Die Seele der Zeit von Sechmet (Yu-Gi-Oh! Part 6) ================================================================================ Kapitel 60: Echo ---------------- Echo Gemäßigten Schrittes ging Atemu die Säulenreihen entlang, die die Tempel säumten. Es war früh am Morgen und die Hitze des Tages noch fern. Größtenteils lagen die prächtigen Bauten, von denen der Pharao umgeben war, im Schatten. Der Wind blies sanft und wandelte sich hier und da zu einem leisen Heulen, wenn er durch die verwinkelten Anlagen des Tempelbezirks streifte. Eine feierliche Ruhe lag über dem Ort, wie man sie außerhalb seiner Umgrenzungen vergeblich suchte. Doch Atemu wusste, dass es damit bald vorbei sein würde. Auch die Tempel der Götter Ägyptens würden vom Kampfeslärm erfüllt sein, die Schreie Sterbender und Verwundeter würden selbst bis hier hin zu hören sein und von den Wänden widerhallen. Sie hatten schwer gearbeitet in den vergangenen Umläufen und zwischenzeitlich hatte es sich angefühlt, als sei Caesian noch weit entfernt. Doch die Realität hatte sie rasch wieder eingeholt. Den neusten Berichten der Späher zufolge war der Feind noch etwas mehr als einen Tagesritt entfernt, spätestens morgen würde er vor ihren Toren stehen. Und dann gab es kein Zurück mehr. Sie waren bereit, hatten alles in ihrer Macht stehende getan, um sich auf dieses Zusammentreffen vorzubereiten. Und dennoch fühlte es sich nicht danach an, trotzdem war es, als hätten sie mehr tun können. Auch wenn ihr Verstand die Wahrheit kannte, ihre Herzen wollten nicht rasten, suchten weiterhin nach Wegen, um Caesian so viele Steine wie möglich in den Weg zu legen. Auch Atemu war da keine Ausnahme, obgleich er wusste, dass dem nicht so war. Und doch hatten ihm die kreisenden Gedanken bei Zeiten den Schlaf geraubt, seine ruhelose Seele ihn aus dem Bett getrieben und hierher geführt, bis in den Hof, den er soeben erreichte. Er war an sein Ziel gekommen. Langsam näherte er sich zwei Statuen, die kaum größer als ein hochgewachsener Mann waren. Sie beide zeigten eine sitzende Frau, die ein Ankh in der linken Hand hielt. Ihr Kopf war jedoch nicht der eines Menschen. Stattdessen blickte Atemu auf die Züge einer Löwin, auf deren Stirn die Uräusschlange thronte. Ihre steinernen Augen starrten leblos zurück – und dennoch fühlte der Pharao in ihrer Gegenwart eine Präsenz, ganz so, als würde er von jemandem beobachtet. Nachdem er noch einen Augenblick länger in eines der bewegungslosen Antlitze gesehen hatte, neigte er das Haupt und ging auf die Knie. So verharrte er einen Moment, ehe er sich wieder erhob. „Ich grüße Euch, Sachmet. Ich bin gekommen, um in dieser uns bevorstehenden schwersten Stunde ein letztes Mal um Euer Gehör zu bitten.“ Er hielt kurz inne, das Flüstern des Windes das einzige Geräusch, das an seine Ohren drang. „Ich habe Fragen. So viele Fragen … und auf keine weiß ich die Antwort. Ich bin nicht einmal sicher, ob Ihr und die Euren in der Lage wärt, sie zu beantworten. Doch an wen, wenn nicht an Euch, soll ich sie richten? Vielleicht seid Ihr in der Lage, mir wenigstens ein Zeichen zu geben, auch wenn es noch so unscheinbar sein mag.“ Seine Augen ruhten auf dem kunstvoll geschliffenen Fels, während der Wind sein Gesicht umspielte. Was erhoffte er sich hiervon? Er wusste es nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass das hier zu nichts führen würde, war hoch. Doch selbst, wenn es zu nichts anderem führte, als sich den Ballast von der Seele zu reden, so würde es schon helfen. In diesen Stunden, da sie im Begriff waren, ihrer größten Herausforderung entgegen zu treten, durfte er die Anderen nicht verunsichern. Er wusste, auf Yugi und seine Freunde konnte er sich verlassen, sich jederzeit an sie wenden – doch wollte er sie nicht belasten. Sie alle hatten ihre ganz eigenen Ängste, ihre eigenen Fragen, die er ebenso wenig würde beantworten können, wie sie die seinen. Er musste ihnen nicht noch eine weitere Bürde auferlegen. Und doch würden sie es dir übel nehmen, wüssten sie, dass du deine Bedenken eher bei einem Felsbrocken ablädst, als bei ihnen. Atemu fuhr auf dem Absatz herum, nur um sich Angesicht in Angesicht mit einer gewaltigen schwarzen Löwin zu finden. Die goldenen Ornamente, mit denen sie geschmückt war, verursachten kein Geräusch, während sie sich bei jedem ihrer Schritte wiegten. „Sachmet“, äußerte er verwundert, ehe er sich rasch eines besseren besann und noch einmal auf die Knie ging. „Ich grüße Euch und danke Euch für Eure Anwesenheit. Ich hatte nicht damit gerechnet, Euch noch einmal zu begegnen.“ Die Göttin ließ ein amüsiertes Schnauben vernehmen. Wie ich sehe, sind deine Manieren verlässlicher, als bei unserem letzten Zusammentreffen. Erhebe dich, Götterkind. Atemu tat, wie ihm geheißen, während Sachmet begann, ihn langsam zu umkreisen. Wie schon bei unserer letzten Begegnung, ist meine Zeit in dieser Sphäre auch diesmal begrenzt, Mensch. So sprich: was ist es, das du zu erfahren wünscht? Ich spüre Unsicherheit in dir … und Fragen … noch immer so viele Fragen in so einer jungen Seele. Sie hielt inne, nachdem sie ihn einmal umrundet hatte. Doch sei gewarnt: Ich werde sie dir nicht alle beantworten können. Vielleicht auch keine einzige … Der Pharao nickte. „Wie ich bereits sagte, ich hatte nicht mit Eurem Erscheinen gerechnet. Eigentlich war es mein Vorhaben, mich an Eurem Abbild auszusprechen.“ Weswegen ausgerechnet an dem meinen?, drang die Frage an sein Bewusstsein. Wieder schwang dieser amüsierte Unterton mit. „Ich weiß es selbst nicht. Vielleicht, weil Ihr die einzige Gottheit seid, der ich schon einmal persönlich begegnet bin.“ Ich verstehe. Doch nun sprich endlich, Götterkind. Was ist es, das du mir anvertrauen wolltest? Atemu schien einen Moment zu überlegen. „Eine Menge. Doch Ihr wärt nicht in der Lage, auch nur eine dieser Fragen zu beantworten oder ein einziges meiner Bedenken, was die Auseinandersetzung mit Caesian angeht, aus dem Weg zu räumen, ohne in das Schicksal einzugreifen. Ich erinnere mich an Eure Worte.“ Das ist löblich, Mensch. Deinesgleichen neigt zum Vergessen. Doch ich spüre, dass da dennoch etwas ist, das du an mich richten möchtest. „Da habt Ihr Recht. Es wäre töricht, diese Chance verstreichen zu lassen, auch wenn diese Frage nur am Rande mit dem zu tun hat, was uns bevorsteht – doch eine Antwort würde mir vielleicht bei dem helfen, was danach kommt, sollte es ein Danach geben.“ Sprich. Er zögerte nur einen Wimpernschlag, dann äußerte er die Worte, die ihm auf der Zunge brannten. „Was geht in Kul-Elna vor sich? Und welche Rolle spielen die Überlebenden des Massakers?“ Überraschten Sachmet diese Worte, so zeigte sie es nicht. Atemu glaubte jedoch, erkennen zu können, dass sich ihre Miene verfinsterte. Sein Eindruck wurde kurz darauf bestätigt, als sie sprach. Was implizierst du mit deiner Wortwahl, Geschöpf? „Was ich impliziere, ist, dass Ihr in irgendeiner Weise etwas mit den Lebenswegen von Bakura, Risha und Keiro zu tun haben müsst.“ Und was gibt dir diesen Eindruck?, fragte die Stimme in seinen Gedanken, lauernd. „Ich weiß es nicht“, erwiderte er ehrlich. „Ich kann nicht sagen, was mich dazu treibt, diese Vermutung aufzustellen. Es ist lediglich ein Gefühl, dafür jedoch ein beharrliches.“ Zwischen Göttin und Geschöpf herrschte Schweigen. Sachmet musterte ihn eindringlich. Du irrst, Menschlein. Scheinbar ist dein Gedächtnis doch nicht so gut, wie du mich hast hoffen lassen. Erinnerst du dich nicht mehr daran, dass es mir, ebenso wie allen anderen Göttern, verboten ist in das Schicksal des Einzelnen einzugreifen? Erklärte ich dir nicht gar die Konsequenzen, die solches Handeln nach sich ziehen könnte? „Das tatet Ihr. Genauso wie Ihr meintet, Ihr dürftet Euch noch nicht einmal in dieser Sphäre aufhalten – und doch seid Ihr hier. Ihr seid hier, schon ein zweites Mal erscheint Ihr mir. Ihr schicktet mir den Hinweis, der mich zur Seele der Zeit führte, einem Dokument, das hätte verborgen bleiben sollen. Ihr habt meinen allergrößten Respekt, Sachmet – doch, mit Verlaub, es wäre nicht das erste Mal, dass Ihr die Regeln brecht.“ Ein Knurren entstieg der Kehle der schwarzen Löwin. Ich verstehe … deswegen bist du also Horus‘ kleiner Liebling … Sie begann, ihn erneut zu umkreisen. Du zeigst keine Angst, noch nicht einmal vor denen, die dich und deinesgleichen einst geschaffen haben. Du bist mutig, ohne Zweifel … doch ebenso anmaßend. Du und Horus, ihr ähnelt euch wahrlich – auch darin, das ihr beide scheinbar unwissend um die natürliche Rangordnung seid, fauchte sie, ehe sie abrupt vor ihm stehen blieb. Ich könnte dich hier und jetzt vernichten, Menschlein. Doch leider brauchen wir dich noch. „Wie ich bereits sagte, war es nicht meine Intention, Euch zu beleidigen, Sachmet. Ich bitte um Verzeihung, sollte genau das dennoch passiert sein. Alles, was ich möchte, sind Antworten. Die Zusammenhänge sind zu eng, als dass es sich dabei um einen Zufall handeln könnte. Und nebenbei verrät Euch Euer Verhalten. Wären meine Vermutungen aus der Luft gegriffen, gänzlich haltlos, so hättet Ihr anders reagiert.“ Die Gottheit musterte ihn einen Moment lang eindringlich. Glaube, was du willst, Geschöpf, denke, was du willst. Doch du tätest gut daran, dich auf deine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren. Caesian ist nicht gezwungen, dich ungeschoren davonkommen zu lassen, so wie ich es bin. Damit wandte sie sich zum Gehen. Atemu versuchte nicht, sie zurückzuhalten. Er wusste instinktiv, dass es keinen Sinn haben würde, sie weiter zu löchern. Sachmet hatte die Schatten, denen sie entstiegen war, beinahe erreicht, da hielt sie doch noch einmal inne. Wo du gerade von Regeln sprachst, Mensch – hatte ich bei unserem letzten Zusammentreffen bereits erwähnt, dass die von mir beschriebenen Gesetze, was das Schicksal anbelangt, nur für diese Sphäre gelten? Atemu legte die Stirn in Falten. „Nein, das habt Ihr nicht. Aber wenn dem so ist, wieso betrifft das, was hier vorgeht, dann die Götter Ägyptens? Wäre es nicht ein Leichtes für euch, euch einfach in eine andere Sphäre zu begeben und diese hier sich selbst zu überlassen?“ Oh, glaube mir, der Gedanke ist mehr als verlockend. Doch mit unseren Relikten ist ein Teil unserer Selbst in dieser Sphäre verwurzelt – ansonsten hätte ich all dem hier schon längst den Rücken gekehrt. Was ich jedoch eigentlich zu sagen gedachte … Sie wandte den Blick nicht um, als sich der Ton der Stimme, die in Atemus Gedanken widerhallte, verfinsterte. Du hast Recht, in dieser Sphäre sind meine Handlungsmöglichkeiten begrenzt. Doch du solltest beim nächsten Mal besser darauf achten, wie du dich an mich wendest, Geschöpf – denn wie ich schon sagte, das Schicksal ist nur hier die oberste Macht. Was das Totenreich angeht, so herrschen dort andere Regeln. Unsere Regeln. Damit war sie nach einem Wimpernschlag verschwunden, als habe sie nie vor ihm gestanden. Und doch war sie da gewesen – und hatte Atemu, ohne auf seine Frage auch nur im Geringsten einzugehen, doch mehr Antworten gegeben, als er erwartet hatte, zu finden. Warum? Seitdem er Theben verlassen hatte, stellte er sich stets ein und dieselbe Frage, war nicht im Stande, sie aus seinen Gedanken zu vertreiben. Er vermochte kaum zu schlafen. Eine lange nicht mehr verspürte Unruhe hatte von ihm Besitz ergriffen und trieb ihn weiter und weiter. Warum Kul-Elna? Für ihn war selbstverständlich gewesen, dass er als Einziger den Fundort des letzten Reliktes aufsuchen würde. Und doch hatte es ihn ungekannte Überwindung gekostet, sich dafür zu entscheiden. Es war keineswegs so, dass Bakura das Dorf – oder viel mehr das, was davon übrig war – fürchtete. Noch viele Jahre nach den schrecklichen Ereignissen war er dort gewesen, hatte dort gelebt. Unzählige Nächte hatte er an dem Ort zugebracht, wo seine Familie auseinander gerissen worden war, hatte dort geruht, wo sie gestorben waren. Doch damals war es anders gewesen. Er hatte eine Zukunft vor Augen gehabt. Er und die rastlosen Seelen Kul-Elnas. Sonnenlauf für Sonnenlauf, Nacht für Nacht hatte er ihren flüsternden Stimmen gelauscht, bis sie ihn in den Schlaf getragen hatten. Aber nun war es dort still. Sie waren fort, das Dorf endgültig verwaist, tot. Wegen ihm. Er hatte versagt. Er hatte ihnen die Rache versprochen, die ihnen gebührte nach all dem, was sie erlitten hatten. Er hatte sie herbeiführen sollen – und es nicht vermocht. Bakura hatte nicht vorgehabt, nach Kul-Elna zurückzukehren. Das Schicksal hatte es scheinbar ohnehin nicht für ihn vorgesehen, sonst wäre er nicht im Kampf gegen Atemu ums Leben gekommen und in die Unterwelt eingezogen. Doch der Schein hatte getrogen. Man hatte ihn wieder in diese Sphäre geschickt, aber er hatte nie das Verlangen verspürt, an den Ort seiner Geburt, seinen Ursprung, an dem so viel Blut klebte, zurückzukehren. Und nun war er hier, in den Weiten der Wüste, auf dem Weg dorthin, wo alles begonnen hatte. Sein Leben, seine gescheiterte Rache. Und wieder tat er dies mit leeren Händen. Kein Kopf eines Pharao, kein Blut eines Königs, das er auf dem Boden vergießen konnte, wo so unglaublich viele Seelen ihren letzten Atemzug getan hatten. Warum? Warum wieder einmal Kul-Elna? Abrupt zügelte er das Pferd und brachte es schließlich zum Stehen. Für einen Moment starrte er nur ins Leere, dann stieg er ab. Kurz sammelte er seine Kräfte, dann erschien Diabound neben ihm. Er musste herausfinden, was in dem Dorf vor sich ging, warum dieses Relikt ausgerechnet dort verborgen war. Er hatte keine Geduld mehr. Auch sein Ka spürte das. Ohne, dass auch nur ein Wort zwischen ihnen gewechselt wurde, hielt ihm das Monster die geöffnete, klauenbewehrte Hand hin. Der Grabräuber zögerte nicht und stieg auf. Das Biest hatte genügend Kraft. Sie würden Kul-Elna in etwa einem Sonnenlauf erreicht haben. „Du weißt, wohin du musst“, murmelte er und die mächtigen Schwingen begannen zu schlagen, trugen Wesen und Träger hoch in die Lüfte und dem einen Ort entgegen, der ihr Schicksal war. Als Atemu in den Palast zurückkehrte, lag die Stille wie ein Leichentuch über dem Ort. Ein Eindruck, der von der Dunkelheit, die sich längst über die Stadt gesenkt hatte, noch verstärkt wurde. Kaum ein Geräusch drang aus den unzähligen Zimmern hervor. Dennoch führte ihn sein Weg nicht in seine Gemächer, sondern zum Speisesaal. Er wusste, dass sie dort sein würden und tatsächlich sollte er sie in dem Raum vorfinden. An der langen Tafel in der Mitte des Zimmers saßen die Personen, die über all die Zeit, die er mit ihnen verbracht hatte, zu aufrichtigen Begleitern und guten Freunden geworden waren. Keiner von ihnen sagte ein Wort, während sie so da saßen. Auch, als er eintrat, wurde zunächst nicht gesprochen. Es war schließlich Yugi, der die Stille als Erster durchbrach. „Du bist zurück.“ Der Pharao nickte zur Antwort, während er sich bei ihnen niederließ. „Ja. Es gab noch einiges zu tun.“ Schweigen senkte sich wieder über sie, bis es dann schließlich Ryou war, der eine Frage in die Runde warf. „Wir werden es schaffen, nicht wahr? Ich meine … jetzt, nach allem was wir getan haben, müssen wir es einfach schaffen, oder?“ „Und ob wir das werden“, gab Joey mit entschlossener, aber ebenso müder Stimme zurück. „Caesian wird sich wünschen, er wäre nie geboren worden, wenn wir mit ihm fertig sind.“ „So ist es. Wir machen ihn fertig“, pflichtete ihm Tristan bei, der genauso erschöpft klang. Auch sie alle hatten einen anstrengenden Tag hinter sich gebracht. Neben der Anlage weiterer Fallen hatten sie sich noch einmal einen leeren Platz in der Stadt gesucht und mit ihren Waffen geübt. Duke und Tristan hatten sich darüber hinaus in den letzten Umläufen mit ihren Ka-Bestien vertraut machen müssen, eine Aufgabe, die nicht zu unterschätzen war. Gerade Qi hatte hierbei eine Herausforderung dargestellt. Mehr als einmal hatte sich Tristan in den Augen der Zwillingsseele unmanierlich ausgedrückt und dafür die eine oder andere Retourkutsche bekommen. Duke hatte nicht schlecht gestaunt, als sein braunhaariger Kumpane plötzlich knapp zehn Meter hoch in der Luft schwebte. „Wir werden ihm alles entgegensetzen, was wir zu bieten haben“, stimmte nun auch Tea nach kurzer Stille zu. „Aber wir dürfen uns keinesfalls überschätzen. Caesian ist und bleibt gefährlich. Ihn nicht ernst zu nehmen, wäre ein fataler Fehler.“ „Damit hast du Recht“, pflichtete Marik ihr bei. „Doch ich denke nicht, dass du dich darum sorgen musst. Nach allem, was passiert ist, würde ein hohes Maß an Ignoranz dazu gehören, um ihn nicht für das zu halten, was er ist: eine ernstzunehmende Bedrohung.“ „Richtig. Aber auch er ist nur ein Mensch. Wir können ihn bezwingen, wenn wir nur an uns glauben und zusammenhalten“, fügte Yugi hinzu, woraufhin er zustimmendes Murmeln von allen Seiten erhielt. Auf Atemus Züge stahl sich bei diesen Worten ein leichtes Schmunzeln. Es war Mal um Mal faszinierend zu sehen, wie sich der Kleinere im Laufe ihrer Freundschaft weiterentwickelt hatte. Aus dem einst schüchternen Jungen ohne einen Funken Selbstbewusstsein war eine tapfere, starke Seele geworden. „Habt ihr die Anderen gesehen?“, fragte er schließlich in die Runde. „Mana hat sich bereits zurückgezogen“, antwortete Tea. „Die letzten Tage haben ihre magischen Kräfte sehr beansprucht. Sie muss sich ausreichend erholen, ehe wir auf Caesian treffen.“ „Allerdings. Marlic und Seto sind noch nicht zurück. Riell wollte noch einmal nach den Schattentänzern sehen, sich dann aber auch bald hinlegen“, führte Yugi weiter aus. „Ich weiß nicht, ob du es schon gehört hast, aber Sam ist seit heute Mittag wieder zurück.“ „Ist sie das?“ „Ja. Scheinbar hatte sie versucht, die desertierten Soldaten zum Umkehren zu bewegen. Leider hatte sie jedoch keinen Erfolg.“ „Verstehe …“, erwiderte Atemu und schwenkte das Wasser, das er sich soeben eingegossen hatte, nachdenklich im Becher umher. Dann ließ er den Blick noch einmal umher schweifen. „Es gibt noch etwas, das ich euch sagen möchte, ehe wir Caesian morgen gegenübertreten.“ „Das da wäre?“, erkundigte sich Joey mit hochgezogener Augenbraue. „Ich möchte euch danken – für alles, war ihr getan habt, um Ägypten zu beschützen. Wie schon so oft zuvor seid ihr tapfer an meiner Seite gestanden, habt der Gefahr furchtlos ins Auge gesehen und dabei keinerlei Bedingungen gestellt. Ihr habt aber nicht nur das getan, nein, sondern noch viel mehr. Nicht nur habt ihr euch dieser Bedrohung, mit der wir uns konfrontiert sehen, gestellt, auch habt ihr dafür gesorgt, dass es weitergeht. Dann, wenn ich geglaubt habe, es ginge nicht mehr, als hätten wir bereits alles in unserer Macht stehende getan, kamt ihr und habt mich daran erinnert, dass das noch längst nicht der Fall war, dass ich aufstehen und weitermachen musste, weil das Ende noch fern war. In den dunkelsten Stunden meines Lebens seid ihr für mich da gewesen und habt mir gezeigt, dass Aufgeben niemals eine Option sein darf, wenn man die beschützen möchte, die man liebt. Und dafür meine Freunde, bin ich euch auf ewig dankbar, gleich was morgen geschehen wird. Ohne euch wäre dieser Krieg längst verloren und keiner von uns mehr hier. Und auch, wenn in der Zeit, aus der ihr kommt, nie jemand erfahren wird, was ihr hier geleistet habt, so will ich doch, dass ihr wisst, dass das, was ihr für Ägypten bereit wart zu tun, mich mit größter Dankbarkeit erfüllt. Ich stehe auf ewig in eurer Schuld, meine Freunde. Auf euch!“ Atemu hob den Becher und die Anderen taten es ihm nach, während sich ihre Gesichter ein wenig aufhellten. Sie alle tranken den Inhalt ihrer Behältnisse auf einen Zug aus. Joey knallte sein Gefäß daraufhin auf die Tischplatte, um sich die Aufmerksamkeit seiner Kameraden zu sichern. „Das können wir nur zurückgeben, Alter“, sagte er und erntete Zustimmung von allen Seiten. „Und du hast unser Versprechen, dass wir Caesian morgen dermaßen eins überziehen werden, dass er nicht mehr weiß, wo oben und wo unten ist. Den Kerl machen wir platt!“ Riell wandelte durch die Gänge des Palastes. Eigentlich hatte er sich längst zurückziehen wollen, doch er hatte keine Ruhe gefunden. Es gab da noch etwas, das er tun musste, ehe der morgige Tag anbrach. Nach einer Weile erreichte er sein Ziel, eine einfache, geschlossene Holztür. Er zögerte einen Moment, atmete kurz durch, ehe er klopfte. Er erhielt keine Antwort. Auch beim zweiten Mal nicht. Für einen Augenblick dachte er darüber nach, es dabei zu belassen, entschied sich dann jedoch dagegen. Sobald sich die Sonne erhob, würden sie Caesian gegenüberstehen. Und dann musste er sich allen Rückhalts sicher sein, den er haben konnte. Vorsichtig legte er also die Hand auf die Klinke und öffnete die Tür. Der dahinterliegende Raum lag weitestgehend im Dunkeln. Lediglich durch das Fenster fielen ein paar vereinzelte Mondstrahlen herein und verdrängten die Finsternis. Doch das wenige Licht genügte, um zu finden, wonach er gesucht hatte. Auf dem Fenstersims saß eine Gestalt, den Umhang fest um die Schultern gezogen. Die Beine hatte sie an den Körper gepresst, den Kopf darauf gelegt, während ihr Blick auf die dunkle Stadt gerichtet war. Er konnte erkennen, dass sie sich eilig mit einem Zipfel ihrer Kleidung über das Gesicht rieb, als er näher kam. Sie hatte geweint. „Was plagt dich?“, durchbrach er die Stille schließlich, während er sich in einem Sessel nahe dem Fenster niederließ. Zunächst antwortete sie nicht, lediglich ein Schniefen war zu hören. Er gab ihr die Zeit. Was immer dort draußen in der Wüste geschehen war, es hatte sie erschüttert, so viel stand fest. „Ich …“, setzte sie schließlich an und brach wieder ab. Sie wollte darüber sprechen, wusste jedoch nicht wie – nicht nach allem, was sie Riell erst kürzlich an den Kopf geworfen hatte. Der Schattentänzer bemerkte dies und entschied sich, ihr Hilfestellung zu geben. „Ich habe gehört, du hättest versucht, die desertierten Soldaten zum Umkehren zu bewegen. Da du alleine zurückgekommen bist … es hat nicht funktioniert?“ „Hat es nicht“, brachte sie schließlich mit erstickter Stimme hervor. „So feige …“ Riell seufzte. „Nicht jeder ist mit Mut gesegnet. Aber … ich glaube nicht, dass es das ist, was dir solchen Kummer bereitet.“ Sie zögerte, schüttelte schließlich aber zur Antwort den Kopf. „Was ist es dann?“ Er konnte ihr ansehen, dass sie mit sich selbst rang. Letztendlich kamen die Tränen erneut. Das Clanoberhaupt gab ihr einen Moment, um sich selbst zu fangen. Als dies jedoch ausblieb, stand er auf und ging zu ihr hinüber. Riell legte ihr einen Arm um die Schulter und Samira ließ sich bereitwillig gegen ihn sinken. Ihr Schluchzen wurde stärker, während sich ihre aufgewühlten Gefühle einen Weg bahnten. Er strich ihr fürsorglich über den Oberarm, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. Erst dann wagte er, sie erneut nach dem Grund für ihrem Kummer zu fragen. Diesmal ließ die Antwort nicht lange auf sich warten. „Ich will ihn hassen!“, stieß sie hervor. „Ich will ihn hassen, weil es das Einzige ist, was ich kann, was ich kenne! Aber ich kann es nicht mehr! Weil … weil … es ist nicht seine Schuld! Nicht …“ Sie brach erneut ab. Doch Riell hatte genug gehört. Und obgleich sie bitterlich weinte, war ein kleines Lächeln versucht, sich auf seine Züge zu stehlen. Vater … es gibt noch Hoffnung. Es war eine Wohltat, das kühle Wasser des Nils auf ihrer Haut zu spüren. Ohne zu zögern tauchte Kisara ihre Hände ein weiteres Mal in die Fluten und benetzte sich noch einmal das Gesicht. Wie so oft stand auch am heutigen Tag die Sonne hell am Himmel und warf ihre sengenden Strahlen erbarmungslos auf das Land nieder. Lediglich die Kapuze eines dünnen, grauen Mantels schützte ihre bleiche Haut vor Schaden. Kaum, da sie sich erfrischt hatte, wanderte ihr Blick zu der Gestalt hinüber, die bei den Pferden zurückgeblieben war und auf die endlosen Weiten der Wüste hinaussah. Seitdem sie und Taisan Men-nefer verlassen hatten, hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Und doch fühlte sie sich in seiner Gegenwart inzwischen wesentlich sicherer, als bei ihrer ersten Begegnung. Er behandelte sie gut, sorgte dafür, dass sie genug zu essen und zu trinken bekam, auch wenn er ihnen kaum eine Rast gönnte. Sie ruhten immer nur für wenige Stunden in der größten Mittagshitze oder hielten an, um ihre Wasservorräte aufzufüllen, ehe sie ihren Weg schleunigst fortsetzten. Er wirkte unruhig, rastlos. Es war offensichtlich, dass er so schnell wie möglich zu Caesian aufschließen wollte. Aber warum? Alles, was er immer wieder erwiderte hatte, wenn sie ihm diese Frage stellte, war, dass er dorthin wolle, um Antworten zu finden. Doch worauf? Immer wieder sagte ihr eine innere Stimme, dass sie vorsichtig sein musste, dass sie vielleicht gerade jemanden nach Theben führte, der am Ende nur noch größere Probleme für Ägypten bedeuten würde. Ihre Eingebung jedoch hielt dagegen. Irgendetwas sagte ihr, dass dem nicht so war, dass sie ihn dorthin bringen musste. Und trotzdem wollte sie sich sicher sein, ehe es kein Zurück mehr gab. Langsam erhob sie sich und ging zu ihm hinüber. Er wandte sich nicht um, als sie ihn erreichte, bemerkte sie aber dennoch. „Können wir weiterziehen?“, drang seine Stimme unter der versilberten Maske hervor. Kisara kaute kurz auf ihrer Unterlippe herum, überlegte, wie sie ihre Frage am besten formulierte, ohne direkt einen Verdacht zu implizieren. Schließlich entschied sie sich, dass sie nicht darum herum kam. „Das können wir – aber erst, wenn Ihr bereit seid, mir zu sagen, weswegen Ihr so plötzlich nach Theben wollt.“ Taisan schwieg einen Moment. „Du kennst meine Antwort bereits.“ „Das mag sein. Doch sie genügt mir nicht.“ Erst jetzt drehte er sich zu ihr um, sah sie unter der Maske hervor forschend an. Als er nichts sagte, fügte sie hinzu: „Ihr sucht nach Antworten. Das tue ich ebenfalls. Warum soll ich Euch dorthin bringen? Was habt Ihr vor?“ Auch diesmal antwortete er nicht sofort. „Du bist besorgt. Um den König und die seinen?“ „So ist es.“ Taisan nickte. „Ich verstehe. Doch ich vermag nicht, dir mehr zu sagen, als dass sie nichts vor mir zu befürchten haben – sofern sie die Menschen sind, von denen du berichtet hast.“ Sie verstand nicht gänzlich, was er damit meinte. Doch das Gefühl, dass sie ihm vertrauen konnte, wurde stärker. Dennoch kam sie nicht umhin, eine weitere Frage an ihn zu richten. „Und wer garantiert mir, dass Ihr die Wahrheit sagt?“ „Das tut niemand. Ich fürchte, du wirst dich auf dein Gefühl verlassen müssen. Doch ich denke, ich brauche mich, was das betrifft, nicht zu sorgen.“ Damit wandte er sich ab und schritt zu einem der Pferde hinüber. „Können wir?“ Kisara zögerte nur einen Wimpernschlag lang, dann folgte sie ihm. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie es tat. Das Einzige, worauf sie sich in diesem Augenblick verließ, war ihre Eingebung – doch diese war in vielen Fällen schon die höchste Kraft gewesen, die sie besessen hatte. Kisara war nicht stark, sehr gebildet oder besonders schön. Das wusste sie. Es gab stärkere, klügere und hübschere Menschen als sie. Doch mit all den Jahren als Ausgestoßene hatte sie gelernt, auf ihren Instinkt zu vertrauen – und der sagte ihr, dass von Taisan keine Gefahr ausging. Darauf musste sie vertrauen. Schließlich ließen sie die schattenspendenden Ufer des Nils hinter sich und trieben ihre Pferde weiter nach Süden. Nach einer Weile bemerkte Kisara, dass die Augen des Anderen immer wieder auf ihr ruhten. Anfangs versuchte sie noch, den forschenden Blick zu ignorieren, doch irgendwann vermochte sie es nicht mehr. „Ist irgendetwas?“, richtete sie die Frage so unverfänglich wie möglich an ihn. Als habe sie ihn ertappt, schloss er kurz die Augen und richtete sie dann nach vorne. „Verzeih mir, es war unhöflich, dich so anzustarren. Doch ich kam nicht umhin. Ich bin schon lange keiner so … ungewöhnlichen Seele wie der deinen mehr begegnet.“ Neugierig legte Kisara die Stirn in Falten. „Ungewöhnlich? Inwiefern ist meine Seele denn ungewöhnlich?“ „Sie ist rein.“ Er sah sie kurz an, hielt den Blickkontakt diesmal jedoch nicht lange. „Alles, wovon du bislang gesprochen hast, richtete sich alleine darauf, dass du deine Freunde, die, die dir etwas bedeuten, in Sicherheit wissen willst. Nicht ein einziges Mal hat du um dein eigenes Leben gebangt, wärst gar bereit, es zu opfern, solltest du ihnen damit helfen. Außerdem … spüre ich etwas in dir.“ Er sah sie wieder an, eindringlich, ganz so, als würde er in ihre Seele selbst hineinblicken. „Da ist großes Leid. Du hast hart kämpfen müssen, doch hast nie aufgegeben. Und du hast nie deinen Glauben an das Gute in der Welt verloren, gleich wie oft dich das Schicksal zu Boden warf. Du bist selbstlos, gütig, nach allem, was man dir angetan hat. Du bist … aufopferungsvoll, hast gar einen Teil deiner Seele aufgegeben, um die zu retten, die du liebst.“ Kisara stockte, doch ehe sie etwas sagen konnte, fuhr er bereits fort. „Diese Welt, die so schön und doch so gnadenlos ist, hat dir in deinem kurzen Leben kaum etwas anderes bereitet, als Leid. Doch deine Seele ist rein geblieben, ist unverdorben. Dir ist egal, ob die Menschen um dich herum arm oder reich, hässlich oder schön, dumm oder klug sind. Alles, was für dich zählt, ist die Reinheit ihrer Herzen. Und das ist in der heutigen Zeit eine wahre Seltenheit. Bewahre dir dies gut, Kisara.“ Sie schüttelte fassungslos den Kopf, als er geendet hatte. „Wer hat Euch so viel über mich erzählt?“ „Deine Gesten, deine Worte, deine Augen. Menschen sind leicht zu lesen, wenn man weiß, wie.“ „Aber … wie könnt Ihr so viel alleine dadurch herausgefunden haben, dass Ihr mich beobachtet habt? Wir haben kaum drei Sonnenläufe miteinander verbracht!“ „Wie ich sagte, du hast es mir selbst verraten. Beispielsweise zeigte sich darin, dass du nie von deinem eigenen Schicksal sprachst, sondern lediglich um deine Freunde bangtest, deine Selbstlosigkeit. Darin, dass du mich noch nicht einmal gefragt hast, weshalb ich diese Maske trage, dass dir Äußerlichkeiten nicht wichtig sind, dass es dir alleine um meine Intentionen ging. Anfangs dachte ich, ich würde mich täuschen, dass es unmöglich noch so reine Herzen wie das deine geben könnte. Doch scheinbar habe ich mich geirrt.“ Er sah sie ein letztes Mal eindringlich an. „Bewahre dir dies gut, Kisara. Es mag der Tag kommen, da wird dieses reine Herz alles sein, was dir noch bleibt.“ Schlagartig wurde sie dem Delirium entrissen, das sie umfangen hatte. Noch vollkommen benebelt von dem Mittel, das man ihr eingeflößt hatte, begann Risha zu husten. Für einen kurzen Augenblick war sie zu benommen, um die Situation zu begreifen, erst dann gewahrte sie langsam, dass irgendeine Flüssigkeit in ihre Atemwege gelangt sein musste. Der Anfall dauerte nicht lange. Bald spürte sie, wie das störende Gefühl, das sie überhaupt erst zum Husten gebracht hatte, zurückwich und schließlich fast gänzlich verschwand. Schon von dieser geringen Anstrengung erschöpft, sackte sie in sich zusammen. Oder sie hatte es zumindest vorgehabt. Ihre Arme bewegten sich kein Stück, stießen auf irgendeinen Widerstand. Sie vermochte den Grund dafür jedoch erst nach einigen weiteren Augenblicken zu begreifen, als der Nebel um ihre Gedanken langsam verschwand. Erst da realisierte sie, dass irgendetwas ihre Arme über ihrem Kopf hielt, etwas, das ihre Handgelenke umschlungen hatte. Unter Anstrengung schob sie die Lider auf, doch den Kopf konnte sie vorerst nicht heben. Alles, was sie aus diesem Winkel sehen konnte, war ein mit Platten belegter Boden. Sie versuchte sich zu konzentrieren. Eine Eingebung sagte ihr, dass sie hier nicht sicher, dass sie in Gefahr war. Sie musste sich zusammenreißen. Erst nach mehreren Anläufen gelang es ihr, den Kopf ein Stück weit anzuheben. Ihr Blick, der sich noch kaum zu fokussieren vermochte, glitt durch einen dunklen, leeren Raum, der lediglich von zwei Fackeln erhellt wurde. Der Ort wirkte alt, aufgegeben. Wo, bei Seth, war sie? Erst jetzt bemerkte sie überhaupt, dass sie weder ab Boden lag, noch kauerte. Ganz im Gegenteil, sie stand auf ihren eigenen Zehenspitzen, jedoch nicht aus eigener Kraft. Schwerfällig schweifte ihr Blick nach oben. Von einer metallenen Öse in der Wand hinter ihr hingen Ketten herab, die ihre Handgelenke fest umschlungen hielten. Warum? Was war passiert? Was ging hier vor sich? „Na also, langsam scheinst du zu dir zu kommen. Hallo, hier bin!“ War diese Stimme schon vorher da gewesen? Langsam wandte sie den Kopf in ihre Richtung. Keine Ohrfeige der Welt hätte sie schneller ins Hier und Jetzt zurückholen können. Der Anblick Keiros brachte die Erinnerungen mit einem Mal zurück und verdeutlichte ihr das ganze katastrophale Ausmaß der Situation, in der sie sich befand. Hektisch schweifte ihr Blick noch einmal hin und her. Er hatte sie irgendwo hinbringen wollen. Scheinbar hatte er das geschafft, sonst wäre sie noch auf einem Pferderücken und hinge nicht an einer Wand. Instinktiv wollte sie Cheron rufen, nur um sich im nächsten Moment der Blutmagie zu entsinnen, die ihr Gegenüber angewandt hatte. So sehr sie auch hasste, es zugeben zu müssen, doch augenblicklich stieg Panik in ihr auf. Erst, als er ihr tatsächlich mit der flachen Hand eine verpasste, war sie wieder in der Lage, ihre Aufmerksamkeit auf ihn zu richten, anstatt nach einem Ausweg aus dieser Situation zu suchen. „Ich sagte ‚hier bin ich‘, Miststück“, zischte er sich an, ehe sich seine Miene so schlagartig zu einem Lächeln wandelte, als habe man einen Schalter umgelegt. „Hast du gut geschlafen, Base? Ich denke schon, immerhin habe ich deinen Kopf in eine Schale mit Wasser tauchen müssen, damit du aufwachst. Hattest du süße Träume, hm?“ So angeschlagen sie auch war, den Unterton in seiner Stimme registrierte Risha – und er bereitete ihr ungemeines Unbehagen. „Wo sind wir hier? Was ist das für ein Ort?“, presste sie über die gesprungenen Lippen hervor, ihre Stimme aufgrund ihrer trockenen Kehle kaum hörbar. Keiro grinste leicht, sichtlich erheitert. „Du bist ziemlich langweilig, weißt du das? Du stellst immerzu die gleichen Fragen. Aber ich will nicht so sein – immerhin hatte ich ja versprochen, dich einzuweihen, sobald wir mein Ziel erreicht haben.“ Er setzte sich in Bewegung, ging ein Stück weit von ihr weg und machte eine ausschweifende Bewegung mit dem Arm. „Wobei ich zugeben muss, dass du mich enttäuscht. Ich hätte eigentlich gedacht, dass du es erkennen würdest.“ Risha legte die Stirn in Falten und ließ den Blick noch einmal umherschweifen. „Und was soll ich bitte erkennen? Hier ist nichts außer Staub und Dreck“, krächzte sie zurück. Keiro wandte sich wieder zu ihr um, noch immer dieses leichte Grinsen auf den Lippen, der Ausdruck auf seinem Gesicht nun jedoch merklich dunkler. „Du hast Recht, Risha. Du hast vollkommen Recht. Und weißt du wer dafür verantwortlich ist?“ Er kam langsam näher, hielt erst inne, als er mit seinem Gesicht direkt vor dem ihren war. „Du.“ Wäre ihr Mund nicht so trocken gewesen, sie hätte die Gelegenheit genutzt und ihm ins Antlitz gespuckt. Doch sie musste sich mit einem kargen Schnauben begnügen. „Aber natürlich. Genauso wie ich schuld an Echnatons Wahnsinn war oder der Grund dafür bin, dass die Sonne im Osten und nicht im Westen aufgeht – nicht zu vergessen, dass ich ja Ursache all deiner Probleme bin“, erwiderte sie zynisch. So war es gut. Er sollte ruhig weiterreden. Je mehr blödes Gefasel über seine Zunge kam, desto mehr kochte die Wut wieder in ihr hoch und erstickte die Angst. Die Ohrfeige, mit der sie fest gerechnet hatte, blieb zu ihrer Überraschung jedoch aus. Stattdessen seufzte Keiro nur theatralisch und schüttelte mitleidig den Kopf. „Du dummes Stück erkennst es tatsächlich nicht.“ „Dann sag mir einfach, wo wir hier sind und dann ist es gut“, fauchte sie zur Antwort. „Ich muss es dir also wirklich sagen? Nach allem, was du hier angerichtet hast?“ „Ich habe überhaupt nichts getan! Wovon sprichst du über…“ Sie brach ab, als er sie plötzlich in den Haaren packte und ihren Kopf schmerzhaft zurückriss. „Natürlich hast du das! Und du weißt ganz genau wovon ich spreche, Risha!“, schrie er sie an. Dann wurde seine Stimme mit einem Mal zu einem Flüstern. „Ja, du weißt ganz genau, wo wir sind und weswegen wir hier sind. Du willst es dir nur nicht eingestehen, willst nur nicht wahrhaben, dass ausgerechnet dies der Ort deines Niedergangs sein soll, nachdem du es warst, die hier so viele Menschen um ihr Leben gebracht hat. Dann lass mich deinem sturen kleinen Köpfchen ein wenig auf die Sprünge helfen, meine Liebe“, fuhr er fort, während er sein Gesicht noch näher an das ihre brachte, bis seine Lippen sich kurz vor ihrem Ohr befanden. Seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch, als er die darauffolgenden Worte sprach, doch sie genügten, um Risha das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. „Willkommen in Kul-Elna.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)