Großer Bruder für einen Tag von Shizana (Tasuki & Chiriko) ================================================================================ Kapitel 1: Überrumpelt! ----------------------- "Haaach, endlich is' der ganze Stress vorbei!" Genüsslich streckte sich Tasuki und verschränkte die Arme in seinem Nacken, während er sich mit den anderen zurück zum Gemeinschaftssaal des Palastes machte. Es waren erst wenige Stunden vergangen seit der Beschwörung von Suzaku. Miaka, die Suzaku no Miko, hatte ihre drei Wünsche ausgesprochen und war in ihre Welt zurückgekehrt. Zugegeben, der Abschied war ihnen allen schwergefallen. Immerhin hatten sie alle nun eine doch sehr lange Zeit gemeinsam Seite an Seite verbracht und gekämpft. Es war viel passiert – vieles, was die Jungs im Laufe der Zeit eng zusammengeschweißt hatte. Kaum zu glauben, vor einigen Monaten noch waren sie sich noch alle fremd gewesen. Sie kannten einander nicht und wer weiß, ob sie einander jemals begegnet wären. Und selbst wenn, so war es fraglich, ob sie sich wohl für wahr genommen oder sich miteinander abgegeben hätten. So unterschiedlich, wie sie doch alle zueinander waren. Doch das Schicksal hatte sie alle zusammengeführt – sie alle waren ihrer Bestimmung als Suzaku-Seishi gefolgt und hatten sich zu respektieren gelernt. Dass nun alles überstanden war und sie alle ihrem alten Leben wieder nachgehen konnten, war nun irgendwie fremd, anzunehmen. "Tja, Miaka ist wieder in ihrer Welt. Und Tamahome wird ihr sicherlich bald folgen, da bin ich mir sicher." Hotohori setzte sich an die Spitze des langen Tisches und winkte einen Bediensteten zu sich, um Speisen und Getränke für ein wohl vorerst letztes, gemeinsames Mahl bringen zu lassen. "Kounan wurde von Suzaku mit Frieden gesegnet. Das Land braucht die Miko und ihrer Seishi nun nicht mehr." Er stützte seinen Ellenbogen auf der polierten Holzplatte ab und lehnte sein Gesicht in die Handfläche, während er etwas müde in die Runde blickte, die sich nach und nach mit zurückgezogenen Stühlen um den Tisch versammelte. Ein leises Seufzen verließ ihn und innerlich schmerzlich-zufrieden legte sich ein Lächeln auf seine Lippen. "Was habt ihr nun vor? Jetzt, nachdem ihr euch endlich wieder eurem alten Leben annehmen könnt?" "Hm… bis ich weiß, wie ich mit Miaka zusammenfinden kann, werde ich erst mal wieder nach Jusou in mein Heimatdorf zurückkehren und schauen, dass ich das Familienhaus meiner Familie wieder aufbaue. Vielleicht hat Suzaku-seikun ja auch Vater und meine Geschwister wieder ins Leben zurückgeholt, dann wird es nicht so einsam dort sein." Ein verträumtes, aber doch eher traurig wirkendes Lächeln zierte das Gesicht von Tamahome, während er beide Arme auf dem Tisch ablegte und den Kopf entspannt hängen ließ. "Vielleicht suche ich mir dann erst mal eine Arbeit, um Vater zu entlasten." "Suzaku-seikun hat gewiss auch an deine Familie gedacht, Tama." Die hohe Stimme Nurikos klang beruhigend und er sah aufmunternd zu dem Freund hinüber, neben welchem er saß. "Miakas Bitte, dass die im Kampf ums Leben Gekommenen wieder ins Leben geholt werden, hat sich immerhin nicht nur auf uns beschränkt. Daher bin ich mir sicher, dass du sie alle quicklebendig Zuhause vorfinden wirst." "Mhm, ich hoffe es." Die Traurigkeit schwand etwas aus Tamahomes schönen Gesicht und er legte Nuriko dankend eine Hand auf die Schulter, woraufhin ihn der Bishounen-Junge mit den dunkelvioletten Haaren herzlich anlächelte. "Ich werde auch wieder nach Choukou aufbrechen", sprach Mitsukake als nächstes und blickte zu Hotohori hinüber. "Sollte Shouka-san ebenfalls wiederbelebt worden sein, so wirst du doch sicherlich um ihre Hand anhalten, oder?" Der Kaiser lächelte gütig. "Ihr habt genug durchlitten, nun solltet ihr beide endlich mal an euch denken. Den Segen des Kaisers hättet ihr." "Danke Euch. Ihr habt vermutlich Recht, sofern ich Shouka wiederbegegnen werde, werde ich sie bitten, meine Frau zu werden. Und dieses Mal wird mich nichts davon abhalten, sie zu beschützen. Noch einmal lasse ich sie gewiss nicht sterben." Kurze Stille lag in der Runde, während die Bediensteten die Speisen und Getränke brachten. Alles wurde in naher Reichweite des Gruppenzentrums abgestellt und zwei Dienerinnen schenkten den Männern warmen Sake ein. Nur Mitsukake, Hotohori und Chiriko verzichteten auf den Alkohol und nahmen Vorzug mit frischen Säften. "Sofern eure Majestät es gestattet, würde ich gerne weiterhin am Hof bleiben. Nur für den Fall der Fälle. Keine Sorge, ich mache dir keine schönen Augen mehr – ich habe Miaka versprochen, als Mann weiterzuleben. Da kann ich doch nicht weiterhin so tun, als wäre ich jemand, der ich nun mal nicht bin." Nuriko besah Hotohori mit einem witzelnden Zwinkern, ehe er nach dem edlen Sakeschälchen langte, wo der warme Reiswein wohlig duftete. "Kourin ist tot. Sie starb weit vor unserem Kampf als Suzaku-Seishis. Daher ist sie von Miakas Wunsch auch nicht betroffen. Aber das ist nicht schlimm. Ich werde nur kurz in unserem Familiengeschäft vorbeischauen und meiner Familie von meinen weiteren Plänen erzählen. Da sie ohnehin hier in der Stadt wohnen, kann ich sie jederzeit besuchen. Und dann könnte ich mir gut vorstellen, eine Beschäftigung hier am Hofe anzunehmen – nicht mehr als Hofdame, sondern vielleicht als Hofschneider oder auch Trainer der jungen Soldaten könnte ich mir gut vorstellen…" "Das sollte kein Problem darstellen. Wenn du hier am Hofe bleiben möchtest, kannst du das natürlich gerne tun. Und deine Familie hat meine Erlaubnis, dich jederzeit hier sehen zu dürfen." "Danke, eure Majestät." "Ich werd' zu meinen Jungs zurückgeh'n. Ich hab' Kouji versprochen, dass ich zurückkomm' sobald das hier vorbei is' un' ich hier nich' mehr gebraucht werd'. Ich bin immerhin nach wie vor der Boss der Räuberbande vom Berg Reikaku. Un' ich werd' unsren alten Boss gewiss nich' enttäuschen!" Kurz lachte der Rothaarige und ließ in einem verschmitzten Grinsen die spitzen Eckzähne blitzen. "Denen tret' ich erstma' richtig in 'nen Arsch, wenn ich wieder da bin! Damit sie ja nich' vergessen, wer hier der Boss is'!" Die anderen stimmten in das fröhliche Lachen des Banditen ein und prosteten sich schließlich zu, um gemeinsam auf die kommenden Zeiten anzustoßen. "Meinereiner wird Mitsukake ein Stück begleiten, no da. Wir haben zufällig dieselbe Richtung, no da. Und dann wird sich schon ein Weg finden, dem meinereiner folgen wird, no da." "Das klingt aber mager, Chichiri. Als wüsstest'e noch gar nich' wo du hin willst." Während Tasuki bereits ein wenig der Rindssuppe auf seinen Teller gab, besah er den Ältesten der Runde mit einem skeptischen Blick. Der Mönch lächelte aber nur durch seine Maske sein seliges, ruhiges Lächeln. "Meinereiner hat keine Familie und keine Verpflichtungen mehr, no da. Auch bei mir sind alle bereits vor unserer Zeit als Seishi gestorben, no da. Also wird meinereiner schauen, wohin der Weg mich führt, no da." "Der Weg des Buddhisten, hm?" Leicht schüttelte Nuriko den Kopf, langte dann aber auch nach einigen der noch warmen Brötchen und nahm sich etwas vom Ziegenkäse und den Gewürzen. "Und was ist mit dir, Chiriko?" "Ich?" Der Jüngste sah etwas verwirrt in die Runde, wo ihm neugierige Augenpaare von allen Seiten begegneten. Er wurde etwas verlegen und nippte an seinem Kirschsaft. "Ich muss wieder nach Hause. Bevor ich als Seishi zu euch kam, um meine Pflicht der Miko und dem Land gegenüber zu erfüllen, haben meine Eltern die besten Privatlehrer engagiert um mich auf die nächsten Prüfungen vorzubereiten. Und dann habe ich noch ein paar Bestandsaufnahmen zu den Wissenschaftsuniversitäten von Kounan und Hokkan zu absolvieren. Je nach dem, welche mich dann aufnimmt, werde ich dann vielleicht in einigen Monaten für lange Zeit im Bereich Astrologie und Kosmologie studieren." "Und wie kommst du nach Hause? Wohin musst du denn?" Hotohori ließ bereits einen weiteren Bediensteten zu sich kommen, um Papier und Feder bereit zu haben. "Ich muss nach Jouzen. Wir wohnen etwas am Rande der Stadt." "Dann lasse ich eine Kutsche für dich vorbereiten. Ich schicke einen Boten vor, dass du mit Geleit des Palastes eingereist wirst." Und schon begann er, ein Schreiben aufzusetzen. "Nein!", schoss es beinahe panisch aus dem Jungen. Verwirrt blickte Hotohori von seinem Schreiben auf. "Ähm, also… ich weiß das wirklich zu schätzen und bin über den Vorschlag überaus dankbar. Aber ich denke nicht… dass meine Eltern damit einverstanden wären. Also, dass der Kaiser extra für mich solche Umstände auf sich nimmt. Und außerdem… schicken sie immer lieber ihre eigenen Eskortangestellten, um mich irgendwo hin zu bringen oder abzuholen." "Deine Eltern haben dich wohl sehr lieb, hm?" Lächelnd blickte Nuriko zu dem Jüngsten, was Chiriko etwas verlegen machte. Er nippte nervös an seinem Becher. "Mhm…" "In Ordnung. Dann schicke ich nur einen Boten, damit deine Familie informiert wird, dass du abgeholt werden kannst. Bis nach Jouzen ist es eine Tagesreise. Morgen wäre dann sicher jemand hier, der dich nach Hause bringt." Nachdem Hotohori schließlich ein neues Schreiben fertiggestellt hatte, versiegelte er es mit dem kaiserlichen Siegel des Landes und überreichte es schließlich seinem Bediensteten, welcher sich mit einer höflichen Verneigung wieder entfernte. "Ich selbst habe noch viel zu tun. Ich habe einige Verpflichtungen zurückgeschoben, um so gut es geht meiner Pflicht als Suzaku-Seishi nachzukommen und es Miaka zu erleichtern, ihre Aufgabe so schnell es geht zu erfüllen, damit sie wieder in ihre Welt zurückkehren kann. Doch noch länger kann ich das nicht aufschieben. Ihr könnt gerne noch über Nacht am Hofe bleiben, aber zu morgen müssten die ersten von euch bitte schon abreisen. Ich erwarte in der nächsten Zeit viel Besuch von Gelehrten und Gesandten, denen ich unsere Gastfreundschaft zukommen lassen möchte." "Chichiri und ich brechen morgen in der Früh auf." Mit einem absichernden Blick sah der Heiler zum Mönch hinüber, welcher ihm zustimmend zunickte. "Ich werde nachher noch den Hof verlassen. Ich wollte ohnehin nochmal in die Stadt, ein wenig unter die Leute gehen und horchen, ob es etwas Interessantes aus den anderen Teilen des Landes zu hören gibt. Eiyou hat ein günstiges Gasthaus, dort schlafe ich dann, bevor ich morgen aufbreche. Ich glaube, ich brauche etwas Abstand von allem, nachdem mit Miakas Rückkehr irgendwie auch ein Teil von mir fort ist… Je früher ich mich verabschiede, umso leichter wird es sicherlich für mich, mich an all das jetzt wieder zu gewöhnen." Zuversichtlich sah Tamahome erst zu Hotohori, dann zu dem Rest. Dann legte er etwas den Kopf schief und schlug seine rechte Faust vor sich in die linke Hand. "Aber ich hoffe, ihr denkt an mich, wenn ihr mal irgendwo Hilfe braucht! Für euch denke ich versprochen an Sonderrabatte." "Tama! Du bist ja so geldgeil!" Nuriko knuffte dem Größeren in die Seite, ehe beide lachten. "Immer dasselbe…" Leise knurrend lehnte sich Tasuki in seinem Stuhl zurück und trank von seinem Sake. "Je eher ich morgen hier wech bin, umso besser! Das hält ja keiner aus." Keiner bemerkte in der aufgelösten Stimmung, wie Chiriko nachdenklich zu Tasuki sah. Er würde ihn vermissen. Er würde sie alle vermissen. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, wollte er noch gar nicht wieder nach Hause. Natürlich wollte er nicht, dass sich seine Eltern unnötig sorgten. Und er wollte sich auch nicht ewig davon abhalten lassen, zu lernen. Aber während er den anderen zuhörte, machte sich Sehnsucht in ihm breit. Sein Leben würde nicht weiter aufregend sein. Lernen war nicht auf die gleiche Art aufregend, wie es die letzte Zeit mit all den Jungs und Miaka gewesen war. Auch, wenn die Zeiten hart waren… Immerhin hatte er viel sehen und erleben müssen, selbst, wie seine Freunde gestorben waren. Er selbst war auch gestorben. Aber dank Miaka lebten sie alle wieder. Ein komisches Gefühl, so zu denken… Aber es war wahr. Und trotz all dem Übel, was er miterlebt hatte, würde er die Zeiten vermissen. Er würde es vermissen, bei den anderen zu sein. Sie lachen zu sehen und selbst mit ihnen zu lachen. Aber sie alle, Chichiri ausgenommen, hatten ihre Ziele. Sie wussten, wo sie hin gehörten und was sie tun wollten. Er ja selbst auch. Aber… trotzdem würde er lieber etwas anderes tun. Ein komisches Gefühl. Chiriko fühlte sich innerlich hin und her gerissen zwischen dem, wo er wusste, was er wollte und dem, wo er sich nicht erklären konnte, was ihn an seinem Willen zweifeln ließ. Nachdem das gemeinsame Essen beendet war begleiteten noch alle Tamahome bis zum Vorhof des Palastes, um ihn zu verabschieden und alles Gute zu wünschen. Mit einem zuversichtlichen Lächeln, erhobenem Kopf und straffen Schultern verließ der junge Mann schließlich zielorientiert den Kaiserhof. Hier trennten sich auch schon die ersten Wege der restlichen Freunde. Jene, die schon in der Früh aufbrechen wollten, verabschiedeten sich bereits von dem Rest. Über Händedruck und freundschaftlichen Umarmungen wünschte man sich ein erneutes Wiedersehen und bis dahin alles Glück dieser Welt. Dann teilte sich die Gruppe in verschiedene Richtungen des Hofes und Palastes auf, um sich auf die letzte Nacht unter gemeinsamem Dach vorzubereiten. "Tasuki-san?" Der Räuber hielt im Gehen inne und drehte sich nach der jungen Stimme hinter sich um. Nur wenige Meter hinter ihm stand Chiriko, die kleinen Arme vor der Brust in dem weiten Stoff seiner Kimonoärmel verborgen. "Chiriko! Was'n los? Willst'e nich' langsam schlafen geh'n? Es is' spät... Ich wollt' auch grad auf mein Zimmer." Der kleine Junge trat etwas näher, den Blick zu Boden gesenkt. "Ich wollte dich etwas fragen." "Hm? Na dann schieß ma' los!" Der Größere hockte sich vor ihm hin und sah dem Jungen mit einem breiten Grinsen entgegen, woraufhin Chiriko seinen Blick wieder hob. "Also, ähm… ich wollte wissen, wieso du eigentlich nicht wieder nach Hause zurückkehrst. Zu deiner Familie. Sie machen sich doch bestimmt Sorgen um dich." Für einen Moment entgleisten die Gesichtszüge des Älteren. Irritiert legte er den Kopf schief und sein Gesicht sprach dieselbe Reaktion, die auch seine Lippen verließ: "Hä?" Kurz schwieg er den Kleinen an und schien zu überlegen, wie er auf diese unerwartete Frage antworten sollte. Mit einem schweren Seufzen zuckte er schließlich mit den Achseln. "Was soll ich'n da? Intressiert die doch nich', was mit mir is'. Als ich fünfzehn war, bin ich von Zuhause abgehau'n. Da hat mich nichts mehr gehalten. Un' seitdem bin ich auch nich' mehr dahin zurückgegangen. Warum auch? Die Räuberbande am Berg Reikaku is' jetzt mein Zuhause. Unser Boss hat mir damals dort Unterschlupf geboten un' die Jungs wurd'n meine Familie. Ich fühl' mich dort viel wohler, als ich es Zuhause jemals tat. Un' außerdem…" Er langte wissend über seine Schulter an seinen Rücken, um dort den diamantenen Eisenfächer aus seiner Halterung zu lösen. In beiden Händen hielt er schließlich den Harisen vor Chiriko auf seinen Knien und besah das gute Stück mit verträumtem Blick. "Un' außerdem hab' ich's versprochen. Als unser Boss starb hab' ich ihm versprochen, dass ich als sein Nachfolger nich' versagen werd'. Ich will das weiterführ'n, was er begonnen hat: Die Räuberbande anführ'n un' über den Berg Reikaku wachen! Die Jungs zähl'n drauf, dass ich wiederkomm'. Un' außerdem würd' mir Kouji 'ne ellenlange Standpauke halten, wenn ich nich' sofort wieder dort auftauch'." Grinsend sah er zu dem Jüngeren auf, welcher ihm staunend gelauscht hatte. Seine Arme, noch immer unter den weiten Ärmeln verborgen, hatten sich an seinen Mund gehoben. Doch seine geweiteten Augen sprachen Bände darüber, wie sehr ihn die Erzählung des Älteren beeindruckt hatte. "Weißt'e, Chiriko, dieser Harisen…" Tasuki nahm den Fächer in eine Hand und hielt ihn aufrecht neben sich, während seine andere Hand auf ihn deutete. "Der gehört so geseh'n nich' mir. Der Harisen gehört dem Berg Reikaku. Seit Generationen trägt ihn nur der Anführer der Räuberbande, die über den Berg wacht. Um ihn zu beschützen, weißt'e? Eigentlich hätt' ich ihn nich' von dort wegbringen dürf'n, aber Kouji – mein bester Kumpel – war der Meinung, dass ich ihn besser mitnehmen sollt'. Damit er nich' geklaut werden kann. Un' natürlich auch, um damit die Hüterin zu beschützen. Aber letztlich gehört er nich' nach draußen, sondern in die Obhut des Berg's un' seiner Beschützer. Un' da gehör' auch ich hin. Ich bin der Träger des Harisen un' kehr' mit ihm nach Haus' zurück." Nachdem er seine kleine Rede beendet hatte, steckte er den zusammengeklappten Harisen wieder zurück in die Halterung an seinem Rücken. Mit einem aufmunternden Zwinkern erhob er sich schließlich wieder. "So, genug der Geschicht'n. Nu' solltest’e aber wirklich schlafen geh'n. Ruh dich aus. Oyasumi!" >Wow… das wusste ich ja gar nicht.< Nachdenklich blieb Chiriko, nachdem er Tasuki bejahend zugenickt hatte, noch auf dem breiten Flur stehen und sah zu, wie der Räuber zu seinem Zimmer ging und schließlich darin verschwand. Das laute Gähnen konnte er bis nach draußen hören. Wieder senkte er den Blick gen Boden. >Komisch… nach all der Zeit, die ich mit den anderen auf dieser Reise war, habe ich nur so wenig über Tasuki-san gewusst. Ich meine, ich habe ja mitbekommen, dass er mal in einer Räuberbande war. Das hatte mir anfangs etwas Angst gemacht. Aber nachdem ich ihn kennenlernte, habe ich das wohl wieder verdrängt. Hm, ich kann verstehen, dass er wieder dahin zurück will. Glaube ich… So, wie er das jetzt erzählt hat, ist es verständlich, ja.< Noch immer in Gedanken verloren, wandte sich der Junge schließlich um und ging langsam den Flur zurück, um ebenfalls auf sein Zimmer zu kommen. >Er wird bestimmt glücklich. Er wird noch viel stärker werden. Noch viel stärker, als er ohnehin schon ist. Und dabei ist er schon jetzt viel stärker, als ich geahnt hatte. Er ist wirklich cool…< Mit einem leisen Klirren nahm Chichiri seinen Shakujou in die Hand und setzte sich seinen Kasa auf den Kopf, ehe er sich lächelnd zu Mitsukake umdrehte, welcher mit Neko-Tama bereits zum Aufbruch bereit hinter ihm stand. "Meinereiner hat dem Kaiser noch eine Nachricht hinterlassen, dass wir ihm für alles danken und uns auf den Weg gemacht haben, no da. Wir können aufbrechen, no da." Das Nicken des Größeren und das leise Maunzen der weißen Katze mit den braunen Flecken im Fell waren die Zeichen, dass es an der Zeit war, Abschied von der Zeit als Seishi und vom Palast zu nehmen. So folgten die beiden Männer einigen Fluren, die sie hinaus in den Palasthof führten. Dort verneigten sich einige Wachmänner und nochmal einige von ihnen sahen den Suzaku-Kriegern mit trauriger Miene nach, ihnen alles Gute wünschend. An den Ställen angekommen, nahmen sie von einem Stallburschen zwei gesattelte Pferde entgegen, welche ihnen Hotohori zum Dank für ihre Heimreise anvertraut hatte. "He, ihr zwei! Ihr wolltet doch wohl nich' einfach so abhau'n, ohne euch zu verabschieden?!" "Nanu, Tasuki?" Erstaunt beobachtete Chichiri, wie der Rothaarige mit einem schwarzen Hengst am Zügel aus einem der Ställe trat. Das große, kräftige Tier war ebenfalls bereits gesattelt und sah für die lange Reise zum Berg Reikaku gewappnet aus. "Wir haben zwar nich' dieselbe Richtung, aber ich dacht' mir, kann ja nich' schaden, gemeinsam mit euch loszureiten. Ich hasse Abschiede! Buäh!" Mit einem breiten Grinsen blickte er den anderen beiden Männern entgegen, welche zu ihm hinüber lächelten. "Tasuki-san!" Alle drei Männer sahen verblüfft zu der bekannten, junge Stimmen zum Palast zurück, die sich so plötzlich in das Gespräch gemischt hatte. Dort rannte ein noch ganz zerzauster Chiriko gerade die Treppen hinunter, noch immer in seinem Schlafgewand. "Chiriko?" Der Räuber strich seinem Tier kurz über den kräftigen Hals, um ihn zu beruhigen, bevor er vortrat. "Was machst'e denn? Du bist doch grad ma' ausm Bett raus. Renn nich' so, sonst fällst'e noch…" RUMMS! "Chiriko! Hast du dir wehgetan, no da?" Eilig rannte Chichiri, mit Mitsukake und Tasuki im Schlepptau, zu dem gestürzten Bündel. Mit Tränen in den großen, kindlichen Augen und dunkler Erde auf dem weißen Wollstoff kniete sich der Gestürzte auf und rieb sich nur kurz mit dem Ärmel über das gerötete Gesicht. Dann stützte er beide Hände vor sich auf den Boden und wandte sich energisch an den Rothaarigen. "Tasuki-san, nimm mich mit!" ... Ein verwirrtes Staunen ging durch die erwachsenen Männer, ehe Chichiri und Mitsukake verblüfft zu Tasuki sahen. Dieser hatte den Mund zu lautlosen Worten geöffnet, konnte aber im ersten Moment nichts über die Lippen bringen. ... "Was hast'e da gesagt?!" "Ich habe nachgedacht. Ich möchte noch nicht nach Hause. Auf die Prüfungen kann ich mich auch ein paar Tage später vorbereiten. Ich möchte den Berg Reikaku sehen!" In den großen, platinagrünen Augen standen trotzige Tränen, die dem sonst so hitzigen Räuber die Sprache verschlugen. Chichiri legte eine Hand auf die Schulter des Sprachlosen. "Das können wir nicht entscheiden, no da. Davon muss Hotohori erst in Kenntnis gesetzt werden, no da." Nachdem die beiden Älteren sowohl Tasuki als auch Chiriko wieder auf die Beine geholfen hatten, banden sie die Reisetiere zum Warten fest und gingen nochmals gemeinsam zum Palast zurück. Den kurzen Weg dahin schwiegen die Jüngeren, während sich Chichiri darüber sorgte, dem Kaiser doch nochmal zur Last fallen zu müssen. Im Palast angekommen bat Chichiri einen Bediensteten, dem Kaiser auszurichten, dass sie mit ihm reden müssten, sofern er schon wach war. Der Bedienstete deutete den Jungs daraufhin, im Beratungszimmer des Kaisers zu warten, während er es ausrichten würde. Auch dort sprach noch immer keiner von ihnen ein Wort. Tasuki hatte sich auf einen Stuhl sacken lassen und murmelte die ganze Zeit etwas Unverständliches vor sich hin, wobei er immer mal mit dem Kopf schüttelte oder kurz knurrte. Am Fenster stand Chiriko, nervös und unsicher, wie er mit Tasuki im Moment umgehen sollte. Und wie sollte er dem Kaiser erklären, was er wollte? Auch Chichiri und Mitsukake standen sich in der Nähe vom Kleinen gegenüber und beratschlagten sich, was hier wohl bestenfalls zu tun wäre. "Ihr wollt mit mir sprechen? Ich dachte, ihr wolltet schon längst unterwegs sein." Mit offenen Haaren betrat nur etwas später Hotohori den kleinen Saal und setzte sich an den Tisch, der ihm als Arbeitsplatz bei Besprechungen diente. Sichtlich verwundert über die unerwartete Wendung blickte er von Einem zum Nächsten im Raum. "Hotohori-sama… ich möchte Tasuki-san gerne begleiten", sprach schließlich Chiriko etwas unsicher, dennoch aber laut und deutlich, während er auf den Langhaarigen in den feinen Gewändern zutrat. In diesem Moment schien auch Tasuki aus seinen Selbstgesprächen hochzuschrecken und sprang von seinem Stuhl auf die Beine. "Das geht nich'! Ich kann doch keinen kleinen Bengel mit zum Berg Reikaku nehmen! Was soll'n denn meine Leute denken, wenn ich da mit so 'nem Knirps auftauch'?! Wir red'n hier nich' von irgendwelchen Kerlen, das sin' Banditen! Kinder hab'n da nichts verlor'n! Außerdem is' das 'n weiter Weg bis dahin, wie soll Chiriko das schaffen?!" "Beruhige dich, Tasuki." Die Stimme des Kaisers war ruhig, aber bestimmend. Und der Räuber wurde tatsächlich still und blickte seiner Hoheit trotzig entgegen. "Chiriko, wieso willst du unbedingt mit Tasuki zum Berg Reikaku? Ich habe gestern einen Boten zu deiner Familie geschickt, dass sie dich vom Hofe abholen kommen. Sie werden spätestens morgen hier eintreffen." Etwas betreten blickte der Kleine zu Boden und suchte nach den richtigen Worten. Dann sah er aber wieder entschlossen zum Kaiser auf. "Also… ich habe nachgedacht. Und eigentlich will ich noch gar nicht nach Hause. Ich habe es nicht eilig. Meine Lehrer sind bis zum Ende meiner Prüfungsvorbereitung ohnehin fest angestellt, sodass mir das Büffeln nicht davonläuft. Und wenn ich dann erst mal wieder gelehrt werde, dann werde ich so schnell keine Zeit mehr für andere Dinge finden." Kurz sah er hinüber zu Tasuki, welcher daraufhin die Arme vor der Brust verschränkte. "Tasuki-san will wieder zurück zum Berg Reikaku... Ich war noch nie in diesem Teil des Landes. Ich möchte den berüchtigten Berg sehr gerne sehen! Und ich möchte wissen, wie Tasuki-san dort lebt. Aber wenn er das nicht möchte…" "Yada! Kommt gar nich' in die Tüte, yada!" "Tasuki…" Hotohori stützte nachdenklich den Kopf in die Hand und seufzte schwer. Tasuki hatte ja Recht, irgendwo. Aber zum anderen konnte er auch Chiriko verstehen – den Wunsch nach etwas Auszeit von den eigenen Verpflichtungen kannte er immerhin lange genug nur zu gut. "Die Reise des Lebens beginnt mit dem ersten Schritt, no da." Ein leises Klirren deutete an, dass sich Chichiri in Bewegung gesetzt hatte und nun auf Chiriko zutrat. Vor dem Jungen blieb er stehen und legte ihm verständnisvoll eine Hand auf die Schulter. "Chiriko mag jung sein, aber er ist schon sehr viel reifer als andere Kinder in seinem Alter, no da. Das haben wir alle in der vergangenen Zeit gesehen. Meinereiner vertraut darauf, dass er weiß, worum er da bittet, no da." "Chichiri!" Gerade als Tasuki zu dem Mönch treten will, hielt ihn Mitsukake an der Schulter zurück. Dieser wehrte sich gegen den lockeren Griff des Älteren nicht, bleckte aber dennoch widerspenstig die Eckzähne. "Chiriko ist lange und beschwerliche Reisen gewohnt, no da. Aber du weißt hoffentlich, worauf du dich einlässt, wenn du ausgerechnet mit unserem hitzköpfigen Tasuki in die Höhle des Löwen einwandern willst, no da." Das Lächeln des Blauhaarigen wurde von dem Jungen dankbar erwidert, ehe er sicher nickte. Dann sahen beide hinüber zu Hotohori, welcher alles ganz genau beobachtet hatte. "Ob sie ihn nun von hier abholen oder noch etwas weiter gen Westen reisen müssen, um Chiriko abzuholen, dürfte an sich doch keine großen Umstände bereiten, no da. Und meinereiner vertraut den beiden, dass sie aufeinander aufpassen und keine Dummheiten anstellen, bis Chiriko abgeholt wird, no da." "Hm…" "He, was soll'n das werden? Hab' ich da nich' auch noch 'n Wörtchen mitzureden?!" Der Räuber konnte kaum fassen, was da geschah. Seine Freunde überrumpelten ihn! Wussten die denn überhaupt, was sie ihm da zumuteten? Ausgerechnet den kleinen Chiriko mitzunehmen, inmitten genau der Gegend, wo sich kleine Kinder besser nicht aufhalten sollten? "In Ordnung. Ich werde dem Gesandten deiner Familie persönlich ausrichten, wo sie dich finden können. Aber du versprichst mir dafür, dass du dich dann nach Hause bringen lässt, sobald er bei euch angekommen ist." "Hai, das verspreche ich! Vielen Dank, Hotohori-sama!" Und mit einer tiefen Verbeugung wandte sich der Junge vom Kaiser ab. Mit einem breiten Lächeln gab er Chichiri zu verstehen, dass er sich für seinen Einsatz bedankte und verschwand dann, um seine Sachen für die Reise zu packen. "Ihr spinnt doch! Allesamt! Das is' 'ne absolut beschiss'ne Idee!" "Chiriko möchte es, no da. Er möchte dich unbedingt begleiten und einen Teil deines Lebens kennenlernen, der wirklich zu dir gehört, no da." Unbeeindruckt von der Wüterei des Banditenchefs wandte sich auch Chichiri von Hotohori mit einer leichten Verneigung ab, welcher die Geste mit einem lächelnden Nicken erwiderte. "Ja aber…!" "Er mag dich wirklich sehr, no da. Also pass gut auf ihn auf." Und mit diesen Worten und seinem zufriedenen Lächeln wandte sich schließlich auch der Mönch ab. Mitsukake, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, setzte sich nun ebenfalls in Bewegung. Im Vorübergehen legte er noch kurz aufmunternd eine Hand auf Tasukis Schulter, ehe auch er aus dem Saal verschwand. "Ich glaub's nich'…" Noch immer innerlich total aufgebracht ging Tasuki vor Chirikos Zimmer ungeduldig auf und ab. Er konnte einfach nicht fassen, was da gerade passiert war! Jetzt sollte er tatsächlich diese kleine Nervensäge mitnehmen in die, wie Chichiri es so schön ausgedrückt hatte, "Höhle des Löwen". Was hatten sie sich dabei gedacht?! Das war verdammt nochmal gefährlich und ganz gewiss kein Ort, an den man mal eben ein Kind mitnahm! Selbst wenn sie den Berg nur durchqueren hätten müssen, hätte Tasuki - Chiriko zuliebe - einen Umweg bevorzugt. Es gab wilde Tiere in den Bergen, und was dort an Menschengesindel herumlief… Nein, das war definitiv nichts für kleine Kinder! Und nun verlangten tatsächlich alle, dass er den Kleinen auch noch ausgerechnet in das Herz einer Räuberbande mitnahm, bis irgendwann die Rettung kommen würde. "Oh Mann, das kann ja was werd'n… He Chiriko, mach' ma' hinne da drinnen!" Endlich, lange Minuten später, ging die Tür auf und ein fröhlich strahlender Chiriko trat aus dem Zimmer. Vor sich hielt er ein kleines Bündel mit seinen Sachen, welches er einer Bediensteten überreichte, damit es der Gesandte seiner Familie entgegennehmen könnte. "Okay, wir können aufbrechen!" "Chichiri un' Mitsukake sin' schon los… Dabei wollt' ich mich unterwegs nochma' von ihnen verabschieden. Wer weiß, ob wir sie jemals wiederseh'n. Naja…" Er gab dem Kleinen eine leichte Kopfnuss, ehe er grummelnd vorausging, die Arme trotzig in seinem Nacken verschränkt. "Na nu' komm schon, wir hab'n genug Zeit vertrödelt! Das wird 'n langer Weg." Kapitel 2: Auf geht's! ---------------------- Die beiden waren bereits seit mehreren Stunden unterwegs. Die Hauptstadt Eiyou hatten sie längst hinter sich gelassen. Tasuki lenkte sein Pferd auf den Wanderweg, von dem er wusste, dass er schon bald vom offenen Feld in einen kleineren Wald führen würde. Sie würden kurz vorm Waldrand noch auf eine Gaststube stoßen, wo sie sich kurz ausruhen und stärken könnten. Ab da waren es nochmal einige Stunden Ritt, bis sie die Stadt Sou'Un am Fuße des Berg Reikaku erreichen würden. Chiriko, der vor Tasuki auf dem Pferd saß, wagte kaum ein Wort zu sagen. Zu sehr war er doch wieder verunsichert, ob er den Älteren verärgert haben könnte. Auch wenn er genau wusste, dass Tasuki ihm niemals etwas zuleide tun würde, wollte er eigentlich nicht, dass er böse auf ihn war. Die meiste Zeit schwiegen sie beide. Nur hin und wieder erklärt Tasuki, wohin sie eigentlich ritten. Er beschwerte sich über das Wetter, weil die Sonne die Temperaturen für eine so lange Reise einfach viel zu hoch ansteigen ließ. Unter seinem Mantel wurde es zu den Mittagsstunden hin zunehmend wärmer und seine Stiefel erschienen ihm, trotz der entlastenden Bügel des Sattels, immer mehr als eine unbequeme Last. Nur der kleine Chiriko wagte nicht, sich zu beklagen. "Wir mach'n hier kurz Rast. Es is' zwar nich' mehr sehr weit bis Tou'en, aber diese Hitze macht mich noch fertig." Tasuki brachte Kuro zum Stehen und der schwarze Hengst hielt geduldig inne, bis sein Herr seinen Rücken von sich selbst und dem kleinen Chiriko, welchen er hinunterhob, entlastet hatte. Er lockerte den Sattel etwas und krempelte die Steigbügel hoch, sodass sich das Tier angenehmer bewegen konnte, während sie sich eine Pause gönnten. Vor sich hatten sie einen kleinen Teich, der von frischem Frühlingsgewächs umgeben war. Ideal, um sich kurz auszuruhen. Mit einem entlastenden Seufzen band sich der Räuber den Harisen vom Rücken und löste den breiten Ledergürtel, ehe er endlich den schweren, langen Mantel ablegen konnte. Anschließend setzte er sich ans Ufer und machte sich daran, seine Stiefel abzustreifen und achtlos neben sich liegenzulassen. Chiriko strich noch etwas unsicher über das warme Fell des Tieres, welches mit einem leisen Schnauben bereits zu grasen begonnen hatte, während er unschlüssig zu dem Älteren blickte. Als dieser sich schließlich genüsslich streckte und sich nach hinten ins angenehm kühle Gras fallen ließ, trat er langsam zu ihm. Neben ihm setzte auch er sich ins Gras und sah einige Zeit schweigend auf die ruhige Wasseroberfläche, wo ihm platinagrüne Augen umrahmt von kastanienbraunen Haarsträhnen entgegenblickten. "Du, Tasuki-san?" "Hm?" "Bist du mir eigentlich böse?" Kurz trat Stille zwischen die beiden und nur einige Grillen antworteten dem Gesang der Nachtigallen in den Bäumen. "Ich sollt' dir eigentlich böse sein, ja. Aber ich bin's nich'", antwortete der Ältere schließlich einige Zeit später. Chiriko blickte zu ihm herüber, doch Tasuki hatte die Augen geschlossen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. "Weißt’e überhaupt, um was du da gebeten hast? Nu' werd' ich die ganze Zeit auf dich aufpassen müss'n, bis deine Laufburschen nachgekommen sin'. Als ob ich nich' schon genug zu tun haben werd', sobald wir bei den Jungs angekommen sin'." Theatralisch seufzte er, woraufhin Chiriko schmunzeln musste. Er wusste, dass Tasuki es nicht so schlimm meinte, wie er es darstellen wollte. Also zog er die Beine an und schlang die Arme darum, um seinen Kopf auf die Knie zu betten. "Ich bin schon sehr gespannt, zu sehen, wie du normalerweise lebst. Bisher kenne ich dich ja nur als Seishi. Aber nachdem du mir gestern so viel erzählt hast, möchte ich gerne wissen, wie du normalerweise so bist." "Was soll'n das heißen, Knirps? Wie ich normalerweise so bin… NORMALERWEISE?! Ich hab' mich während der ganz'n Zeit mit euch nich' verstellt. Hätt' ich gar nich' nötig gehabt. Un' hey! Ihr habt mich auch so akzeptiert, also kann ich gar nich' so 'n schlimmer Typ sein, oder?" Chiriko musste lachen. Es tat gut, wieder zu lachen. Die ganze Zeit über hatte er sich darüber gesorgt, dass er seinen wohl besten Freund verärgert haben könnte. Dass er gar unerwünscht sei. Eine Last. Nur ein Kleinkind, das seinen Willen durchgesetzt hatte und das man nun nicht einfach abschieben konnte. "Nein, ganz und gar nicht. Ich finde dich richtig nett! Du bist cool und immer so lustig." "Nett. Cool. Lustig. Hm… na okay, das Cool lass' ich ma' gelt'n. Aber ich bin nich' nett un' nich' lustig!" "Doch, das bist du!" Beide lachten ausgelassen. Und kurz hob Tasuki seinen Arm unter seinem Kopf hervor, um dem Kleinen übers Haar zu wuscheln. "Du bist echt 'ne Wucht, Kleiner! Richtig mutig, mit einem wie mir einfach ma' so loszuzieh'n, ohne zu wissen, wie gefährlich das eigentlich is'." "Gefährlicher als all die Momente, die wir als Seishi durchgemacht haben, kann es immerhin nicht sein, richtig?" "Da magst'e Recht haben." Als Tasuki die Augen wieder öffnete, blickte er nachdenklich zum blauen Himmel auf. In den weißen Wolkenschwaden spiegelten sich die Bilder wieder, wie sich Chiriko im Kampf gegen den kleinen Giftzwerg Miboshi geopfert hatte. Wie könnte er diese Bilder auch je vergessen? All das Blut… der fremde, irre Blick in den sonst so großen, unschuldigen Augen. Und dann der schwache, lange Moment, als sein kleiner Kumpel starb. "Nochma' passiert das jedenfalls nich'. Das lass' ich nich' zu." Nur leise waren ihm diese Gedanken über die Lippen gekommen, ohne dass er es selbst mitbekam. Doch Chiriko hatte sein Gemurmel verstanden und sah in das ernste, entschlossene Gesicht des Älteren. Dann schloss Tasuki wieder die Augen und Ruhe umgab ihn. Auch Chiriko lehnte den Kopf wieder auf die Knie und schloss seine Augen, um sich von der Ruhe, die der Größere ausstrahlte, einhüllen zu lassen. Das Schnauben des rastenden Tieres beendete schließlich die Ruhepause. Tasuki setzte sich auf, gähnte kurz genüsslich und streckte ausgiebig all seine Glieder, ehe er begann, seine Stiefel wieder anzuziehen. Er fühlte sich frisch und erholt, als hätte er Stunden geschlafen. Doch der Stand der Sonne hatte sich kaum verändert, also konnte - wenn überhaupt - gerade mal eine Stunde vergangen sein, seit sie die Reiseunterbrechung begonnen hatten. Als er sich gänzlich aufgerichtet hatte schoss reine Energie durch all seine Venen und Muskeln. Er hatte das Gefühl, dass er den restlichen Weg hätte rennen können. Doch er wusste ungefähr, wie weit es noch bis Sou'Un war. Den Sprint würde er vermutlich aller Energie zum Trotz nicht schaffen. Während er nach seinen restlichen Sachen griff bemerkte er den kleinen Chiriko, der sich mittlerweile im Gras zusammengerollt hatte und friedlich vor sich hin schlummerte. >Ganz Kind<, schoss es Tasuki durch den Kopf und er musste bei dem Anblick schmunzeln. "He Chiriko, wach auf. Wir müss'n weiter, wenn wir bis zum Abend beim Berg Reikaku ankommen woll'n. Es is' noch 'n langer Weg, wach auf!", versuchte er den Jungen zu wecken und ruckelte sacht an dessen zierlicher Schulter. Wenige Augenblicke später begann der Jüngere tatsächlich zu blinzeln, bis er sich kurz auf dem Grün streckte und sich schließlich mit einem unterdrückten Gähnen aufsetzte. Noch etwas verschlafen blickte er zu dem Räuber hoch, wenig später lächelte er ihn dann fröhlich an. "Hai, ich bin bereit!" Schnell noch verstaute Tasuki seinen Gürtel und Mantel im Reitergepäck an den Seiten des Tieres, ehe er Sattel und Steigbügel wieder richtete und sich schließlich seinen Harisen wieder umschnallte. Behutsam hob er den Kleinen auf den hohen Rücken des Tieres, ehe er dem Hengst nochmal aufmunternd am Hals klopfte. "Auf geht’s, Kuro." Und gekonnt stieg schließlich auch er auf den Rücken des Reittieres und wies ihm die Richtung, um den vorerst letzten Rastplatz nur wenige Stunden weiter zu erreichen. Sie folgten noch eine Weile dem Wanderpfad, weit weniger verschwiegen als sie zu Beginn ihrer Reise gewesen waren. Es war, als wäre ein Siegel gebrochen worden, welches sowohl Tasukis Schmollerei als auch Chirikos Schuldgefühle einfach ausgelöscht hatte. Und so zeigte der Räuber tatsächlich auch Interesse daran, was genau sein kleiner Freund denn studieren wollte. Doch obgleich er sich bemühte, zu verstehen, was der Junge ihm mit so viel Begeisterung und Leidenschaft erklärte, verstand er doch so gut wie kein Wort. Räuberslang war wohl doch etwas ganz anderes als dieses hohe Gelehrtengeschwafel, stellte Tasuki für sich fest und gab sich vorerst damit zufrieden. KNURR. "Gomen!" "Chiriko, hast'e etwa Hunger?" Der Jüngere legte seine Hände an seinen Bauch und blickte etwas verlegen drein. Mittlerweile hatten sie die Mittagsstunden schon verstreichen lassen und es wurde endlich an der Zeit, dass die beiden Reisenden etwas Nahrhaftes fanden. "Das trifft sich gut! Da vorn' is' schon Tou'en, da kriegen wir auch was zu Futtern her. Halt noch etwas durch, Kleiner." "So schlimm ist es nicht…" Und tatsächlich kamen sie nur wenige Minuten später an die ersten Dorfhäuser. Tasuki hielt Kuro an, stehen zu bleiben, damit sie beide absteigen und den Rest zu Fuß überbrücken konnten. Sicher führte er das Tier neben sich her und wies den Jüngeren an, Schritt zu halten und bei ihm zu bleiben. Tou'en war nur ein kleines Randdorf mit einigen kleinen Feldern und Wiesen mit Vieh. Ein paar Bewohner kreuzten ihren Weg und begrüßten die Reisenden höflich im Vorbeigehen. "Willkommen die Herren. Bitte, setzen Sie sich doch. Hier her, bitte." Eine kleine, rundliche Frau mit freundlichen Gesichtszügen begrüßte sie sogleich in hellster Gastfreundschaft, als sie durch die schlichte Holztür in das kleine aber gemütliche Gasthaus eintraten. Wie ihnen gewiesen wurde, setzten sich Tasuki und Chiriko schließlich an den kleinen, niedrigen Holztisch, wo ihnen gleich ein eher schmächtiger Mann mit hochgebundenen Haaren und einem Tablett in der Hand entgegentrat, und sie ebenfalls höflich begrüßte. Er stellte eine Tonflasche mittig des Tisches und vor jedem von ihnen einen ebenso gefertigten Becher, wo sofort zu erkennen war, dass sie aus feiner Handarbeit stammten. "Was darf es für die Herren sein? Wir haben heute eine deftige Lauchsuppe auf Art des Hauses anzubieten. Dazu frisch gebackene Hefetaschen", bot die Frau sogleich mit einem sonnigen Lächeln an. Sie war schon etwas betagter und strahlte eine angenehme Ruhe aus, die zu dem schlichten, aber bedacht eingerichteten Stübchen passte. Neben Tasuki und Chrikio speisten hier derzeit nur noch zwei weitere, junge Burschen und ein älterer Bauer. "Die nehm'n wir. Un', ähm… Chiriko, magst'e was Bestimmtes trinken? Du musst dich stärken, bis zum Abend werd'n wir nirgends mehr vorbeikommen." "Ähm… nein, das ist schon okay. Aber kann ich dann bitte zwei von den Hefetaschen haben?" "Aber natürlich. Und bei Ihnen?" Die Frau lächelte zu Tasuki, welcher abwinkte. "Keine Sonderwünsche, danke." Und mit einem höflichen Nicken wandte sich die Frau von den beiden ab, sprach kurz zu ihrem Mann, welcher daraufhin ebenfalls nickend in ein Hinterzimmer verschwand, wo sich wohl die Hausküche befand. Tasuki griff nach der Tonflasche und gab erst Chiriko, dann sich selbst etwas von dem klaren Wasser in die Becher ein. "Wenn du dann noch Hunger hast, musst'e 's dann sag'n, ne. Ich mein's ernst, wir werd'n erst gegen Abend in Sou'Un eintreffen un' da bleib'n wir auch nich' lang'. Von da aus is' es nich' mehr weit." Chiriko nickte und trank eifrig aus seinem Becher. Das kühle Wasser war äußerst erfrischend, sodass er gleich um Nachschub bat, welchen ihm Tasuki lachend einschenkte. Nur wenig später kam wieder der Mann mit einem weiteren Tablett zum Tisch der beiden und stellte je zwei Teller vor den Jungs ab. Die noch heiße Suppe duftete aromatisch und zu den Hefetaschen wurden noch einige Gewürze dazugegeben, falls sie den Hungrigen zu fad waren. Er wünschte ihnen einen guten Appetit und entfernte sich schließlich wieder. "Das war echt lecker! Un' bist'e auch satt geworden?" Zufrieden klopfte sich Chiriko auf den Bauch und lachte vergnügt. "Und wie! Ich bin jetzt zwar etwas müde, aber ich denke, dass ich jetzt locker den Rest der Reise durchstehen werde." Auch der Räuber lachte, ehe er aus seiner Hosentasche einen kleinen Geldbeutel hervorkramte und einige Münzen herausholte. Er legte solche vor sich auf den Tisch und erhob sich zeitgleich. "Danke für's Essen! War echt super! Wir müss'n jetzt weiter." Die kleine Frau kam sogleich zu den beiden geeilt, die Hände noch an ihrer verblassten Schürze trocknend, und lächelte ihnen freundlich entgegen. "Freut mich, wenn es Euch geschmeckt hat. Habt eine gute Weiterreise!" Tasuki nickte ihr ebenfalls höflich zu, ehe er Chiriko zu Verstehen gab, dass sie aufbrachen. Der Kleine erhob sich daraufhin ebenfalls, verneigte sich kurz dankend vor der Frau und folgte dem Größerem dann eilig zum Pferd. Als sie das Dorf wieder verlassen hatten, half Tasuki dem Kleineren wieder aufs Pferd und saß schließlich ebenfalls wieder auf. Gemächlich ritten sie das letzte Stück bis zum Waldrand und redeten über die verschiedenen Küchen in den verschiedenen Teilen des Landes. Bei der Gelegenheit warnte Tasuki den Jüngeren, dass dies wohl bis zu seiner Heimkehr das letzte, gute Essen gewesen war. In seiner Bande befand sich vor seiner Abreise niemand, der wirklich geübt im Kochen war, sodass sich die Räuber eher mit einfacher, schneller Kost zufriedengaben. Wer gut essen wollte, musste eines der Gaststuben in der Stadt aufsuchen. "Hey, Chiriko! Was hältst'e davon, wenn wir das nächste Stück etwas beschleunigen?" Fragend blickte der Junge zu dem Älteren auf. Dieser grinste breit. "Wir werd'n hier sicherlich nich' groß auf andre Reisende treffen. Das heißt, ich könnt' Kuro ma' etwas Abwechslung gönnen un' wir sausen hier einfach durch, bis wir in der Nähe der Stadt sin'. Na, was meinst'e?" "Du meinst, wir galoppieren?" "Aber halt' dich gut an Kuro fest! Er is' wirklich schnell. Es wird dir bestimmt gefallen." Wie ihm geraten wurde lehnte sich Chiriko also etwas näher an den kräftigen Hals des Tieres und griff so gut es ging darum, um sich in der dichten Mähne festzuhalten. Soweit es ging rückte er in den Sattel, bis er zwischen Tasuki und dem Tier wie fest fixiert saß. Auch Tasuki kontrollierte seinen festen Sitz, spannte seine Schenkel fester an den Körper seines Tiergefährten und lehnte sich etwas über Chiriko vor, die Zügel sicher in den Händen haltend. "Okay, los geht's! Lass'n wir ma' wieder so richtig die Sau raus, Kuro!" Und ohne, dass er den Hengst großartig anspornen musste, schien das Tier den Willen seines Herrn zu verstehen. Er warf einmal den Kopf zur Seite, ehe er auch schon zu einem kraftvollem Galopp ansetzte. Und dann sprintete er über den Waldweg, schneller als der Wind selbst. Die starken Beine des Schwarzen trugen die beiden Reiter auf sicheren, kräftigen Hufen durch das dunkelgrüne Geäst. Anfangs kniff Chiriko die Augen zusammen, weil ihn der plötzliche Gegenwind zu Fallen verängstigte. Doch schon bald empfand er das kühle Streicheln des Windes an seinen Wangen und durch sein Haar als das Angenehmste, was er bisher erlebt hatte. Als er seine Augen vorsichtig wieder öffnete, konnte er durch den schnellen Licht-Schatten-Wechsel der Sonnenstrahlen durch die dichten Waldbäume kaum etwas erkennen. Der Weg vor ihnen war ein einziger, dunkler Streifen, der ins Nirgends führte. Um ihn herum verwischte die Umgebung zu einem Gemisch der verschiedensten Naturfarbtöne. In den Ohren rauschte das Vorbeizischen des Windes, sodass er die Waldvögel nicht mehr hören konnte. Ja doch, Tasuki hatte Recht gehabt. Es machte Spaß, nur so dahin zu rasen. Es war, als könnten sie dadurch die Zeit einholen und zum Anhalten zwingen! Vergnügt lachte Chiriko in den Wind und schmiegte sich eng an den Körper des Tieres, welches ihn in dieses Gefühl der Freiheit trug. Kapitel 3: Die Ankunft ---------------------- "Ruhig, Kuro. Ich weiß, du willst am liebst'n noch etwas weiterrennen, aber da vorn is' Sou'Un. Wir müssen langsamer mach'n." Spürbar unwillig ließ sich der schwarze Hengst auf die Notwendigkeit ein, sein Tempo zu drosseln und von seinem berauschenden Galopp in einen ernüchternden Trab, und schließlich ins gemächliche Schritttempo zurückzufallen. Noch etwas benommen von diesem unglaublichen Gefühl der Schnelligkeit hob sich Chiriko wieder in eine aufrechte Sitzposition. Er hatte etwas Mühe darin, seine angespannten Muskeln wieder zu entspannen, die ihn im Sitz gehalten hatten. Das Ziehen in seinen Händen war etwas unangenehm, aber dafür war es umso entspannender, den Rücken wieder in eine gerade Position zu bringen, da er nicht mehr zwischen Tier und Räuber wie eingeklemmt war. "Un'? Hat Spaß gemacht, ne?" Mit einem breiten, zufriedenen Grinsen blickte der Ältere zu dem Jungen vor sich hinunter. Ein erschöpftes Lächeln begleitete das zaghafte Nicken des Jüngeren. "Ja, das war wirklich toll! Wenn ich größer bin, will ich auch ein Pferd haben, mit dem ich öfter so reiten kann." Tasuki lachte herzlich. "Na ob du nochma' so 'n Pferd wie Kuro findest weiß ich nich'. Aber wenn du 's wirklich willst, dann wirst'e sicher auch irgendwann ma' 'n eigenes Pferd haben. Un' dann kannst'e das auch bestimmt öfters mach'n. Oder du kommst mich einfach ma' besuch'n, dann reiten wir nochma' zusammen mit Kuro so durch 'n Wald oder über 'n Feld. Er mag das!" Und als Lob klopfte er dem Schwarzen den Hals, was das Tier mit einer Art Kopfnicken bestätigte. Nur noch wenig Waldstrecke lag zwischen ihnen und der nächsten großen Stadt. Und nur wenige Minuten später lichteten sich die Bäume und sie sahen hin und wieder Sammler, die nach Pilzen oder Kräutern im Wald suchten. Dann endlich erreichten sie Sou'Un, die große Handelsstadt und gleichzeitig zentraler Treffpunkt zwischen den beiden Bergen Reikaku und Kaou. Hier trafen nicht nur Reisende aller Welt ein, um ihre Waren zu präsentieren und zu tauschen oder um sich zu versorgen, sondern auch Dorfbewohner der zahlreichen kleineren Dörfer in der näheren Umgebung kamen regelmäßig her für Einkäufe oder für den neusten Tratsch und Klatsch. Hier trafen sie sich alle. Vielleicht würden sie schon hier auf jemanden aus Tasuki's Bande treffen? "Ah!" Abrupt brachte der Räuberchef sein Pferd zum Stehen, woraufhin ihn Chiriko fragend ansah. "Was ist denn los?" "Bevor wir da hingeh'n müssen wir noch 'n paar Dinge klär'n! Na los, lass uns absteigen. Ich erklär's dir beim Geh'n." Wie gesagt, so getan. Wieder stieg Tasuki zuerst ab, um dem Kleineren von Kuro's Rücken zu helfen. Er führte das zahme Tier neben sich her, während er den Weg fortsetzte. "Also pass auf. Da wir in der Stadt vielleicht schon auf 'n paar der Jungs treff'n könnten, sag' ich's dir besser gleich. Die Jungs kennen mich nich' unter meinem Seishi-Namen, Kouji ausgenommen. Also nenn' mich ab sofort nich' mehr "Tasuki", sondern "Genrou", klar? Un' am besten nenn' ich dich auch nich' mehr "Chiriko", nur für"n Fall der Fälle." "Ähm… okay. Genrou-san." Unsicher sah Chiriko zum Älteren auf. Schon seltsam, jetzt plötzlich diesen fremden Namen für seinen Freund zu benutzen… Aber okay, er hatte sich Tasuki immerhin aufgedrängt, dass er ihn mitnehmen würde. Also war es das Mindeste, wenn er jetzt nach seinen Spielregeln mitspielte. "Buäh, das is' ja widerlich! Lass das –san weg!" Und während sie gingen, überlegte Tasuki kurz. Mit einem Seufzen fuhr er schließlich fort: "Notfalls kannst’e mich auch mit "Aniki" ansprechen." Er musste schmunzeln. Noch heute konnte er sich an die Situation erinnern, als Kouji ihm das damals ebenfalls vorgeschlagen hatte, nachdem Hakurou ihn frisch in die Räuberbande aufgenommen und seinem heutigen besten Kumpel unterstellt hatte. Ja, Kouji war wirklich immer sowas wie ein großer Bruder für ihn gewesen. Auch, wenn er – Genrou – nun der Anführer der Reikaku-Räuberbande war, Kouji war für ihn nie etwas Minderes als sein Bruder und bester Kumpel gewesen. Ja, Tasuki erinnerte sich an alles, als wäre es erst gestern gewesen, wie er seine Anfänge bei der Räuberbande gemacht hatte. Aniki… Seit Reirei's Tod hatte ihn niemand mehr so genannt. Obwohl, er war sich gar nicht mal mehr sicher, ob sie ihn überhaupt jemals "großer Bruder" genannt hatte. Naja, wäre wohl auch etwas komisch für sie gewesen, nachdem er erst von ihren Gefühlen erfuhr, als sie bereits im Sterben lag. "Egal! Weiter!" Energisch schüttelte Tasuki mit dem Kopf. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um in der Vergangenheit nach alten Wunden zu graben! "Als nächstes brauch'n wir andre Klamotten für dich. Sonst halt'n dich die Jungs noch für 'n Mädel, das wär' echt übel." "Was?" Prüfend sah Chiriko an sich herunter. Was war denn an dem Kimono auszusetzen? So einen würde doch kein Mädchen der Welt tragen. "Komm einfach mit. Wir find'n schon was für dich. Nichts leichter als das, haha!" Schnell war ein Schneiderladen gefunden. Kuro wurde mit schnellen Handgriffen angebunden, ehe Tasuki auch schon mit dem noch immer skeptischen Chiriko den Laden betrat. "Guten Tag, kann ich behilflich sein?", wurden sie nach dem hellen Läuten der Türglocke auch schon von einem Mann mittleren Alters begrüßt, der eher schlicht gekleidet war. "Ja! Wir such'n was Modisches für den Kleinen hier! Ohne viel Schnickschnack! Achja un' atmungsaktiv bitte, der Kleine spielt noch sehr viel.", erklärte der Räuber mit einem breiten Grinsen im Gesicht, während Chiriko protestierend an seinem Arm zog. "Tasuki-san…" "Pssst! Was sagt' ich, wie du mich nennen sollst?!" Und Tasuki gab dem Kleineren eine leichte Kopfnuss. Grummelnd bedachte der Kleine den Größeren mit einem schmollenden Blick, doch der Räuber ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Schon kam der Ladenbesitzer mit zwei Dressvorschlägen zu den Jungs zurück und präsentierte sie abwechselnd dem Älteren. "Das da! Probier das an, Knirps." "Nenn mich nicht Knirps…", protestierte Chiriko noch immer kleinlaut, erkannte aber, dass er ohnehin nichts an Tasuki's Willen drehen konnte. Also nahm er dem Verkäufer die Kleidungsstücke ab und ließ sich in eine Umkleideecke führen. "Perfekt! Hey, das sieht ja richtig gut aus! Jetzt siehst'e nich' mehr so wie 'n Mädchen aus un' du kannst auch ruhig ma' langsam etwas erwachsenere Klamotten tragen." Nach wenigen Minuten war Chiriko wieder hinter dem leichten Vorhang hervorgekommen und präsentierte sich, noch immer schmollend, vor seinem Freund, der vorerst den großen Bruder zu mimen versuchte. Bestätigend klatschte Tasuki leicht in die Hände und sein breites, selbstzufriedenes Grinsen sprach Bände darüber, wie er den Kleinen gerade sah. Als Chiriko das ebenfalls bemerkte, wandelte sich seine Skepsis in Neugierde. In der Umkleideecke hatte es keinen Spiegel gegeben, um sich zu betrachten. Und als hätte der Verkäufer die Gedanken des Jungen gelesen wandte er ihn an der Schulter in Richtung eines hohen Spiegels. Was Chiriko dort erblickte, verschlug ihm im ersten Moment die Sprache. Der Junge dort hatte dieselben kastanienbraunen Haare wie er, ebenfalls zu einem Zopf nach oben gebunden, wo jener locker abstand. Ein paar Strähnen hingen lose aus dem Zopf und ein fransiger Pony fiel leicht über die platinagrünen, großen Augen. Über dem weißen, locker liegenden Hemd, welches bis zum Dreiviertel seine Arme bedeckte, trug dieser Junge eine Art tiefdunkelblaue Weste im typischen, chinesischen Stil. Der zwei Zentimeter hohe Kragen war mit einem goldgelben, verdickten Stoff versehen und stand aufrecht im weiterem Abstand zu seinem Hals ab, was viel Platz zum Atmen bot. Ihm fielen sogar die fein verarbeiteten Knöpfe am Kragen auf – zwei auf jeder Kragenseite aus einem glänzenden Kupfermaterial – und der feine Streifen selben Stoffes wie der vom Kragen, wie er weit rechts gebunden und von denselben Knöpfen wie am Kragen geschlossen, vier Stück an der Zahl, ab Hüfthöhe seitlich abwärts verlief und als Stoffrand fungierte. Die Restweste auf der rechten Seite, von der von vorne betrachtet wenig zu sehen war, war etwas kürzer in der Länge verarbeitet, verlief aber am Rücken weiter seitlich abwärts fehlerfrei in der Kontur mit der anderen Seite, die länger nach unten verarbeitet war. Zwei schräge Streifen zierten die linke Westenhälfte auf der Vorderseite in einem Sonnengelb, dass es wie eine Mischung aus zwei Blitzen oder zwei Kratzern wirkte. Die lockere Baumwollhose bestand aus einem tiefen, etwas dunklem Rot und reichte bis zum Knöchel, wo – ebenso wie übrigens an den Ärmeln – jeweils ein kräftiger, dünner Faden das individuelle Zuschnüren des Stoffendes ermöglichte, um sie so eng wie möglich abzuschließen. Weiße Socken mündeten abschließend in schwarze, schlichte Schlüpfschuhe. "Na? Nu' sag' schon was!", drängelte auf einmal ein ungeduldiger Tasuki, nachdem Chiriko mittlerweile schon seit Minuten sein eigenes, neues Spiegelbild angestarrt hatte. Erschrocken fuhr der Junge in sich zusammen, dann wandte er sich aber an den älteren Freund und strahlte ihn etwas verlegen an. "Das ist toll!" "Gebongt! Meister, das nehmen wir! Kann der Kleine 's gleich anbehalt'n?" "Aber natürlich. Das macht dann 10 Silber-Ryo." "Was?! 10 Silber-Ryo?! Das is' Wucher! Geh'n Sie ma' 'n bisschen mitm Preis runter, Meister!", beklagte sich der Räuber, als der Verkäufer ihm den gewünschten Preis nannte. Er stemmte die linke Hand in die Hüfte, während der mit dem rechten Zeigefinger vor der Nase des älteren Mannes rumwuselte, der ein gutes Stück kleiner als er selbst war. Eine lautstarke Diskussion entbrannte, als die beiden Männer über den Preis verhandelten. "Okay, 5 Silber-Ryo un' dafür dürf'n Sie den Rest des Monats den Berg Reikaku ohne Wegzoll für Ihre Händlerreisen passieren!" Mit einem breiten, selbstzufriedenen Grinsen im Gesicht steckte Tasuki seinen Harisen wieder in seine Halterung am Rücken zurück und schlug mit dem eingeschüchterten Mann für den Handelsabschluss ein. Jener sah weniger zufrieden aus. Kein Wunder, jetzt wo er wusste, dass er gerade einem dieser Banditen vom Berg Reikaku gegenüberstand. Als er den Harisen gesehen hatte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, dass er den jungen Burschen mit den roten Haaren besser nicht unnötig provozieren sollte – außer, er wolle sein Geschäft gänzlich umsonst in Schutt und Asche legen lassen. Also war er mit dem Preis um die Hälfte runtergegangen, was immernoch besser war, als wenn sich der Bursche mit den feinen Stoffen einfach aus dem Staub gemacht oder alles niedergebrannt hätte. Die Formalität, umsonst den Berg passieren zu dürfen, erschien dem Händler als eine eher traurige Vertröstung und er glaubte nicht an das ehrenhafte Wort des Räubers. Nachdem Tasuki den vereinbarten Preis gezahlt hatte, drängte er Chiriko zur Weiterreise. Die Sonne stand bereits nur noch knapp am Himmel und bald würde die Abenddämmerung anbrechen. Sie mussten dringend den Banditensitz vor Einbruch der Nacht erreichen. "Na siehst'e. Mir kannst'e schon ab un' an vertrauen. Jetzt werd'n die Jungs dich nich' mehr für 'n Mädel halten, was sowohl für dich als auch für mich gleich viel sicherer is'. Un' du siehst jetzt viel erwachsener aus, richtig cool!" "Findest du wirklich?" Verlegen strich sich der Kleine eine der wirren Haarsträhnen hinters Ohr und schmunzelte zufrieden in sich hinein. Dann aber sah er den Größeren wieder ernst an. "Aber musstest du den armen Händler wirklich so einschüchtern? Es ist nicht nett, wehrlose Menschen so zu bedrohen…" "Hey! Was hast'e denn erwartet? Gewöhn' dich besser schonma' dran. Hier is' unser Jagdrevier. Un' wenn wir erstma' am Berg Reikaku sin', spielt alles nachm Gesetz des Dschungels – da läuft alles nach unsren Regeln!" Unbeeindruckt zuckte der Rothaarige mit den Schultern. In einer Seelenruhe band er den schwarzen Hengst los und führte ihn am Zügel vorwärts, das Gemurmel einiger Leute hinter sich ignorierend. "Außerdem is' das hier Sou'Un, eine der größten Handelsstädte des Landes. Dass die Leute verhandeln is' vollkommen normal." "Ja, verhandeln…" "Mir is' übrigens im Laden aufgefall'n, dass ich ja gar nich' weiß, wie dein richtiger Name is'. Es is' wirklich besser, wenn wir nich' erst das Risiko eingeh'n, dass einer der Jungs schnallt, dass du auch 'n Seishi bist." "Oh…" "Doukun heiße ich richtig… Onii-san." "Hä?! Hast'e mich grade "Onii-san" genannt? Lass das… wenn, dann nenn' mich "Aniki", Knirps." "Aber man verwendet bei uns nicht die unhöfliche Variante! Und nenn du mich nicht Knirps!", protestierte Chiriko und in seiner jungen Stimme schwang kindlicher Trotz mit. Tasuki seufzte und schüttelte ungläubig den Kopf. "Was denkst'e denn? Ich sag's dir nochma': Wir sin' auf'n Weg zum Berg Reikaku un' du wirst dich vorerst nur mit Typen wie mir abgeben müss'n. Nur dass die noch schlimmer sin' als ich. Da kannst'e auf sämtliche Gepflogenheiten un' Höflichkeiten verzichten. Also hab' dich nich' so. Immerhin wolltest DU ja unbedingt mitkommen." Nur schmollend ließ sich Chiriko von dem Älteren aufs Pferd heben, damit sie den letzten Rest des Weges so schnell wie möglich hinter sich bringen könnten. Aber in Einem waren sich beide insgeheim einig: An ihre neuen Anreden würden sie sich gewiss nicht so einfach gewöhnen. Als sie Sou'Un schließlich ebenfalls hinter sich gelassen hatten war die Sonne schon so gut wie untergegangen. Nicht mehr lange, und sie hätten ihr Reiseziel endlich erreicht. Nur noch ein kurzer Wanderweg, der in einer geraden Spur zu dem bewaldeten Berg führte. "Wow, das ist der Berg Reikaku?" Chiriko blieb neben Tasuki stehen, der für den beeindruckenden Anblick vom Tiefland aus im Gehen innegehalten hatte. Sein Gesicht hellte sich in Stolz und Vorfreude auf, während er die vertraute, warme Landluft tief einsog, die sich bereits mit der frischen Waldluft des Berges vermischte. "Is' cool ne?" "Beeindruckend…" Der Fuß des Berges war gesäumt von Waldbäumen, die den Eingang immer mehr verdichteten, sodass man schier gezwungen war, dem vorgegebenen Weg über den Berg zu folgen. Die Silhouette des Berges glich in etwa dem Umriss eines Wolfes, der aufrecht sitzend den Kopf in den Nacken gelegt hatte und den Himmel anzuheulen schien. Am violetten Horizont konnte man bereits die ersten Umrisse des Mondes sehen, der im Laufe der Nacht voll und rund neben dem riesigen Wolf über den Berg wachen würde. "Na los, geh'n wir weiter." Je weiter sie in den Berg vordrangen, umso mehr befiel den jungen Chiriko das Gefühl, dass es immer dunkler wurde – was zunächst nicht weniger daran lag, dass der Berg reichlich bewachsen war. Die Bäume ragten hoch hinaus und schmückten sich am Fuße mit den verschiedensten Gräsern, Wildblumen und hohem Gebüsch, hinter denen sich sogar wilde Bären problemlos hätten verbergen können. Hier und da war ein lautes Knacken im Unterholz zu hören, was den Jungen jedes Mal wieder aufschrecken ließ. Jede seiner Nerven waren bis aufs Äußerste gereizt und er konzentrierte alles auf seine Augen, um mögliche Gefahren in der Dämmerung erkennen zu können. Die Luft war frisch, ein wenig schwül, und regnete kühl gen Boden nieder. Wie ein immerwährender Regenschleier, der keine Nässe mit sich trug. "Chiriko… du machst mich nervös. Entspann dich! Solang' ich in der Nähe bin, passiert dir nichts." Der Räuber brach in schallendes Gelächter aus. "Ich bin so ziemlich das Gefährlichste, was hier rumlaufen dürft'. Außerdem würd' Kuro sofort reagier'n, wenn wirklich Gefahr drohen sollt'." Und um seine Aussage noch zu unterstreichen klopfte er seinem schwarzen Tiergefährten aufmunternd den Hals. Trotzdem konnte sich Chiriko nicht entspannen. Das alles war so unheimlich aufregend. Er hatte ja vom Berg Reikaku gehört, von seiner überwältigenden Schönheit und seiner beeindruckenden Größe. Aber er hatte sich nie ausmalen können, wie es wäre, ihn mal zu passieren. Nachdem sie schon einige Zeit ohne Vorfälle dem engen Pfad gefolgt waren, hielt Tasuki auf einmal an. Fragend blickte Chiriko zu dem Älteren auf, ängstlich, dass er etwas gehört haben könnte. "Lass uns ma' kurz da rübergeh'n. Ich will was schau'n." Der Räuber deutete leicht mit dem Arm in eine Richtung, die vom Trampelpfad ins Geäst wegführte. Dem Kleinen war bei dem Gedanken nicht wohl, den einigermaßen sicheren Weg zu verlassen. Trotzdem nickte er und griff fest nach Tasuki's Hand. Kurz blickte der Größere den Kleineren an, grinste dann aber und führte ihn an der Linken, den Hengst an der Rechten durch das dichte Gestrüpp. Ein paar Minuten weiter lichtete sich das Geäst zu einer kleinen Lichtung, wo etwas mehr Licht durch das sonst so dichte Blätterdach der Bäume fiel. Chiriko weitete erstaunt die Augen, als er einen kleinen Schrein erkannte, der schon Jahrhunderte alt sein musste. Er war aus dunkelgrauem Gestein gefertigt. Ein kleines Steinhäuschen auf einer kleinen Steinplattform, nicht mal ein ganzer Meter hoch. In dem Häuschen war eine metallene, kupferartige Schale eingebaut, in der aktuell ein paar Samen als letzte Gabe lagen. An der linken Seite waren zwei kleine Glöckchen an einem roten, breiten Band befestigt, während auf der rechten Seite neben dem kleinen Schreinhäuschen eine Art Wasserwippe aus Bambusholz angebaut wurde. Der Jüngere beobachtete, wie Tasuki den Hengst am Rand der kleinen Lichtung stehenließ und zu dem Schrein hinüberging. Mit etwas Abstand von etwa einem Meter vor dem kleinem Steinhäuschen deutete er eine Verneigung an, hockte sich davor nieder, ließ einmal kurz die Glöckchen auf der linken Seite hell läuten und faltete anschließend die Hände zu einem kurzen, stummen Gebet. Ein merkwürdiger Anblick… Chiriko hätte sich nie vorstellen können, dass ausgerechnet der vorlaute Seishi, den er bisher immer nur überstürzt und hitzköpfig erlebt hatte, sich mit solcher Erfurcht und Respekt einem so unscheinbarem Schrein zu einem Gebet widmen würde. Einfach so. Diese ungewohnte Szene hatte etwas Heiliges, etwas Reines. Und so wagte Chiriko weder zu sprechen, noch sonst irgendwelche Geräusche zu verursachen, die den Rothaarigen von seinem stummen Gebet ablenken könnten. Nach wenigen Minuten löste der Räuber seine Gebetshaltung und erhob sich wieder geschmeidig auf seine Beine. Kurz streckte er sich genüsslich, während er ein zufrieden grummelndes: "Ich bin wieder Zuhause!" verlauten ließ. Schließlich ging er wieder auf den Jungen und das schwarze Tier zu. "Von diesen Schreinen gibt 's hier viele. Weiter oben is' der Hauptschrein, er is' weit größer un' weit schöner als der hier. Aber ich konnt' einfach nich' vorbeigehen, ohne Hallo gesagt zu hab'n." Der Junge musste schmunzeln. Die lebensfrohe Art des Älteren sprang einfach zu ihm über. Komischerweise hatte er das Gefühl, als wäre auch er bereits hier Zuhause. Gerade so, als wäre auch er nach Hause zurückgekehrt. Schon seltsam, dabei war er in seinem ganzen Leben noch nicht mal ansatzweise in die Nähe des Berges gekommen. Aber wie er in Tasuki's Gesicht all das ablesen konnte, diese tiefe Zufriedenheit und all die Glücksgefühle, zog es ihn einfach mit. "Wer da?!" Bei der plötzlichen fremden Männerstimme, die kräftig hinter einem Baum zu ihnen sprach, erschraken beide Jungs gleichzeitig. Reflexartig schob Tasuki den Jüngeren hinter sich und stellte sich schützend vor ihm auf, die Hände zu Fäusten geballt und kampfbereit vor seine Brust gehoben. Zu allem bereit spannten sich Nerven und Muskeln beim Räuberboss an und er bleckte leicht die ausgeprägten Eckzähne, die ihm immerhin seinen Namen "Genrou" eingebracht hatten. Hinter einem Baum nahe dem Schrein trat nach kurzer Zeit ein Mann hervor, kaum größer als Tasuki selbst. Trotz des Schattens, welchen das Geäst auf den Fremden warf, war seine dunkelgebräunte Haut ebenso gut zu erkennen, wie das dunkelgold gewobene Stirnband, welches er trug. Unter den dichten Augenbrauen blitzten dunkelgrüne Augen hervor und suchten nach den Eindringlingen, welche er bemerkt hatte. Plötzlich lockerte sich die Kampfhaltung von Tasuki und Chiriko bemerkte das ungläubige Erstaunen des Älteren, als er den Fremden zu erkennen schien. Auch auf der anderen Seite tat sich etwas, als der Fremde noch etwas näher trat und schließlich die schützenden Schatten verließ. Seine Hand, die eben noch fest um das angebundene Schwert an seiner linken Hüfte geschlossen war, löste sich von der Waffe und hob sich in Richtung der beiden Jungs. "Ge… Genrou?!" "Kouji!!" Und schon stürzten die beiden Männer aufeinander zu, hakten die Arme ineinander und drehten sich gemeinsam, fast schon tanzend, im Kreis, während sie laut lachten. "Kouji! Mann, erschreck' uns doch nich' so! Ich hätt' dir glatt den Arsch versohlt!" "Das hätt' ich gern geseh'n. Es is' so lang' her, Genrou! Endlich bist'e wieder da!" "Was'n das für'n Radau?" Die beiden tänzelnden Männer hielten in ihrem Freudentanz inne und blickten zusammen in die Richtung, aus der eine weitere – etwas jüngere – Stimme kam. Nur kurze Zeit später trat ein weiterer Mann hervor, etwas jünger als Tasuki und Kouji. "Dianou!", rief Tasuki überrascht aus, als er den Jungen ebenfalls erkannte. Wieder machte sich reine Wiedersehensfreude auf seinem Gesicht breit. Wie wild zog er am Arm seines besten Freundes neben sich, als wäre er selbst ein kleiner Junge an Mamas Hand, der eine tolle Entdeckung gemacht hatte und sie ihr unbedingt voller Stolz zeigen wollte. Während der dunkelblonde Junge etwas ungeschickt über das Geäst stieg, sah er irritiert zu den anderen Männern herüber. Er brauchte eine Weile, um die Situation einzuordnen. Dann aber tat er einen lauten Überraschungsschrei und stolperte auf den Banditenchef zu und warf sich ihm regelrecht in die Arme. "Genrou! Genrou, du bis' wieder da!" In einem Gemisch aus Schluchzen und Lachen umarmte er seinen so lange verschollenen Boss und knuddelte ihn regelrecht, woraufhin die anderen beiden Männer lachen mussten. "Dianou, du brauchst echt 'n Mädel, Kleiner.", scherzte Kouji neckend. "Ey!" Böse funkelte der jüngere Räuber den Dunkleren an, ohne dabei von seinem Boss abzulassen. Tasuki lachte noch immer und strich dem Jungen über das zottelige Haar. "Is' ja gut. Ich bin wieder da!" Endlich wich auch die Angst aus Chiriko's Gesicht, während er die Männergruppe vor sich beobachtete. Er hatte begriffen, dass die beiden Fremden wohl Jungs aus Tasuki's Räuberbande waren. Also ging von ihnen höchstwahrscheinlich keine Gefahr aus. So sehr, wie sie sich über die Rückkehr ihres Bosses freuten. Sie wirkten auf Chiriko fast brüderlich zueinander – und ein kleiner Neidstich zog sich durch seine Brust. "He, wer is'n das da?" Mit einem Mal hatte sich die gesamte Aufmerksamkeit der Anwesenden auf den kleinen Jungen gerichtet, der etwas abseits von den Älteren stand und unsicher vor sich hinblickte. Als er nun die drei Augenpaare auf sich liegen spürte, wandte sich sein Blick unsicher an seinen Freund. Der Blonde, Dianou, trat schließlich von seinem Boss weg und kam zielstrebig auf den Jungen zu, woraufhin Chiriko reflexartig etwas zurückwich und die Arme auf Kinnhöhe hob, was ohne die langen Kimonoärmel etwas seltsam aussah. "Der Kleine is' mein Otouto." Gerade war der junge Bandit an den Kleineren herangetreten, als bei der kräftigen Stimme sich alle nach dem Rothaarigen umwandten. Solcher hatte dominant die Arme vor der Brust verschränkt und hatte seinen Blick auf den Kleinen fixiert. "Was…?!", klangen die anderen beiden Männer beinahe zeitgleich. "Ich pass' vorübergehend auf ihn auf. Also haltet eure Griffel still, wenn ihr vorhabt, ihn falsch anzurühr'n! Dann werd' ich ernsthaft sauer!" "Genrou…" Kouji trat etwas dichter an seinen besten Kumpel heran und stieß ihm leicht in den Rücken, woraufhin der Banditenchef seinen Kopf etwas zurückhob. "Das da is' doch nich' im Ernst dein kleiner Bruder?" "Jetzt nich', Kouji. Ich erklär's dir später." Die beiden Männer hatten sich nur im Flüstern ausgetauscht, bis Tasuki schließlich vortrat und Chiriko eine Hand beruhigend auf die Schulter legte. Der Kleine sah aus unsicheren, großen Augen zu ihm auf. "Es wird dunkel un' wir hatt'n 'ne lange Reise. Lasst uns zu den andren zurückkehren un' erstma' feiern, dass euer Boss wieder da is'." Nur kurze Zeit später hatten sie alle zusammen den Rest des Weges zurückgelegt und Chiriko erkannte schon bald die Lichter, die durch die Fenster einer größeren Hütte nach draußen drangen. Er war mittlerweile so müde und erschöpft, dass Tasuki ihn kurzerhand auf seinen Rücken gehoben hatte und ihn das letzte Stück trug, während Dianou den schwarzen Hengst hinter der Meute herführte. Unterwegs berichtete Kouji, was sich in Tasuki's Abwesenheit alles Wichtiges ereignet hatte. Dass zwei Leute aus der Bande ausgetreten waren, einer sich abgesetzt und eine Familie gegründet hatte und dass dafür drei Neulinge vor noch gar nicht so langer Zeit der Räuberbande beigetreten waren. Nachdem Tasuki seiner Pflicht als Seishi gefolgt war – was natürlich nur wenige aus der Bande wussten – und seinen Posten in der Zeit Kouji übertragen hatte, hatte es nur wenig später einen Überfall der Kaou-Bande gegeben. Keiron war schon lange nicht mehr der Boss der Kaou-Räuberbande, dafür hatte der neue Anführer ebenfalls versucht, den Harisen an sich zu bringen und somit auch die Regentschaft über den Berg Reikaku zu erlangen. Zum Glück aber befand sich der magische Fächer all die Zeit über in Tasuki's Obhut, sodass die Räuberrivalen nichts vorfanden und Kouji seine Leute ohne Rücksicht zur Verteidigung einsetzen konnte. Die Auseinandersetzung war glimpflich ausgegangen, keine Opfer, kaum Verluste. Ansonsten hatte sich wenig Neues ergeben. Beim Sitz der Bande schließlich angekommen brachte Dianou den Hengst zu den Ställen und machte sich daran, ihn abzusatteln und zu versorgen. Der blonde Junge war einer der Wenigen, der Hand an das Tier legen konnte auch wenn Tasuki nicht in der Nähe war, ohne dass es wild wurde. Währenddessen drängelten sich Tasuki und Kouji an den ersten Kameraden abwinkend vorbei, um den Kleinen auf ein Zimmer zu bringen, damit er sich ausruhen konnte. Fragen, die den lang zurückersehnten Anführer überfielen, wurden auf "später" vertröstet. All das Gewusel und Gerede bekam Chiriko kaum mit. Er hatte Mühe, die Augen offenzuhalten. Den Trubel, den Tasuki's Rückkehr auslöste, bekam er nur schleierhaft mit und er kuschelte sich müde an die Schultern des vertrauten Freundes. "So, jetzt kannst'e erstma' pennen. Es war 'ne anstrengende Reise für dich, hm?" Vorsichtig hob Tasuki den schläfrigen Jungen von seinem Rücken und legte ihn auf einen Futon ab. Mit geschickten Handgriffen entkleidete er Weste und Schuhe des Jungen und deckte ihn anschließend behutsam zu, ehe er ihm nochmal prüfend über die Stirn strich. "Tasuki-san…", die zierliche Stimme des Jüngeren klang schläfrig. "Shhshh, schlaf erstma'. Hier wird dich keiner stör'n. Ich muss nochma' 'ne Weile zu den Jungs un' komm' dann später wieder. Ruh' dich aus, kleiner Mann." "Mhm…" Und mit einem zufriedenen Lächeln rollte sich der Junge auf die Seite, mummelte sich in die Bettdecke und schien auch schon eingeschlafen zu sein. Der Räuber schmunzelte amüsiert, ging dann nochmal zum Fenster um es ein wenig zu öffnen, ehe er leisen Schrittes sein altvertrautes Zimmer verließ. Es war an der Zeit, sich der hungrigen Banditenmeute zuzuwenden, die ihn nur so mit Fragen und Berichten überschütten würden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)