet. Was dann? Was sollte er mit diesem dann anfangen? Er konnte wohl kaum ankündigen, dass er ihr am morgigen Tag einen Antrag machen würde. Argh, warum sagte er es nicht einfach jetzt, brachte es über die Bühne…  

„… dann zeige ich dir die Inseln.“ Was war denn das für eine dumme Idee?! Die Inseln zeigen?! Seine Schwester hatte Elisabeth doch schon die Inseln gezeigt! Und Elisabeth wusste, dass er es wusste, immerhin hatte sie ihm von den Inseln erzählt und wie zauberhaft sie sie fand… argh. Argh. Argh. 

Seigi wollte gerade peinlicherweise noch etwas hinzufügen, aber er kam nicht so weit:

„Gerne!“ Diese fröhliche Antwort und das darauffolgende, beidseitige Lächeln brachte Seigis wirre Gedanken schnell zum Stillstand.

„Morgen, gleich nach dem Frühstück?“

 

 

Das Kriegsgericht hatte Seigi in allen Punkten für unschuldig befunden. Kaum eine Überraschung in Anbetracht dessen, dass sie es sich in diesem Moment nicht leisten konnten, einen Hikari in der Öffentlichkeit an den Pranger zu stellen, wo dieser Hikari doch bald zum offiziellen Regime-Führer ernannt werden würde und seine Heirat das Wächtertum ablenken sollte. Darüber hinaus hatten die Dämonen die Tötung von rund 5000 ihrer Artgenossen nicht als Kriegserklärung angesehen. Während Hizashi sich in seinem Büro gerade einem ausgiebigen Bericht über dieses Thema widmete, saß Adir über einen anderen Bericht gebeugt, die Stirn in besorgte Falten gelegt.

Der Bericht, dessen Inhalt sich mit der von Seigi ausgefochtenen Schlacht beschäftigte.

Adir hatte schon mit Hizashi darüber gesprochen… oder eher sprechen wollen, denn Hizashi hatte seine Bedenken mit einer galanten Handbewegung beiseitegeschoben. 5000 tote Dämonen waren ein Grund zur Freude, nicht zur Besorgnis. So seine Worte.

Natürlich war Adir der gleichen Meinung, dass so viele eliminierte Dämonen positiv waren, besonders wenn sie dafür keinen Gegenangriff zu planen schienen – und der wäre in der Regel bereits gekommen – und es auf ihrer Seite nur wenige Opfer zu verbuchen gegeben hatte, aber... nein, Adir konnte das dumpf in ihm pochende, schlechte Gefühl einfach nicht abschütteln, wenn er den Bericht überflog und immer wieder bei der Zahl festhing, die Seigi eigenhändig getötet hatte – 1864 Dämonen. Ja, er war ein talentierter Wächter, aber wenn man bedachte, dass Seigi diese Dämonen alle mit seinem Schwert und nicht mit flächendeckenden Lichtangriffen getötet hatte… war das nicht… besorgniserregend? Ja, es bestätigte sein Können, dass er aus so vielen Kämpfen unbeschadet hervorgegangen war, aber so viele Dämonen in so kurzer Zeit mit dem Schwert getötet zu haben, bezeugte auch noch etwas anderes.  

Adir legte seine Stirn auf seine über dem Dokument gefalteten Hände und seufzte, den blutüberströmten Seigi vor sich im Ratssaal stehen sehend.

 

 

 

Weiß war die Farbe der Hikari.

                                                                               Warum neigten dann so viele Hikari zu Rot? 

 

 

 

Weiß war die Farbe der Hikari. Die Farbe der Unschuld, der Reinheit, der Heiligkeit. Adir fragte sich die Frage zu Recht: Wie kam es, dass gerade diese Farbe sich von der besudelnden Farbe des Blutes nicht reinwaschen konnte? Wie kam es, dass die Hikari immer darum kämpften, die Reinheit ihrer Farbe zu bewahren – nur um dann mit noch tieferem Rot befleckt zu werden?  

Kein Wächter war dem heiligen Abgrund so nahe.

Kein Wächter wandelte so waghalsig auf dem dünnen Pfad zwischen Sinn und Wahnsinn.

Kein Wächter musste so um die Reinheit seines Herzens bangen wie ein Hikari.

 

Adir hatte viele Hikari begleitet; hatte viele sich erheben, aber auch viele fallen gesehen, viele Schicksalsschläge, viele Dramen sich entfalten sehen. Er musste nicht erst bei anderen suchen, er spürte sie auch in sich selbst; seine sich senkrecht übers Auge ziehende Narbe erinnerte ihn immer wieder an die Zweiteilung, die den Hikari auferlegt worden war.

 

Er würde noch viele Schicksalsschläge mitansehen.

Einer war gerade dabei, seine Flügel zu entfalten und auszubrechen.

 

 

 

„Seigi ist von einem Dämon besessen.“

 

 

 

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Keiko-maus
2016-01-23T16:59:42+00:00 23.01.2016 17:59
Ich kann die Trauer von Seigi nachvollziehen und finde es auch toll, dass Seigi seine Safi rächen wollte. Und wahnsinn, sie haben 5000 Dämonen niedergemetzelt? Eine tolle Leistung, wie ich sagen muss^^ Auch wenn ich mich gleichzeitig fragen muss, wie viele Wächter deswegen gestorben sind ö.ö Es sterben immer Wächter, also doch bestimmt auch einige ö.o
Seigi vor dem Kriegsgericht. War ganz lustig geschrieben der Teil^^ Erst morgen, ach ne, da ist die Beisetzung. Dann eben übermorgen. Ach ja, dass kann ich mir bildlich und sprachlich wirklich super vorstellen, hihi^^
Oh, da haben wir ja schon die Zahl. "Nur" 79 tote Wächter. Hm, ja, die immer und ihre Quote
Antwort von:  Keiko-maus
23.01.2016 18:16
Hm, ja, die immer und ihre Quote ~_~

Ach ja, ich bin wie Seigi. Ich bin jemand, der immer irwie arbeiten muss und zwar mit der Hand. Und nicht mit einem Stift, also würde ich genauso wie Seigi hinter einem Schreibtisch sang- und klanglos eingehen. Das ist nicht meine Welt, also kann ich Seigi da voll und ganz verstehen xDD
Aber dass der Kerl Elly immer noch nichts gesagt hat x'D Ach man, das ist ein Kerl^^ But, go go, Seigi :D You can do it >o<

Adir, ich teile deine Sorge. Ich finde es auch sehr beunruhigend, wie Seigi solch eine hohe Zahl Dämonen nur mit dem Schwert hatte töten können. Das besorgt mich sehr. Aber ihn gleich als besessen ansehen? Hm, ich weiß ja nicht ö.o
Dass das reine Licht immer von Schatten begleitet wird, finde ich eigentlich ziemlich normal. So ist das Leben. Wo Licht ist, ist auch Schatten. Je stärker das Licht, desto stärker der Schatten. Aber wer weiß, vllt stünden die Hikari gar nicht so am Abgrund, wenn es noch die Yami geben würde, das Gegenstück zu den Hikari. Eine interessante Frage, finde ich. Was wäre aus der Wächterwelt geworden, wenn die Yami dagewesen wären? Wie hätten sich die Hikari dann entwickelt?

Und ja, den Rest als Kommentar, weil ich versehentlich ireine Tastenkombination gedrückt hatte^^"
Von:  KiraNear
2015-04-30T14:50:29+00:00 30.04.2015 16:50
Ihr Tod scheint ihn ziemlich mitzunehmen - verständlich. Trotzdem sollte er sich nicht so fertig machen, für Gefühle kann keiner was dafür.
 
Hm, das mit dem Rot ist wirklich ne gute Frage. Aber ob er wirklich von einem Dämonen besessen ist? Das klingt alles so, als wären alle Hikaris verflucht^^°
 
Super Kapitel und ich freue mich schon auf das nächste^^
Von:  fahnm
2015-04-12T21:55:42+00:00 12.04.2015 23:55
Spitzen Kapitel


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