Blickwinkel von Capulet (Taito) ================================================================================ Kapitel 2: Teil II ------------------ Der Morgen danach verlief stressig. An dieser Stelle wäre es vielleicht zu erwähnen, dass es sich hierbei leider nicht um den Morgen nach einer durchzechten Partynacht mit sexuellen Hintergrund handelte. Es war schlichtweg der schlimmste Fall von allen eingetreten – gefühlte 10 Stunden wach gelegen, nachgedacht und zu keinem nennenswerten Ergebnis gekommen, welches sich in Sachen Zukunftsperspektive eingliedern ließ. Ich war mir nicht mehr ganz sicher, wann genau ich in die Traumwelt abdriftete, aber es mochte so zwischen 1-2 Uhr gewesen sein. Deutlich zu spät, wenn man bedachte, dass ein normaler Mensch mindestens 8 Stunden Schlaf benötigte, um fit zu sein und ein Superstar wie ich allerhöchstens 10 Stunden durchschlafen musste, um annehmbare Laune zu haben. Dementsprechend berechenbar war mein Gemütszustand mit dem ich mich um 8 Uhr aus dem Bett pellen durfte. Warum so früh, wenn ich doch erst 9 Uhr abgeholt werde? Nicht, weil gar ein entspanntes, ausgewogenes Frühstück zu mir nehmen wollte, denn hierbei blieb es bei der großen Tasse Kaffee, sondern einzig und allein der Perfektion meines Aussehens wegen. Die Haare dauerten schon einmal glatt eine halbe Stunde und das Outfit gewöhnlich genauso lange. Ich sagte zwar bereits, dass ich stinkreich, beliebt wie geliebt, begehrt, talentiert und wahrscheinlich vollkommen realitätsfern bin, aber alles andere als zufrieden mit meinem Erscheinungsbild bin ich dennoch. Es dauerte seine Zeit bis ich im Stande war mich selbst im Spiegel zu betrachten. So auch an diesem Tag. Die zu heiße Tasse wurde förmlich hinunter gekippt, so dass ich wenigstens etwas im Magen hatte und wie auf Kommando klingelte es an der Tür, nicht in einem angenehmen Ton sondern schrill und nervtötend. Zum Glück besuchte mich nie jemand. Das Einzige was ich mitnehmen musste, war mein Portmonee und meine Gitarre, mehr Identifikationsmittel brauchte ich ja nicht. Werden mich schon alle erkennen. Die darauffolgenden, am Vortag beschlossenen, Termine verliefen routiniert, ganz meinen niedrig angelegten Erwartungen entsprechend. Die Show war sterbenslangweilig, überzogen, gestellt und keine Antwort, die ich gab reichte auch nur annähernd an mein tatsächliches Leben heran. Man lachte, freute sich mit übersteigerter Euphorie über die lockere Art über mich selbst zu reden. Erstaunlich, dass sich darüber noch jemand positiv äußern konnte – wo ich doch gelernt hatte den lieben langen Tag nichts anderes zu tun. Irgendjemand musste mein egozentrischer, augenscheinlich selbstverliebter Charakter doch genauso sehr gegen den Strich gehen wie mir selbst? Doch das erhoffte Resümee sollte nicht kommen. Nicht heute, nicht morgen, vermutlich niemals. Hätte bei dem Plattenvertrag noch gestanden, ich unterzeichne, dass ich mich selbst mehr als alles andere liebe, hätte ich mir die ganze Sache möglicherweise noch einmal überlegt. Das Fotoshooting war genauso schlimm. Es schien keine Pose zu geben, in welcher ich nicht fabelhaft, außerordentlich gutaussehend, wunderschön war und anscheinend komplett verstandvernebelnd auf die Anwesenden wirkte. Ein Glück waren so die Bilder schnell im Kasten. Auf dem Titelbild meiner neuen Single sollte ich mich nämlich auf einem dieser sündhaft teuren Sofa’s aus mittelalterlichen Königszeiten rekeln, wahrscheinlich war es auch noch aus England importiert und König Henry der VII hatte persönlich darauf Platz genommen! Es konnte eben nicht exquisit genug sein. Da ich bereits an vielerlei Stellen mehr oder minder detailliert ausgeführt hatte, hielt ich nicht viel von den Menschen, die mich Tag für Tag umgaben. Dementsprechend wortkarg fiel das Essen oder besser ‚das Trinken‘ mit meinem Produzenten aus, denn niemand von uns bestellte etwas in dem überteuerten Restaurant, indem wir saßen. Es kam mir sogar vor, als wären die meisten Leute nicht hier, um gar Nahrung aufzunehmen, damit sie nicht Zuhause kochen mussten, sondern schlichtweg um ihre Anwesenheit zu präsentierten. Wirklich alles andere als erstrebenswert. Wir sollten in diesen quälend langen Gespräch von ganzen 15 Minuten nur einen Entschluss fassen: Ich sollte einfach so weiter machen wie bis her, denn so lief es ganz gut! Genau, sogar mein vermeintlich auf Gewinn orientierter Vorgesetzter hielt mich anscheinend für unfehlbar. Langsam aber sicher begann ich es selbst zu glauben. Spätestens, als ich in mein trautes Heim zurück kehrte und sogar eine alte Frau mir den Vorrang beim Eintreten in die Drehtür gewährte, wurde mir klar, dass in meinem Leben etwas absolut nicht stimmte. Es fehlte etwas, jemand, eine Sache, die mich auf dem Boden der Tatsachen hielt und nicht abheben ließ, so wie alle anderen Stars und Sternchen. Doch was war es? Das da war und irgendwie auch fehlte? Mich insgeheim dabehielt, wo ich sein sollte. Egal wie lange, wie intensiv oder wie oft ich nach diesem Vorfall noch am Abend desselben Tages darüber nachdachte, ich mochte einfach zu keinem Ergebnis kommen. Was einen unwillkürlich zu der Frage kommen ließ, wer wusste schon, warum er so war, wie er eben war? Ich hatte weder Psychologie, Pädagogik, noch sonst irgendeine Geisteswissenschaft studiert, um einen Leidfaden für dieses Problem zu finden, aber prinzipiell nahm ich mir vor, es selbst – ganz ohne fremde Hilfe herauszufinden. Früher oder Später. Heute jedenfalls nicht mehr, denn etwas störte meine weitschweifenden Gedankengänge, während ich so seelenruhig auf meinem Stammplatz der Couch hockte. Ein schrilles Geräusch ließ mich aufschrecken, ich hatte die Klingel am Morgen bereits verflucht, aber diesmal war es eher Verwunderung, die sich in meinem Gesicht abzeichnete. Ich bekam nie Besuch, geschweige denn gab es hier Nachbarn die eventuell um eine Tasse Zucker oder ein Ei bitten könnten. Wer nahm hier schon Lebensmittel in die Hand? Aber statt mich weiterhin mit der Frage zu beschäftigen, wer es denn sein könnte, denn das würde bei 7 Milliarden Einwohnern der Welt recht lange dauern, entschloss ich mich einfach nachzusehen, der Einfachheit halber. Ich stand also teilweise aus akuter Neugier aber aus der Angst heraus, diesen markerschütternden Laut noch einmal hören zu müssen auf, sah dabei recht beiläufig noch einmal an mir herab, nur um festzustellen, dass ich immer noch annehmbar aussah. Glücklicherweise hatte ich mir noch nicht die Mühe gemacht mich in eines der gefühlten 100 XXL Schlafshirts zu werfen. Nein, die enge Röhrenjeans saß einwandfrei und auch das mintgrüne Shirt mit dem leichten V-Ausschnitt war nach wie vor knitterfrei. Komme was wolle, ich war bereit. Als ich allerdings dann die Wohnungstür öffnete, dummerweise ohne vorher durch die videoüberwachte Gegensprechanlage zuschauen wer mich hier erwartete, traf mich beinahe der Schlag. Auch wenn Jahre vergangen waren, man sich nach Beendigung der Pubertät verändert hatte wie nie zuvor, auch wenn man sich seitdem nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte, auch wenn mindestens 1000 Kilometer Luftlinie zwischen uns gelegen hatten– wusste ich ganz genau, viel besser als es mir eigentlich lieb war, wer hier vor mir stand. Ich musste zugeben, im ersten Moment stockte mir förmlich der Atem, ich konnte spüren wie sich meine Augen vor Überraschung weiteten und mein Blick an dem jungen, trotz dessen durchtrainierten, Körper vor mir auf und ab wanderte, darauf bedacht sich jedes noch so kleine Detail anzusehen und zu beurteilen, ob das hier eine Sinnestäuschung oder die knallharte Realität war. Sie war es. Die braunen Haare, schon immer widerspenstig und unmöglich zu bändigen gewesen, machten eine Verwechslung unmöglich. Die braungebrannte Haut in Zusammensetzung mit den haselnussbraunen Augen, die mir beinah spöttisch entgegenblickten, hätte ich nie vergessen können. Jahrelang hatte ich sie fast täglich zu Gesicht bekommen, mal lachend, mal verärgert, mal grübelnd, mal mit Verunsicherung oder mit einem liebevollen Ausdruck hatten sie mich angesehen. Nach wie vor war er einen knappen Kopf größer als Ich, es schien nahezu als wäre keine Zeit vergangen. So gern ich es auch leugnen würde, die Person, die vor mir Stand war Tai, Taichi Yagami. Ich musste einen ziemlich bekloppten ersten Eindruck machen, wie ich so in meiner Apartmenttür stand, unfähig ein Wort über meine sonst so redefreudigen Lippen zu bringen, in meinem intensiven Starren eingefroren und mit dem Ausdruck der völligen Überforderung im Gesicht. Tai schien diesen Fakt entweder nicht zu bemerken oder gekonnt zu ignorieren, stattdessen schlängelte er sich nämlich grazil an mir vorbei um in das innere meiner heiligen Vierwände zu gelangen. Als wäre er schon öfters hier gewesen oder es das normalste der Welt in fremde Behausungen einzumarschieren. Sagen tat auch er kein Wort, nein, es machte den Anschein –zumindest wie ich das aus meinem Augenwinkel verfolgen konnte – als würde er sich erst mal der Einrichtung besehen und diese fachmännisch bewerten. Ich stand immer noch wie zu Eis erstarrt da, beobachtete ihn so gut es aus meiner momentanen Position eben ging und kam mir so blöd vor wie schon lange nicht mehr. In der gefühlten Ewigkeit, die ich als teilnahmsloser Zuschauer, überlegte ich mir hundert des sinnlosesten Gründe für seinen unvorhergesehenen Besuch. Natürlich hätte ich auch einfach nachfragen können und so das Rätsel mit einem Mal lösen, aber ich fühlte mich vollkommen fehl am Platz, unwohl in meiner eigenen Wohnung und wollte am liebsten mit sofortiger Wirkung die Flucht ins Freie ergreifen. Statt aber meinem ersten Affekt Folge zu leisten, schloss ich gegenteilig zuerst einmal die Tür, um neugierige Ohren vorerst zu enttäuschen. Jetzt hatte ich immerhin schon eine Bewegung durchgemacht und lehnte nun an der geschlossenen Tür, die Augen unaufhörlich auf den Braunhaarigen gerichtet, der sich nun völlig frei in meinen Zimmern umsah. Zuerst führte ihn sein Weg in das riesige Wohnzimmer, was ja unwillkürlich das erste Zimmer war, in welches man sich nach der Tür begeben musste. Von dort aus in die Küche, ins Bad und letztendlich in mein Schlafzimmer. Den Balkon mit der fantastischen Aussicht auf die gesamte Stadt bemerkte er nur flüchtig, schenkte ihm aber keine weitere Beachtung. Nach dem eigenständigen Rundgang, den ich weiterhin nur von der Tür aus registrieren konnte, schloss Tai das Ganze mit einem fast ironisch klingenden: „Schön hast du es hier.“ ab. Erwidern konnte ich darauf nichts. Ich hätte nicht gewusst was, es erforderte schon alleine eine ganze Menge Überwindung mich überhaupt von der, in meinem Rücken angenehm kühlen, Tür wegzubewegen. Aber ich schaffte es nahtlos einen Fuß vor den anderen zu setzen, obwohl ich das Gefühl hatte, ich würde sogleich den Boden unter genau diesen verlieren. Nicht mal die Kraft mich über meine verletzte Privatsphäre zu beschweren hatte ich. Langsam, schier zögerlich begab ich mich schließlich in den Raum, wo Tai ebenfalls zum Stehen gekommen war – das größte Zimmer, den Wohnbereich. Wir wirkten beide nicht minder deplatziert, ich in meiner zusammengezogenen Haltung mit verschränkten Armen, kam mir kümmerlich vor und er in seiner weiten Jeans und dem sportlichen Shirt passte ganz und gar nicht zum Rest der schicken Einrichtung. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, für ein normales ‚Hallo‘ begleitet von einem aufgesetzten Lächeln, war es längst zu spät. Für ein grobes ‚Was willst du hier?‘ allerdings noch zu früh. In diesem vermeintlichen Zwiespalt gefangen, schob ich Tai die Aufgabe zu die bedrückende Stille zu durchbrechen. Anscheinend hatte er es nicht sonderlich eilig, im Gegenteil, als nächstes ließ er sich auf der schwarzen Ledercouch sinken, machte es sich bequem und verbreitete somit die unmissverständliche Ansage, dass er nicht vor hatte allzu bald wieder zu gehen. Mich wunderte nur, dass er nicht gleich auch noch den Fernseher einschaltete. Vielleicht wäre es schlauer gewesen mich ebenfalls hinzusetzen, allein wegen der akuten Angst ich könnte jeden Moment umfallen, so sehr brachte mich diese neue Situation aus dem Konzept, aber ich blieb stehen. Es brachte mir ein bisschen mehr von dem an der Tür zurückgelassenen Selbstvertrauen zurück, wenigstens größer als mein Gegenüber zu sein. Hätte ich doch nur den Hauch einer Ahnung gehabt, was ich ihm sagen soll. Im nächsten Moment nahm der Braunhaarige mir alle meine Überlegungen ab, indem er Dinge aussprach, mit denen ich am allerwenigsten gerechnet hatte. „Es hat wirklich verdammt lange gedauert dich zu finden. Es war nicht schwer deinen Wohnort herauszufinden, so oft wie du im Fernsehen bist… aber der Rest, hätte ich genauso gut bei jedem einzelnen Bewohner klingeln können.“, er machte eine beiläufige Handbewegung, sprach in demselben Tonfall der mir noch so bildhaft in Erinnerung war. Gelassen, ruhig und doch mit diesem Witz, der auf jeden Gesprächspartner ungewollt charismatisch wirkte. Als wäre unser letztes Treffen erst gestern gewesen, nicht 2 oder fast 3 Jahre her. Ich wöllte es wäre gestern gewesen. Aber das war es nicht. Mit den 1000 km Entfernung hatten sich auch die Dinge, die zwischen uns standen summiert, umso irritierter war ich über sein Auftreten. Zwischen uns lagen Welten, damals, früher hatte ich allem und jeden den Rücken gekehrt, war der festen Überzeugung gewesen ich müsse gehen, allein – auf mich gestellt zurechtkommen, hatte dabei so viel Vertrauen in meine Plattenfirma gelegt. Sie haben mich hinsichtlich des Erfolges nicht enttäuscht, ich hatte alles was ich als Kind einer mittelständischen Arbeiterfamilie je haben wollte. Überflüssig zu sagen, dass ich aufgrund meiner durcheinanderwirbelnden Gedankengänge nicht fähig war zu antworten. Ich blieb stehen, starrte Tai an, als wäre er das ungewöhnlichste Geschöpf auf Erden, welches sich je in meiner Unterkunft befunden hatte. Zugeben, er war es. Tai machte nicht den Eindruck, als hätte er auf eine Antwort meinerseits gewartet, nein, es stellte sich heraus: er wollte auch gar keine. Er nutzte meine Schweigsamkeit, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen. „Ich denke ich werde wegen der Mühen, die ich mir deinetwegen gemacht habe, eine Weile bleiben. Die Stadt ist schön und die Menschen scheinen nett zu sein.“, mit diesen Worten lehnte er sich entspannt zurück, schloss sogar friedvoll die Augen. Derweil spürte ich wie sich meine unweigerlich weiteten, der Schock stand mir ins Gesicht geschrieben und das nicht nur, weil Tai den Entschluss gefasst hatte zu bleiben ohne mich vorher zu fragen, sondern auch weil ich langsam befürchtete durch diese vielen Überraschungen eine Herzattacke zu erleiden. Ich war zu paralysiert, um zu widersprechen und mein monotones Schweigen wurde selbstverständlich als Zusage interpretiert. Wo keine Widersprüche existierten, war bekanntlich auch kein Problem. Normalerweise hätte ich mir eine solche Dreistigkeit nie bieten lassen – falsch, eigentlich wagte es kein existierender Mensch auf Erden mit einer solchen bodenlosen Frechheit über mich herzufallen, vielleicht war es gerade dieses regelreche Überfallen was mich komplett aus der Fassung zu bringen vermochte. Niemand hätte es je gewagt – aber Tai war nicht niemand, er war jemand – der jemand. Der eine jemand, den Zwänge, Regeln und vor allem soziale Stände nicht interessierten. Es war als würde er nicht den Superstar Matt besuchen, sondern den Freund als Schulzeiten Yamato, den Menschen hinter dieser ganzen Fassade. Und er tat es, ja, ich wusste es nicht, vermutete aber aus dem einfachen Grund: weil er es eben konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)