Himitsu no Mahou von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 29: Dreizehntausendfünfhundertsiebenundachtzig Dämonenleben und ein Menschenleben - Teil 2 --------------------------------------------------------------------------------------------------   Seigi machte sich tatsächlich weniger Gedanken über eine baldige Hochzeit als Adir annahm; für ihn war es einfach nur die einfachste Möglichkeit dafür zu sorgen, dass Elisabeth nicht in die Menschenwelt zurückkehren musste. Als Adir ihn fassungslos fragte, wann er sie denn zu heiraten gedenke, antwortete er daher, dass es ja wohl am besten sei, das so schnell wie möglich über die Bühne zu bringen, um das Thema abzuhaken und damit die Ratsmitglieder Ruhe geben würden. Umgehend versicherte Adir Seigi, dass das so schnell nicht funktionieren würde; es gab da einige Komplikationen… unter anderem, dass ein Hikari ja eigentlich nicht unter dem Stand eines Offiziers heiraten durfte… dass man den Sachverhalt noch einmal genau würde prüfen müssen… sie sollten nichts überstürzen… „Dann sag Bescheid, wenn sich die ehrenwerten Ratsmitglieder entschieden haben. Bis dahin widme ich mich wieder meinen Pflichten: meinem Rekord!“ Und während Seigi vom einen Moment auf den anderen plötzlich mehr oder weniger verlobt war, leistete Safiya an einem anderen Punkt des Tempels ganze Arbeit. Zuerst wusch sie Elisabeth gründlich; entknotete ihre verfilzten Haare und brachte – natürlich mit ihrer Zustimmung – Ordnung in diese, als sie ihr zusammen mit ihrer perplexen Tempelwächterin die Haare schnitt. Dazu lieh Safiya ihr eines ihrer Kleider – zum Glück hatten sie dieselbe Größe – in welches sie sie kleidete, genau wie sie es Elisabeth versprochen hatte, die sich in dem großen Wandspiegel in Safiyas Zimmer erstaunt betrachtete. War das… wirklich sie? War das alles nicht nur ein fantastischer Traum? Dieser Ort… schwebend im Himmel… die Kleidung der hier Lebenden, das Kleid, in welches ihr Spiegelbild gekleidet war, das ihr mit großen Augen entgegenblickte. Sie… sie hatte ja zuvor noch nicht einmal einen Spiegel gesehen… was für ein eigenartiges Gefühl, sich selbst zu sehen, in diesem Gewand, platziert in diesem Zimmer; in dieser Welt... Elisabeth konnte es nicht glauben. Auch Seigi schien es nicht glauben zu können. Als Safiya zusammen mit Elisabeth den Speisesaal betrat, wo der Hikari gerade mit den Elementarwächtern seiner Schwester zu Abend aß, verlor Seigi vor Überraschung seinen Löffel. Es war dieses erstaunlichen Bild von dem Mädchen, das er kaum wiedererkennen konnte, das eben noch mit leerem Blick im Bett gelegen hatte und nun schüchtern, aber mit einem aufgeregten Flackern in den Augen, auf ihre am Saum des Kleides nestelnden Hände sah, welches Seigis goldenen Löffel, dazu brachte mit einem hellen Ton in seine Suppe zu fallen. Safiya zwang sich zu einem Grinsen und legte ihre Hände auf die Schultern Elisabeths: „Da haben wir wohl ganze Arbeit geleistet, was, Bruderherz?“     „Ein ganz klares und striktes Nein.“ Safiya zwang sich dazu, langsamer zu atmen, nein, gar nicht zu atmen; das musste sie immerhin hier im Jenseits gar nicht; es brachte nichts, so begierig nach Luft zu schnappen… Argh, sie musste sich beruhigen und sich auf Hizashis Worte konzentrieren, auf die Ratsversammlung, in der sie momentan festsaß. Ja, festsaß war das richtige Wort, denn sie wollte am liebsten sofort zurück ins Diesseits stürzen, zu Seigi, zu Seigi… und ihm eine Ohrfeige verpassen. Ja, genau das wollte sie. Wie kam er nur dazu, ihr, seiner Schwester, zu verschweigen, dass er Elisabeth heiraten wollte?! Warum musste sie das durch eine Ratsversammlung erfahren? Völlig unvorbereitet?! „Ja! Ja, ich bin mir in der Tat bewusst, dass es keine Regel gibt, die das Zusammensein und damit auch eine Heirat mit einem Menschen verbietet…“ Hizashi klang überaus genervt; genervt darüber, dass der Rat sich mit solch einem Thema beschäftigte, beschäftigen musste, obwohl es doch so viel Wichtigeres zu klären gab… Safiya hörte nur mit halbem Ohr zu. Warum hatte Seigi es ihr nicht erzählt? Warum? Warum? „… aber die Eheschließung ist eine Zeremonie, die wie jede andere Zeremonie Regeln unterschrieben ist und eine dieser Regeln besagt deutlich, dass sich ein Hikari nicht unter dem Stand eines Offiziers verheiraten darf!“ „Menschen werden in der besagten Regel 65B, wenn ich mich nicht täusche, nicht explizit ausgeschlossen.“ „Nein, Adir-san, das weiß ich auch“, zischte Hizashi förmlich, unruhig mit den Fingern auf seinen verschränkten Armen trommelnd: „Weil diese Lebensform zum Zeitpunkt der Regelschreibung nicht existierte. Aber ich denke, wir wollen nicht darüber diskutieren, dass ein Mensch wohl kaum auf dem gleichen Stand wie ein Offizier platziert werden kann, nicht wahr?“ „Nein, eine solche Diskussion wollen wir nicht führen.“ Adir versuchte, sich zu einem ruhigen Lächeln zu bringen, während er den giftigen Blickkontakt mit Hizashi aufrechthielt, der quer über den Saal hinweg ihm gegenüber saß. „Ich sehe diese Diskussion ohnehin als ein wenig… unsinnig an, wo Lili-san doch ebenfalls ein Band mit einem Menschen knüpfte.“ Zum Glück war diese nicht anwesend, sie würde wohl einen Nervenzusammenbruch bekommen…  „Wenn wir vorher darüber in Kenntnis gesetzt gewesen wären, dann hätten wir es verhindern müssen. Wir sehen immerhin, zu was das geführt hat“, antwortete Hizashi, dem wohl gleichgültig war, dass Safiya neben Adir saß und ihn natürlich genauso deutlich gehört hatte wie die anderen anwesenden Hikari, von denen einige mit der Stirn runzelten. Ja, Seigi war wegen seiner nicht gerade Hikari-konformen Art unbeliebt und die Tatsache, dass er über sehr geringe Lichtmagie verfügte, zeigte wohl auch, dass das Element sich ihm entzog… aber niemand konnte wohl behaupten, dass Safiya eine schlechte Hikari war. Das Schweigen schien Hizashi auch nicht zu entfallen. Er räusperte sich und revidierte seine Aussage hüstelnd, sich daran erinnernd, wer in seinem Unterricht absolute Glanznoten geschrieben hatte: „Entschuldigt, Safiya-san, ich meinte natürlich Ihren Bruder und nicht Sie.“ Safiya rührte sich unruhig, nickte und erwiderte ansonsten nichts. Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht etwas gesagt, für ihren Bruder Partei ergriffen, aber im Moment war sie einfach zu wütend auf ihn, dafür, dass er ihr verschwiegen hatte, dass er heiraten wollte.  „Aber in einem Punkt haben Sie wahrlich recht, Adir-san“, begann Hizashi von Neuem: „Diese ganze Diskussion ist tatsächlich Zeitvergeudung. Besonders in Anbetracht der steigenden Aktivität der Dämonen in Europa. Wir sollten dieses leidige Thema abhaken.“ „Das sehe ich auch so“, mischte sich nun eine andere Hikari ein: „Ich schlage vor, wir erlauben die Eheschließung Seigis mit einem Menschen. Vielleicht besteht auch die Möglichkeit, dass Seigis Gemüt durch ein solches Bündnis… nun ja, gereinigt werden würde. Wir haben immerhin auch schon einen Lichterben…“ Sie machte einen galanten Wink zu Safiya, die wegen ihres Schweigens gerade besorgt von Adir gemustert worden war. „Hoffen wir, dass es sich bei dem Ungeborenen tatsächlich um einen Lichterben handelt“, erwiderte Hizashi mit schneidender Stimme: „Denn der Eheschließung von Seigi und dem Menschenmädchen kann nur unter einer Bedingung zugestimmt werden, die wohl die wohl in Übereinstimmung mit allen Anwesenden ist: es darf kein Kind aus dieser Ehe hervorgehen.“          Ihres schwangeren Bauchs ungeachtet stürzte Safiya durch den Tempel; wütend, aufgebracht, traurig – und auch verzweifelt. Es war im Rat nicht direkt ausgesprochen worden, aber sie hatte es dennoch sehr deutlich verstanden. Wenn Seigi nicht erlaubt war, ein Kind zu zeugen, dann lag es einzig und allein an Safiya, die Erbfolge der Hikari weiterzuführen – und das bedeutete… wenn das Kind in ihrem Inneren nicht das Element des Lichts, sondern das Element des Vaters geerbt hatte, dann… dann musste sie noch einmal ein Kind austragen. Dann würde sie wieder verlobt werden. Wieder… wieder mit einem Mann, den sie wahrscheinlich… nie… Safiya rieb sich mit den Handballen die Tränen aus den Augen. Warum entstanden die Tränen überhaupt? Das war nichts Neues. Das war immer klar gewesen. Nur die Umstände… die Umstände waren anders, das war doch… alles. Und es war doch gut, dass es Seigi erlaubt wurde, Elisabeth zu heiraten und dass Elisabeth somit im Tempel und damit in Sicherheit bleiben konnte. Das war gut. Das war gut. Safiya mochte Elisabeth. Sie war ein liebes Mädchen. Sie sollte nicht brennen. Sie und Seigi… sie und Seigi... Sie brachte es nicht übers Herz, weiter zu denken. Sie konnte nicht weiter darüber nachdenken. Sie konnte es nicht. Noch einmal wischte sie sich die Tränen aus den Augen – warum wollten sie einfach nicht aufhören, warum brannten ihre Augen so?! – und gelangte zum Säulengang, der oberhalb des Trainingsareals verlief und sie zu eben diesem führen würde, denn natürlich wusste sie, wo sie ihren Bruder zu suchen hatte. Aber vielleicht sollte sie nicht direkt zu ihm stürzen… ihre Augen… ihre Augen würden sie verraten, nicht wahr? Vielleicht sollte sie zuerst in ihr Zimmer, zu Aurora, erst  einmal mit ihr reden über diese ganze Sache … über Seigis beschlossene Hochzeit … über diese verdammten Tränen… „Miss Safiya?“ Erschrocken fuhr die angesprochene Hikari auf. Sie war es so gewohnt, dass jeder, der sich im Tempel aufhielt, eine Aura besaß, dass sie ganz vergessen hatte, dass es hier nun eine Person gab, die keine hatte. Elisabeth hatte an der Brüstung des Säulenganges gestanden – Safiya war schnurstracks an ihr vorbei gelaufen in der Blindheit, der ihre Gefühle sie aussetzten. „Ah, nenn mich doch nicht so, Elisabeth“, begann Safiya sich zu einem Lächeln zwingend, das Elisabeth aber scheinbar durchschaute, denn ihr Blick sah besorgt aus. Safiya mochte diesen Blick nicht; diese Gefühle, die sie so deutlich in ihrem Gesicht ablesen konnte; sie sollte sich keine Sorgen um sie machen, denn es gab keinen Grund dafür…    „Du wirst jetzt immerhin hier leben…“ Überrascht weiteten sich Elisabeths braune Augen und Safiya bekam noch mehr schlechtes Gewissen als das, was sie sowieso schon hatte. Während sie ein paar Tränen zu vergießen hatte, hing Elisabeths Leben von dem Ganzen ab… wie töricht sie doch war. Was für eine grandiose… Hikari sie war. „Ich darf hier bleiben?“, wiederholte Elisabeth verblüfft, was Safiya mit einem Nicken bejahte, während sie sich widerwillig zu Elisabeth an die Brüstung gesellte und damit auch sah, weshalb sie dort gestanden hatte. Wie jeden Morgen – oder eigentlich zu jeder freien Minute – war Seigi mit seinem morgendlichen Schwerttraining beschäftigt. Für Safiya war dieser Anblick natürlich nichts Neues; er war ein Teil ihres Alltags, aber sie konnte schon sehr gut nachvollziehen, warum Elisabeths Augen ein verträumter Schimmer innewohnte, während sie Seigis Bewegungen mit diesen verfolgte. Faszination nannte man das wohl, dachte Safiya, die diesen Eindruck gut verstehen konnte. Natürlich wusste Safiya genauso gut wie Elisabeth, dass Seigi im Kampf alles andere als ein Engel war. Seigi hatte nicht umsonst das wenig schmeichelhafte Adjektiv „dämonisch“ an sich haften, aber wenn man ihn so beobachtete bei seinen geschmeidigen, fließend ineinander übergehenden Bewegungen, da… könnte die Beschreibung „dämonisch“ nicht ferner sein. Einmal waren sie hart und zielsicher, das andere Mal elegant – und dann wieder perfekt vereint. Er und sein Schwert waren eins – ein perfektes Bündnis. Aber Elisabeth beobachtete Seigi nicht nur aus Faszination, wie Safiya schnell feststellen musste: „Ist Seiji krank?“ Die Hikari warf ihr zuerst einen verwunderten Blick zu, aber sie wurde schnell ernst; bemerkte sogar ein wenig zu spät, dass Seigi die beiden Mädchen gesichtet hatte und ihnen grüßend die Hand entgegen hob; natürlich von einem Grinsen begleitet, ehe er sich wieder dem Training zuwandte. Natürlich ließ er sich nicht von irgendwelchen Blicken abhalten. „Krank? Nein. Seigi hat eine sehr robuste Gesundheit; er ist selten krank. Warum fragst du?“ Elisabeth hüllte sich kurz in Schweigen; sie schien sich unsicher zu sein, ob sie es sagen sollte, fast so, als wüsste sie nicht, ob sie es sagen durfte. „Elisabeth – du kannst mir alles erzählen. Wenn dich etwas bedrückt, dann kannst du es mir sagen.“ „Aber… andere sprechen so mit dir, als wäre ein meilenweiter Abstand zwischen ihnen und dir… und Seiji. Ich verstehe natürlich nicht, was ihr eigentlich sprecht, aber… es wirkt so.“ Safiya musste zugeben, dass sie das überraschte. Elisabeth war augenscheinlich eine gute Beobachterin, wenn sie das bemerkt hatte, ohne, dass sie deren Sprache überhaupt verstand, denn – wenn Safiya richtig lag – dann hatte Elisabeth auch nicht gesehen, wie sich jemand vor den beiden Hikari verneigt hatte. „Das hast du gut beobachtet. Aber du kannst dennoch offen mit mir reden. Das wäre mir jedenfalls sehr lieb.“ Aber anstatt ihr eine Erklärung zu geben, warum sie so besorgt um Seigi schien, warf sie wieder einen Blick auf Seigi. „Warum tut er das? Darf ich fragen… wofür er kämpft?“ Safiya lächelte ein wenig in sich hinein und lehnte sich gegen das Steingeländer. Scheinbar hatte noch niemand Elisabeth erklärt, was sie eigentlich waren. Aber gut, Seigi war nicht der Typ, der viel erklärte und ohnehin war sein Englisch so holprig, dass er wohl kaum imstande war, viel zu erklären. „Wir sind keine Menschen, Elisabeth.“ „Ich weiß“, antwortete sie, den Blick von Seigi wieder abwendend. „Seigi, ich und die anderen, die du hier kennen gelernt hast, wir sind „Wächter“. Wir schützen euch Menschen.“ „Wie Schutzengel?“ Safiya kicherte über diese unschuldige Antwort. „So ähnlich, doch mit dem entscheidenden Unterschied, dass wir euch nur vor einer Gefahr schützen, nämlich vor unseren Naturfeinden. Den Dämonen. Wir sind seit Äonen mit ihnen im Krieg.“ Elisabeth schwieg kurz, sich an diese monströsen Wesen erinnernd, die sie in England gesehen hatte… die, laut Seigi, auch Menschen in Besitz nehmen konnten… „Seiji kämpft also gegen diese Dämonen? Das ist es, wofür er so trainiert?“ Der Blick der Hikari wurde ein wenig wehmütig, aber sie hielt ihr Lächeln aufrecht. „Nein. Mein Bruder… ist weniger an unserem Kampf gegen die Dämonen interessiert. Er will sich vor unserer Familie beweisen; beweisen, dass auch er dem Titel eines „Hikari“ würdig ist. Weißt du… der Grund, weshalb mein Bruder und ich von den anderen Wächtern mit so großem Respekt behandelt werden, ist der, dass wir Hikari sind. Wie sind die Anführer der Wächter.“ „… Dann bin ich als Mensch… nicht gut genug für Seiji.“ Safiya sah auf und unwillkürlich tauchte ein trauriges Lächeln auf ihrem Gesicht auf. „Elisabeth…“, die Angesprochene drehte sich zu ihr. „Seigi hat sich nie sonderlich für Menschen… oder seine Mitwächter interessiert. Aber bei dir… er macht sich die Mühe, für dich Englisch zu lernen, hat dich vor dem Hexentod bewahrt und dich hierher gebracht… Du bist das Mädchen, welches vielleicht als Einzige in der Lage ist, an seiner Seite zu bleiben. Vergiss nicht… er hat dich, ein Menschenmädchen, ausgesucht…“ Und nicht mich.     „Wann hättest du es mir sagen wollen?“ Safiya war zu unruhig, um einfach still stehen zu bleiben. Angespannt ging sie daher umher, während ihr Bruder trainierte; nun war es nicht mehr das Morgentraining, sondern das abendliche Training. Seigi antwortete nicht, ließ sich nicht von seiner Schwester ablenken und setzte seine Übungen trotz ihrer Anwesenheit und ihren Worten fort. Eine Routine von den beiden; ein Großteil von Seigis Tag verging mit seinem stetigen Training, wobei ihn Safiya immer unterstützt hatte; eine Unterstützung, die sie natürlich nicht mehr leisten konnte, seit sie schwanger war. Dennoch leistete sie ihm oft bei seinen Trainingsstunden Gesellschaft, wenn es ihre Pflicht als Regime-Führerin zuließ; manchmal arbeitete sie selbst nebenher oder tadelte ihn, wie jetzt, sich bewusst, dass er sein Training nicht so ohne Weiteres abbrechen würde, nur um einer ihrer Standpauken zu entgehen. Die beiden Hikari-Geschwister im Innenhof des Tempels zu sehen war daher reine Alltäglichkeit… nur das Thema war es nicht. „Warum muss ich vom Rat erfahren, dass du vorhast, zu heiraten?“ „Ich habe es vergessen.“ Es sprach einiges für Seigis Vergesslichkeit, so dass Safiya tatsächlich kurz überlegte, ob das eine Ausrede war oder nicht. Aber sie kam zum Schluss, dass das nicht die ganze Wahrheit  war – und wenn, dann war die Wahrheit ohnehin schlimm genug. Vergesslichkeit bedeutete auch Gleichgültigkeit – und ihr Bruder konnte ja wohl seiner eigenen Hochzeit nicht gleichgültig gegenüberstehen?! „Du vergisst deine eigene Hochzeit?“ Ihre weißen Augen fixierten Seigi, aber diesem gelang es dank seiner Schwertbewegungen natürlich leicht, ihrem Blick zu entfliehen. „Das glaube ich dir nicht.“ Seigis Schwert sauste in einem neunzig Grad Winkel durch die Luft; er antwortete nicht. „Hast du schon mit Elisabeth darüber gesprochen?“ „Nein.“ Warum nannte sie es „gesprochen“? Er musste einen Antrag machen; das musste er. Wusste er überhaupt, wie das ging?   „Sie könnte ja auch ablehnen.“ „So dumm ist Elly nicht.“ „So ein toller Fang bist du auch nicht, Seigi.“ „Hier ist sie in Sicherheit und muss nicht fürchten, auf irgendeinem Feuer zu landen. Das war das, was ich meinte.“ Safiya war stehen geblieben, beobachtete Seigis Bewegungen, die ein wenig aus dem Takt gekommen zu sein schienen… sie schienen…ruppiger zu sein? „Wen interessiert schon so eine alte Zeremonie? Wir tragen einfach gleich aussehende Ringe und gut ist. Dann geben die Ratsmitglieder endlich Ruhe und das Thema ist abgehakt. Am besten so schnell wie möglich.“ „Das ist sehr respektlos, was du da sagst, Seigi! Nicht jeder interessiert sich so wenig für die Ehe wie du.“ „Wieso? Bei dir war es doch auch nicht anders.“ Safiyas Herz ließ einen Schlag aus; nur um sich dann noch schneller zu beschleunigen. Wütend wirbelte sie zu ihm herum – und die Tatsache, dass er sein Training immer noch nicht unterbrach, machte sie noch wütender: „Warum bist du nur allem gegenüber so gleichgültig!? Elisabeth ist so ein liebes Mädchen, das sich solche Sorgen um dich macht – und du? Wie sprichst du eigentlich von etwas so Entscheidendem, was ihr Leben für immer verändern wird, sollte sie dem zustimmen?! Denkst du auch mal an die Gefühle von denen, die dir angeblich wichtig sind?! Elisabeths Gefühle – meine---“ Safiya hatte es nur ihrem Können und den vielen Trainingsstunden mit Seigi zu verdanken, dass sie schnell genug Seigis heransausendes Schwert mit ihrem hervorbeschworenen Stab parieren konnte. Schwert und Stab prallten gegeneinander, so wie die Augen der beiden Hikari-Geschwister. Was war das----?! Seigis Augen, sie--- aber das konnte gar nicht sein, das war… „Safi!“ Das Schwert Seigis fiel mit einem Scheppern auf den Steinboden, hallte im Hof nach, so wie das laute Atmen der beiden Geschwister, als Seigi Safiyas Schultern packte, aufgeregt fragte, ob es ihr gut ginge, sich im gleichen Atemzug entschuldigte… „Ich war unkonzentriert, ich habe dich da nicht gesehen... Entschuldige, Safi, entschuldige…“ „Schon… Schon gut. Es…“ Safiya schluckte, versuchte, ihre heftig pulsierende Unruhe beiseite zu drängen: „Es ist ja nichts passiert. Das kann schon einmal vorkommen…“ „Nein“, erwiderte Seigi, sich langsam von ihr lösend, zerknirscht und blass in eine andere Richtung sehend: „Das darf nicht passieren. Das darf mir nicht passieren.“ Kurz verdunkelte sich das Gesicht ihres Bruders, wurde förmlich in Schwärze getaucht, ehe er sich ihr wieder zuwandte und sie besorgt noch einmal fragte, ob es ihr gut ginge. Ja, es ging ihr gut – aber… ging es Seigi gut?     Safiya setzte Aurora darüber in Kenntnis und trug ihr auf, Seigi bei den regelmäßigen Gesundheitschecks besonders gründlich zu untersuchen; allerdings ohne, dass er es bemerkte. Safiya wollte ihn nicht beunruhigen. Aber Aurora konnte nichts feststellen; Seigis Werte waren alle im absolut grünen Bereich. Nichts, was irgendwie besorgniserregend war – auch ein Dämoniecheck hatte zu nichts geführt.  Es geschah auch nichts mehr, was so genannt werden konnte; jedenfalls beobachteten weder Safiya noch Elisabeth irgendetwas in diese Richtung, obwohl besonders Elisabeth jetzt sehr viel Zeit mit Seigi verbrachte. Die Hikari hatten sehr schnell das Verbot, dass kein Hikari mehr den Boden Europas betreten durfte, offiziell verhängt und nach einem kleinen, frustrierten Wutausbruch Seigis war er dazu gezwungen gewesen, sich dem unterzuordnen, womit er nun die meiste Zeit im Tempel verbrachte, da momentan nicht sonderlich viele Dämonen außerhalb Europas auftauchten. Seigi war somit dazu „verdammt“, sich nur seinem Training widmen zu können – und während Safiya sich trotz immer runder werdendem Bauch in Arbeit vergrub, begleitete Elisabeth Seigi zum Training. Manches Mal blieben sie im Tempel; andere Male suchten sie abgelegene Orte in der Menschenwelt auf – und abends nach dem Abendessen sah man ungewöhnlicherweise den sonst so faulen Hikari die Nase in die Bücher stecken, begleitet von Elisabeth, die ihm dabei half, seine Englischkenntnisse zu verbessern. Ein wenig holprig zwar, denn Elisabeth konnte weder schreiben noch lesen, aber es ging voran und hinter vorgehaltener Hand munkelte man, dass man nie gedacht hätte, Seigi jemals ohne Schwert in der Hand lächeln zu sehen. Aber dieses Menschenmädchen war ja auch seine Verlobte. So ein liebes Mädchen. Immer bemüht zu helfen, obwohl sie deren Sprache nicht verstand. … dass so jemand sich in Seigi verlieben würde…      Wann war eigentlich die Hochzeit? Das wisse niemand so genau. Angeblich hatte er noch nicht einmal um ihre Hand angehalten. Aber das war natürlich nur ein Gerücht. Safiya wusste allerdings, dass dieses Gerücht der Wahrheit entsprach. Drei Monate waren ins Land gegangen und Seigi hatte immer noch nicht um die Hand Elisabeths angehalten, was langsam für Probleme sorgte, denn von den Wächtern wurde sie bereits wie seine Verlobte behandelt und nur die Sprachblockade hatte bis jetzt dafür gesorgt, dass sie es noch nicht verstanden hatte. Aber natürlich wunderte sie sich sehr darüber, dass man sich vor ihr verneigte… in Seigis oder Safiyas Beisein war es ihr nicht aufgefallen; sie hatte einfach geglaubt, dass das Verneigen für die beiden Geschwister sei, aber dieses eigenartige Phänomen trat auch ein, wenn sie alleine durch die Gänge ging. Safiya hatte eine Ausrede gefunden – diese war allerdings alles andere als hieb- und stichfest – und auch ihren Elementarwächtern aufgetragen, nichts zu erzählen, aber lange würde das nicht mehr gut gehen. Seigi musste mit ihr reden; er hatte ja wohl nicht vor, einen Tag vor der Hochzeit zu sagen „Übrigens, morgen heiraten wir; das war schon seit drei Monaten so geplant, hoffe, du hast nichts dagegen!“?! Als Safiya  diese Vorstellung mit Aurora geteilt hatte, hatte diese gelacht und gesagt, dass sie sich das bei Seigi gut vorstellen könne… aber warum zögerte er überhaupt? Wenn ihm das ganze Thema so egal war, warum zögerte er es dann hinaus? Fürchtete er wirklich, dass sie ablehnen würde? Safiya war überzeugt davon, dass Elisabeth das nicht tun würde. Nicht, weil sie – Seigis Aussage nach – „nicht dumm war“ und verstand, dass ihre Sicherheit von einer Ehe mit Seigi abhing, sondern weil… weil sie es wollte. Weil sie das gleiche Gefühl in sich trug, wie das, welches Seigi in ruhigen Trainingsstunden zum Stillstand brachte. Das Gefühl, das Röte und ein Lächeln auf dem Gesicht des Schwertkämpfers hervorbrachte, wenn er sich umdrehte und sah, dass Elisabeth an einem Baum eingenickt war. Würde ihn in diesem Moment jemand sehen, wie er leise durch den frisch gefallenen Schnee zu ihr hin tapste, ihr seine Jacke um die Schultern legte und mit welch einem Blick er sie ansah, ehe er der lächelnd schlafenden Elisabeth einen etwas unbeholfenen Kuss auf die Haare hauchte, dann würde wohl niemand daran zweifeln, dass Seigi sich in dieses einfache Menschenmädchen verliebt hatte.      Aber bald musste Seigi es Elisabeth sagen; nicht nur, weil sie selbst bald dahinterkommen würde, dass Wächter keinen anderen Grund hatten, sich vor ihr zu verneigen, als dass sie mit Seigi liiert war, sondern auch weil die Hikari bald Druck machen würden. Im Moment war Seigis Hochzeit nicht deren Hauptanliegen; sie hatten zu sehr mit den dämonischen Aktivitäten in Europa zu tun, anstatt sich darüber zu pikieren, dass Seigi Elisabeth noch keinen Antrag gemacht hatte. Nur Adir hatte nach dem ersten verstrichenen Monat sehr sparsam aus der Wäsche geguckt, als Safiya ihm mitgeteilt hatte, dass Seigi bis jetzt noch nichts gesagt hatte. Jetzt war schon der dritte Monat verstrichen; sie gingen mit großen Schritten auf den Herbst zu, wie auch auf den Stichtag Safiyas. An dem Abend, an dem es nur noch zwei Wochen waren bis zu jenem Tag, suchte Elisabeth Seigi in der Bibliothek auf; wie immer, um mit ihm zu lernen. Anders als sonst fand sie ihn allerdings nicht alleine in der Bibliothek vor, sondern mit zwei anderen Wächtern sprechend, weshalb Elisabeth an der Tür stehen blieb, um nicht zu stören. Aber Seigi hatte ihr Hereinkommen bemerkt und blickte auf, winkte ihr kurz grinsend zu und schickte die beiden Wächter fort, die sich mit einer Verbeugung von Seigi verabschiedeten, ihm aber vorher noch ein paar Dokumente reichten. Diese legte der Hikari allerdings schnell auf den Tisch, sobald sie ihm den Rücken zugekehrt hatten, ohne die Papiere genauer anzusehen, während die beiden Wächter „Elisabeth-sama“ im Vorbeigehen eine „Gute Nacht“ wünschten und sich verbeugten, ehe sie die Bibliothek verließen. „Warum nennen sie mich so? „Sama“ ist doch nur für dich und Safiya?“ Elisabeth sah deutlich, wie Seigi ihre Worte erst einmal in seinem Kopf übersetzen musste, dann suchte er selbst nach den richtigen Worten und antwortete dann: „Wächter greifen gerne vor.“ „Vorgreifen? Was greifen sie denn vor?“ Seigi war so damit beschäftigt gewesen, die richtigen Worte zu finden, dass er bei diesem Suchprozess völlig ignoriert hatte, dass das wahrscheinlich keine sonderlich kluge Antwort war – es war die ehrliche, wahre Antwort, aber da Elisabeth nichts von dem Ereignis wusste, was die Wächter vorgriffen, war das wohl eine sehr unüberlegte Antwort. Elisabeths verwirrte, große Augen blickten Seigi verwundert an, als sie vor ihn getreten war. Unwillkürrlich schossen ihm wieder Safiyas Worte durch den Kopf; die Worte seiner Schwester, die ihm immer wieder sagten, dass er es endlich tun solle… es könne doch nicht angehen, dass Seigi es ihr verschweige, das sei schon fast unmoralisch und das, wo er es doch eigentlich täte, um sie zu beschützen… Ja, er tat es, um sie zu beschützen… Seigi spürte einen eigenartigen Kloß im Hals, als er sich von Elisabeth abwandte… er tat es, um sie zu beschützen, ihr Sicherheit zu geben, aber… aber… warum sagte er es dann nicht einfach? An der Übersetzung haderte es nicht, denn bei der hatte Safiya ihm geholfen… Adir hatte ihm heute wieder berichtet, dass die Hikari bei der nächsten Ratsversammlung einen Termin mit ihm besprechen wollten; er solle dafür ins Jenseits kommen. Er habe Elisabeth ja wohl mittlerweile einen Antrag gemacht? Natürlich, hatte Seigi gelogen. Alles war besprochen wor- „Seiji?“ Der Angesprochene wandte sich ihr wieder zu und als er die Sorge in ihren Augen sah, da schossen ihm plötzlich mehrere Gedanken auf einmal durch den Kopf: Sie lebte gerne hier, das hatte sie ihm erzählt; sie war glücklich darüber, hier zu sein, vermisste ihr altes Leben nicht – sie würde also „ja“ sagen, für immer hier zu bleiben. Aber „ja“ sagen zu Seigi? Würde sie das, wo doch er und seine Unüberlegtheit der Grund dafür waren, dass ihre Fingernägel immer noch nicht gänzlich nachgewachsen waren... sie ihr überhaupt herausgerissen worden waren…  in einem dunklen Keller, in dem sie beinahe verhungert war… diesem Ort, von dem sie immer noch träumte. Sie hatte es ihm nicht gesagt, aber er hörte es, wenn er abends, nachdem sie sich bereits voneinander verabschiedet hatten, an ihrem Zimmer vorbeiging; vorbeiging, wieder zurückging, die Tür kurz öffnete… warum er das tat… das wusste er nicht. Er blieb dort immer nur kurz stehen, dann schloss er die Tür wieder. „Machst du mir keine Vorwürfe?“ Das war wahrscheinlich die Frage, die er nicht hatte stellen wollen und die nun zwischen ihnen hing – die Frage, die vor allen anderen gestellt werden musste. „Vorwürfe?“, wiederholte Elisabeth, als wüsste sie nicht, wovon er sprach; aber das war nicht der Fall, im Gegenteil. Sie wusste es sehr wohl, hatte sofort gewusst, was er meinte. Ihr Gesicht war blasser geworden, ihre Augen unruhig. Nicht mehr wegen ihm, sondern wegen dem Thema. „Ja, wegen dem, weshalb du immer Albträume hast“, antwortete Seigi dennoch, sich nun erhebend und langsam vor sie tretend. Die kleine Flamme der auf dem Tisch stehenden Kerze flackerte unruhig hin und her, während Elisabeth schwieg. „Das war nicht deine Schuld.“ „Sie haben das, was vor deiner Hütte passiert ist, also nicht als Anklagepunkt benutzt?“ Natürlich blickte Elisabeth Seigi nun verwirrt an, denn dies hatte er nicht ins Englische übersetzen können, weshalb er es in seiner Sprache gesagt hatte. Ihm fehlten die Vokabeln, ihm fehlten die Mittel, sich zu erklären… wie frustrierend! Wie schrecklich frustrierend und… Er versuchte, sich zu erklären, versuchte, genau die Worte zu finden, die ausdrückten, was ihm immer unbewusst durch den Kopf gehuscht war, aber… „Es ist alles gut, Seji.“ Seigis wirre Gedanken und seine hoffnungslosen Versuche, sich zu erklären, kamen abrupt zum Stillstand, als Elisabeth plötzlich seine von den vielen Kämpfen rau gewordenen Hände nahm. „Ich mache dir keine Vorwürfe. Ich bin froh, dass ich dich kennengelernt habe.“ Wie ansteckend ihr ruhiges Lächeln in diesem Moment war; ansteckend und erwärmend. Ein erwiderndes Lächeln, ebenfalls ruhig und sanft, erschien auf Seigis Gesicht, als er seine Stirn gegen die ihre legte; ihre Hand fester, aber auch sanfter drückend. „Danke.“ Beide lächelten sich noch kurz an, ehe sie beruhigt die Augen schlossen und im Licht der flackernden Kerze so verbunden stehen blieben – bis ein lautes Geräusch sie aufschreckte und dafür sorgte, dass sie auseinander sprangen. Elisabeth war hochrot angelaufen und legte erstmal ihre Hand über ihr Herz, um es zu beruhigen, während sie genau wie Seigi zur angelehnten Tür der Bibliothek sah, wo das Geräusch hergekommen war. Auch der Schwertkämpfer war rot angelaufen, vergrub seine Hand in seinen zotteligen Haaren und eilte dann auf die Tür zu, um zu sehen, was das Geräusch verursacht hatte; gefolgt von Elisabeth, die genau wie er kurz über das, was sie sahen, stutzte: in der Tür lagen fünf Bücher.   „“Der zweite Elementarkrieg“ …. Dieses Buch hat Safi heute zu Ende gelesen.“     Safiya wusste, dass sie unverantwortlich handelte. Sie wusste, dass sie sich dem Wort der Hikari widersetzte und dass sie – wenn ihre Abwesenheit bemerkt werden würde – sicherlich bestraft werden würde. Aber es war ihr egal. In diesem Moment war es ihr einfach egal. Egal. Sie hatte einfach weggemusst. Weit, weit weg. Nicht in ihrem Zimmer, nicht irgendwo auf der Insel des Tempels hatte sie Zuflucht finden können. Er war ihr plötzlich wie ein Kerker vorgekommen… ein Ort, wo sie eingesperrt war, ohne Ausweg… ohne Erlösung. Auch die anderen Inseln der Wächter waren nicht besser gewesen; überall wäre sie eingesperrt gewesen, da sie überall im Reich der Wächter wiedererkannt hätte werden können… und nein, das wollte sie nicht. Genau das wollte sie nicht. Sie wollte nicht gefragt werden, was mit ihr „los sei“, sie wollte keine Fragen über ihr Befinden beantworten, das sich doch so deutlich in ihrem Gesicht abzeichnete. Sie benötigte keinen Spiegel. Sie spürte es und wusste, dass ihr Gesicht sie verriet. Nur in der Menschenwelt war sie sicher gewesen vor diesen Fragen; sicher vor sich selbst und ihren Gefühlen. Ja, es war schrecklich falsch, was sie hier tat… falsch, egoistisch und kindlich, aber sie hatte es tun müssen. Sie würde sich dafür vor dem Rat rechtfertigen müssen; ausgerechnet nach Europa, wo sie es doch gerade verboten hatten… aber ein paar wenige Stunden Egoismus… waren ihr doch erlaubt… oder? Sie mochte es, hier zu sein. Sie war früher öfter mit ihrer Mutter in dieser Stadt gewesen; Mannheim, die Stadt, in der ihre Mutter den Vater Safiyas und Seigis kennengelernt hatte und wo sie sich getroffen hatten, wenn sie sich denn hatten treffen können. Hier, an diesem abgelegenen Ort, von wo aus man einen guten Ausblick über die Stadt hatte. Wie oft hatte Lili sie nicht mit hierher genommen, um ihr die Aussicht zu zeigen, ihr von ihrem Vater zu erzählen… sie hatte immer nur gut von ihm gesprochen, sich nie beklagt, dass sie ihn nur selten hatte sehen können – sie, die er seine Fee genannt hatte. Sie war froh und zufrieden für jeden Moment gewesen, welchen sie hatten zusammen verbringen können. Jetzt konnte Safiya den Ausblick nicht genießen; ihre Augen waren zu sehr von Tränen verschmiert. Sie war an einem Baum herunter gesackt und blieb dort einfach nur sitzen – bis dann plötzlich ihre Faust herunter sauste und auf den Boden aufschlug. „W-Warum!? Warum… warum musste ich mich in meinen dummen…“ Sie schlug noch einmal--- „… gleichgültigen, ignoranten, durch und durch…“ Noch einmal und noch einmal--- „… unverbesserlichen Bruder verlieben?! Das ist nicht fair… das ist einfach nicht fair!“ Die Faust blieb in der Luft hängen, dafür kullerten immer mehr, immer mehr Tränen herunter, denn die Worte, die sie mit verzweifelter Inbrunst herausgeschrien hatte, konnten nichts daran ändern, dass sie immer noch das Bild des so ruhig und selig lächelnden Seigis vor ihrem inneren Auge hatte. So… hatte er noch nie gelächelt… so ruhig… so gelassen… so befreit… so…   …so… … verliebt.   Wie lange Safiya dort weinend sitzen blieb, wusste sie nicht. Aber irgendwann, als die Abenddämmerung hereinbrach, wischte sie sich die Tränen aus den Augen und richtete sich auf. Trostsuchend hielt sie ihr Glöckchen in der Hand umklammert, ließ es aber nun auf ihre Brust fallen, als sie ihre Augen nun mit beiden Händen trocken rieb. Sie musste sich zusammennehmen. Sie hatte immer gewusst, dass Seigi ihre Gefühle nie erwidern würde. Ja, sie hatte nicht geglaubt, dass mal jemand in Seigis Leben treten würde, dem er das geben würde, was sie sich für sich erhofft hatte, aber… sie mochte Elisabeth. Sie mochte sie. Und sie würde lernen, froh für ihren Bruder zu werden. Ja. Das würde sie…   Als Safiya die Augen öffnete, bemerkte sie, dass sie nicht länger alleine war. Vor ihr, im Licht der untergehenden Sonne stehend, betrachtete sie eine Person – eine Person mit neugierigen, gelben Augen und einer ungeheuren Aura. Ein Dämon.     Seigi hatte nicht geschlafen, als er das Klopfen an seiner Tür vernahm und Elisabeth den Eintritt erlaubte. Genau wie sie hatte er einfach nicht schlafen können – scheinbar aus demselben Grund. „Ich mache mir Sorgen um Safiya“, begann Elisabeth, nachdem sie sich für die späte Störung entschuldigt und die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Sie ist schon mehrere Stunden fort…“ Seigi nickte, antwortete aber nicht, schwang nur seine Beine unter der Bettdecke hervor, sich aufsetzend. „Sollten wir sie nicht suchen gehen?“ „Wenn Safi in die Menschenwelt geht, dann will sie auch alleine sein.“ Immerhin brach sie damit die Regeln, provozierte den Zorn der Ratsmitglieder… das waren schon eindeutige Zeichen dafür, dass sie alleine sein wollte. Jetzt war es Elisabeth, die nicht antwortete; sie rührte sich unruhig, nestelte an ihrem Nachtkleid und es war deutlich, dass sie trotz Seigis Worten auf die Suche nach ihr gehen wollte. „Aber die Menschenwelt…“, begann sie dann nach einem kurzen Schweigen: „… ist doch momentan so ein gefährlicher…“   Seigi wollte ihr ins Wort fallen mit den beruhigenden Worten, dass Safiya schon wisse, wie sie einem Dämon aus dem Weg gehen müsse, als es passierte.   Weit, weit entfernt von ihrem Bruder brach das Glöckchen seiner Schwester. Es zerbrach in viele, kleine Einzelteile und brachte die Handfläche Seigis und die der Elementarwächter zum Erglühen. Das Wappen der Hikari erschien – erschien, um ihnen zu sagen, dass eine Hikari gestorben war.       Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)