Gedankensplitter von w-shine (100 Storys) ================================================================================ Kapitel 13: 60. Schneewittchen ------------------------------ Langsam rühre ich noch einmal meinen Kaffee um, blicke auf den Wirbelsturm den ich erzeugt habe, bevor ich aufblicke und zu der Person hinüber schaue, die am anderen Tisch sitzt. Es ist eine junge Frau Mitte zwanzig. Sie ist auffallend hübsch, auch wenn ihr etwas weniger Make-up vielleicht gut getan hätte. Ihre hellbraunen Haare glitzern in der Sonne, goldene Reflexionen lassen sie schimmern. Auf ihren Lippen trägt sie rosafarbenen Lippenstift, die Augen sind mit Cajal und Wimperntusche so betont, dass sie größer wirken. Sie weißt genau, wie sie diese Akzente setzen muss, damit die Leute die Köpfe wenden, um sie zu bewundern. Genauso wie ich, der ich immer wieder über meinen Kaffee hinüber zu ihr schiele und sehe wie sie eine Gabel mit Salat zu ihren Lippen führt, diese darum schließt und genüsslich die grünen Blätter verschlingt. Wenn ich mir nur vorstelle, was sie alles mit diesen Lippen machen kann… Schauer laufen mir dabei über den Rücken und ich schließe für einen Moment die Augen. Frauen wie sie sind für Männer wie mich immer eine Versuchung. Ich kenne sie gut – ihr Name ist Annabell. Ich würde sie überall erkennen, in riesigen Menschenmassen würde ich sie finden, unter Tausenden in einer Millisekunde identifizieren. Immer habe ich ein Auge auf sie und passe auf sie auf, damit ihr nichts passiert. So viel Schreckliches kann in dieser Welt passieren, da braucht eine so hübsche Frau wie sie einen Aufpasser. Ich wende meine Augen für einen kurzen Moment von ihr ab und erblicke die Zeitung, die der Mann neben mir liest: „Immer noch keine Spur vom Schneewittchen-Mörder!“ Es gruselt mir, wenn ich an die Nachrichten denke, die über diesen Serienmörder im Umlauf sind. Vier Frauen sind nun schon durch seine Hand gestorben. Er setzt seinen Opfern schwarze Perücken auf, tunkt sie in Kreide, so dass sie weiß aussehen und schlitzt ihnen die Lippen auf, damit diese blutrot wirken. Schwarz wie Ebenholz, weiß wie Schnee, rot wie Blut. Deshalb wird er von den Medien nur Schneewittchen-Mörder genannt. All seine Opfer waren auffallend hübsch. So wie Annabell Sie kannte die anderen Opfer und deshalb muss ich sie beschützen, deshalb wurde ich für diese Aufgabe ausgewählt. Ich könnte mir nicht vorstellen, wie ich reagieren würde, wenn ich hören würde, dass sie eines seiner Opfer ist, dass ich in meinen Job versagt habe. Ich darf nicht versagen. Ich will sie nicht verlieren. Ich will nicht schon wieder eine Frau verlieren, die ich hätte beschützen müssen… Ich erinnere mich an meine Schulzeit, als ich mein Schneewittchen nicht beschützen konnte, meine Freundin, die Liebe meines Lebens und ich konnte sie nicht retten. Mira. Wir haben Schneewittchen in der Theater-AG aufgeführt und sie hat die Hauptrolle bekommen, die Hauptrolle, die unsere Schulkönigen Jessica so gerne haben wollte. Es folgten Zickereien, die Verbreitung von Gerüchten, unendlicher Druck. Sie hat es nur schwer verkraftet und dann eines tragischen Abends, traf sie auf Jessica und ihre Freundinnen aus ihrer Sechser-Clique, an deren Name ich mich grad nicht erinnere. Ein Streit entbrannte, es wurde geschuppst und gedrängelt. Und keiner sah das Auto kommen. So wurde Mira mir genommen und ich darf nicht zu lassen, dass mit Annabell das Gleiche passiert. Sie bezahlt und steht auf und ich tue dasselbe und folge ihr unauffällig. Sie darf mich nicht sehen, ich bin ihr geheimer Beschützer und so soll es auch bleiben. Wenn sie wüsste, dass ich hier bin, dann würde sie sich vielleicht auffällig verhalten, dann würde es vielleicht nicht möglich sein, dass der Schneewittchen-Mörder kommt, um sie auch noch zu nehmen, was eine Möglichkeit wäre ihn zu schnappen. Mit federnden Schritten läuft sie die Straße hinab und zieht die Blicke vieler Männer auf sich, die bewundernd an ihrer Figur auf und ab gleiten. Sie biegt in eine kleine Gasse ein, in der sonst keine Menschenseele unterwegs ist – nur wir beide sind hier. Warum tut sie so etwas? Hat sie noch nie Filme gesehen? So oft werden in solchen Gassen Frauen entführt, angegriffen, vergewaltigt. Hat sie die Zeitung nicht gelesen? Weiß sie nicht was los ist? Aber ich bin hier, ich werde sie beschützen, ich werde nicht zu lassen, dass ihr etwas passiert. Ich beschleunige meine Schritte leicht und komme ihr immer näher. Sie bemerkt mich nicht, aber ich weiß, dass sie mir dankbar sein wird, dass ich hier bin, dass ich auf sie aufpasse. „Was…?“, höre ich sie sagen. „Hab keine Angst…“, murmele ich und schließe meine Augen. Als ich sie wieder öffne, liegt Annabell in einer Badewanne vor mir. Ihre toten Augen starren mich an. Ein glatter Schnitt geht durch ihre Kehle. Blut tropft von einer silbernen Klinge, die auf einem Hocker neben mir liegt, auf den Boden in eine riesige Lache der roten Flüssigkeit und vermischt sich damit. Kreide, die den Boden bedeckt, ist mit roten Blutspritzern besudelt. Ich habe die Kreide aus Versehen dort verteilt, als ich Annabell damit eingedeckt habe. Liebevoll nehme ich die schwarze Perücke, setze ihr diese auf den Kopf und streiche ihr vorsichtig die Haare zu Recht. Wie hübsch sie schon aussieht. Nur eine kleine Sache fehlt noch… Ich nehme das Messer wieder an mich und lasse es vorsichtig über ihre Lippen gleiten. Diese hübschen vollen Lippen, die so hässliche Worte gesprochen haben, die so verletzen können. „Für Mira…“, hauche ich. Ich verstehe nicht, dass Annabell so unvorsichtig war, ihre Freundinnen von damals Emilia, Christabel, Paula und Anastacia waren die anderen Opfer des Schneewittchen-Mörders. Nur Jessica fehlt noch auf seiner Liste. Ich werde dafür sorgen, dass sie den Auftritt als Schneewittchen bekommt, nach dem sie sich damals so gesehnt hat, sie wird mein Meisterstück werden. Ich werde ihr die große Bühne bereiten, die sie damals haben wollte, sie wird den vergifteten Apfel bekommen – es wird perfekt werden. Ich lächele in mich hinein. Manchmal vergesse ich, dass ich der Schneewittchen-Mörder bin… …und wie wundervoll es ist. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)