Rainbow von Rainblue (Gebrochenes Licht) ================================================================================ Kapitel 3: Unsichtbare Spuren ----------------------------- Aqua erwachte mit dem ekelhaften Geschmack von getrocknetem Blut im Mund. Außerdem tat so ziemlich jeder Muskel ihres Körpers weh wie nach einem Sturz von den Gebirgen im Land des Aufbruchs – auch wenn sie das nie erlebt hatte; ungefähr so musste es sich anfühlen. Schwach zwängte sie die Augen auf und brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass sie nicht mehr auf dem Plateau lag, wo sie den rotäugigen Schattenwolf bezwungen hatte. Ein Blick zu beiden Seiten verriet ihr, dass sie sich in einer Art Höhlenblase befand – in einem der Riesenbäume. Wie war sie hergekommen? „Ist da jemand…?“, wollte sie rufen, aber es kam nur ein kratziges Raunen hervor. Es blieb still und Aqua beschloss, sich erst einmal zu orientieren. Da sie auf dem Rücken lag, stützte sie die Ellbogen auf, um sich hochzudrücken und biss mit einem unterdrückten Keuchen die Zähne zusammen, als dabei ein greller Schmerz durch ihren Bauch schoss. Und nur wenig später auch im rechten Oberschenkel. Sie hievte sich umständlich gegen die Höhlenwand und wagte einen Blick an sich hinab. Ihr wurde augenblicklich schlecht. Eine Handbreit über ihrem Knie begann die Bisswunde, aber keine gewöhnliche wie sie von einem normalen Tier hätte verursacht werden können. Nein, das war das Werk eines Schattengeschöpfes. Als wären die von Blut verkrusteten Einstiche, worum die Haut in Fetzen hing, nicht genug, stieg ein feiner schwarzvioletter Rauch davon auf. Eine Verletzung mit Dunkelheit. Eine Substanz grässlicher als jedes Gift, aber nicht tödlich, zumindest vorerst nicht… Trotzdem würde es ihren Körper schwächen, ihre Sinne umwabern und sie anfälliger machen für die vielen Verführungen, sich den Schatten hinzugeben. Und dann waren da natürlich noch die Rippen… Das schien ein Akt der Unmöglichkeit. Ein paar Tage würde sie es mit diesen Verletzungen vielleicht noch machen, aber wenn sie dann keine angemessene Heilung bekam, wäre es vorbei. In dem lautlosen Moment der Überlegung, vernahm sie ganz in der Nähe eine Art Plätschern. Plätschern? Was konnte das sein? Sie hatte bisher nichts Vergleichbares in dieser Welt gehört. Obwohl jede Faser sich sträubte, kam Aqua wankend auf die Beine und humpelte aus der Höhle hinaus ins Freie. Über ihr spannte sich noch immer der rotviolette Chaoswirbel, aber nirgends war ein Anzeichen auf die Anwesenheit von Monstern zu entdecken, weshalb sie sich noch ein Stück weiterwagte. Zu ihrer Rechten erhoben sich ein paar Stufen – die befremdliche Mischung aus Wildnis und Zivilisation, die hier galt – und dahinter… „Ich glaube es nicht…!“, stieß sie hervor und taumelte, so schnell ihr geschundener Körper es zuließ, auf die Treppe zu. Geschützt von einem Felsbogen lag dort ein klarer See. Natürlich hatte Aqua immer mal wieder kleinere Quellen gefunden – andernfalls wäre sie ja verdurstet – aber der Anblick eines so großen Sees war die reinste Offenbarung. Sie ließ sich nahe dem Wasser nieder, schöpfte mit den Händen und konnte ein erleichtertes Seufzen nicht zurückhalten, als die kühle Nässe ihre staubige Kehle hinunter rann. Als sie sich satt getrunken hatte, zog sie den rechten Schuh aus, streifte möglichst sacht den Kniestrumpf ab und machte sich daran, die Wunde zu säubern. Der Prozess war entsetzlich und erforderte mehrmals ein Fäuste ballen, aber es war besser als gar nichts. Unter den Blutschichten kamen die Furchen hervor, die die Fänge des Wolfes sauber in ihr Fleisch geschlagen hatten – ohne das Blut und den dunklen Rauch sah es gleich weniger schlimm aus. Aber entscheidend war leider nicht das Äußerliche, sondern das, was in ihrem Körper geschah. Seufzend riss sie einen Streifen von ihrem Ärmel und verband die Wunde notdürftig. Dann betastete sie achtsam ihren Bauch und zuckte zusammen. Doch ein Bruch? Gar mehr als einer? „Durchhalten, Aqua…“, mahnte sie sich streng. Selbst wenn das Schlimmste der Fall war, sie konnte jetzt nicht einfach die Augen schließen und loslassen! Matt warf sie einen Blick auf die weiße Steppe vor dem See. Wie im Namen aller Schlüsselschwertkrieger war sie hierher gekommen? Schlafwandelte sie neuerdings? Nein, ausgeschlossen. Irgendjemand musste in der Nähe sein, jemand, der wie sie war. „Na ja“, sprach sie sich selbst gut zu, „irgendwann wird er wiederkommen, oder?“ Vorsichtig ließ sie sich auf den Rücken gleiten, betrachtete die wirren Farbschleifen am Himmel und dachte über den Traum nach. Dem üblichen Impuls folgend zog sie den Wegfinder aus der Tasche und hielt ihn so, dass die rotvioletten Töne durch das blaue Glas schimmerten. Die Ränder ihrer Gedanken wurden konturloser, bis sie sich ganz auflösten und den Tagträumereien nichts mehr im Weg stand. Diesmal flüsterte sie nicht die Namen ihrer beiden Freunde. Diesmal war es nur der des einen. „Terra.“ Ein Jahr vor der Prüfung zum Meister, sah Aqua ihre Eltern ein letztes Mal wieder. Der Besuch war die Hölle. Ihre Eltern hatten keine Worte dafür übrig, wie sie gewachsen war, wie gut sie schon mit dem Schlüsselschwert umgehen konnte oder wie es ihr in ihrer neuen Heimat gefiel. Aber dafür besaßen sie einen ganzen Wasserfall von Worten für ihre Zukunft und was sie sich da für sie ausgedacht hatten. Zuerst einmal sollte sie die Meisterprüfung ablegen, dann neue Erfahrungen sammeln, indem sie durch die Welten reiste und ihre Pflicht erfüllte. Aber sobald sie zwanzig war, unverzüglich zurückkehren, um ihren Zukünftigen zu heiraten – ja, der Gemahl war bereits ausgesucht worden. Am liebsten hätte Aqua sie angeschrieen. Ihnen all das um die Ohren geworfen, was sie ihr mit ihrer Sucht nach Perfektion angetan hatten und dass sie nicht länger das Bedürfnis verspürte, ihnen alles recht zu machen. Dass sie die Meisterprüfung nicht bestehen würde, weil sie es gern so haben wollten, sondern für sich selbst. Das war ihr Leben. Egal, wie oft sie darin herumpfuschten. Doch sie behielt es für sich. Lächelte ein wenig, hob das Kinn, Augen geradeaus, nicht blinzeln. Hörte sich alles an, was ihre Eltern zu sagen hatten. Erwiderte selbst aber nichts. Die Verlobung sollte erst nach der Prüfung stattfinden – sie müsse sich schließlich auf letzteres konzentrieren. Sie spürte, dass Eraqus etwas sagen wollte – mehrmals. Schüttelte aber jedes Mal den Kopf. Sie wollte nicht verteidigt werden. Wenn sie es selbst nicht konnte, dann sollte es wohl auch nicht so sein. Auf dem Rückweg war sie still. Eraqus auch. Sie war ihm dankbar, dass er sie allein ließ. Als spürte er, was sie brauchte und was sie wollte. Und jetzt war das Einsamkeit. Nur für ein paar Stunden allein mit den Gedanken sein. Sie glaubte, das würde helfen. Weil es immer geholfen hatte… oder nicht? Darum suchte sie ihren Lieblingsort auf; einen wunderschönen See, den sie schon vor Jahren entdeckt hatte, sank am Ufer nieder, vergrub das Gesicht in den Armen und ließ das eben Geschehene Revue passieren. Sie hasste es. So sehr. Und sie verabscheute sich selbst für ihre Feigheit. Warum konnte sie nicht einfach den Mund aufmachen und sagen, was sie dachte? Würde es ihr danach nicht besser gehen? Konnte Wasser nicht erst frei fließen, wenn der Damm aufgebrochen war? Ja, aber Aqua traute sich nicht, Risse zuzulassen. Sie war das passive Wasser, das schön brav hinter der Absperrung blieb und nur davon träumte, Wellen zu schlagen… Nach ein paar Minuten, in denen sie diesen Gedanken nachhing, ließen Schritte im Unterholz sie aufschauen. Zwischen den Farnen trat Terra hervor. „Hey“, wollte sie gelassen sagen, erschrak dann aber, als ihre Stimme brach. Schnell räusperte sie sich. „Ich… wollte nur ein bisschen abschalten. Gedankenstau, du weißt schon.“ Was redete sie da für einen Stuss? Verlegen strich sie sich durchs Haar. „Wo ist Ven? Ich dachte, ihr trainiert zusammen?“ „Er wollte dich nicht ausschließen“, erwiderte Terra und sein Blick ruhte unverwandt auf ihr. „Und ich auch nicht.“ Wie er sie ansah… Nervös zog sie die Knie näher an den Körper. Bei diesem Blick kam sie sich furchtbar entblößt vor. „Das ist lieb von euch. Aber ihr müsst nicht auf mich warten. Mir ist heute nicht danach…“ Sie setzte ein Lachen dahinter, absichtlich, und hörte selbst wie unnatürlich und deplatziert es klang. Terra antwortete nicht. Er kam nur auf sie zu und ließ sich neben ihr ins Gras sinken. Seine Augen glitten zum Wasser. Keiner sagte ein Wort. Normalerweise machte Aqua das nichts aus, Schweigen zwischen Terra, Ven und ihr war wie Sprechen ohne Worte. Doch diesmal spürte sie, wie ihre Wangen rot wurden und begann fieberhaft nach etwas zu suchen, womit sie die Stille brechen konnte. „Weißt du“, meinte Terra unvermittelt. Er klang nicht im Mindesten so, als wäre ihm die nicht vorhandene Unterhaltung peinlich. „Wir haben was gemeinsam.“ „Was?“, fiepte sie und widerstand dem Drang, sich die Hand auf den Mund zu schlagen. „Wir beide kennen unsere Eltern nicht. Wir haben keine richtigen Eltern.“ Die Stille, die sich daraufhin ausbreitete, schien vervielfacht. Aqua konnte jedes kleinste Geräusch haargenau hören. Sie sah zu Terra hinüber, der ihren Blick offen erwiderte. Nicht wegsah. Vielleicht nicht mal blinzelte. Mit der Zeit begannen sich ihre Gesichtsmuskeln anzuspannen, ihre Augen zu brennen. Die Tränen sammelten sich an, bis sie kaum noch etwas erkennen konnte und liefen mit einem unvermeidlichen Blinzeln über. Und dann fing sie plötzlich an zu erzählen. Alles. Vom Anfang bis zum heutigen Tag. Sie schluchzte all die quälenden Fragen und wütenden Argumente hervor, die sie ihren Eltern so gern gegeben hätte. Wie ein unaufhaltsamer Sturzbach offenbarte sie ihm ihre Gefühle; die schreckliche Angst, zu versagen, die Wut auf sich selbst, rückratlos zu gehorchen, die bittere Erkenntnis, dass ihre Eltern sie offenbar nie als die Tochter gesehen hatten, die sie hatten sehen wollen… einfach alles. Und Terra schwieg. Weil er genau wusste, dass sie kein Mitleid wollte. Keinen dieser tröstenden Sprüche von jemandem, der es sowieso nie nachvollziehen würde können. Aber er hörte zu, die ganze Zeit. Er war da und lauschte ihr. Sie spürte nur den Druck seiner Hand, die ihre umschlossen hielt. Der warme Druck… Die Erinnerung an jenen Tag. Eine so kostbare Erinnerung. Denn das war der Tag, an dem sie sich in Terra verliebte. Viel zu schnell flogen ihre Lider hoch und sie richtete sich halb auf, ehe der sengende Schmerz sie wieder in die Rückenlage zwang. Aqua hatte sich geschworen, nicht einzuschlafen, aber ihrem ausgelaugten Körper war nicht danach, Kompromisse zu schließen. Sie ließ den Kopf zur Seite fallen. Niemand zu sehen. Weder Schattenmonster noch Mensch. Aber irgendjemand hatte ihr geholfen, hatte sie her gebracht, hier zu diesem See, der ebenso klar wie jener in ihrer Heimat war. Sie ließ eine Hand ins Wasser gleiten, strich gedankenverloren hindurch, während sie mit der anderen noch immer den Wegfinder ans Herz presste, den sie im Schlaf keinen einzigen Moment losgelassen hatte. Dieser Ort war wie das düstere Spiegelbild ihrer Erinnerung. Wie sehr sie doch die Sonne vermisste… Sie konnte sich kaum noch an das Gefühl von Licht auf der Haut erinnern. Oder an das von Regen. Sie hatte den Regen im Land des Aufbruchs geliebt; war in Sommerschauern spazieren gegangen, war bei Gewittern aufgeblieben, um den Himmel zu beobachten. Sie gab es ungern zu, aber der Chaoswirbel über ihr erinnerte sie schwach an die Töne des Wetterleuchtens. „Und die Regenbögen…“, formte sie mit den Lippen und schlang die Finger fester um den Glücksbringer. „Kann das denn alles Zufall sein…?“ Der See, der Himmel, die unsichtbaren Spuren eines Retters… Für ein paar Sekunden gab sie sich der Vorstellung hin, dass die Zusammenhänge wirklich waren und sich nicht nur in ihrer Fantasie zusammendichteten. Doch sie zerriss das schöne Trugbild mit einem harten, freudlosen Lachen, das im Bauch schmerzte. Was sie nicht kümmerte. „Törichtes, naives Mädchen“, verspottete sie sich. Und zeitgleich damit hob sie die Hand aus dem Wasser und führte sie zum Hals. Tropfen benetzten ihr Kinn, auf einmal nicht mehr kühl, sondern stechend kalt. Sie fuhr über die gesamte Kehle und drückte an den entsprechenden Stellen fester zu, konnte aber keinen Schmerz vernehmen. Natürlich nicht. Die blauen Flecken – seine Würgemale – waren längst verheilt und von ihrer Haut geschwunden. Aber sie konnte jeden einzelnen nachfühlen. Und diese Panik, als jegliche Luft aus ihr getrieben zu werden schien… als wäre es eben erst passiert. Genauso wie bei Terras Berührungen. Der unvergessene Druck… und unsichtbare Spuren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)