Zwischenwelten von Arle (-Sidestory X ~ Veleno-) ================================================================================ Prolog: -------- Beginn: 26.12.2010 Ende: 26.12.2010   Lasziv räkelte er sich auf dem Bett und betrachtete ihn mit wehmütigem Blick. Sein Gast stand reglos am Fuße der prunkvollen Schlafstätte und starrte ihn mit eisigem Blick an. „Willst du es schon wieder versuchen? Hast du nicht langsam genug davon?“, fragte der Meister und verlieh seiner Stimme einen beinahe gönnerhaften Klang. Statt einer Antwort riss der Andere die Vorhänge zur Seite. Die Jagd hatte begonnen. Er atmete schwer, während das Blut flutengleich aus seinem Körper strömte. Mit einem leidenden Ausdruck auf dem Gesicht, streckte er die Hand nach dem bleichen, schönen Antlitz aus, das über ihm in der Dunkelheit schwebte. Doch die Entfernung war zu groß, es blieb für ihn unerreichbar. Er lachte leise und sah liebevoll zu dem Anderen auf. Bedauern lag auf den Zügen des Meisters, als er sagte: „Erschaffenen Wesen kann ihr Schöpfer niemals gleichgültig sein. Sie können ihn fürchten und hassen oder bewundern und lieben.“ Eine Pause trat ein, als das Blut in seine Lungen lief und er hustete, sodass die roten Tropfen in alle Richtungen davonstoben. „Warum konntest du mich nicht lieben?“ Der Pfahl in seinem Herzen brachte ihn zum Schweigen. Er gehörte noch zu dieser alten Art von Vampiren, die man auf diese Weise töten konnte. „Weil ich nichts auf dieser Welt so sehr verabscheue wie Euch, Meister“, antwortete er leise und voller Hass. Bis zuletzt hatte sein selbsternannter Herr es sich nicht eingestehen wollen. Dass er sich geirrt hatte. Dass nicht jedes der von ihm erschaffenen Geschöpfe seinem Willen gehorchte, ihm folgte und zu Diensten war. Sie würden bald hier sein. Was das anbelangte, hatte der Meister zweifellos die Wahrheit gesprochen. Schon jetzt meinte er ihre Schritte zu hören, ihre klagenden Stimmen drangen als ein leises Wispern an sein Ohr. Unbestimmt. Unfähig ihr Entsetzen in Worte zu fassen. Mit der Vernichtung ihres Herrn, ihres Schöpfers, hatte er sie alle zum Tode verurteilt. Sie würden verhungern oder dem Wahnsinn anheimfallen und vernichtet. Und bis dahin würden sie den Mörder ihres Meisters jagen. Er verließ das Anwesen, doch es dauerte nicht lange bis sie ihn eingeholt hatten. Zu dieser frühen nächtlichen Stunde waren die breiten, steinernen Straßen vollkommen leer. Wie das Summen von Insekten hingen die hasserfüllten Stimmen der Herrenlosen in der Luft. „Er hat den Meister verraten!“ „Er hat den Meister getötet!“ „Tötet ihn!“ „Tötet ihn!“ Er wandte sich ihnen zu und obgleich sie so verschieden waren, war es, als stürzten nichts anderes als abscheuliche Ebenbilder des Verhassten auf ihn ein. Und gemeinsam verliehen sie dem Schwarz der Nacht ein bezaubernd rotes Antlitz. Kapitel 1: ----------- Beginn: 26.12.2010 Ende: 26.12.2010 Durch die nebelhaften Wolken schien das bleiche Licht des Mondes und beleuchtete die bizarre Szenerie. Es war der Geruch des Blutes, der mich angezogen hatte und dem ich in dieser sonst so ruhigen Nacht gefolgt war. Ich verspürte keinen Hunger, ja nicht einmal Appetit, doch der Duft, der mir in die Nase stieg, war so intensiv, dass es schwer war, sich ihm zu entziehen. Und erstaunlich, es war so viel Vampirblut darunter, dass man beinahe einen van Hellsing fürchten musste. Es war nicht schwer, das Zentrum des Kampfes auszumachen. Die Kontrahenten hatten ein wahres Blutbad angerichtet und ich brauchte lediglich ihren Körperteilen zu folgen. Einen Moment lang glaubte ich, vor der Silhouette des Mondes eine Gestalt zu sehen, doch nur einen Lidschlag später war sie fort. Ich hörte keine Schritte und auch die Luft war vollkommen ruhig. Offenbar verwirrte das viele Blut meine Sinne. Hier war nichts als der Tod. Hatten sich diese Narren etwa alle gegenseitig umgebracht? Mitten in einer von Menschen bewohnten Stadt? Ärgerlich sah ich mich um. Sie hatten eine ziemliche Sauerei angerichtet. Blieb nur zu hoffen, dass die Bewohner erst nach Sonnenaufgang ihre Häuser verließen. Ich ging zu einer der Leichen und betrachtete sie näher. Kein Zweifel. Allesamt Vampire der unteren, wenn nicht untersten Klasse. Und sie alle schienen aus dem Gefolge Urags zu stammen. Seltsam. Weshalb sollte er ein solches Massensterben seiner Untertanen zulassen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er sie alle satt gehabt hatte. Dafür hatte er es viel zu sehr genossen, der Mittelpunkt ihres von ihm verliehenen Lebens zu sein. Andererseits konnte ich keine wirklich starken Vampire in der Umgebung ausmachen. Und weshalb hätte einer von ihnen so weit gehen sollen, das Gefolge des Meisters zu töten? Ich sog tief die kühle Nachtluft ein und stellte mit mildem Erstaunen fest, dass es offenbar doch einen Überlebenden gab. Nicht besonders mächtig, außerdem verletzt wie es schien, aber lebendig. Doch das Wesen veränderte seine Position nicht. Langsam, jedoch ohne besondere Vorsicht, schritt ich die Straße entlang. Was auch immer es war, es besaß – zumindest im Augenblick – nicht die Kraft mir zu schaden. Ich besah mir die Häuser zu beiden Seiten, an deren Fassaden das Blut bis hinauf in den ersten Stock gespritzt war. Was für eine Schweinerei. Und welch eine Verschwendung! Ich bog um den Häuserblock, der Straße folgend, die sich ein paar Meter weiter zu einem riesigen Platz öffnete. Und dort, noch vor der Grenze, die das Ende des Häuserwaldes markierte, stand er. Eine stolze, aufrechte Gestalt, umgeben von den Leichen seiner Angreifer. Selbst mit den Augen eines Vampirs fiel es schwer, etwas anderes als die Farbe des Blutes auszumachen, das seinen Körper bedeckte wie eine zweite Haut. Wie gebannt starrte ich ihn an. Ein paar blonde Strähnen blitzten unter dem roten Todesgewand hervor. Der Blick der tiefblauen Augen war auf mich gerichtet, doch ihr Ausdruck verriet mir, dass er mich nicht sah. Möglich, dass ein Teil von ihm meine Anwesenheit registrierte, doch er zeigte es nicht. Ich war zu erschüttert, vielleicht fasziniert von dem Anblick, als dass ich hätte einschreiten können, als er plötzlich und ohne Vorwarnung in sich zusammensank. Langsam, vorsichtig trat ich näher. Es war nicht auszuschließen, dass es sich um eine Falle handelte. Doch ein Blick auf den reglosen Körper zerstreute alle Zweifel. Dieser Vampir konnte mir keinen Schaden mehr zufügen. Blieb die Frage, was ich nun zu tun gedachte. Nicht mehr lange und die Sonne würde hinter den Hügeln aufgehen. Und es war nicht sicher, ob der Andere bis dahin wieder zu sich kommen würde. Nachdenklich betrachtete ich das bleiche Gesicht und musste mir wohl oder übel eingestehen, dass ich im Begriff war mich in eine Sache einzumischen, die mich nichts anging. Und wer oder was auch immer der Andere sein mochte – friedfertig war er nicht. Als ich die Anwesenheit weiterer Verfolger spürte, war die Entscheidung gefallen. Vorsichtig hob ich den Bewusstlosen auf meine Arme und verschwand mit ihm in der Nacht. Kapitel 2: ----------- Beginn: 26.12.2010 Ende: 10.01.2011 Kapitel 2 Mein unfreiwilliger Gast schlief bis zum nächsten Abend. Der silberne Mond hatte seinen Weg noch nicht einmal zur Hälfte beschritten, als der junge Vampir die Augen aufschlug. Ich hatte mich tagsüber nicht zur Ruhe begeben. Stattdessen hatte ich meinen Besucher gewaschen, ihm neue Kleidung angelegt und ihn dann zu Bett gebracht. Ihn in meinen Sarg zu legen hatte mir nicht behagt, außerdem konnte ich ihn so besser im Auge behalten. Ich hatte in der Nähe des Bettes in einem Sessel Platz genommen und die Zeit genutzt, ein wenig in meiner Lektüre zu blättern. Für mich waren Bücher eine der besten Erfindungen, die die Menschheit je hervorgebracht hatte. Kaum war der junge Mann erwacht, richtete er sich auf und zeigte das typische Verhalten eines Wesens, das keinerlei Kenntnis von dem Ort besaß, an dem es sich befand. „Guten Abend“, sagte ich freundlich und legte das Buch aufgeschlagen auf meinem Schoß ab. Sein Kopf schnellte herum und sein Blick erinnerte mich an den eines wilden Tieres. „Wo bin ich?“, fragte er, ohne den Gruß zu erwidern. Es klang aggressiv, aber das überraschte mich nicht. Er war verletzt und der Blutverlust würde ihn schon sehr bald sehr hungrig machen. „In meinem Haus“, erwiderte ich. Misstrauisch sah er mich an, seine blauen Augen zu Schlitzen verengt. „Wer seid Ihr?“ „Dein neuer Herr?“, antwortete ich und für einen langen Moment glaubte ich, er wolle mich anfallen. Ich hatte es eher herausfordernd, scherzhaft gemeint, doch ein Blick auf den jungen Vampir machte mir unmissverständlich klar, dass dies kein Thema war, über das man scherzen durfte. Seine heftige Reaktion überraschte mich. Nur dieses eine Wort, Herr, und sein ganzer Körper zeigte eine so deutliche Ablehnung, dass ich mich nur darüber wundern konnte. In seine schönen blauen Augen stand der blanke Hass geschrieben. „Nein“, flüsterte er leise und wich zurück. „Niemals. Eher würde ich sterben als noch einmal...“ Er brach ab. Unwillkürlich fragte ich mich, was sein früherer Meister ihm angetan haben mochte, dass ihn der bloße Gedanke daran, erneut jemandes Gefolgsmann zu sein, derart abstieß. Plötzlich, ohne dass ich hätte erkennen können was der Grund dafür war, änderte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht. Ich wusste nicht, ob er glaubte mich verärgert zu haben, jedenfalls änderte er seine Taktik. Sein Lachen klang schrill und unheilvoll, sein Blick wirkte überheblich. Und ich meinte diesen leichten Schimmer in seinen Augen auszumachen, der so typisch war für jene, die früher oder später dem Wahnsinn verfielen. „Ihr würdet mich nicht wollen“, sagte er und wäre ich ein Mensch gewesen, er hätte mir Angst gemacht. Doch in seinem jetzigen Zustand, hatte ich außer seinem Wahnsinn kaum etwas zu befürchten. „Ach?“, bemerkte ich interessiert. „Und warum nicht?“ Sein Lächeln verschwand, ebenso wie der sonderbare Glanz in seinen Augen. „Ich habe meinen Meister getötet.“ Schweigen. Seine Drohung, denn es war eine Drohung, hing im Raum und wartete darauf beantwortet zu werden. Ich betrachtete ihn ruhig und fragte mich im Stillen, was für ein Wesen ich da vor mir hatte. Einen Vampir, natürlich. Einen Erschaffenen – auch daran bestand nicht der geringste Zweifel. Nein, es war vielmehr so, dass ich versuchte ihn einzuschätzen, mir über sein Verhalten und seinen Charakter klar zu werden. Und darüber, was er sah, wenn er mich betrachtete. „Urag, nicht wahr?“ Ein Ausdruck der Überraschung huschte über sein Gesicht und verschwand so schnell wie er gekommen war. Jetzt lag in seinem Blick wieder offenkundiges Misstrauen. „Ihr wisst davon?“ Seine Stimme klang gedämpft, als ob er sich ein Tuch vor den Mund hielte, um ihren Klang zu verfälschen. Oder als ob er Mühe hätte, seine Gefühle im Zaum zu halten. „Nur eine Vermutung“, gab ich zu, doch er fragte nicht nach. Stattdessen musterte er mich, als wäge er noch ab, ob er mich am Leben lassen oder doch besser töten sollte. „Wer seid Ihr?“ „Veleno“, erwiderte ich. Der Name schien ihm nichts zu sagen, aber das verwunderte mich nicht. Er war noch jung und zudem kein geborener Vampir. Und wenn er die Mächtigen nur halb so sehr verabscheute wie viele seiner Brüder und Schwestern... „Sagt dir der Name Vittorio etwas?“ Einen Lidschlag lang weiteten sich seine Augen, doch es schien eher ein Zeichen des Erkennens, als der Furcht oder der Ablehnung zu sein. „Die Velenos gehörten ursprünglich zu den Vittorios, doch seit der Spaltung des Hauptclans sind wir gewissermaßen zu einer Nebenlinie geworden.“ Er hörte aufmerksam zu, dann fragte er: „Warum habt ihr euch getrennt?“ Ich musste zugeben, dass er mich überraschte. Es gab nicht viele Vampire, die sich für die Familiengeschichte anderer interessierten. „Ein Streit nehme ich an. Vielleicht auch eine Liebesgeschichte.“ Tatsächlich wusste es niemand so genau. Weder die Vittorios noch die Velenos. Vielleicht noch ein paar der Alten, doch was solche Dinge anbelangte, hüllten sie sich wie üblich in Schweigen. Allerdings hatte es auch nie wirklichen Anlass zur Frage gegeben. Denn anders als die meisten Vampirfamilien, die eine solche Spaltung erfahren hatten, verband die Vittorios und die Velenos keine Feindschaft. Die Vittorios waren die Stärkeren, daran gab es keinen Zweifel und niemand aus meiner Familie hatte jemals ernsthafte Ambitionen gezeigt das ändern zu wollen. Wir waren zufrieden. „Veleno bedeutet...“ „Gift, ja“, bestätigte ich und lächelte. Er musterte mich so intensiv, dass es beinahe unangenehm war. „Ist es wegen der Augen?“ Verblüfft sah ich ihn an, dann musste ich lachen. Unglaublich! Auf eine solche Idee war noch niemand gekommen. Viel eher hätte ich damit gerechnet, dass die unheilvolle Bedeutung meines Namens sein Misstrauen nähren würde. Stattdessen fragte er, ob das Grün meiner Augen der Grund dafür war. Köstlich! Was für ein erfrischend neuer Gedanke! Ein Blick in sein Gesicht verriet, dass ihn meine Heiterkeit verärgert hatte. Kein Zweifel – die Distanz zwischen uns hatte sich wieder vergrößert. „Und du?“, fragte ich. „Hast du auch einen Namen?“ Auf seinem Gesicht arbeitete es. Fast schon glaubte ich, er würde mir lediglich eine patzige Antwort geben, doch ich irrte mich. „Noël.“ Zweifelnd sah ich ihn an. Etwas, das ihn offenbar noch mehr verärgerte, doch er gab mir keine Gelegenheit mich zu erklären. „Es ist der Name, den mein Meister mir gegeben hat. Der Tag meiner Geburt.“ Wie einfallsreich, dachte ich, behielt diese sarkastische Bemerkung jedoch für mich. Und wieder änderte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht so deutlich, dass ich Mühe hatte seinen Gedanken zu folgen. Seine Haltung war aufrecht, er selbst mit einem Mal vollkommen ruhig und gefasst. Er wirkte ernst, sein Blick hatte etwas strenges und seltsam endgültiges. „Was habt Ihr jetzt mit mir vor?“ Als ich nicht antwortete präzisierte er die Frage. „Werdet Ihr mich töten?“ „Warum sollte ich dich töten wollen?“, fragte ich ebenso ernst und betrachtete aufmerksam seine Gesichtszüge. „Ich habe Meister Urag getötet.“ „Aha“, bemerkte ich und machte mir gedanklich eine Notiz. Es würde also noch einige Aufregung geben. Meister Urag hatte zu einer jener alten Vampirarten gehört, die man vernichten konnte, indem man sie der Sonne aussetzte oder ihnen einen Pfahl ins Herz stieß. Etwas, das dank der regen Fantasie der Menschen sehr selten geworden war. Seine Gefolgschaft war groß und bestand hauptsächlich aus Erschaffenen. Wesen, die unbedingt auf das Blut ihres Meisters angewiesen waren, wenn sie bei Verstand und das hieß am Leben bleiben wollten. Natürlich hätte das Blut jedes anderen Adligen die gleiche, zumindest aber eine ähnliche Wirkung gehabt, doch für die meisten von ihnen waren Wesen wie er kaum mehr als Tiere. Viele hielten sie sich als eine Art Sklaven, was gelegentliche Fütterungen notwendig machte, doch Beziehungen dieser Art waren selten von Dauer. Genauso gut hätte man flüssiges Gold in einen Abwasserkanal schütten können. Ich versuchte mich daran zu erinnern, von wem ich diesen Vergleich gehört hatte, doch es wollte mir nicht einfallen. Jedenfalls hatte dieser junge Mann mit der Ermordung seines Meisters alle, die von ihm in Vampire verwandelt worden waren, zum Tode verurteilt. „Seid Ihr denn nicht wütend?“, fragte er ungläubig und sah mich mit einem ebensolchen Blick an. Also war das Gerücht auch bis zu ihm vorgedrungen. Viele Vampire und so gut wie alle Erschaffenen glaubten daran, dass der Adel eine große, verschworene Gemeinschaft sei, die jeden Schaden an einem der ihren blutig rächte. Das mochte früher vielleicht einmal so gewesen sein, doch in der heutigen Zeit waren sie derart zerstritten, dass die Freude über das Ende eines ihrer Mitglieder nicht selten überwog. Aber das hing davon ab wer und durch wessen Hand er starb. Blutrache war etwas, das es auch unter Vampiren gab. „Wir standen uns nicht besonders nahe“, antwortete ich wahrheitsgemäß und legte das Buch beiseite. Ich würde wohl nicht mehr dazu kommen es zu lesen. Zumindest nicht in dieser Nacht. Sein irritierter Blick amüsierte mich, doch vermied ich es sorgfältig, es ihm zu zeigen. Offenbar war er der festen Überzeugung gewesen, dass ich sein Leben hier und jetzt beenden würde. „Warum habt Ihr mich hierher gebracht?“ Sein Misstrauen schien ungebrochen. Lächelnd erhob ich mich – er zuckte zurück als hätte ich versucht ihn zu schlagen – und stellte das Buch zurück ins Regal. Dann wandte ich mich wieder meinem Gast zu. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und deutete mit dem Zeigefinger nach oben. „Die Sonne“, erklärte ich, doch er schnitt mir das Wort ab. „Ich bin resistent. Sie kann mir nichts anhaben.“ Offenbar war er ebenso ehrlich wie undankbar, doch mich amüsierte seine offensichtliche Ablehnung mehr, als dass sie mich ärgerte. Mehr noch, er überraschte mich. Ein Erschaffener, der in der Lage war seinen Herrn zu töten und sich darüber hinaus auch tagsüber frei zu bewegen vermochte. Er war wirklich ein ganz erstaunliches Wesen. „Nun“, erwiderte ich, „dann entschuldige ich mich für das Missverständnis.“ Er verzog das Gesicht und für einen Moment glaubte ich, einen leichten Rotschimmer auf seinen Wangen bemerkt zu haben. Da es jedoch nicht meine Absicht gewesen war, ihn in Verlegenheit zu bringen, wechselte ich das Thema. „Du wirst hier im Haus nichts Essbares finden. Ich esse für gewöhnlich auswärts. Wenn du hungrig bist, wende dich einfach an mich.“ Ich wusste nicht welcher Teil meiner Aussage ihn verärgert hatte, doch er sah mich nur wütend an, stand auf und schickte sich an das Zimmer zu verlassen. „Wenn du gehen willst, werde ich dich nicht aufhalten, aber angesichts deines Zustandes und der Verfolger da draußen, würde ich von einem nächtlichen Ausflug dringend abraten.“ Langsam wandte er sich mir zu. „Ihr wollt mich hier einsperren?“ „Nein. Es steht dir frei zu gehen, wann immer es dir beliebt. Wenn du jedoch nur ein klein wenig an deinem Leben hängst, würde ich dir empfehlen, deine Reisepläne noch ein wenig aufzuschieben. Zumindest so lange, bis sich die Lage beruhigt hat und du wieder zu Kräften gekommen bist. Du kannst dich auf dem Anwesen frei bewegen und abgesehen von meinem Schlafzimmer, stehen dir alle Türen offen.“ Er verzog das Gesicht – der Gedanke behagte ihm offensichtlich nicht. „Denk darüber nach. Ein paar Nächte hier werden dich nicht umbringen, die da draußen dagegen schon.“ Er wusste, dass ich recht hatte. Es waren zu viele, als dass er sie hätte besiegen können und ihr rasender Zorn ließ sie unberechenbar werden. In diesem Zustand waren sie, zumindest für einen der ihren, äußerst gefährlich. „Vielleicht wird es Euch umbringen“, sagte er schließlich. Obwohl sein Blick ernst war, musste ich unwillkürlich lächeln. „Weil du schon einmal einen Adligen getötet hast?“, fragte ich, doch er antwortete nicht. Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert. „Nun, dieses Risiko werde ich wohl eingehen müssen. Obwohl ich nicht glaube, dass du mir ernsthaft schaden willst.“ Seine schönen blauen Augen verengten sich zu Schlitzen. „Und warum nicht?“ Bevor er sich darüber klar werden konnte was geschah, hatte ich ihn zurück zum Bett manövriert und stand nun meinerseits an der Tür, bereit den Raum zu verlassen. Sprachlos starrte er mich an. „Weil du nichts gewinnst, wenn du es tätest“, antwortete ich und ließ ihn allein. Kapitel 3: ----------- Beginn: 10.01.2011 Ende: 10.01.2011 Kapitel 3 Ich musste zugeben, seine Sturheit überraschte mich. Ich wusste nicht, ob es an meinem Überfall in jener ersten Nacht lag, jedenfalls weigerte er sich seither, auch nur ein einziges Wort mit mir zu wechseln. Wir gehörten beide zu jener Vampirgattung, die auch menschliche Nahrung zu sich nehmen konnten, wenngleich eher des Geschmackes und des Rituals wegen. Bei diesen Gelegenheiten leistete er mir Gesellschaft, schwieg jedoch beharrlich. Tags wie nachts streifte er durch das Haus oder das umliegende Gelände. Gerade so weit, dass er sich noch im Schutz meiner Gegenwart wähnen konnte. Ein einziges Mal wagte er sich zu weit vor und die Wunden, die er sich dadurch zuzog, verärgerten mich. Dennoch versorgte ich sie, fragte mich jedoch zunehmend, weshalb ich dieses Wesen noch bei mir behielt. Sicher, er war schön. Seine blauen Augen, die mich kaum eines Blickes würdigten. Sein blondes Haar, das an den Spitzen in dunkles Braun überging. Ein hübsches Gesicht, das mir, ich konnte es nicht leugnen, gefiel. Doch war seine schlanke Gestalt auch das Einzige, das an seiner Anwesenheit bereichernd war. Ich hatte schon lange niemanden mehr an meiner Seite gehabt, aber dieses Wesen enttäuschte alle Erwartungen und Hoffnungen. Vielleicht habe ich mich geirrt, dachte ich, während ich in einem Buch blätterte, ohne auch nur eine einzige Zeile zu lesen. Vielleicht hatte mich die lange Zeit des Alleinseins mit der Sehnsucht nach Gesellschaft, einem Begleiter, erfüllt und ich hatte diesen Wunsch auf jenen Mann projiziert. Etwas, das er ganz offensichtlich nicht für mich tun konnte. Selbst die Kleidung, die ich ihm zur Verfügung gestellt hatte, trug er nur, wenn ich sie ihm während seine Streifzüge herauslegte und verschwunden war, bevor er zurückkehrte. Ich konnte nicht leugnen, dass ich enttäuscht war. Sein Drang nach Kommunikation schien genauso ausgeprägt zu sein wie bei den Vittorios. Offenbar hatte ich mir den ungeselligsten Vampir im Umkreis von zahllosen Meilen ins Haus geholt. Zumindest hatte er nicht versucht mich zu töten, aber das war ein wenig tröstlicher Gedanke. Es wäre ihm ohnehin nicht gelungen. Es mochte ungerecht sein, doch allmählich begann ich mich zu fragen, was Urag an diesem Wesen gefunden haben mochte. Was war es, das ihn so fasziniert hatte, dass er es für die Ewigkeit hatte bewahren wollen? Vielleicht war es nur aus einer Laune heraus geschehen. Urag war ein Mann gewesen, der sich durchaus und durchaus gern durch oberflächliche Schönheit beeindrucken ließ. Ich seufzte resigniert. Nun, was diesen speziellen Fall anbelangte, war ich keinen Deut besser. Wäre er ein Monster gewesen, ich hätte ihn wohl kaum hierher gebracht. Eher hätte ich sein Leid an Ort und Stelle beendet, bevor die Sonne ihn verbrannte oder die Meute ihn einholte. Noël. Nun, vielleicht war er ein Weihnachtswunder, ein Geschenk war er jedenfalls nicht. Noël. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sich anhörte, wenn ich diesen Namen aussprach – und wie es sich anfühlte. Als hätte er meine Gedanken gelesen sah er auf. Mit einem gewissen Missfallen, gespeist aus der Resignation gegenüber diesem Mann, klappte ich das Buch zu und legte es beiseite. Leise erhob ich mich. Sein Blick folgte mir, blieb jedoch unergründlich. „Ich gehe auf die Jagd. Begleitest du mich?“ Er sah mich an, sein Gesicht emotionslos wie eine Maske. Es ärgerte mich. „Wenn ich das tue, werde ich früher oder später den Verstand verlieren.“ Ein kluger Einwand und ein berechtigter noch dazu. Nur, dass er dabei etwas Wichtiges vergessen hatte. „Dann wird es der Hunger sein, der dich in den Wahnsinn treibt.“ Er sah mich missbilligend an. Und beinahe hätte ich in die Hände geklatscht, um diese erstaunlich klare Emotion gebührend zu würdigen. Doch ich tat es nicht. Der Hunger machte mich ungeduldig, das wusste ich. Zu lange hatte ich meines Gastes wegen die Jagd aufgeschoben. Schon wollte ich den Raum verlassen, als er noch einmal die Stimme erhob. Während er sprach glitt sein Blick durch den Raum, berührte jeden einzelnen Gegenstand. „Ist es hier immer so still?“ „Nein“, erwiderte ich und ergänzte, in der Annahme, dass er darauf anspielte, ob ich allein hier lebte: „In den Wintermonaten lebt ein Teil meiner Familie hier. Mt ihren Dienstboten und der übrigen Gefolgschaft. Den Rest des Jahres ist es hier ruhig.“ „Diesen Sommer war niemand hier?“ Ich fragte mich, ob er mir nicht zugehört oder lediglich nicht verstanden hatte, was ich gerade gesagt hatte. „Sie waren hier.“ „Aber sie sind gleich wieder gegangen.“ Wären die Umstände andere gewesen, ich hätte ihn gefragt woher er das zu wissen glaubte. Doch im Augenblick stand mir der Sinn eher nach einer warmen Mahlzeit. Und ich konnte unleidlich werden, wenn ich hungrig war. Sehr, sehr unleidlich. Und das war nichts, was ich meinem Gast zumuten wollte. „Weil ich nicht da war“, erklärte ich und beendete damit das Gespräch. So dachte ich. Doch mit einem Mal sahen mich die blauen Augen mit einem völlig anderen Ausdruck an. „Wart Ihr einsam?“ Vielleicht war es seine Art, ein Versuch Kontakt aufzunehmen. Wenn es so war, dann war die Nicht-Nutzung dieser Gelegenheit in jedem Falle beklagenswert. Nach all den vielen Stunden des Schweigens, der Missachtung. Nur, dass diesmal ich derjenige war, der nicht in Plauderstimmung war. Und Einsamkeit war ein Thema, über das ich nicht sprechen wollte. „Ich werde in ein paar Stunden zurück sein“, gab ich zur Antwort. „Soll ich dir irgendetwas mitbringen?“ Er legte den Kopf schief und lächelte das sonderbarste Lächeln, das ich jemals gesehen hatte. „Das Blut eines Adligen?“ Zorn flammte in mir auf. Zorn über dieses undankbare, respektlose Wesen, dessen Anwesenheit mir bisher nichts als Umstände und Verdruss bereitet hatte. „Hol es dir selbst“, erwiderte ich kalt und ließ ihn allein. Kapitel 4: ----------- Beginn: 09.02.2011 Ende: 07.03.2011 Kapitel 4 Das Gefühl, nach so langer Zeit wieder einmal auf die Jagd zu gehen, war angenehmer als ich erwartet hatte. Es brachte ein wenig Schwung in mein sonst so ruhiges Leben und machte mir bewusst, dass gelegentliche Ausflüge dieser Art durchaus einen gewissen Charme hatten. Ich neigte dazu, den Jäger in mir zu leugnen, was mir für gewöhnlich auch keine Schwierigkeiten bereitete und meinen Opfern einiges an Aufregung ersparte. Ich konnte nicht sagen, dass ich mich ausgetobt hätte. Hätte ich das getan, wäre das Ergebnis wohl eine ähnlich blutige Szene gewesen, wie sie sich mir ein paar Nächte zuvor geboten hatte. Nein. Für mich war das Wesentliche einer Jagd nicht das Töten, das ich ohnehin vermied. Es war das Gefühl der kühlen Nachtluft auf meiner Haut, der Duft der Menschen, die süße Qual der Entscheidung, wer von ihnen meine Beute sein würde. Obwohl ich zugeben musste, dass auch der eigentliche Akt unzweifelhaft seinen Reiz hatte. Menschliche Körper waren so wunderbar warm. Und wenn man nur ein wenig zärtlich mit ihnen umging, konnte man sie sogar die Angst vergessen lassen. Dann fühlte es sich beinahe so an, als würde man einander lieben. Meine Jagd war erfolgreich gewesen und nachdem mein Hunger gestillt war, trat ich den Heimweg an. Ich kam mir ein wenig albern vor, dass ich mich so über den jungen Vampir, der noch immer als Gast in meinem Haus verweilte, aufgeregt hatte. Und hätte sich die Frage der Schuld gestellt, so hätte ich sie eindeutig bei mir suchen und auch finden müssen. Ich war derjenige, der ihn hierher gebracht hatte. Und anstatt auf ihn einzugehen und zu erkennen, was und wie er war, hatte ich unangemessene Erwartungen an ihn gestellt. Hatte ich meine Wünsche, Hoffnungen, ja sogar Sehnsüchte auf ihn projiziert und ihm dann zum Vorwurf gemacht, dass er sie nicht erfüllte. Das war dumm von mir und ich hätte es wahrlich besser wissen sollen. Das, wonach ich mich sehnte, konnte er mir nicht geben. Oder vielmehr: Er konnte es nicht für mich sein. Vielleicht konnte es niemand. Und obwohl mir der Gedanke daran missfiel, wurde mir doch mehr und mehr bewusst, dass ich ihn gehen lassen musste. Er hatte erstaunlich viel Zeit mit mir verbracht, wenn man bedachte, dass er seinen Meister getötet hatte und den Adel hassen musste, wie nichts sonst auf der Welt. Und auch wenn es im Leben eines Vampirs eine geradezu lächerlich kurze Zeit war, so sollte ich doch dankbar dafür sein. Äußerlich ruhig, war er zu wild, zu widerspenstig und zu eigensinnig, als dass ich ihn hätte bewahren können. Ihn einzusperren würde ihn in den Wahnsinn treiben und seinen Willen zu brechen würde ihn töten, so es denn überhaupt möglich war. Für alles andere hasste er die Vampire zu sehr. Besser ich ließ ihn gehen, bevor ich mich zu sehr an seine Gegenwart gewöhnte. Ganz gleich, was sie für mich bedeutete. Die Verfolger, die noch immer mein Domizil umstellten, flohen, als sie mich nahen hörten. Doch ich wusste, sie würden wiederkommen. Sie würden nicht aufgeben, bis sie das Wesen, das ihren Meister getötet hatte, zu fassen bekamen. Ihnen war gleich, ob sie dieses Treffen überleben würden. Einige von ihnen waren schon jetzt kaum noch bei Verstand. Ich erhaschte einen Blick auf einen von ihnen und schauderte. Eine Kreatur, die am Rande des vollkommenen Wahnsinns stand. Und Noël war einer von ihnen. Früher oder später würde er genauso werden wie sie. Ich dachte an unserer letzte Begegnung. War er hungrig gewesen? Vermutlich. Ich versuchte, mir die Details ins Gedächtnis zu rufen und merkte schnell, dass es sinnlos war. Ich war zu aufgebracht und zu hungrig gewesen, um darauf zu achten. Unwillkürlich beschleunigte ich meine Schritte. Im Haus war es still, natürlich, doch ich konnte seine Anwesenheit spüren. Also hatte er meine Abwesenheit nicht zur Flucht genutzt. Ich war mir nicht sicher, wie ich darüber denken sollte, doch die seltsame Atmosphäre des Hauses zwang meine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung. Seltsam. Obwohl ich schon so viele Jahrzehnte hier verbracht hatte, war mir das Gefühl, das jetzt im Inneren des Gebäudes auf mich einströmte, vollkommen fremd. Es war nichts verändert worden und doch wirkte es verändert. Eine sonderbare Mischung aus Gewalt und Schwäche – ich hätte es nicht anders beschreiben können. Noël war nirgendwo zu sehen. Langsam, mit einem eigenartigen Gefühl in der Brust, stieg ich die Treppe hinauf. Sie führte zu den Gästezimmern, die im ersten Stock untergebracht waren. Die Tür zu Noëls Zimmer stand offen, ein breiter Lichtstreifen fiel hinaus in den Korridor. Er lag auf dem Bett und zuckte und krümmte sich, als hätte man ihn ins Feuer geworfen. Seine Stirn glänzte von Schweiß und er keuchte so stark, dass es den Anschein hatte, seine Lungen wollten nicht länger ein Teil seines Körpers bleiben. Seine Finger krallten sich in den Stoff seines Hemdes, als wollten sie das Herz, das darunter lag, herausreißen. Um ihn nicht länger anzustarren und um ihm meine Anwesenheit mitzuteilen, klopfte ich leise mit den Fingerknöcheln gegen den Holzrahmen. Er zuckte zusammen, dann wandte er sich mühsam zu mir um und sah mich aus fiebrig glänzenden Augen an. „Verschwinde“, keuchte er und ich zwang ihn nicht dazu es noch einmal sagen zu müssen. Ich hatte keine Begrüßung erwartet und verstand sehr wohl, dass er in diesem Zustand von niemandem gesehen werden wollte. Ich folgte seinem Wunsch, schloss die Tür und zog mich zurück. Ich verbrachte eine unruhige Nacht. Der Anblick des jungen Vampirs ging mir nicht mehr aus dem Kopf und die sonderbare Atmosphäre war zu präsent, als dass mich meine Lektüre ernstlich davon hätte ablenken können. Als ich kurz vor Sonnenaufgang noch einmal nach ihm sehen wollte, war die Tür zu seinem Zimmer verschlossen. Ich musste mich nicht einmal konzentrieren, um die unterdrückten Schmerzenslaute zu hören. Ich klopfte, doch im selben Moment traf mich eine Welle solch gewaltiger Ablehnung, dass ich davon absah ihn zu bitten die Tür zu öffnen - geschweige denn mir eigenhändig Zutritt zu verschaffen. „Das hältst du nicht durch“, sagte ich, laut genug, sodass er mich verstehen konnte. Doch wie um mir das Gegenteil zu beweisen, wurde es plötzlich still im Raum. Nur sein schweres Atmen war noch zu erahnen. So ein Sturkopf, dachte ich und seufzte schwer. Wie lange glaubte er das aushalten zu können? Die Trinkgewohnheiten der Vampire waren individuell sehr verschieden. Manche hielten es wochenlang ohne Nahrung aus, andere nicht einmal drei Tage. Er musste trinken oder er würde verhungern. Und der Weg dahin war alles andere als schön. Denn das Gefühl der Unerträglichkeit stellte sich bereits lange vor dem Zeitpunkt ein, an dem es tatsächlich zu Ende ging. Und auch dann war man nicht erlöst. Vielmehr verwandelte man sich in eine blutleere, bewegungsunfähige Mumie. Ein Stadium, in dem man allem ausgesetzt war, das einen umgab und ein Zustand, den einzig der Tod oder große Mengen Blutes beenden konnten. Natürlich war es möglich, dass es sich bei den Erschaffenen anders verhielt, aber es war müßig darüber nachzudenken, da ich es schlicht nicht wusste. Ich entschied mich dagegen, tagsüber wach zu bleiben, entschloss mich jedoch das Bett anstelle des Sarges zu nutzen. Nur für den Fall, dass er sich, ob freiwillig oder nicht, doch noch anders entschied. Die Konfrontation mit einem hungrigen Vampir war etwas, auf das ich vorbereitet sein wollte. Wie die Menschen zu schlafen hatte den ungemeinen Vorteil, dass der Schlaf bei Weitem nicht so tief war wie der, in den wir verfielen, wenn wir unsere eigentliche Ruhestätte aufsuchten. Nur deshalb war es den Menschen früherer Jahrhunderte überhaupt möglich gewesen, so viele von uns zur Strecke zu bringen. Denn aus jenem regenerativen, äußerlich todesähnlichen Zustand, in den wir des Tages verfielen, zu erwachen, bevor die Sonne am Horizont verschwunden war, war so gut wie unmöglich. Und ich hatte nicht vor durch die Hand eines, zumindest an meinem Alter gemessen, starrköpfigen Jungvampirs zu sterben. Als ich am nächsten Abend zu ihm ging, war die Tür nicht mehr verschlossen. Ich klopfte und trat ein. Er lag noch immer auf dem mittlerweile völlig zerwühlten Bett und schien inzwischen so schwach zu sein, dass er nicht einmal mehr die Kraft hatte die Stimme zu erheben um mich fortzuschicken. Auf seinem Nachttisch stand der Wasserkrug, den ich ihm am Morgen bereitgestellt hatte. Er hatte ihn vollkommen leer getrunken. Ein schwacher Ersatz für Blut, natürlich, doch es diente eher der Bekämpfung der fieberartigen Symptome - einer äußerst unangenehmen Nebenerscheinung des Blutdurstes -, wie auch der Linderung der grausamen Trockenheit der Kehle. Die Krämpfe, die ihn eine Nacht zuvor noch gequält hatten, schienen nachgelassen zu haben, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis sie, noch heftiger als zuvor, wiederkehren würden. Ein leises Seufzen auf den Lippen trat ich näher und hielt eine Blutkonserve in die Höhe. Er sah sie an, seine schönen blauen Augen waren blutunterlaufen und von dunklen Schatten umgeben. Das Geräusch reißender Folie war zu hören, dann verteilte sich das Blut auf meiner Kleidung und dem glänzenden Parkettboden. Ich atmete ein Mal tief durch, um den Unmut der in mir aufstieg nicht überhand nehmen zu lassen, dann ließ ich den Fetzen, den ich noch in der Hand hielt, zu Boden fallen. Blut spritzte in kleinen Tropfen zur Seite, doch der junge Vampir schenkte ihm keine Beachtung. Geschweige denn, dass er es angerührt hätte. Ich musste zugeben, dass mich sein Verhalten verärgerte. Natürlich durfte man von einem Vampir in einem solchen Zustand nicht allzu viel erwarten, aber doch zumindest, dass er trank. Ich hatte für gewöhnlich kein Blut vorrätig und auch wenn der Aufwand es zu beschaffen nicht sonderlich groß gewesen war, so fragte ich mich doch, ob er es sich leisten konnte meine Hilfe und mehr noch seine Nahrung abzulehnen. Selbst dann, wenn Menschenblut nicht unbedingt seinem Geschmack entsprach. Stattdessen starrte er mich an. Das strahlende Blau seiner Augen nahm allmählich die Farbe von Eiskristallen an und ich ahnte, was sie sahen. Ein Geflecht aus Adern und Venen, in denen das Blut wie ein reißender Strom dahinfloss, angetrieben von einem Herz, dessen Klang ihm in diesem Augenblick vermutlich fast das Trommelfell zerschlug. Und ich konnte nicht anders, als amüsiert zu lächeln. In einer fast schon aufreizenden Geste, schlug ich den Kragen meines Hemdes zurück und gab den Blick auf das frei, wonach es ihn so sehr verlangte. „Was siehst du mich so an?“, fragte ich mit einem Hauch von Spott in der Stimme. „Mein Blut war dir doch nicht gut genug.“ Die Bewegung war schnell und angesichts seines Zustandes erstaunlich präzise. Es überraschte mich und so verpasste ich den Moment, in dem ich ihn, zumindest aber mich selbst hätte abfangen können. Ein dumpfer Schmerz durchzuckte meinen Körper, als ich hart auf dem hölzernen Boden aufschlug. Doch er war nichts im Vergleich zu dem, den ich verspürte, als der junge Vampir mir seine Zähne in den Hals rammte. Ich konnte es nicht anders nennen. Ihre Beschaffenheit garantierte bei entsprechender Nutzung beinahe vollkommene Schmerzfreiheit, doch dieser Mann war nicht mehr Herr seiner Sinne. Er grub sie nicht einfach nur in meine Haut, nein, er schlug sie in mein Fleisch, als wolle er bis zu meinen Wirbeln vordringen. Er trank gierig, in großen Zügen, sodass bunte Lichter vor meinen Augen tanzten und zerfetzte meine Kehle wie ein wildes Tier. In einem plötzlichen Anflug von Wut stieß ich ihn von mir und taumelte er rücklings gegen das Bett. Ich hatte nicht grob sein wollen, aber er ließ mir keine Wahl. Ein wenig mühsamer als erwartet richtete ich mich auf und presste die Hand auf die heftig blutende Wunde. Missmutig betrachtete ich meine Kleidung und das Parkett zu meinen Füßen. Was für eine Sauerei. Und was für abscheuliche Tischmanieren. Ich hörte sein Fauchen, das mich an die Drohgebärden einer Raubkatze erinnerte, doch bevor er einen erneuten Angriff starten konnte, war ich auch schon bei ihm. Einen Moment lang hielt er inne, fühlte er wohl instinktiv meine körperliche Überlegenheit und wagte keine weiteren Attacken. Doch sein Blick verriet mir, dass er nicht vorhatte mich gehen zu lassen. Er konnte nicht wissen, dass mir dies ebenso fern lag wie ihm. Aber wenn er schon vorhatte, mich bis aufs Mark auszusaugen, ohne dabei die geringste Notiz von, geschweige denn Rücksicht auf den Zustand meines Körpers zu nehmen, dann wollte ich zumindest nicht auf einem harten Holzfußboden liegen. Und kaum, dass ich mich niedergelegt hatte, war er auch schon über mir und sah mich mit einem solchen Verlangen, mit so unverhohlener Gier an, dass ich nur still darüber lachen konnte. Ein freudloses Lachen, natürlich. Wie hätte es anders sein können? Da war er, der Erschaffene, der seinen Meister getötet hatte und der den Adel und jeden geborenen Vampir hasste wie nichts sonst auf der Welt. Und hier war ich, der ich mir einen Verbündeten und mehr noch als das einen Begleiter gewünscht hatte. Und hier waren wir, einander so nah wie nie zuvor. Er, der das ach so verhasste Blut trank, als könne er keinen Moment länger ohne es leben und ich, der ihn gewähren ließ, obwohl ich doch wusste, dass all mein Hoffen vergebens war. Dass er nie sein würde, wonach es mich verlangte und dass sein Verlangen einzig und allein meinem Blut galt. Er hatte gewartet, lauernd, doch als er begriff, dass ich mich nicht wehren würde, schlug er erneut seine Fangzähne in meinen Körper. Ich spürte es, schloss die Augen und ließ es geschehen. Sollte er trinken soviel er wollte. Es hatte keinerlei tiefere Bedeutung. Und wenn ich, als Wiedergutmachung für das, was man ihm angetan hatte, zumindest das für ihn tun konnte, dann sollte es mir recht sein. Der rasche und nicht weniger heftige Blutverlust machte mich schwindelig und wie erwartet verstärkten meine geschlossenen Lider diesen Effekt. Allmählich wurde mein Kopf schwer, während mein Körper immer leichter zu werden schien. In diesem Zustand war er vielleicht sogar stärker als ich. Träge wälzte sich dieser Gedanke durch mein Hirn und versank dann, gemeinsam mit allem anderen, in der zärtlich schwarzen Umarmung einer tiefen Bewusstlosigkeit. Kapitel 4 - Ende Kapitel 5: ----------- Beginn: 20.03.2011 Ende: 16.04.2011 Kapitel 5 Als ich wieder zu mir kam, hatte der Mond bereits begonnen, seinen heiligen, ewig gleichen Weg am dunklen Nachthimmel zu beschreiten. Meine Glieder waren schwer wie Blei und selbst meine Gedanken schienen von jener großen Last ergriffen und wälzten sich träge durch meinen Geist. Kaum, dass ich sie geöffnet hatte, schloss ich die Augen wieder, ohne mich auch nur ein wenig bewegt zu haben. Er hatte mich nicht getötet. Ich war am Leben und außer einer beachtlichen Menge Blut fehlte mir nichts. Eine Weile verharrte ich so. Unbeweglich auf der Schlafstätte liegend, meine Gedanken ordnend und ein wenig Kraft schöpfend. Dann öffnete ich erneut die Augen und setzte mich auf. Der Raum schien zu schwanken, was mich erneut innehalten ließ. Ich betrachtete meinen Körper und konnte nicht umhin festzustellen, dass mein Gast wirklich ganz abscheuliche Tischmanieren hatte. Dass er sich nicht auf meine Kehle beschränkt hatte, war, in Anbetracht des Zustandes in dem er sich befunden hatte, durchaus verzeihlich und auch sonst störte es mich im Grunde nicht. Wäre er nicht so hungrig und daher kaum noch bei Verstand gewesen, man hätte es sogar als Fortschritt bezeichnen können - wo ihm doch die Gegenwart der Vampire derart zuwider war. Doch nicht einmal ich verfügte über genug Kraft zur Selbsttäuschung, um ernstlich daran zu glauben, dass es so war. Dennoch. Obwohl ich weit davon entfernt war, mich über seine Abwesenheit zu echauffieren, empfand ich es als ärgerlich, dass er es nicht einmal für nötig befunden hatte, die Spuren seiner Mahlzeit zu verbergen. Selbst einen Erschaffenen wie ihn konnte es kaum mehr als eine Geste oder eine beiläufige Berührung kosten, sie verschwinden zu lassen. Für gewöhnlich hätten meine Selbstheilungskräfte rasch für Abhilfe gesorgt, noch lange bevor der bleiche Mond sein Licht auf die Erde niederwarf. Doch mein Besucher hatte wenig Zurückhaltung gezeigt und der daraus resultierende Blutverlust hatte die Regenerationsrate meiner Zellen auf ein Minimum reduziert. Sie hatte genügt um die Wunden zu schließen, nicht aber um sie verschwinden zu lassen und so war mein Körper übersät von den Bissspuren, die seine Fangzähne hinterlassen hatten. Falls er blieb würde ich es ihm noch beibringen und falls nicht... Die Anwesenheit eines anderen Vampirs lenkte meine Aufmerksamkeit von den Gedanken an den jungen Mann ab. Er näherte sich langsam und auf eine Weise, die von Höflichkeit und Respekt zeugte. Er war keineswegs aufdringlich, legte zugleich jedoch Wert darauf, mich sein Erscheinen rechtzeitig bemerken zu lassen. Halb missmutig, halb nachdenklich zog ich die Brauen zusammen und legte sich meine Stirn in Falten. Ich erwartete keinen Besuch und im Augenblick kam er auch höchst ungelegen. Ich hätte viel lieber eine Nacht im Bett verbracht oder mir eine warme Mahlzeit gegönnt, als mich auf ein zweifellos unerfreuliches Gespräch mit einem mir mäßig bekannten Vampir einzulassen. Doch ich ahnte bereits, dass kein Weg daran vorbeiführte und so beeilte ich mich, mich wieder in einen zumindest einigermaßen akzeptablen Zustand zu versetzen und meinen Gast willkommen zu heißen. Der junge Mann, der an diesem Abend meine Gesellschaft suchte, war in mancherlei Hinsicht bemerkenswert. Vor einigen Jahren war er mir einmal als Steel vorgestellt worden – ganz offensichtlich ein Spitzname, den er jedoch zu seinem eigenen gemacht zu haben schien – was auch immer ihn dazu bewogen haben mochte. Ich erinnerte mich daran, dass ihn einmal einer der Älteren etwas ungehalten gefragt hatte, ob er denn keinen anständigen Namen besäße. Steel hatte ein fröhliches Lächeln an die Nacht gelegt und überraschend humorvoll erwidert: „Warum? Ich mag es, ein metallhaltiges Stoffgemisch zu sein.“ Er besaß – wie er an anderer Stelle bereits gezeigt hatte – einen feinsinnigen Humor, den er gelegentlich als eine Art Trumpf ausspielte. Gleichzeitig war er für sein Alter erstaunlich...abgeklärt? War das die richtige Bezeichnung? Jedenfalls war er intelligent und wusste sehr genau, wie er in welcher Situation mit den unterschiedlichsten Personen umzugehen hatte. Sein Gespür für die Angemessenheit eines Wortes oder einer Geste war bemerkenswert. Daher genoss er bei vielen der oberen Vampire einen gewissen Status. Soweit ich wusste, wurde er mit den unterschiedlichsten Aufgaben betraut. Meistens ging es dabei um Nachforschungen, das diskrete Beschaffen von Informationen. Steel besaß nämlich die unschätzbare Fähigkeit, sich in jede Umgebung nahezu perfekt einfügen zu können. Ganz gleich ob es um Vampire, welcher Klasse auch immer, oder um Menschen ging. Nach anfänglicher Skepsis hatten sich zahlreiche Personen für ihn erwärmen können und waren mittlerweile höchst dankbar für seine Existenz. Er war ein guter Beobachter, hatte erstklassige Manieren, bewahrte absolutes Stillschweigen über seine Auftraggeber und deren Wünsche und war frei von jeglichem vorstellbaren absonderlichen Temperament. Er kämpfte mit subtileren Mitteln und seine schärfsten Waffen waren, neben seinem Verstand, seine Zunge und sein Humor. Und so fanden sich nicht wenige, die seine Dienste nur allzu gern in Anspruch nahmen. Für so manchen war er ein wahrer Segen und eine echte Alternative für all jene, die Kenai nicht konsultieren wollten oder konnten. Denn im Gegensatz zu dem jungen Ichimura, bedeutete Steel keine Gefahr. Er erledigte seine Aufgaben gewissenhaft und effizient. Er schnüffelte nicht in Angelegenheiten herum, die ihn nichts angingen und behielt sich auch nicht das Recht vor, die Informationen nach belieben weiterzugeben. Es klopfte und ich eilte in die große Halle, um den Anderen willkommen zu heißen. Währenddessen ging ich im Geiste sämtliche Details und Informationen durch, die ich im Laufe der Jahre eher zufällig als gezielt über ihn gesammelt hatte und stellte mit mildem Erstaunen fest, dass es deutlich mehr waren als ich mir zugetraut hatte. Hätte ich sie jemandem geschildert, er hätte sich durchaus ein Bild von dem jungen Mann machen können. Noch bevor ihm eine höfliche Begrüßung über die Lippen kam, nahm sein Gesicht einen erstaunten Ausdruck an. Dann lächelte er beinahe schelmisch. „Eine wunderschöne gute Nacht, Meister Veleno. Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Ihr seht mir recht mitgenommen aus.“ Ich betrachtete ihn ein wenig verstimmt. Ich erinnerte mich, ihn zuvor, wenn auch nur gedanklich, ob seines guten Spürsinns, seiner Feinfühligkeit gelobt zu haben. Offenbar lag das Problem also doch bei mir, wenn selbst ein so feinsinniger Vampir wie er glaubte, sich einen Spaß mit mir erlauben zu dürfen. Ich war wohl wirklich zu nachsichtig mit meinen Mitvampiren. Als er meinen Blick bemerkte, gewann sein Lächeln an Wärme und wie ein Zauberkünstler zog er eine Weinflasche aus seinem Umhang, um sie mir dann, wie ein beflissener Verkäufer, zu präsentieren. „Ich denke“, sagte er, „ein wenig von diesem köstlichen Tropfen wäre jetzt genau das Richtige für Euch.“ Gegen meinen Willen musste ich lächeln und bat ihn herein. Nach kurzem Protest ließ er sich von mir den Mantel abnehmen und offenbarte eine äußerst geschmackvolle Abendgarderobe, die seine schlanke, aufrechte Gestalt auf angenehme, unaufdringliche Art zur Geltung brachte. „Wer ist das?“, fragte er plötzlich und obwohl außer Zweifel stand wen er meinte, folgte ich unwillkürlich seinem Blick. Sofort zog sich Noël, dessen Erscheinen ich tatsächlich und zu meiner Schande nicht einmal bemerkt hatte, zurück. Milde erstaunt betrachtete Steel mich, so als suche er nach etwas an mir, das so erschreckend war, dass es einen anderen Vampir vertreiben konnte. „Ein junger Erschaffener, den ich vorübergehend hier aufgenommen habe.“ „Aha“, erwiderte mein Gast und schien zufrieden. Wenn ich seinen Blick richtig deutete, gefiel ihm Noël. Und auch wenn ich dies nicht unbedingt befürwortete, konnte ich es ihm doch nicht verdenken. Schließlich hatte er auf mich eine ganz ähnliche Wirkung ausgeübt. Ich führte meinen Besucher in die Bibliothek, stellte zwei Kristallgläser vor uns auf dem Tisch ab und überließ es ihm die Flasche zu öffnen und uns einzuschenken. Ein hervorragender Jahrgang, wenn es auch kein Wein war. Der Geruch des Blutes stieg mir in die Nase und ich hatte Mühe mich zu beherrschen. Doch nicht einmal der ärgste Hunger hätte mich dazu bewegen können, mir vor einem Gast eine solche Blöße zu geben. Nachdem er wieder Platz genommen hatte, musterte er mich eine Weile, lächelte dann und beide erhoben wir das Glas. Lange Zeit sagte keiner von uns ein Wort, ohne dass das Schweigen unangenehm gewesen wäre. Der Raum schien ihm zu gefallen, denn er wurde nicht müde seinen Blick schweifen zu lassen. Wir waren, so schien es, beide keine Freunde großer Worte, zumindest nicht, wenn es um entbehrliche Höflichkeitsfloskeln ging. Wir kannten sie, wir beherrschten sie und wussten es voneinander. Das genügte, um uns nicht unnötig damit aufzuhalten. Als ich ihn schließlich fragte, was ihn hierher führte, war die Flasche bereits zur Hälfte geleert. „Meister Urag weilt nicht länger unter uns und auch wenn niemand so recht Trauer zeigen will, gibt es doch einige besorgte Stimmen, die beruhigt werden wollen.“ Also doch, dachte ich im Stillen, während ich dabei zusah, wie er ein weiteres Mal unsere Gläser füllte. Sie wollten es genauer wissen. Selbst wenn Urags Tod sie nicht weiter kümmerte, schienen sie doch auf Nummer sicher gehen zu wollen. Und deshalb hatten sie Steel damit beauftragt herauszufinden, welche Narretei es gewesen war, die den Meister das Leben gekostet hatte. „Ihr wisst von wem ich spreche?“ Ich nickte. „Das tue ich.“ „Wie gut kanntet Ihr den Meister?“ Einen Moment lang betrachtete ich die Lichtreflexe, die sich in der tiefroten Glut des Blutes verfingen, dann sah ich ihn wieder an. „Nicht besonders gut. Die Nachricht seines Todes hat mich überrascht, aber wir standen uns nicht besonders nahe und auch wenn es grausam erscheinen mag, kann ich nicht sagen, dass sie mich ernstlich betroffen macht.“ Er nickte. Es schien ihn nicht zu überraschen, dass sich meine Anteilnahme lediglich in den engen Grenzen der Höflichkeit bewegte. „Wisst Ihr, wer es getan hat?“ Also nahm man nicht an, dass Urag Selbstmord begangen hatte. „Ich vermute es“, erwiderte ich langsam und stärker noch als zuvor sah ich das Interesse in seinen Augen aufblitzen. Alles andere an ihm blieb vollkommen ruhig. Ich musste vorsichtig sein. Er war kein Feind und ich bezweifelte, dass er mir schaden wollte und mir selbst lag es fern, ihn an seinem Vorhaben zu hindern, die Wahrheit herauszufinden. Allerdings war ich ebenso wenig dazu angetan Noël zu schaden. Wenn er fortging, konnte ich nichts mehr für ihn tun, doch solange er in meinem Haus verweilte, fühlte ich mich bis zu einem gewissen Grad für ihn verantwortlich und stand er unter meinem Schutz. „Würdet Ihr Eure Vermutung mit mir teilen?“, fragte mein Gegenüber höflich und sah mich mit einem verbindlichem Lächeln an. „Ich bin nicht sicher“, gab ich zurück, ohne ihn davon in Kenntnis zu setzen worin meine Unsicherheit bestand. Er lächelte. Diesmal ehrlicher. Offenbar hatte er die ungeschriebenen Regeln dieses Spiels bereits begriffen. „Ist es jemand, den ich kenne?“ Ich wiegte den Kopf ein wenig hin und her, dann antwortete ich ihm. „Ich glaube nicht.“ Er stieß die Luft aus, doch schien es eher ein Zeichen von Amüsement, denn von Verärgerung oder Ungeduld zu sein. „Wisst Ihr, wo sich dieses Wesen gerade aufhält?“ Ich überlegte einen Moment, dann verneinte ich und musste dazu nicht einmal lügen. Zwar spürte ich Noëls Anwesenheit, doch wo genau er sich befand, wusste ich im Augenblick tatsächlich nicht zu sagen. Es gab jedoch etwas anderes, das zu erfahren für mich weitaus wichtiger war. „Was werdet Ihr tun, wenn Ihr dieses Wesen findet?“ Einen Moment lang musterte er mich, dann lehnte er sich mit einem leichten Schulterzucken zurück. „Nichts“, antwortete er und betrachtete dabei seine Fingerspitzen. Er hatte sie in einer nachdenklichen Geste aneinandergelegt, was nicht recht zu seiner sonst eher entspannten Haltung passen wollte. Ich hatte es nicht gewagt zu fragen, ob er ihn töten würde. Seine Antwort überraschte mich ein wenig, doch ich hatte nicht den Eindruck, dass er log. „Seht“, begann er schließlich von neuem und richtete seinen Blick wieder auf mich, „es ist nicht meine Aufgabe über das Schicksal dieses Wesens zu entscheiden. Geschweige denn ein endgültiges und unwiderrufliches Urteil zu fällen.“ Welch hübsche Umschreibung für den Tod. Wirklich, es war ein Genuss sich mit ihm zu unterhalten. Und ich hätte es zweifellos genossen, wenn ich nicht um das Wohl Noëls hätte fürchten müssen. „Ich soll lediglich herausfinden“, fuhr mein Gegenüber fort, „ob Grund zu der Annahme besteht, dass jene Person noch weiteren Schaden anrichtet.“ Er fixierte mich, als befänden wir uns mitten in einem Verhör – was der Wirklichkeit vermutlich ziemlich nahe kam. Und ganz offensichtlich war ich, zumindest im Augenblick, nicht einfach nur ein Zeuge, sondern ein Verdächtiger. Natürlich nicht, was den Tod des Meisters anging, sehr wohl aber im Hinblick auf mein Wissen um den Mörder. Ich war sicher, hätte er es gekonnt, er hätte versucht meine Gedanken zu lesen. Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen und machte mir auf sonderbare Weise bewusst, dass ich es mit einem intelligenten und äußerst gefährlichen Mann zu tun hatte. Er drohte mir nicht, aber es war anzunehmen, dass er bereits jetzt weit mehr wusste als er zugab. Gut möglich, dass er mich durchschaut oder bereits im Voraus eine Ahnung gehabt hatte. Jedenfalls vermutete ich das, denn er sagte: „Nun, dann möchte ich nicht weiter in Euch dringen. Ihr werdet zweifelsohne Eure Gründe haben, weshalb Ihr mich nicht ins Vertrauen ziehen wollt.“ Die hatte ich, fürwahr. Wenngleich sich meine Befürchtungen weit weniger auf ihn bezogen als auf seine Auftraggeber. Hätte es sich bei Urags Mörder um einen echten Vampir gehandelt, wäre die Wahrscheinlichkeit für weitere Verbrechen vielleicht tatsächlich ein Kriterium für die Urteilsfindung gewesen. Bei einem Erschaffenen jedoch, würden sie kein Risiko eingehen – und wenn er ihnen hundertmal versichert hätte, dass von Noël keine Gefahr mehr ausging. Schweigend und ohne erkennbare Regung erwiderte ich den Blick meines Gegenübers. Eine Weile verharrten wir in dieser Haltung, jeder stumm den anderen betrachtend, dann ergriff er erneut das Wort. „Ihr sagtet, Ihr hättet eine Vermutung um wen es sich handelt?“ Ich nickte. Er ließ mich nicht einen einzigen Moment aus den Augen. Seine Fingerspitzen tippten bedächtig aneinander. „Nun, Meister Veleno, ich halte große Stücke auf Euch, deshalb vertraue ich Eurem Urteil. Ich möchte Euch nicht länger mit dieser Sache belästigen, doch habe ich, wie Ihr Euch gewiss vorstellen könnt, einen Ruf zu verlieren.“ Zweifellos. Und wenn ich ihn richtig verstand und er gerade im Begriff war mir anzubieten, seine Nachforschungen an diesem Ort einzustellen, wenn ich ihm nur versicherte was er hören wollte, dann ging er damit ein erhebliches Risiko ein. Denn ich bezweifelte, dass seine Auftraggeber zu jenen Vampiren gehörten, die Fehler rasch verziehen – ganz gleich wie geringfügig oder selten sie auch sein mochten. „Könnt Ihr mir versichern, dass die Person, von der wir hier sprechen und die Ihr zu kennen glaubt, keine Bedrohung für andere Vampire darstellt?“ Der Ausdruck in seinen Augen war von bemerkenswerter Intensität. Es war als wollte er mich mit seinen Blicken durchbohren. Dennoch spürte ich keinerlei Aggressivität darin. Er hatte nicht vor mir zu drohen oder mir in irgendeiner Weise zu schaden. Sein Ansinnen bestand vielmehr darin, mich zu einer ehrlichen und endgültigen Antwort zu bewegen. „Ja“, antwortete ich ruhig und es kostete mich keine Mühe, Überzeugung in dieses eine, bedeutungsvolle Wort zu legen. Ohne dass ich einen akzeptablen Grund dafür hätte nennen können, glaubte ich fest daran, dass Noël niemandem schaden würde – außer vielleicht sich selbst. Solange er sich in meinem Haus aufhielt, konnte ich persönlich darüber wachen, auch wenn es mir nicht nötig erschien. Er war kein schlechter Vampir und im Gegensatz zu anderen Erschaffenen vollkommen bei Verstand. Solange man ihn nicht in die Lage brachte sich verteidigen zu müssen, war er, davon war ich überzeugt, niemand, von dem eine Bedrohung ausging. Steel lächelte. „Gut.“ Mehr sagte er nicht. Dann erhob er sein Glas, damit wir darauf anstoßen konnten. Ein wenig bewunderte ich ihn. Ich selbst konnte ihm meine Antwort mit ruhigem Gewissen geben, doch ich zweifelte nicht daran, dass dieselbe Vorgehensweise – das gemeinsame Trinken als ein Zeichen der Besiegelung eines stummen Vertrages – bei anderen sehr viel mehr Unbehagen auslösen konnte. Eine einfache, aber überaus effektive Methode zur Wahrheitsfindung – vorausgesetzt, man verfügte über einen geschulten Blick und ein gewisses Gespür für seine Mitvampire. Mit Genuss tranken wir unseren Wein, dann ergriff mein Gegenüber, nun offensichtlich wieder bester Laune, erneut das Wort. „Dann etwas anderes. Wer war noch gleich dieser bezaubernde junge Mann, den ich in der Eingangshalle gesehen habe?“ Amüsiert betrachtete er mich über den Rand seines Glases hinweg, in seinen Augen jedoch meinte ich einen Hauch von Begehren zu erkennen. Ich konnte es nicht genau einordnen, womöglich wollte er mich auch nur ein wenig aufziehen, doch zumindest zeigte er offenkundiges Interesse an Noël. Etwas, von dem ich nicht behaupten konnte, dass es mir gefiel. Aber was hätte ich dagegen tun, auch nur sagen können? Zumal ich keinen besonderen Wert darauf legte, das er meine Ablehnung missverstand. „Sein Name ist Noël“, erwiderte ich schließlich und, wie ich erstaunt feststellte, mit einigem Widerwillen. Und dann wurde mir bewusst, dass ich seinen Namen tatsächlich zum ersten Mal ausgesprochen hatte. In gewisser Weise ein wichtiger Moment, der jedoch in diesem Zusammenhang, wenngleich es um ernsthafte Themen ging, zur Bedeutungslosigkeit verkam. „Wie hübsch“, bemerkte mein Gast mit einem vergnügten Lächeln. Ich antwortete nicht darauf. Was hätte ich auch sagen sollen? „Er hasst seinen Namen“, bemerkte ich endlich, da es mir angesichts Noëls eigener Meinung irgendwie unpassend erschien, diesen Namen mit solcher Freude aufzunehmen. „Ach wirklich?“ Es klang amüsiert und interessiert zugleich. Da es zu diesem Thema nichts mehr zu sagen gab, entstand eine längere Pause. Ich nutzte sie, um mir noch ein wenig des ausgezeichneten Getränks zu gönnen und mein Gast quittierte es mit einem zufriedenen Lächeln. Er hatte sich ganz offensichtlich Gedanken darüber gemacht. Es war schließlich nicht ganz einfach, den Geschmack einer Person zu treffen, der man in seinem Leben nur zwei, drei Mal begegnet war. Er ließ ein wenig Zeit verstreichen, dann nahm er das Thema wieder auf. „Er stammt aus Urags Gefolge, nicht wahr?“ Ich nickte nur und nahm einen weiteren Schluck aus meinem Glas. Mittlerweile überraschte es mich nicht mehr, dass er auch das wusste. „Es gibt viele wie ihn und einige von ihnen sind bei Adligen der näheren und auch ferneren Umgebung untergekommen.“ Ich nahm die Information gelassen hin und wartete ruhig auf das, was nun kommen würde. „Sie sind ja sehr verschieden, aber unser junger Freund hier scheint nicht besonders beliebt gewesen zu sein. Bei diesen Mengen an Verfolgern...“ Also hatte er sie bemerkt. Nicht, dass das eine besondere Leistung gewesen wäre, aber der Punkt war, dass er die richtigen Schlussfolgerungen gezogen hatte. Und im Stillen fragte ich mich, ob er es nicht doch wusste, nicht zumindest ahnte, dass Noël derjenige war, den zu finden ihm aufgetragen worden war. Doch er wirkte ganz und gar nicht wie jemand, der im Begriff war einen Mörder festzunehmen. Er wirkte entspannt, sogar fröhlich und ich konnte auch keinerlei Täuschung in seinem Gebaren erkennen. „Auf mich wirkt er ja nicht gerade wie eine reißende Bestie. Ein wenig eigensinnig vielleicht, aber ganz sicher nicht gefährlich.“ Er lächelte und die Art wie er es tat, beantwortete all meine Fragen. Er wusste wer Noël war und was er getan hatte – und er betrachtete seinen Auftrag damit als abgeschlossen. Denn er hatte ihn gefunden und teilte meine Meinung, dass von dem jungen Mann keine Gefahr ausging. Ob und wie er seinen Auftraggebern davon berichten würde, wusste ich nicht, aber zumindest würde er Noël weder mitnehmen noch töten. Ich kam nicht umhin ihn bewundernd anzusehen. Was für ein erstaunlicher junger Mann. „Ziemlich eigensinnig“, bestätigte ich und klang dabei tatsächlich ein wenig mürrisch. Er lachte, wenn auch ein wenig verhalten, wohl, um mich nicht zu beleidigen. „Wenn er zu Urag gehört“, begann er von neuem, „dann hat er ein Mal am Körper. Daran wird ihn jeder erkennen.“ Ein wirklich aufmerksamer Vampir. Als hätte er meine Gedanken gelesen – was ich zum Glück ausschließen konnte – und wollte sagen: Ich werde ihn nicht töten, aber was, wenn andere es versuchen sollten? „Es wird verschwinden, sobald er einen neuen Meister wählt“, antwortete ich. „Und Ihr wollt dieser neue Meister sein?“ Ich konnte seinen Blick nicht recht einordnen. Eine Mischung aus herausforderndem Amüsement und etwas, das mir sonderbarer Weise wie Sorge erschien, aber auf eine strenge, beinahe tadelnde Art. „Das habe ich nicht gesagt“, erwiderte ich und nippte an meinem Getränk. Es war nicht so, dass ich ernstlich, wenn überhaupt, etwas dagegen gehabt hätte, diese Rolle zu spielen, doch ich war Realist genug, um mir wenig Hoffnung zu machen. Er würde eine Weile bleiben und dann wieder verschwinden. Ganz einfach. Steel war in nachdenkliches Schweigen verfallen. Die Falte auf seiner Stirn gefiel mir nicht. Ich hatte das untrügliche Gefühl, dass sie der Vorbote für etwas war, das ich nicht unbedingt hören wollte und das mir nicht gefallen würde. Nach einer Weile hob mein Gegenüber den Blick und sah mir direkt in die Augen. „Dürfte ich etwas dazu sagen?“, fragte er höflich, wenngleich seltsam drängend. „Bitte“, erwiderte ich und lehnte mich ein wenig im Sessel zurück. Trotz meiner Erlaubnis zögerte er, entschied sich dann aber offenbar doch für eine Fortsetzung des Gesprächs. „Was ich jetzt sage“, begann er langsam, „entspricht nicht unbedingt meiner eigenen Meinung.“ Ich betrachtete ihn aufmerksam, wenn auch ein wenig verwundert und gab ihm ein Zeichen, dass er fortfahren könne. „Vielleicht täusche ich mich“, begann er nach erneutem Zögern, „doch es scheint mir, als betrachtet Ihr diesen Erschaffenen wie ein streunendes Kätzchen. Ein hilfebedürftiges Wesen, das man aufnimmt, dem man Unterschlupf gewährt, ein wenig Nahrung gibt und Zuwendung schenkt.“ Hatte er recht? Das war gar nicht so unwahrscheinlich, auch wenn ich es gern geleugnet hätte. Doch vielmehr als das interessierte mich, worauf er eigentlich hinauswollte. „Eine Katze“, wiederholte er, den Blick auf die Tischplatte gerichtet. Dann hob er den Kopf und sah mich mit erstaunlich strengen Augen an. „Aber das ist er nicht. Vielmehr“, er machte eine Geste, als suche er noch nach einem treffenden Vergleich, „ist er eine Ratte.“ „Eine Ratte?“, fragte ich distanziert und mit mühsam unterdrückter Wut, doch er ließ sich davon nicht beirren. „Eine Katze würde man Euch zugestehen, auch eine streunende, wenn es denn sein muss. Ein Herr und sein Haustier. Respektiert oder geduldet – ganz gleich. Doch wenn Ihr Euch eine Ratte zulegt, Meister Veleno, dann erwartet man natürlich etwas anderes von Euch. Schließlich holt sich niemand freiwillig so etwas ins Haus. Denn wer weiß, wo dieses Ungeziefer überall hineinkriecht, sich häuslich einrichtet oder gar Mäuschen spielt. Daher kann ich Euch nur raten, Meister Veleno, nicht zu vergessen, dass Ihr nicht Besitzer, sondern Kammerjäger seid. Und gebt auf Euch und das Tierchen gut acht. Denn mir ist die Rolle des Rattenfängers zugedacht.“ Ich verstand nur zu gut was er meinte, auch wenn seine Art es in Worte zu kleiden etwas ausgefallen war. Doch er fasste sehr präzise zusammen, auf welche Weise man Noël und auch mich betrachten würde – wie wir aufzutreten, welchen Eindruck wir zu vermitteln hatten, wenn ich nicht wollte, dass mein Gast allzu schnell das Zeitliche segnete. Entweder ich machte glaubhaft, dass er zu mir gehörte und ich ihn im Griff hatte oder ich distanzierte mich von ihm und gab vor ihn zu überwachen. Alles andere würde unweigerlich den Rattenfänger auf den Plan rufen und wenn ich ihn richtig verstand, dann konnte selbst ich, der ich mich eines gewissen Einflusses und nicht unerheblicher Kraft erfreute, nichts mehr für ihn tun. „Ich werde es mir merken“, antwortete ich ernst und er lächelte freundlich. „Es ist sehr angenehm, mit Euch Gespräche zu führen, Meister Veleno. Ihr begreift sehr schnell.“ Ich hätte durchaus das Recht gehabt, mich an seiner Wortwahl oder dem, was seine Aussage implizierte, zu stören, doch ich ahnte, was er damit andeuten wollte und dankte ihm daher für das Kompliment. Man musste weiß Gott nicht lange darüber nachdenken, um ich vorstellen zu können, dass er ebenso häufig mit Personen zu tun hatte, für die Wortspiele und Gleichnisse ein Buch mit sieben Siegeln waren. „Nun“, sagte er und erhob sich, „dann möchte ich Eure wertvolle Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen.“ Ich warf einen kurzen Blick auf die große Standuhr und war erstaunt, wie spät es bereits war. Ich half ihm in seinen Mantel und wir waren gerade im Begriff uns zu verabschieden, als ich mich noch einmal mit einer Frage an ihn wandte. „Steel, sagt, wie ist eigentlich Eure Einstellung gegenüber Erschaffenen?“ Mit einem Mal schien sein Blick in weite Ferne gerichtet und umspielte seine Lippen ein dünnes, wehmütiges Lächeln. Dann war er wieder wie zuvor. „Ich habe durch einen von ihnen einmal einen sehr guten Freund verloren.“ Offenbar hatte ich ungewollt einen wunden Punkt berührt, doch ließ er es sich nicht anmerken. „Im wörtlichen Sinne?“, fragte ich und erhielt einen erstaunten Blick, gefolgt von einem wohlwollenden, wissenden Lächeln. „Nein.“ Eine Weile sahen wir uns an, dann reichten wir einander die Hände und umarmten uns flüchtig. Ich bedauerte es, ihn gehen lassen zu müssen. Er war ein kluger Kopf, ein angenehmer Gesellschafter und eine willkommene Abwechslung. Doch ich ahnte, dass ich mir seinen Besuch, zumindest in nächster Zeit, besser nicht wünschen sollte. Denn es hätte zweifellos negative Folgen für Noël bedeutet. Ihm schien ein ähnlicher Gedanke gekommen zu sein, denn anstelle eines baldigen Wiedersehens, wünschte er mir noch eine angenehme Nacht. Dann trat er hinaus in die kühle Finsternis und ich sah ihm nach, wie er stolz und aufrecht den Weg entlang schritt, bis ihn die Schatten verschluckten. Kapitel 5 - Ende Kapitel 6: ----------- Beginn: 22.04.2011 Ende: 23.04.2011 Kapitel 6 Dank Steels Besuch und seinem äußerst schmackhaften Mitbringsel, war mein Blutdurst vorerst gestillt, was mich in die zweifelhafte Lage versetzte, mit meinem anderen Gast zu Abend essen zu dürfen. Eigentlich hatte ich mit dem jungen Erschaffenen über seine Tischmanieren reden wollen, doch das unangekündigte Erscheinen des Anderen hatte es verhindert. Nach dem Gespräch mit ihm hatte es vieles gegeben, über das ich nachdenken musste und so war ich Noël – seit ich seinen Namen zum ersten Mal ausgesprochen hatte, nannte ich ihn auch gedanklich häufiger bei selbigem – wohl unbewusst aus dem Weg gegangen. Er hatte es ganz offensichtlich bemerkt, vielleicht auch einfach etwas anderes erwartet, jedenfalls starrte er mich seit dem Beginn unserer Mahlzeit mit einem derart brennenden Blick an, dass es mir schwer fiel, mich auf das Essen zu konzentrieren. Hätte nicht vielmehr ich derjenige sein sollen, der verärgert war? Denn wenn ich mich nicht sehr täuschte, war er es gewesen, der mich eine Nacht zuvor, wenn schon nicht zerfetzt, so doch zumindest äußerst unsanft behandelt hatte. Angesichts dessen erschien es mir mit einem Mal geradezu amüsant, dass ich Steel nur wenige Stunden nach diesem Ereignis im Brustton der Überzeugung versichert hatte, dass von dem jungen Mann keinerlei Gefahr ausging. Allerdings war es bedauerlicherweise nicht so komisch, dass ich darüber hätte lachen können. Innerlich seufzend hob ich den Blick und sah in die flammenden Augen meines Gegenübers. „Frag ruhig, wenn du etwas wissen möchtest“, sagte ich und trank einen Schluck Wein, der jedoch im Vergleich zu dem gestrigen geradezu schal schmeckte. Bedauernd stellte ich das Glas wieder ab. „Wer war der Mann?“ Hatte er Angst? Es klang aggressiv, obwohl ich mir nicht recht vorstellen konnte, welchen Grund ich ihm diesmal gegeben haben könnte, zornig zu sein. Aber vielleicht war es auch nur die überschüssige Energie, die ihm mein Blut verliehen hatte. „Steel, ein junger Vampir, der in unseren Kreisen einen gewissen Ruf genießt.“ Ich hatte nicht den Eindruck, dass ihm der Name etwas sagte. Doch schien er zu ahnen, dass Personen, die in den höheren Kreisen der Gesellschaft einen gewissen Bekanntheitsgrad genossen, nichts Gutes für Wesen wie ihn bedeuteten, denn er fragte: „Er war hier um mich zu töten, richtig?“ Nun, zumindest das konnte ich mit ruhigem Gewissen verneinen und tat es auch, doch er blieb hartnäckig. „Aber er war auf der Suche nach mir.“ „Ja“, bestätigte ich und dachte einen Moment lang darüber nach, ob es in dieser Situation wohl angemessen war, meine Nahrungsaufnahme fortzusetzen. Allerdings entschied ich rasch, dass dem nicht so war und schob das mittlerweile ohnehin erkaltete Essen beiseite. Er hätte es, so vermutete ich, wohl wenig geschätzt, wenn ich, bei einem für ihn derart wichtigen Thema wie diesem, einer Tätigkeit nachgegangen wäre, die für mein Überleben absolut irrelevant war. „Er hat mich bemerkt, nicht wahr?“ „So ist es“, erwiderte ich und unterdrückte ein Seufzen. Offenbar war ich, innerhalb von weniger als 24 Stunden, bereits zum zweiten Mal in ein Verhör geraten und in die Rolle des Verdächtigen gedrängt worden. Andererseits, wurde mir plötzlich bewusst, war dies das längste Gespräch, das wir seit seinem ersten Erwachen in diesem Haus geführt hatten – und das einzige, stellte ich weitaus weniger enthusiastisch fest. „Aber er hat mich nicht mitgenommen.“ Ich war nicht sicher, ob er es zu mir oder zu sich selbst sagte, doch da er es ausgesprochen hatte, zog ich es vor zu antworten. „Offensichtlich nicht.“ Kurzzeitig hatte er den Blick abgewandt, nun sah er mir wieder direkt in die Augen. „Warum nicht?“ Wäre es nicht berechtigt gewesen, sein Misstrauen hätte mich gekränkt. Aber er wusste ja auch nichts von der Unterredung zwischen Steel und mir. Außer natürlich, dass sie stattgefunden hatte. „Weil es keinen Grund dafür gab.“ Ich überdachte meine Antwort und fragte mich, ob es die Wahrheit, eine Halbwahrheit oder eine Lüge war. Ich entschied mich dafür, dass es vermutlich vom Standpunkt des Betrachters abhing. Selbstverständlich war es nichts, das er einfach so und ohne weiteres akzeptieren konnte. „Er hat Meister Urags Mörder gesucht, ist es nicht so?“ „Allerdings“, erwiderte ich und stellte nicht zum ersten Mal mit mildem Erstaunen fest, dass er von dem Anderen immer noch respektvoll als Meister sprach. Nicht nur, dass dieser Vampir nicht mehr unter uns weilte, Noël selbst hatte ihn so sehr gehasst, dass er bereit und dazu in der Lage gewesen war, ihn zu töten. Er musste ihn nicht mehr fürchten, so er es denn jemals getan hatte, aber wenn es um Urag ging, war sein sonst so loses Mundwerk plötzlich erstaunlich zurückhaltend. „Ich habe Meister Urag getötet.“ „Ich hege nicht den geringsten Zweifel daran. Und Steel auch nicht, wie mir scheint.“ Das Misstrauen in seinen Augen blieb und mischte sich mit offensichtlichem Unverständnis. Und ich lächelte nur deshalb nicht darüber, weil er es zweifellos missverstanden hätte. „Warum bin ich dann noch am Leben?“ Ich seufzte schwer. Glaubte er mir nicht oder waren seine Todessehnsüchte tatsächlich so groß? Das war unter den Unsterblichen durchaus keine Seltenheit, doch hatte ich, was ihn anbelangte, so meine Zweifel. Wäre dem so gewesen, hätte er sich genauso gut von seinen Verfolgern in Stücke reißen lassen können. Es wäre im Vergleich zum Zorn der Adligen vermutlich eine milde Strafe gewesen. „Möchtest du so gern bestraft werden?“, fragte ich und sofort übernahm sein hitziges Temperament wieder die Führung. „Das ist nicht der Punkt!“, schrie er und schlug mit den Handflächen auf den Tisch, dass das Geschirr eine bedenkliche, von lautem Klappern begleitete, Sprungbewegung vollführte. Ich seufzte erneut und stützte den Kopf auf eine meiner Hände, um zu verhindern, dass ich ihn in einem Anflug von Missfallen schüttelte. „Weil wir beide der Ansicht sind, dass das nicht nötig ist.“ Der Blick seiner blauen Augen, die mich immer wieder aufs Neue faszinierten, verlor ein wenig von seiner Härte. „Was heißt das?“ Hätte ich statt des Weins eine Tasse Tee vor mir gehabt, ich hätte gedankenverloren mit dem Löffel darin herumgerührt. Ich hatte eine gewisse Affinität zu Gesten wie dieser und da ich hier nun einmal kein Buch zu meiner Verfügung hatte... „Meister Urag war, wie soll ich es ausdrücken, nicht übermäßig beliebt. Sein Tod ist daher keine besondere Überraschung und für viele nicht unbedingt Grund zur Trauer.“ Er murmelte etwas, das wie gefühllose Bestien klang, doch ich überhörte es gekonnt und verzichtete darauf, ihn darauf hinzuweisen, dass er nur deshalb – nämlich weil Urags Tod nicht als übermäßiger Verlust eingeschätzt wurde – noch am Leben war. Stattdessen fuhr ich mit meinen Erklärungen fort. „Sein Ableben wird untersucht, weil es sich so gehört und die Art seines Todes offenbar nicht den Eindruck eines Selbstmordes erweckt hat.“ Ich konnte die plötzliche Regung auf seinem Gesicht nicht recht einordnen, doch war es wohl die Erinnerung an jenen Moment des Todes, die sie auslöste, denn für wenige Augenblicke verschwand ich aus dem Fokus seiner Seelenspiegel und schien sein Blick in weite Ferne gerichtet. „Jedenfalls scheint einigen Vertretern der gehobeneren Kreise nicht wohl zu sein bei dem Gedanken, dass womöglich eine wahnsinnige Bestie ihr Unwesen treibt und sich am Ende gar auf die Auslöschung des Adels konzentriert.“ „Ein durchaus erstrebenswertes Ziel“, knurrte er und ich konnte den Hass und die tiefe Verachtung, die er für die Vampire empfand, in seinen Augen sehen. Wieder unterdrückte ich ein Seufzen. Was sollte ich nur mit ihm machen. Offenbar war er weder erfreut darüber, dass man ihn am Leben ließ, noch dazu bereit, gewisse Dinge für sich zu behalten. Denn ganz gleich, von welcher Warte aus man es betrachtete, es war nicht besonders klug einem Adligen in ausgesprochen respektloser Weise wieder und wieder mitzuteilen, dass seinesgleichen der Welt besser erspart geblieben wäre. Und das war eine noch recht milde Umschreibung dessen, was er sagte und mit jeder Faser seines Körpers ausstrahlte. Die Tatsache, dass er damit, zumindest bei einigen Exemplaren unserer Art, gar nicht so falsch lag, änderte daran auch nichts. Zudem war er niemand, der darüber zu entscheiden hatte. Ich entschloss mich, es ihm zu sagen, in der Hoffnung, ihn dadurch vor einer möglichen Dummheit zu bewahren. „Ich bin nicht besonders empfindlich gegenüber Beleidigungen, aber was dieses Thema anbelangt wäre es besser, du hütest deine Zunge. Es könnte sonst passieren, dass Worte wie diese einmal auf die falschen Ohren treffen.“ Er merkte auf, seine Worte jedoch überraschten mich. „Ich wollte Euch nicht beleidigen.“ Seit wann spielte das für ihn denn eine Rolle? Hatte in unserer sonderbaren Gemeinschaft irgendeine Veränderung stattgefunden, die mir entgangen war? Auch wenn seine Stimme ernst und weitestgehend emotionslos geklungen hatte, immerhin hatte er es ausgesprochen. „Ich habe es auch nicht so aufgefasst“, erklärte ich, da er offenbar eine Antwort erwartete. Für den Moment schien er beruhigt und verfiel in nachdenkliches Schweigen. Auch ich schwieg, während ich gespannt darauf wartete zu erfahren, welches Detail unseres Gesprächs ihn so beschäftigte. „Also“, begann er schließlich von Neuem, „habt Ihr ihm gesagt, dass von mir keine Gefahr ausgeht?“ Es erschien mir ein wenig ungerecht, eine so wichtige Unterredung in einem Satz zusammenzufassen, aber letztlich hatte er recht. „Auf den Punkt gebracht, ja.“ Er sah mich mit einer Mischung aus Erstaunen und Ungläubigkeit an. „Wie könnt Ihr Euch da so sicher sein?“ Eine berechtigte Frage und dazu eine, die ich mir selbst auch schon gestellt hatte. Natürlich hätte ich ihm eine äußerst galante und schmeichelhafte Lüge auftischen können, doch auch für den Fall, dass er gegen derartige Komplimente nicht immun war, sah ich keinen Grund dazu. „Gar nicht“, sagte ich und zuckte die Schultern. Ein plötzlicher Rotschimmer auf seinen Wangen ließ mich aufmerken und machte mir bewusst, dass meine Finger unwillkürlich über die Stelle an meinem Hals gestrichen hatten, die eine Nacht zuvor noch die Narben seines Trinkgelages geziert hatten. Ich ließ die Hand sinken. Es war ihm ganz offensichtlich unangenehm, denn auch wenn die Röte bereits wieder von seinem Gesicht verschwunden war, brachte er es doch nicht länger über sich, mir in die Augen zu sehen. Stattdessen war sein Blick auf die Tischplatte gerichtet und machte er einen zerknirschten Eindruck. „Und trotzdem habt Ihr ihm Euer Wort gegeben?“ „Hast du gelauscht?“, fragte ich amüsiert, insgeheim erfreut darüber, dass sich sein erstaunlich scharfer Verstand zur Abwechslung einmal nicht gegen mich richtete. Missbilligend sah er mich an. Als wollte er mich dafür tadeln, dass ich ihm etwas so absurdes unterstellte. Was ich nicht tat und nebenbei fand ich die Vorstellung, ganz unabhängig von seiner Person, gar nicht so absurd. „Nein, aber ohne eine entsprechende Versicherung wäre er wohl kaum einfach wieder gegangen. Euer Wort wäre also das Mindeste.“ Ich musste zugeben, dass ich mehr und mehr Gefallen an unserer Unterhaltung fand und das auf eine ganz ähnliche Weise, wie es bei Steel der Fall gewesen war. „Kluger Junge“, sagte ich lächelnd und er verzog augenblicklich das Gesicht. „Behandelt mich bitte nicht wie ein Kind.“ Ich war nicht sicher, ob er noch etwas hatte sagen wollen, doch als er den Ausdruck auf meinen Zügen bemerkte, veränderten sich auch die seinen und er fragte: „Warum seht Ihr mich so erstaunt an?“ „Nun“, erwiderte ich und hatte Mühe meine Überraschtheit in Zaum zu halten, „das ist das erste Mal, dass du in meiner Gegenwart das Wort bitte erwähnst.“ Zweifellos eine Tatsache, die ich jedoch, wie mir auffiel noch während ich sie aussprach, diplomatischer hätte ausdrücken können oder besser noch für mich behalten hätte. Sein unverkennbar beleidigter Gesichtsausdruck gab mir recht – auch wenn ich lieber darauf verzichtet hätte. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er, schmollend wie ein kleines Kind, augenblicklich aufgesprungen wäre und den Raum verlassen hätte. Doch er blieb und verfiel erneut in nachdenkliches Schweigen. Lange sagte niemand etwas, saßen wir uns wortlos gegenüber. Schließlich erhob ich mich und begann das Geschirr abzuräumen. Er schien mich nicht einmal mehr wahrzunehmen, so konzentriert war er. Nur ein Mal, als ich seinen Teller aufnahm und ihm dazu gezwungenermaßen nahe kommen musste, hob er den Kopf und sah mich mit unbestimmtem Blick an. Er schien ein Talent dafür zu besitzen, mich auf eine Weise zu betrachten, deren Bedeutung mir ein Rätsel war. Ihn als nachdenklich zu beschreiben, brachte mich auch nicht wesentlich weiter. Jedenfalls war er frei von Angst oder Misstrauen, was bei dem jungen Erschaffenen durchaus Seltenheitswert hatte. Ich verschwand für eine Weile in der Küche, doch als ich zurückkehrte, hatte er seine Haltung nicht im Mindesten verändert. Er schien jedoch viel mehr seinen eigenen Gedanken nachhängen als mit mir sprechen zu wollen. Ich respektierte das und ließ ihn allein, um mich in die Bibliothek zurückzuziehen. Kapitel 7: ----------- Beginn: 24.04.2011 Ende: 25.04.2011 Kapitel 7 Ich beugte mich gerade über eine Sammlung alter Seekarten, die man mir zu Restaurationszwecken leihweise überlassen hatte, als Noël den Raum betrat. Ich fragte mich nicht zum ersten Mal, wie es Menschen trotz dieser Karten geschafft hatten, ihr Ziel zu erreichen und nicht weniger erstaunte es mich, dass mein sonst so schweigsamer Gast schon zum zweiten Mal in dieser Nacht seinen Weg zu mir fand. Inmitten des Raumes blieb er stehen und sah mich an. Ich überlegte, ihn zu fragen, was ihn hierher geführt hatte, unterließ es dann aber. Er würde es mir ohnehin mitteilen, sofern es ihm wichtig genug war und er nicht plötzlich feststellte, dass ich doch nicht der richtige Ansprechpartner dafür war. „Warum tut Ihr das?“ Einen Moment lang war ich versucht, ihn in die Geheimnisse und Faszination der Seefahrt einzuweihen. Allerdings nahm ich nicht an, dass dies Gegenstand seines Interesses war und angesichts des vorausgegangenen Gesprächs, wurde diese Möglichkeit noch einmal um ein Vielfaches unwahrscheinlicher. „Was meinst du?“, fragte ich, nur um ganz sicher zu sein, und maß mit einem zugegebenermaßen etwas altertümlichen Zirkel den Abstand zwischen zwei Punkten auf der Karte nach. Kein Zweifel. Entweder handelte es sich um eine unsachgemäß angefertigte Kopie oder es war eine Fälschung. Höchst bedauerlich für den Besitzer, der mit einiger Wahrscheinlichkeit ein kleines Vermögen in sie investiert hatte. Aber vielleicht brachte mich dies in die äußerst glückliche Lage, dieses optisch sehr ansprechende Stück behalten zu dürfen. Sorgsam verwahrte ich die Karten wieder und wandte mich dann einem Buch aus meiner eigenen Sammlung zu. Ich wusste, dass dies meinem Gast gegenüber nicht besonders höflich war, aber ich wollte wenigstens diesen einen Gedanken noch zu Ende bringen, bevor ich mich auf ein weiteres Verhör mit ihm einließ. „Ihr nehmt mich in Schutz, gebt mir sogar Euer Blut...“ „Ah“, erwiderte ich, um anzuzeigen, das ich nun wusste, wovon er sprach. Es war schön zu hören, dass es ihm nicht völlig entgangen war. Ich machte mir eine Notiz an den Rand des Buches und schlug es zu. „Seid Ihr in mich verliebt?“ Ich hob den Kopf und sah ihn erstaunt an. „Wie kommst du darauf?“, fragte ich ihn und anders als erwartet, gab er mir tatsächlich eine Antwort. „Es wäre eine mögliche Erklärung.“ Mit hochgezogenen Brauen sah ich ihn an und musste mich zwingen, nicht fassungslos den Kopf zu schütteln. Es war, als hätte eine innere Stimme Gestalt angenommen, um meine tiefsten, verborgensten Gedanken auszusprechen. Ich setzte mich und begann erneut in meinem Buch zu lesen. Ihn lieben? Ihn? Wieso hätte ich das tun sollen? Andererseits gab es eine ganze Reihe von Ereignissen und Verhaltensweisen meinerseits, die die gleiche Frage verdient hätten. Er war mir nicht gleichgültig, soviel stand fest. Aber ihn lieben? Es wäre ja nicht das erste Mal, dass ich für einen Vampir diese Art von Sympathie hegte, aber... Selbst wenn man einmal davon ausging, dass weder Beziehungen noch die dazugehörigen Partner miteinander vergleichbar waren, hätte es sich nicht irgendwie...gut anfühlen müssen? Ein wenig Schwärmerei, ein wenig Herzklopfen, all jene mehr oder weniger umfassenden Anzeichen einer Verliebtheit. Hatte ich irgendetwas gesagt oder getan, das den Eindruck erweckt hatte, ich würde so fühlen? Die Fragen kreisten in meinem Kopf und gewaltsam schob ich sie beiseite. Ich wusste keine Antwort darauf, aber war die Tatsache, dass ich ernstlich darüber nachdenken musste, nicht bereits ein sehr eindeutiges Zeichen, dass es nicht so war? Sicher, ich war froh, dass er hier war und ein wenig die Einsamkeit aus den Mauern dieses Hauses vertrieb. Aber ihn lieben? Ich schüttelte den Kopf und versuchte, mich auf den Bericht des Kolumbus über seine vermeintliche Entdeckung Indiens zu konzentrieren. Faszinierend, wozu Menschen fähig waren, wenn sie nur an etwas glaubten und ehrlich davon überzeugt waren. Ganz offensichtlich war mir diese Form der Entschlossenheit nicht gegeben. Ich hatte angenommen, dass er sich über meine Reaktion verärgert oder gekränkt zeigen und den Raum verlassen würde. Doch meine sonst so präzisen Voraussagen schienen bei dem jungen Vampir nur selten zuzutreffen und er hatte offenbar nicht vor, meine Quote zu verbessern. Er wartete wohl darauf, dass ich noch etwas sagte und als ich es nicht tat, beschloss er selbst zu handeln. Ich hörte seine Schritte auf dem marmornen Boden und stellte mit einiger Verwunderung fest, dass sie sich mir näherten. Was sollte das werden? Erst sprach er mit mir in einer Nacht so viel, wie in der gesamten Zeit seines Hierseins nicht und jetzt suchte er sogar meine Nähe? Allmählich hatte ich wirklich das Gefühl, dass mir etwas Wichtiges entgangen war, das mir eine Erklärung für die plötzliche Veränderung im Verhalten meines Gastes hätte geben können. So satt wie er war, konnte es wohl kaum die Anziehungskraft meines Blutes sein, die ihn derart zutraulich werden ließ. Als er hinter mich trat, nahm das Gefühl der Anspannung zu und als er seine Hand auf meine Schulter legte, zuckte ich so heftig zusammen, dass ich um ein Haar die Seiten des Buches beschädigt hätte. Rasch griff ich nach seiner Hand, damit er sie nicht zurückzog. Es war das erste Mal, dass er freiwillig zu mir kam und ich wollte nicht, dass er meine Überraschtheit als Ablehnung verstand. Doch er zog sie nicht zurück und blieb auch sonst vollkommen ruhig. Ich dagegen hatte mich schon weitaus größerer Gelassenheit erfreut, als sie mir in diesem Moment vergönnt war. Sein Verhalten, seine Person, einfach alles an ihm irritierte mich. „Ihr habt meine Frage nicht beantwortet“, sagte er mit ruhiger, klarer Stimme, deren Nuancen ich auf diese Entfernung perfekt ausmachen konnte. Er hatte recht, aber er würde, zumindest vorerst, auch keine Antwort darauf erhalten. Weil es auf diese Frage keine Antwort gab – oder treffender: Weil ich auf diese Frage keine Antwort wusste. Ich glaubte nicht, dass ich ihn liebte, doch sobald ich auch nur daran dachte es auszusprechen, begann eine leise innere Stimme unbequeme Fragen zu stellen. Und obwohl ich dies hasste, vermied ich es, aus einem plötzlichen Impuls heraus eine Antwort zu geben, die ich später vielleicht bereute. „Du langweilst dich sicher“, erwiderte ich lächelnd, jedoch ohne ihn anzusehen, und zog meine Hand zurück. „Steels Gegenwart hat deine Verfolger ein wenig zerstreut. Wenn du also einen Ausflug außerhalb dieser Mauern machen möchtest, wäre jetzt eine gute Gelegenheit.“ Eine Weile geschah nichts, dann spürte ich seine Hand von meiner Schulter gleiten und hörte, wie er sich zurückzog. Das Haus verließ er jedoch nicht. Kapitel 7 - Ende Kapitel 8: ----------- Beginn: 25.04.2011 Ende: 01.05.2011 Kapitel 8 Als ich am nächsten Abend Noëls Zimmer betrat, um ihm seine Kleidung für die kommende Nacht bereitzulegen, hatte ich die Erinnerung an das Gespräch in der Bibliothek bereits mehr oder weniger erfolgreich verdrängt und meinen Seelenfrieden weitestgehend zurückgewonnen. Ich klopfte, wie ich es immer tat und erhielt wie gewohnt keine Antwort. Ich trat ein und schloss leise die Tür hinter mir. Als ich den Blick hob, bot sich mir eine Überraschung. Noël war um diese Zeit stets auf Wanderschaft durch das Haus oder das umliegende Gelände gewesen, doch diesmal saß er bereits vollständig angekleidet auf dem Bett und sah mir entgegen. „Oh Verzeihung“, sagte ich und mir wurde bewusst, wie gut er mich bereits erzogen hatte, dass ich mich dafür entschuldigte, einen Raum in meinem eigenen Haus zu betreten. „Ich hatte angenommen, du wärst nach draußen gegangen.“ Er beobachtete mich. Musterte mich schweigend, als wolle er mein Wesen ergründen und hinge davon eine äußerst wichtige Entscheidung ab. Ich ließ ihn gewähren, auch wenn es unhöflich war, was er tat und deutet schließlich an, das Zimmer verlassen zu wollen. „Was würde geschehen, wenn ich Euch als meinen Meister wählen würde?“ Überrascht sah ich ihn an. Allein die Tatsache, dass er es sich gestattete darüber nachzudenken, es rein hypothetisch in Erwägung zu ziehen, war mehr als erstaunlich. „Nicht viel. Das Mal würde verschwinden und du würdest auf mich geprägt. Es wäre dann mein Blut, nach dem es dich verlangt.“ Er betrachtete mich ohne erkennbaren Ausdruck, doch in seinem Inneren arbeitete es, davon war ich überzeugt. „Und welche Forderungen stellt Ihr?“ Es fiel ihm offensichtlich nicht leicht, diese Worte auszusprechen. Er zögerte und seine Stimme zitterte kaum merklich, während er die heftigen Gefühle in seinem Inneren zu beherrschen suchte. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, ihm irgendeine, zumindest für ihn, vollkommen absurde Bedingung zu nennen. Nur, um zu sehen, wie er darauf reagierte. Was er zu tun bereit war, um erneut zu werden, was er nie wieder hatte sein wollen. Natürlich sagte ich nichts dergleichen. Wenn überhaupt, wäre es ein sehr zweifelhaftes Vergnügen gewesen, denn bei seinem Temperament waren die Folgen mehr oder weniger vorhersehbar und keinesfalls wünschenswert. Also entschloss ich mich, wie üblich, zu einer wahrheitsgemäßen Antwort. „Keine, außer vielleicht den Wunsch nach ein wenig mehr Respekt und die Erwartung, dass du mir keine Schande bereitest.“ Wahrscheinlich hätten mich die meisten Vampire verlacht oder bedauert, hätten sie unserem Gespräch in diesem Moment lauschen können. Welch ein bescheidener Wunsch angesichts dessen, was ich für das, was ich ihm bot, tatsächlich hätte fordern können, ohne dass jemand auch nur im Mindesten Anstoß daran genommen hätte. Ihr verkauft Euch unter Wert, hätte Steel wohl gesagt, andere hätten es weniger höflich ausgedrückt. „Was heißt das?“, fragte Noël, der mir, ob nun aus Gründen der Überraschung oder weil er tatsächlich nicht wusste wovon ich sprach, offensichtlich nicht ganz folgen konnte. Welch Ironie! Körperlich wollte er mir nicht folgen und gedanklich konnte er es nicht. Wirklich, noch ein wenig mehr und ich hätte die ganze Angelegenheit direkt amüsant finden können. „Mich nicht durch Worte oder Taten bloßzustellen, wenn wir in der Öffentlichkeit sind. Zumindest nicht außerhalb eines gewissen Toleranzbereichs. Außerdem solltest du andere Vampire weder verletzen noch töten, es sei denn, es dient deiner Selbstverteidigung oder ich habe es dir erlaubt.“ Das waren tatsächlich die wesentlichsten Punkte und Erwartungen, die ich an ihn hatte. Mehr als das würde er kaum akzeptieren und es erschien mir auch wenig zielführend. Sah man einmal von seinen Tischmanieren ab, hielt ich ihn durchaus für gesittet und zivilisiert genug, um sein Verhalten bei Bedarf ein wenig den äußeren Umständen anzupassen oder zumindest für Gespräche diesbezüglich einigermaßen offen zu sein. Weniger als das, konnte dagegen ich nicht akzeptieren. Zum einen, weil wir, für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Sache mehr als rein hypothetisch war, irgendwie miteinander auskommen mussten und ich ebenso wenig Freude daran hatte, zum Gespött der Leute gemacht zu werden, wie daran, ihn vor aller Augen, auf welche Art auch immer, zurechtzuweisen. Zum anderen würde eine Nichteinhaltung dieser Vorgaben seinen Schutz erheblich erschweren, was auf Dauer nicht nur problematisch, sondern auch gefährlich werden konnte und würde. Ich hoffte nur, dass er den Begriff Selbstverteidigung nicht allzu großzügig auslegen würde. Ich hatte durchaus schon davon gehört, dass Präventivschläge zuweilen als Selbstverteidigung definiert wurden und das war selbstverständlich absolut inakzeptabel. Perplex sah er mich an. „Das ist alles?“ Ich musste zugeben, es war immer wieder erfreulich festzustellen, dass ich durchaus dazu in der Lage war, Emotionen bei ihm auszulösen, auch wenn es sich dabei meist um Überraschung oder Wut handelte. Misstrauen zählte ich mittlerweile nicht mehr dazu, da es gewissermaßen eine Grundhaltung, ein Dauerzustand bei ihm war. „Hattest du mehr erwartet?“, fragte ich leicht amüsiert, doch anstatt zornig zu werden, senkte er nachdenklich den Blick. „Wenn ich es tue“, begann er nach einigem Zögern erneut und sah mich an, „stehe ich unter Eurem Schutz, richtig?“ Im Gegensatz zu mir hatte er also ganz offensichtlich nicht das Gefühl, dass dies bereits seit unserer ersten Begegnung der Fall war. Ich musste zugeben, das kränkte mich ein wenig. Ironischerweise verliehen die daraus resultierende Ernsthaftigkeit und der grollende Unterton meinen Worten offenbar mehr Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft, als dies für gewöhnlich der Fall war. „Ob Eigentum oder nicht, ich schütze, was zu mir gehört.“ Eine Weile sagte er nichts, wanderte sein Blick immer wieder zwischen mir und einem unbestimmten Punkt im Raum hin und her. Doch schließlich galten seine Aufmerksamkeit und auch seine Zweifel wieder ganz mir. „Und Ihr wollt...mich nicht unterwerfen?“ Obwohl ich ahnte, dass es ihm nicht gefallen würde, konnte ich nicht anders als herzhaft zu lachen. „Dich zu zähmen dürfte eine Jahrhundertaufgabe sein und ich rechne mir keine guten Chancen aus.“ Ein Hauch von Rot erschien auf seinen Wangen und das Bemühen ihn wieder verschwinden zu lassen, war ihm deutlicher anzusehen, als ihm lieb sein konnte. Es waren Momente wie dieser, die mir eine gewisse Schwäche für ihn bewusst machten. „Ich brauche eine Aufgabe“, erwiderte er ein wenig zerknirscht und der Zauber des Augenblicks verflog. Ich war nicht überrascht, dass er es ansprach. Ein Leben wie das, was er jetzt führte, konnte für einen jungen Vampir wie ihn unmöglich zufriedenstellend sein. Schon sein Temperament ließ es nicht zu und angesichts dessen, dauerte sein Aufenthalt an diesem Ort bereits erstaunlich lange an. Ich lächelte und erwiderte: „Wenn du ein guter Jäger bist, könntest du dich ihnen vielleicht anschließen. Dämonen gibt es genug. Obwohl sie es sicher nicht gerne sehen, einen Erschaffenen in ihren Reihen zu haben.“ Noch während ich es sagte wurde mir bewusst, dass es wenig höflich war, doch er gab mir keine Gelegenheit mich zu erklären. „Wie habt Ihr mich genannt?“, fragte er und schien dabei eher überrascht als verärgert zu sein. „Einen Erschaffenen“, antwortete ich und fragte mich insgeheim, ob diese Bezeichnung wirklich so abwegig war. Es schien mir, als würde ich jeden, demgegenüber ich dieses Wort erwähnte, in höchstes Erstaunen versetzen. „Ist etwas nicht in Ordnung?“, erkundigte ich mich, da ich mir nicht sicher war, ob er es nicht vielleicht doch als beleidigend oder kränkend empfunden hatte. „Nein“, erwiderte er nachdenklich und fuhr dann fort, „Ich kannte diese Bezeichnung nur noch nicht.“ Und dann sah er mich wieder mit einem dieser Blicke an, die zu deuten mir einfach nicht gelingen wollte. Beobachtend, beinahe neugierig und mit einer sonderbaren Offenheit, die er mir nie zuvor gezeigt hatte. „Und es ist die freundlichste Umschreibung unseres Wesens, die ich jemals von einem echten Vampir gehört habe.“ Kapitel 8 - Ende Kapitel 9: ----------- Beginn: 01.05.2011 Ende: 01.05.2011 Kapitel 9 Lustlos blätterte ich in einem Werk über angewandte Ethik und konnte nicht anders, als resigniert zu seufzen. Es war doch wirklich erstaunlich, welchen Einfluss eine, angesichts meines Alters, so lächerlich kurze Zeit haben konnte, wie jene, die Noël in meinem Haus verbracht hatte. Das Gespräch, das wir über einen möglichen Vertrag geführt hatten und das seinen allmählichen Rückzug aus meiner Welt eingeläutet hatte, lag bereits mehrere Wochen zurück. Die erste Zeit danach, war für mich mit ungewöhnlich viel Gesellschaft verbunden gewesen, da es mich einige Mühe gekostet hatte, die Jäger dazu zu bewegen, ihn sich zumindest einmal anzusehen und sie letztlich soweit zu bringen, dass sie ihn sogar das Training absolvieren ließen. Mit dem Versprechen, dass er, wenn er es erfolgreich meisterte, zunächst probehalber mit ihnen arbeiten durfte. Von dieser Nacht an, war die ohnehin eher geringe Häufigkeit unserer Treffen dramatisch gesunken. Noël verließ das Haus noch vor Sonnenuntergang und kehrte meist erst im Morgengrauen zurück. Nur selten hatte ich einen Blick auf ihn erhascht, doch das Leuchten in seinen Augen war unverkennbar gewesen. Er hatte, wenn schon nicht seine Bestimmung, so doch zumindest eine Aufgabe gefunden. Er schien zufrieden, wenngleich ich keine Gelegenheit fand, ihn danach zu fragen. Er mied mich nicht, suchte jedoch, genau wie zu der Zeit vor seiner Zusammenarbeit mit den Jägern, auch nicht meine Nähe. Ich blätterte zurück an den Anfang des Buches und las zum, ich wusste schon nicht mehr wievielten Male, das Inhaltsverzeichnis. Es blieb dabei. Jeder einzelne Beitrag war höchst interessant – und hätte mir im Augenblick kaum gleichgültiger sein können. Selbst der Klang meines geliebten Grammophons zehrte eher an meinen Nerven, als dass er sie beruhigte und für ein wenig eigene Musik fehlte mir die Muße. Genau wie ich vermutet und gefürchtet hatte, hatte ich mich zu diesem Zeitpunkt bereits zu sehr an seine Anwesenheit gewöhnt. Erstaunlich, wenn man bedachte, wie selten er mir tatsächlich Gesellschaft geleistet hatte. Doch diese Zeit war vorüber. Seine Besuche waren seltener geworden und seit die Jäger ihn in ihre Gemeinschaft aufgenommen hatten, hatten sie ganz aufgehört. Ich wartete nicht auf ihn, doch es änderte nichts daran, dass ich allein war. Er lebte jetzt mit den Jägern zusammen und verbrachte nicht nur die Nächte, sondern auch die Tage mit ihnen. Das war einerseits erfreulich, andererseits bedauerte ich es. Wohl, weil ich im Stillen doch gehofft hatte, dass die Freiheit, die ich ihm gewährte, ihn davon abhalten würde, mich zu verlassen. Welch törichter Wunsch. Nachdem seine Verfolger ihm nicht mehr auflauerten, sich, ob nun um zu sterben oder um sich einen neuen Herrn zu suchen, zerstreut hatten, gab es für ihn nur noch einen einzigen Grund hierher zurückzukehren. Für diese seltenen Treffen nahm er sich erstaunlich viel Zeit, doch es änderte nichts daran, dass er lediglich zum trinken hierherkam. Wir sprachen nicht miteinander, für das, was er wollte, waren Gesten vollkommen ausreichend. Er trank jetzt rücksichtsvoller, doch hatte ich nicht das Gefühl, dass er es genoss. Es war nicht auszuschließen, dass er meinen Groll spürte und es deshalb nicht wagte zu sprechen. Vielleicht sorgte er sich auch darum, dass er mich verärgern könnte und ich ihm daraufhin seine Nahrung verweigerte. Das lag mir zwar fern, doch tatsächlich dachte ich mittlerweile über Alternativen nach. Denn auf das, was ich in jenen Momenten, in denen er bei mir war und mein Blut trank, tatsächlich noch fühlte, konnte ich sehr gut verzichten. Es wurde mehr und mehr zur Zeitverschwendung. Nicht, das ich als Unsterblicher nicht genug davon zu meiner Verfügung gehabt hätte, aber das war mir die Sache einfach nicht wert. Und solange er mein Blut bekam, war der Weg, auf dem es geschah, meines Wissens nach vollkommen gleichgültig. Sollte er sich seine Zeit doch mit einer Weinflasche oder einer Blutkonserve vertreiben. Was kümmerte es mich? Weihnachten war eine einzige große Enttäuschung gewesen. Ich schlug das Buch zu, legte es vor mir auf den Tisch und stand auf. Die Art wie auch die Richtung, in die sich meine Gedanken entwickelten, sagten mir, dass es Zeit war auf die Jagd zu gehen. Das würde meine Stimmung heben und mich von unnützen Überlegungen befreien. Ich hatte schon viel zu lange zu viel Zeit in diesem Haus verbracht. Ich sehnte mich nach der kühlen Nachtluft, der Dunkelheit, die mich umfing und der sanften Umarmung eines Menschen, die mich meine Einsamkeit vergessen ließ. Noël würde sobald nicht zurückkommen und selbst wenn, traute ich es ihm durchaus zu, auch in meiner Abwesenheit mein Haus zu betreten. Zurückhaltung war ja nicht unbedingt eine seiner Stärken. Obwohl ich darüber natürlich nicht viel wusste. Überhaupt wusste ich eigentlich nicht viel von ihm. Während ich meine Stiefel anzog und mir einen Mantel überwarf, musste ich plötzlich an Steels Worte denken. Eine Ratte. Nun, wenn er tatsächlich recht hatte, dann handelte es sich bei Noël zweifellos um ein ganz besonders edles Exemplar dieser Gattung. Denn das Schiff, das er bewohnt hatte, hatte nicht einmal sinken müssen, damit er es verließ. Kapitel 9 - Ende Kapitel 10: ------------ Beginn: 01.05.2011 Ende: 04.05.2011 Kapitel 10 Die Straßen waren ungewöhnlich belebt, was dafür sprach, dass die Menschen etwas zu feiern hatten, und so machten sie es mir leicht, ein geeignetes Opfer zu finden. Ich liebte die Öffentlichkeit nicht, doch war es mir weitaus lieber, es inmitten einer jauchzenden Menge auszusuchen und dann galant in eine Seitengasse oder einen Gasthof zu entführen, als einem panischen Menschen nachzujagen und ihn wie ein Stück Vieh zu Tode zu hetzen. Der kraftvolle Klang ihrer Herzen, der Leben verheißende Strom ihres Blutes, ihre Stimmen, ihr Geruch – all das umgab und erfüllte mich. Überall waren Laternen, brannten Kerzen und erhellten die finstere Nacht mit den leuchtenden Farben ihrer vernichtenden Flammen. Ich bewegte mich durch die Menge, bewegte mich mit ihr, ließ mich treiben, nur um mich wieder aus ihr herauszulösen. Blicke folgten mir, andere wichen mir aus. Fremde Körper streiften meinen eigenen – manche nur zufällig, andere begehrlich. Sie wurden mutig, es musste Alkohol geflossen sein. Ich entzog mich ihnen mit spielerischer Leichtigkeit und zog mich in den Schutz der kleinen Bars zurück, die ein paar Stunden zuvor noch winzige, beschauliche Cafés gewesen waren. Tief sog ich die Nachtluft ein, die die Hitze der Leiber in ihrer Mitte angenommen hatte und schloss die Augen. Wo war das Wesen, das heute Nacht meinen Hunger stillen würde? „Guten Abend, schöner Mann.“ Ich öffnete die Augen und wandte mich dem Ursprung jener weiblichen Stimme zu. Die Frau, zu der sie gehörte, war von jener Art, bei der es schwer fiel ihr ins Gesicht zu sehen, ohne zugleich ihr üppiges Dekolleté zu bemerken. Sie mochte Mitte dreißig sein, reichte mir gerade bis zur Schulter und besaß, soweit ich es ersehen konnte, die Rundungen an den richtigen Stellen. Sie trug ein dunkelblaues Kleid, das ihre Körperformen vortrefflich, wenn auch für meinen Geschmack ein wenig zu sehr zur Geltung brachte. Ihre Schminke war etwas zu grell um schön zu wirken, doch aus ihrem von langen braunen Locken umrahmten Gesicht blitzten mich erstaunlich lebhafte Augen neugierig an. „Meine Dame“, erwiderte ich, nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. Sie kicherte wie ein kleines Mädchen, doch ihr Blick zeigte nichts von dieser Unschuld. Sie war nicht hier, um nur ein wenig mit mir zu plaudern. Sie wollte etwas ganz anderes. „Da Ihr so ein ausgesprochener Gentleman seid“, sagte sie mit einem unverwechselbaren Augenaufschlag und aufreizender Stimme, „würdet Ihr mich begleiten?“ Ich lächelte. Wie amüsant einmal einer Frau zu begegnen, die mich zu entführen gedachte. Nun, weshalb nicht? Es mochte der Jagd ja ein wenig ihren Reiz nehmen, aber ein so offensichtliches Angebot wie dieses, würde ich deshalb gewiss nicht ablehnen. Ich mochte den künstlich parfümierten Duft, in den sie sich gehüllt hatte und sie besaß eine so wunderbar weiche Haut, wie sie sonst nur Kindern eigen war. Und meine Fähigkeiten zur Verführung, konnte ich genauso gut ein anderes Mal auf die Probe stellen. Sie nahm mich bei der Hand und ich folgte ihr in den Schutz der Nacht, in die Dunkelheit und Anonymität einer kleinen Seitengasse. Es war ein überraschend angenehmer und unerwartet sauberer Ort. Ich hatte schon ganz anderes gesehen und war immer wieder aufs neue erstaunt darüber, dass Menschen an solchen Orten überhaupt in Stimmung kamen. Dann wiederum war ihr Geruchssinn bei weitem nicht so ausgeprägt wie der der Vampire und ihre Augen bei Nacht im Vergleich zu den unseren geradezu blind. Dennoch, in gewisser Weise passte es zu ihnen. Dass sie etwas, das sie so oft schon als schmutzig und verwerflich beklagt hatten und das sie doch mehr liebten als sie es fürchteten, an einem schmutzigen Ort taten. Die Menschen waren eine sonderbare Spezies, deren Gedankenwelt mir auch nach so vielen Jahrhunderten ihrer Existenz noch immer ein Rätsel war. Wesen, die sich des Besitzes des Verstandes rühmten und doch so selten davon Gebrauch zu machen schienen. Früher einmal hatte Noël zu ihnen gehört, war er einer von ihnen gewesen. Bevor ihn Urag, vermutlich gegen den Willen des jungen Mannes, aus jener Welt der Sterblichen herausgerissen und in die unsrige hineingeworfen hatte. Er hätte mir gewiss von den Menschen erzählen können. Eine Welle des Hungers durchströmte meinen Körper, doch das Gefühl der Anwesenheit anderer Vampire ließ mich zögern. Die Jäger waren hier. Die ungewöhnliche Aura ihres Spähers war, wenngleich er sie gewiss gut verbarg, für mich spürbar – wie eine leise Ahnung drohenden Unheils. Die Jäger selbst verstanden es besser, ihre Anwesenheit zu verbergen. Sie beziehungsweise ihre genaue Position ausfindig zu machen, hätte ein wenig mehr Anstrengung bedurft und ich bemühte mich nicht darum. Denn es gab etwas, das mich im Augenblick weitaus mehr beschäftigte als eine Gruppe jagender Jungvampire. Gleichwohl implizierte ihre Anwesenheit an diesem Ort etwas, das auch mich nicht vollkommen unberührt lassen konnte. Wenn sie hier waren und sich, wie es schien, kaum bewegten, dann sicher nicht, um gemeinsam mit den Menschen zu feiern. Wenn sie hier waren und sich nicht bewegten, bedeutete das vor allem eines: Die Anwesenheit eines oder mehrerer Dämonen. Zwei Hände, die sich sanft auf meine Schultern legten, erinnerten mich daran, weshalb ich hier war. Und ohne dass sie es wusste, hatte meine nächtliche Begleiterin recht. Es gab andere Dinge, um die ich mich kümmern sollte. Die Dämonenjagd war nicht meine Aufgabe und nichts lag mir ferner, als Vampiren wie ihnen ihre Daseinsberechtigung zu nehmen, indem ich mich um die Vernichtung dieser Geschöpfe kümmerte. Ich wandte mich wieder der Frau im blauen Kleid zu. Sie sah mich an und das Begehren in ihren Augen ließ sie erstrahlen wie die Sterne des Nachthimmels. Wann hatte mich zuletzt jemand so angesehen, mich auf diese Weise betrachtet? Ich war kein Heiliger und nicht frei von der Eitelkeit, mich an einem solchen Blick zu erfreuen. Und ich war es leid zu warten. Nicht nach einer Einladung wie dieser. Und auch mein Lächeln verlor, so es sie denn jemals besessen hatte, an Unschuld. Ich legte die Arme um ihre Taille und zog sie an mich, spürte, wie die Hitze ihres Körpers auf mich überging. Ich fühlte ihre Hände in meinem Nacken, neigte mich zu ihr herab und küsste sie. Sanft zuerst, darauf bedacht, sie mit meinen Fangzähnen nicht zu verletzen. Doch es dauerte nicht lange und meine Hände ließen sie jede Gefahr, jede Vorsicht und mehr und mehr auch sich selbst vergessen. Nun bedurfte es keiner Zurückhaltung mehr. Sie würde es nicht einmal bemerken, wenn ich ihr einen so leichten Schmerz wie den des Ritzens ihrer Haut zufügte. Ich drückte sie gegen die Hauswand und küsste sie, als sei sie es, der all mein Verlangen, mein Begehren galt. Sie zitterte vor Erregung und begrüßte jede Berührung meiner Hände mit einem bald leidenschaftlichen bald flehenden Seufzen. Ein Klang, der den Jäger in mir auf den Plan rief und mich, anders als menschliche Männer, vielmehr bei Verstand hielt als mich um diesen zu bringen. Und ich war nicht hier um sie zu lieben. Sacht löste ich mich von ihr, küsste ihren Hals, ihr Schlüsselbein und wandte mich schließlich jener verheißungsvollen Kehle zu, die in dieser Nacht meinen Durst stillen würde. „Na, na, was wollt Ihr denn mit so einer? Ist sie nicht ein bisschen zu gewöhnlich für Euch?“ Ich blickte auf. Die Stimme gehörte einem jungen Mann, dessen Schönheit und Ausstrahlung der eines Vampirs der oberen Ränge glich. Das rabenschwarze Haar bildete einen irritierenden Kontrast zu seiner bleichen Haut. Seine Augen waren wie die Abgründe der finstersten Tiefen der Hölle. Anziehend, fesselnd, schwarz wie die Nacht und voll sündiger Verheißungen. Meine Begleiterin schien wenig erfreut über die Unterbrechung, eine Ansicht, die ich durchaus mit ihr teilte, und schien zudem, trotz ihrer momentanen Verfassung, bemerkt zu haben, dass man sie soeben beleidigt hatte. Schon öffnete sie den Mund zu einer empörten Erwiderung, doch ich legte ihr einen Finger auf die Lippen und brachte sie so zum Schweigen. Dann trat ich von ihr zurück und ging zu dem Fremden hinüber. „Was willst du?“, fragte ich ruhig und musterte ihn. Eine schwierige Frage, doch was auch immer ihn hierher geführt haben mochte, ich war nicht bereit meine Beute zu teilen, geschweige denn sie ihm zu überlassen. Er lächelte süffisant, sein Blick voll verbotenem Vergnügen. „Die Frage ist doch, was Ihr wollt.“ Ein schmeichlerische Stimme, Worte, die Unterwürfigkeit suggerierten, wo doch Dominanz und Selbstgefälligkeit herrschten. Ein Kuss, der einem den Atem raubte und Menschen in den Wahnsinn treiben konnte. Er küsste gut, das konnte ich nicht leugnen und die Hände, die mehr als nur spielerisch über meinen Körper strichen, waren fähig, mich meinen Durst vergessen zu lassen. Ich spürte die Blicke der Jäger und seufzte. „Überschätzt du dich selbst oder unterschätzt du mich?“ Erstaunt sah er mich an, dann ging sein Blick in ein ungläubiges Starren über. Gemeinsam sahen wir auf meinen Arm herab, der seinen Körper nur wenige Zentimeter unterhalb des Herzens durchbohrt hatte. Zeitgleich hoben wir den Blick wieder und sahen einander an. Seine Lippen waren ein wenig geöffnet und ein dünnes Rinnsal Blut floss aus seinem Mundwinkel. „Wolltest du so den Jägern entkommen? Tut mir leid, aber einen Dämon wie dich, kann ich unmöglich am Leben lassen.“ Einen Moment lang empfand ich so etwas wie Bedauern, dann riss ich ihm das Herz heraus und schlug ihm den Kopf von den Schultern. Und kaum, dass er zu Boden fiel, sein Blut die Steine berührte, krochen aus allen Ritzen, jedem Schatten der Nacht Dämonen hervor. Wütende, fauchende Gestalten, von denen nicht eine einzige auch nur annähernd menschlich wirkte. Und die Jäger rührten sich noch immer nicht. Nur ein paar Sekunden, mehr bedurfte es nicht, um die Gefolgschaft und Nachhut des Dämons auszulöschen. Etwas, das ganz eindeutig die Aufgabe der Jäger gewesen wäre. Und in dem Moment, in dem auch der letzte der Dämonenhorde verschwand, löste sich die Angststarre meiner nächtlichen Begleiterin und begann sie zu schreien, wie nur menschliche Frauen es vermögen. Ich wandte mich zu ihr um und blickte in Augen, die in mir nur noch das sahen, was ich für ihresgleichen war: ein Monster. Vorbei der Zauber, vorbei die süße Lüge. Ihre Arme würden sich nicht mehr für mich öffnen, mich umfangen wie einen Geliebten und sei es auch nur für einen kurzen Augenblick. Sie würde mir keine Zärtlichkeiten mehr schenken. Ich war bei ihr, noch bevor sie einen einzigen Schritt in Richtung der belebteren Plätze wagte. Es war leicht, sie zum Schweigen zu bringen. Eine Hand auf ihren Mund gelegt, damit sie nicht schrie und schon tat die Angst ihr übriges und verlor sie das Bewusstsein. Die Haut an ihrem Hals war wie Samt so weich und jetzt, da sie reglos in meinen Armen lag, bot sie mir jede erdenkliche Angriffsfläche. Ich trank von ihr, ohne Freude, ohne Genuss. Genug, um meinen Durst zu stillen, mich zu sättigen, doch zu wenig, als dass sie ernsthafte Schäden hätte davontragen können. Sie würde sich an nichts erinnern. An das Fest vielleicht, dass sie getanzt und gelacht hatte, nicht aber an den Mann, den sie zu verführen geglaubt hatte. Nicht an mich und niemals an das, was an diesem Ort geschehen war. Ich würde sie in einen der nahegelegenen Gasthöfe bringen und dann dort zurücklassen. Man würde sie ruhen lassen, ihr helfen, sollte es nötig sein und niemand würde sich an mehr als eine Gentleman erinnern, der einer Dame in Not beigestanden hatte. Oder einen Perversen, der nicht bereit war, sein Spielzeug länger als nötig in seiner Nähe zu dulden. Was wusste ich schon davon, was die Menschen über mich dachten. Noch einmal wandte ich mich um und sah zu jener Stelle hinauf, an der ich die Präsenz der Jäger spürte. Vielleicht hätte ich ihnen noch ein wenig mehr meiner Aufmerksamkeit geschenkt, doch als ich spürte, wie die Furcht ihre Tarnung verblassen ließ, sah ich davon ab. Ein anderes Mal vielleicht. Jetzt gab es für mich wichtigeres zu tun. Vorsichtig hob ich die bewusstlose Frau auf meine Arme und trug sie zurück in die Welt, in die sie gehörte. Kapitel 10 - Ende Kapitel 11: ------------ Beginn: 10.05.2011 Ende: 12.05.2011 Kapitel 11 Ich hörte ihn schon, lange bevor sein Ruf durch die Flure meines Hauses hallte. Es war müßig zu bemerken, dass er aufgebracht war. Die Lautstärke, mit der er die Türen aufriss und wieder zuwarf, sprach für sich. Es war interessant, dass er sich inzwischen so heimisch zu fühlen schien, dass er meinte, ein solches Verhalten an den Tag legen zu dürfen. „Veleno!“ Also wirklich, jetzt wurde er aber unhöflich. Ich ließ ihm ja wirklich einiges durchgehen, aber ein wenig mehr Respekt durfte ich doch wohl erwarten. Ich lehnte mich gemütlich in meinem Sessel zurück und blätterte entspannt in der Zeitung. Zugegeben, ich war neugierig was es war, das ihn derart aufgewühlt hatte, dass er wie ein eifersüchtiger Liebhaber ins Haus stürzte. Unwillkürlich wanderten meine Mundwinkel nach oben. Noël als eifersüchtiger Liebhaber. Ein unterhaltsamer und nicht weniger absurder Gedanke. Eher noch hätte er sich über die Innenausstattung der Räumlichkeiten echauffiert, als dass er sich dafür interessierte, was ich wann, wo und vor allem mit wem tat - dessen war ich mir sicher. „Veleno!“ Ich antwortete nicht und sah auch keinen Grund ihm entgegenzugehen. Ich war im Allgemeinen nicht besonders nachtragend, aber immerhin hatte ich es ihm und seinen Jagdgefährten zu verdanken, dass eine eigentlich angenehme Nacht eine äußerst unerfreuliche Wendung genommen hatte. Es hätte also vielmehr mir zugestanden, lautstark durch das Haus zu toben. Und nur, weil ich es nicht tat, hieß das nicht, dass er es für mich übernehmen sollte. „Veleno!?“ Er riss die Tür auf, als ginge es darum ein tonnenschweres Gewicht zu stemmen. „Meister Veleno, wenn ich bitten darf“, erwiderte ich, schlug die Beine übereinander und dachte gar nicht daran, von meiner Zeitung aufzusehen. „Warum habt Ihr nicht geantwortet?“, fragte er atemlos. Ein Zustand, den ich durchaus bemerkenswert fand. Die meisten Vampire die ich persönlich kannte gehörten dem Adel an oder bekleideten einen nicht minder bedeutenden Rang. Daher vermieden sie – zumindest im Allgemeinen – Bewegungen, die sie möglicherweise in Atemnot bringen konnten. Selbst im Bett, wie man mir einmal unnötigerweise mitgeteilt hatte. Der Anblick hatte also durchaus etwas für sich, zumal es Noël eine zusätzliche menschliche Note verlieh. „Hätte ich das tun sollen?“, fragte ich und blätterte möglichst beiläufig weiter. Es reizte mich ihn anzusehen und vielleicht einen Hauch jenes lebendigen Rotes zu erhaschen, den die Eile so oft auf die Wangen der Menschen zauberte. Doch ich war, entgegen all meiner sonstigen Gewohnheiten, zum Streiten aufgelegt. Schweigen. Offenbar hatte er es bemerkt. Das Training der Jäger zeigte also Wirkung. „Nun“, bemerkte ich schließlich, wenn auch nicht ganz so distanziert wie ich gewollt hatte, „was führt dich zu mir?“ Anscheinend hatte ihm diese für mich ganz und gar untypische Reaktion den Wind aus den Segeln genommen, zumindest aber die Sprache verschlagen. Doch anstatt mir gegenüber Platz zu nehmen, begann er wie ein Tiger im Käfig langsam seine Kreise zu ziehen. „Was habt Ihr in dieser Nacht dort gemacht?“ Er war offensichtlich nicht der Typ für lange Vorreden. Eine Eigenschaft, die für die Unsterblichen nicht unbedingt kennzeichnend war. Wenn man die Ewigkeit sein Eigen nennen durfte, hatte man Zeit, was immer man zu sagen wünschte, in Worte zu kleiden, die dem angemessen waren. Ich war versucht mich dumm zu stellen und vorzugeben nicht zu verstehen wovon er sprach, unterließ es dann aber doch. Schließlich gab es auch für mich ein paar Dinge, die ich zur Sprache bringen wollte. „War das nicht offensichtlich?“ Ich blitzte ihn über den Rand der Zeitung hinweg herausfordernd an. „So genau und ausdauernd, wie ihr dabei zugesehen habt?“ Der Blick hatte sich gelohnt. Erst sah er völlig verblüfft drein, dann überzog eine feine Röte sein Gesicht. Sieh an, sieh an, dachte ich und registrierte ebenso beruhigt wie zufrieden, dass der junge Vampir durchaus ein intaktes Bewusstsein dafür zu besitzen schien, was Recht und Anstand bedeuteten. Eine ausgesprochen angenehme Erkenntnis und – ganz nebenbei – ein wirklich schöner Anblick. „Unser Späher hatte sich zu weit vorgewagt“, erwiderte er zerknirscht und mied dabei meinen Blick. Offensichtlich behagte diese Erklärung auch ihm selbst nicht. Ich nahm daher an, dass er zu den Mitgliedern der Gruppe gehört hatte, die lieber eingegriffen hätten, anstatt abzuwarten was geschehen würde. „Er ist die wichtigste Person in eurer Gemeinschaft, nicht wahr?“ Ich gab vor wieder in meiner Zeitung zu lesen. „Ja“, antwortete er gedehnt, „in allen Jägergemeinschaften.“ „Ich hörte, sie werden sehr oft Opfer von Dämonen.“ Er verstand offenbar nicht worauf ich hinauswollte, wagte es angesichts meiner Stimmung aber auch nicht nachzufragen. Es war, als hätten wir die Rollen getauscht. Zum ersten Mal seit wir uns begegnet waren, schien tatsächlich er derjenige zu sein, der meine Gedanken zu ergründen suchte um entscheiden zu können, was er in dieser Situation sagen durfte und was er besser für sich behielt. „Außerdem waren Menschen in der Nähe“, erwiderte er schließlich, ohne auf meine Bemerkung einzugehen. Ich nahm an, dass der Anführer der Gruppe ihm das gesagt hatte – und natürlich hatte er recht. Je mehr Menschen Zeugen eine Dämonenjagd und der Beseitigung jener Kreaturen wurden, desto problematischer gestaltete sich das Unterfangen. Es war immer leichter etwas, das es eigentlich nicht geben durfte, zu erklären, wenn es nur von einer einzigen Person bemerkt worden war. Man konnte ihre Erinnerung beeinflussen, ihr Sinnestäuschung oder Wahnvorstellungen unterstellen. Das war bei größeren Menschenansammlungen durchaus schwieriger. Abgesehen davon konnten Dämonen inmitten einer belebten Stadt selbstverständlich wesentlich mehr Schaden anrichten, als es anderswo der Fall war. Und letztlich galt die Jagd, neben dem Schutz der Vampire, vor allem dem der Menschen. Kein Vampir teilte seine Nahrung gern – schon gar nicht mit Wesen einer anderen Art. „Da hast du natürlich recht“, erwiderte ich und faltete die Zeitung zusammen, was er mit einer Mischung aus Erleichterung und Sorge registrierte. „Und in diesem Fall kann man schon mal das eine oder andere Opfer bringen, nicht wahr?“ Ich lächelte, doch seinem Gesichtsausdruck nach hätte ich ihm genauso gut drohen können. Denn er sah, dass das Lächeln meiner Lippen ein anderes war als das meiner Augen. „Wart Ihr denn in Gefahr?“ Ich hatte das Spiel eigentlich noch ein wenig weiter treiben wollen, doch nun konnte ich nicht anders, als ihn erstaunt anzusehen. Denn in seinem Gesicht erkannte ich etwas, das ich niemals für möglich gehalten hätte – Sorge. Und mehr noch, eine Sorge die mir galt. Und damit nahm er mir den Wind aus den Segeln. Auf eine natürliche und unglaublich liebenswerte Art und Weise. Ich seufzte schwer und schüttelte fassungslos den Kopf. „Nein, aber ich bin erstaunt, dass euer Anführer das angemessen beurteilen konnte. Ich bin durchaus in der Lage, mich gegen Angreifer zur Wehr zu setzen, aber zu diesem Zeitpunkt war ich recht blutleer, wenn man es so ausdrücken möchte. Und eigentlich ist es eure Aufgabe, die Dämonen zu beseitigen. Ganz gleich, wer von ihnen heimgesucht wird und wie gut er in der Lage ist sich zu verteidigen.“ Er schwieg eine Weile, nachdenklich und wie mir schien ehrlich betroffen. Wie ein Kind, das gerade eine Predigt von seinen Eltern hatte hören müssen. „Werden alle Adligen so leicht mit Dämonen fertig?“ Der Trotz und ein Anflug von Bissigkeit in seiner Stimme ließen keinen Zweifel aufkommen, ob es nicht vielleicht doch ein Kompliment gewesen sein könnte. Dennoch beruhigte es mich mehr, als dass es mich ärgerte. Alles andere war einfach nicht er selbst. „Nun“, erwiderte ich und legte bedächtig die Fingerspitzen aneinander, „das hängt natürlich ganz davon ab, über welche Kräfte beide Parteien verfügen.“ Vermutlich war Noël weder mit dem Inhalt, noch der von mir gewählten Formulierung zufrieden, denn er verzog sehr eindrucksvoll das Gesicht. „Warum machen sie es dann nicht selbst?“ Ich fand es wirklich ganz reizend, wie er ein ums andere Mal nicht zwischen mir und den Adligen, die er verabscheute, unterschied. Wirklich, manchmal fragte ich mich, wozu ich mich überhaupt um ihn bemühte. Letztendlich schien ich ja doch nur einer von vielen und in seinen Augen ganz offensichtlich entbehrlichen Vampiren zu sein. Ich lächelte höflich, aber distanziert. „Weil es nicht unsere Aufgabe ist. Es geht nicht darum, ob wir“, ich betonte dieses Wort absichtlich, um ihm die Unangemessenheit dieser Formulierung aufzuzeigen, „es besser, schneller, effektiver und mit sehr viel weniger Risiko tun könnten. Es gibt andere Dinge die wir tun und deren Nutzen zu beurteilen jedem frei steht.“ Er verstand den Seitenhieb, sagte jedoch nichts. „Dämonen zu jagen ist nicht unsere Aufgabe“, wiederholte ich noch einmal mit, wie ich fand, ebenso angemessener wie ausdrücklicher Betonung. Es wurde sehr still im Raum. Anders als sonst hatte ich jedoch nicht die Geduld und Muße es zu genießen und darauf zu warten, dass mein Gegenüber sich dazu herabließ weiterzusprechen. „War das dann alles? Oder gab es noch einen anderen Grund für deine lebhafte Hausdurchsuchung?“ Er hielt inne, wurde rot und wandte den Blick ab. Treffer und versenkt. Allmählich begann mir diese Unterhaltung wirklich Spaß zu machen. Eine bedenklich Entwicklung, aber ich war der festen Überzeugung, dass sie von nicht von Dauer war. Der junge Mann hatte meine Nerven, ob nun durch seine Anwesenheit oder seine Abwesenheit, in letzter Zeit einfach ein wenig zu sehr strapaziert. „Ihr...Mir ist nur aufgefallen, dass Ihr sehr sanft mit Euren Opfern umgeht.“ Ob ihm bewusst war, dass ich auch mit ihm sehr sanft umging? Jedenfalls überraschte es mich, dass er sich dafür interessierte. „Warum sollte ich ihnen Schaden zufügen? Ihrem Blut verdanke ich mein Leben. Im Übrigen vermeide ich das Töten nach Möglichkeit. Es gibt keinen Grund dazu.“ „Sie nicht zu töten?“ „Sie zu töten.“ Er sah mich an als hätte ich behauptet, dass der Mond von sonderbaren Wesen bevölkert sei, die vor Urzeiten einmal aus der Spezies der Vampire hervorgegangen seien. Dann wechselte sein Gesicht wieder einmal den Ausdruck. „Schlaft Ihr manchmal mit Euren Opfern?“ Aus irgendeinem Grund entwickelte sich dieses Gespräch in eine höchst sonderbare Richtung. Obwohl, wenn ich so darüber nachdachte, dann erschien es mir nicht unwahrscheinlich, dass er von Anfang an auf genau diesen Punkt hinausgewollt hatte. „Warum fragst du?“, erkundigte ich mich und beherrschte die leise Empörung, die ob der unverschämten Frage in mir aufstieg. „Victor meinte, Euch würde jemand anschmiegsames fehlen.“ Ich hob eine Augenbraue. Für die, die mich ein wenig besser kannten, war es ein untrügliches Zeichen meiner Missbilligung. „Das kann ich mir vorstellen“, bemerkte ich und fügte kühl hinzu, „Nun, was auch immer er über mich zu wissen glaubt, er sollte es besser für sich behalten.“ Beredtes Schweigen war die Folge. Noël wirkte unschlüssig, rang sich dann jedoch zu einer weiteren Frage durch, wenngleich es ihn offensichtlich einige Überwindung kostete. „Und? Tut Ihr es?“ Ich hob den Kopf. „Tue ich was?“ Er wand sich unter meinem Blick, doch seine Neugier siegte. „Mit ihnen schlafen.“ Eine Weile sahen wir uns wortlos an, dann stützte ich den Kopf in die Handfläche und seufzte schwer. War das denn zu fassen? War es jetzt schon so weit gekommen, dass ich einem Jungvampir – von dem ich kaum mehr wusste als seinen Namen – Auskunft darüber gab, wie meine Jagdmethoden aussahen und mehr noch, welche sexuellen Präferenzen ich hatte? Das war absurd! Einfach lächerlich! Ihm schien die Antwort jedoch wichtig zu sein, denn seine Stimme klang seltsam drängend als er fragte: „Warum sagt Ihr nichts? Wollt Ihr mir nicht antworten?“ Ich fand es schon bemerkenswert, dass er den Mut und die Dreistigkeit besaß, mich überhaupt danach zu fragen. Selbst einem Freund hätte ich Worte wie diese unter Umständen übel genommen und soweit ich wusste, waren mein Gast und ich weit davon entfernt, so etwas wie freundschaftliche Beziehungen zu pflegen. Mit einiger Mühe und Fantasie konnte man es als Zweckgemeinschaft bezeichnen, aber selbst das erschien mir zunehmend zweifelhaft. Ich betrachtete ihn mit forschendem Blick. „Und du selbst? Weshalb willst du mir nicht antworten?“ „Worauf?“, fragte er mit einem kaum hörbaren Zögern. Ich nahm mir die Zeit, wieder eine etwas bequemere Sitzhaltung einzunehmen, dann wandte ich mich ihm erneut zu. „Auf die Frage, warum du mich etwas so persönliches fragst“, erwiderte ich bedächtig. „Ist das wichtig?“ Ich wog den Kopf ein wenig hin und her und antwortete dann ruhig: „Das weiß ich noch nicht. Es hängt von deiner Antwort ab.“ Er schien sich der Bedeutung dieser Antwort keineswegs bewusst zu sein. Selbstverständlich konnte ich mich irren, das wäre in Bezug auf diesen Vampir ja nicht das erste Mal gewesen, aber zumindest ein Punkt war ganz offensichtlich: Er hatte begonnen, sich für das was ich tat zu interessieren. Und das, obwohl er mir von Anfang an sehr eindrucksvoll bewiesen hatte, dass das genaue Gegenteil der Fall war. Es sei denn man interpretierte seine regelmäßigen Hausdurchsuchungen als Interesse an meiner Person. Noël sah mich an und schwieg. Nicht ein einziges Wort kam mehr über seine Lippen. Stattdessen sah er mich in ruhiger Erwartung an. Und schließlich gab ich es auf. Es hatte keinen Sinn, gegen diesen Vampir kam ich einfach nicht an. Ich seufzte. „Die Antwort ist nein. Es bereitet mir eine gewisse Freude sie zu verwöhnen, aber das hängt von meinem Hunger und meiner Stimmung ab. Ich schlafe nicht mit ihnen.“ Noch während ich es sagte, konnte ich nicht glauben, dass ich es tat. Offenbar war ich in Anwesenheit dieses jungen Mannes wirklich nicht ich selbst. Anders ließ sich dieses absurde Gespräch einfach nicht erklären. „Was heißt das?“ Wie so oft, wenn ich noch über Vergangenes nachgrübelte, hatte er bereits etwas neues gefunden, das es in Erfahrung zu bringen galt. Nur, dass ich dieses Mal nicht das Vergnügen hatte zu wissen wovon er sprach. „Was meint Ihr mit verwöhnen?“ Ich sah ihn an und je länger ich es tat, desto mehr nahm ein Gedanke in meinem Inneren Gestalt an. Sollte ich es wagen? Ich lächelte, stand auf und ging zu ihm. Er rührte sich nicht. Stand da wie zur Salzsäule erstarrt, seine Augen waren erfüllt von eisiger Furcht. Ich streckte die Hand nach ihm aus und ließ sie gerade so dicht über seiner Wange schweben, dass er ihre Berührung zu fühlen glaubte, ohne dass sie es tat. Dann schenkte ich ihm ein Lächeln, das selbst seinen vorlauten Mund in purem Erstaunen sich öffnen ließ. „Möchtest du es wissen?“, fragte ich leise, verführerisch und neigte mich zu ihm herab als wollte ich ihn küssen. Und noch immer regte er sich nicht, sah mich nur mit großen Augen an. Ich ließ ein paar Sekunden verstreichen, dann richtete ich mich wieder auf. „Nur ein Scherz“, sagte ich und wandte mich halb von ihm ab. „Ich war wohl ein wenig wütend. Sei mir nicht böse, aber du sprichst mit einer solchen Präzision Themen an, die ich zu vermeiden suche...“ Ich lachte ein leises, zweifelndes Lachen, dann lächelte ich ihn aufmunternd an. „Es wird nicht wieder vorkommen, sei unbesorgt.“ Ohne eine Antwort abzuwarten machte ich auf dem Absatz kehrt und ging an meinen Platz zurück. Als ich Noël wieder ansah, war auf seinem Gesicht keine Spur der sonst so typischen Verärgerung zu sehen. Er nickte nur, dann fragte er: „Würdet Ihr mein Blut trinken?“ Ich runzelte die Stirn und sah ihn mit einer Mischung aus Frage und Zweifel an. „Warum sollte ich das tun? Es würde nichts nützen, wenn ich es täte.“ Er verzog das Gesicht und mir wurde bewusst, dass ich eine höchst unglückliche Formulierung gewählt hatte für das, was ich eigentlich hatte sagen wollen. Seine Frage hatte mich überrascht. „Verzeih, ich fürchte, ich habe mich missverständlich ausgedrückt. Im Grunde ist nichts dagegen einzuwenden und es würde ganz sicher seinen Zweck erfüllen, doch wärest du danach mit großer Wahrscheinlichkeit so hungrig, dass ich dich gleich wieder füttern müsste. Und das würde den Effekt verständlicherweise zunichte machen.“ Noël blickte noch immer ein wenig beleidigt drein als er sagte: „Mein Körper produziert auch selbst Blut.“ Als er meinen erstaunten Blick bemerkte, fügte er rasch hinzu: „Allerdings nicht sehr schnell. Daher bin ich auf fremdes Blut angewiesen.“ Ich betrachtete ihn mit beinahe ehrfürchtigem Blick. Was für ein erstaunliches Wesen er doch war. Für ihn schien es selbstverständlich zu sein, denn er zeigte sich durch meine Überraschung unangenehm berührt und zog sich in einen weit entfernten Winkel der Bibliothek zurück. Nachdenklich starrte ich vor mich hin. Vergessen waren Empörung und Unmut, genau wie jene kleinen Gesten der Revanche, die ich mir zugestanden hatte. Auch der Gedanke an die Jäger war in weite Ferne gerückt. Stattdessen wurde mir wieder einmal bewusst, wie wenig ich über Noël und die Erschaffenen wusste. Dies jedoch, entschied ich, würde sich ändern. Und da mein störrischer Gast mir kaum selbst Auskunft darüber geben würde, musste ich wohl oder übel andere Quellen bemühen. Kapitel 12: ------------ Beginn: 18.05.2011 Ende: 22.06.2011 Kapitel 12 Es kam selten vor, dass ich einer Person gegenüber vom ersten Augenblick an Abneigung verspürte. Doch bei Kenai Ichimura, seines Zeichens Informant, hatte ich das Gefühl, dass er das Potenzial besaß, die Ausnahme von der Regel zu sein. Und es fiel mir nicht schwer festzustellen, woran das lag. Der junge Mann strahlte eine Selbstgefälligkeit aus, die selbst sein durchaus vorzeigbares Auftreten und die antrainierte Höflichkeit nicht kaschieren konnten. Ein Blick in seine Augen genügte um zu erkennen, dass er ein Vampir war, der sich seiner Fähigkeiten nicht nur bewusst, sondern sich ihrer vielleicht auch ein wenig zu sicher war. Ein intelligenter junger Mann, keine Frage, doch gleichsam Spieler und Täuscher. Ein Mann, der es liebte und gewohnt war, die Fäden in der Hand zu halten und seinem Gegenüber stets einen oder mehrere Schritte voraus zu sein. Dies war mein erster Eindruck von Kenai Ichimura, als ich ihn an diesem Abend in die Bibliothek meines Hauses bat. Der junge Vampir war ein aufmerksamer und höchst engagierter Beobachter. Ich war mir sicher, dass er sich nach diesem Besuch an jedes Detail meines Heims würde erinnern können. Und dies war einer der Gründe, weshalb ich es vermied ihm mehr zu zeigen, als unbedingt notwendig war. Er folgte mir in respektvollem Abstand, seinen Begleiter wie einen Schatten mit sich führend. Wenn ich mich recht entsann, war der Name des Anderen Jima. Ein hochgewachsener, schweigsamer Vampir, der seinem Verhalten nach durchaus ein Slave hätte sein können. Er war ein Mysterium, selbst für die von sonderbaren Erscheinungen und ungewöhnlichen Ereignissen geprägte Welt der Vampire. Seine Loyalität gegenüber dem jungen Ichimura allerdings, war über jeden Zweifel erhaben. Mehr gab es über ihn nicht zu sagen. Insgeheim fragte ich mich, ob Kenai bewusst war, welch unsagbares Glück es bedeutete, einen Mann wie ihn an seiner Seite zu haben. Ich bezweifelte es. Nicht so sehr, weil ich ihn für zu jung hielt, sondern vielmehr deshalb, weil sein Verhalten ihm gegenüber mir verriet, dass er die Gegenwart des Älteren als Selbstverständlichkeit betrachtete. Du Narr, dachte ich und unterdrückte ein wehmütiges Lächeln. Er hatte es noch nicht gelernt. Noch nicht erkannt, dass auch die Ewigkeit kein Garant dafür war, dass die Person, die ihm wichtig war, für immer an seiner Seite blieb. Er würde es erst verstehen, wenn der Andere einmal nicht mehr bei ihm sein konnte – oder wollte. Ich bot Ichimura einen Sessel an und nahm ihm gegenüber Platz. Jima trat hinter ihn und nahm eine Haltung ein, die er, wie ich vermutete, bis zum Ende dieses Gesprächs nicht mehr verändern würde. Ichimura dagegen lehnte sich entspannt zurück, schlug die Beine übereinander und sah mich mit einem Lächeln an, dem noch ein Hauch von Selbstgefälligkeit anhaftete. Welch ein Kontrast zu Steel! Dieser junge Mann hier glaubte bereits zu wissen, was er doch eigentlich erst noch zu lernen hatte. „Nun, Meister Veleno“, er legte bedächtig die Fingerspitzen aneinander, ohne dass sein Lächeln an Intensität verloren hätte, „was kann ich für Euch tun?“ Prüfte er mich? Ich hatte mein Anliegen bereits in meinem Schreiben an ihn angedeutet, damit er sich, falls nötig, auf unser Gespräch vorbereiten konnte. Hatte er Grund zu der Annahme, dass der Brief den er erhalten hatte möglicherweise nicht von mir stammte? „Ich wünsche Informationen über jene Menschen zu erhalten, die von unseresgleichen in Vampire verwandelt wurden. Über Erschaffene, wenn Sie sich erinnern.“ Sein Lächeln gewann an Tiefe. „O ja, ich erinnere mich sogar sehr gut daran.“ Ich spürte, wie sich in meinem Inneren eine Form von Unbehagen ausbreitete, die jener glich, die mich in Momenten nahender Gefahr ergriff. Wenn sie auch nicht mehr war als eine Ahnung, ein Vorzeichen, eine frühe Warnung meiner Sinne. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, das für die meisten Klienten des jungen Mannes Jima der Auslöser derartiger Gefühle war. Ein Trugschluss, keine Frage. Solange man seinen Herrn, dessen Schutz er sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, nicht verärgerte oder bedrohte, stellte er absolut keine Gefahr dar, dessen war ich mir sicher. Sein Meister dagegen... „Wie ich hörte habt Ihr selbst ein solches Wesen in Eurer Obhut. Rührt Euer Interesse daher?“ Ich bin Ihnen diesbezüglich keine Rechenschaft schuldig, lag es mir auf der Zunge, doch stattdessen fragte ich: „Welchen Preis fordert Ihr für die Informationen?“ Er sah mich überrascht an, dann kehrte das Lächeln auf seine Züge zurück. „Ihr seid sehr direkt. Man sagte mir, Ihr wäret eher zurückhaltenderer Natur.“ Auch das konnte ich mir lebhaft vorstellen und im Allgemeinen war ich bereit, dieser Einschätzung meiner Person vorbehaltlos zuzustimmen. Doch ich konnte es mir nicht leisten zu riskieren, dass er irgendetwas von dem was wir hier besprechen würden nach außen trug. Nicht solange ich nicht sicher sein konnte, dass für Noël kein Schaden daraus erwuchs. Denn letztendlich diente dieses Treffen einzig dazu, mehr über die Erschaffenen zu erfahren und ihn so besser verstehen und angemessener mit ihm umgehen zu können. Wenn ich ihn dadurch in Gefahr brachte, würde dieses Gespräch nicht stattfinden. Er schien auf eine Bemerkung meinerseits zu warten, erkannte jedoch schnell, dass ich nicht vorhatte eine solche zu machen und zuckte mit einem beinahe mitleidig wirkenden Lächeln die Schultern. „Nun, das hängt ganz davon ab, wie viele und mehr noch welche Informationen Ihr zu diesem Thema wünscht.“ Eine passende und zugleich erstaunlich nichtssagende Antwort. Doch er war nicht der Einzige, der diese Arte der Unterhaltung, dieses Spiel mit dem Gegenüber beherrschte. „Alles was nötig ist um sie zu verstehen und vor einem raschen Ende zu bewahren.“ Ich sah das begehrliche Glitzern in seinen Augen, den Triumph auf seinen Zügen, noch bevor er beides durch ein verbindliches Lächeln kaschieren konnte. „Der Erschaffene, der sich in Eurer Obhut befindet, darf ich ihn sehen?“ „Nein“, erwiderte ich nach einer angemessenen Pause und bemerkte zum zweiten Mal Überraschung auf dem Gesicht des Anderen. Selbst sein stummer Begleiter schien einen Moment lang irritiert, wenngleich ich nicht ausschließen konnte, dass ich mich im Bezug auf ihn täuschte. Offenbar war es eher untypisch, dem jungen Ichimura eine Bitte abzuschlagen. Es machte mir jedoch nichts aus, diesbezüglich eine Ausnahmeerscheinung zu sein. Es war eine Erfahrung, die ihm zweifellos gut tat, wenngleich dies nicht der Grund für meine Ablehnung war. Ich hielt es schlicht für äußerst unklug, ihn und Noël aufeinandertreffen zu lassen. Kenai Ichimura war jemand, der Noël ohne Weiteres zur Weißglut treiben konnte, dessen war ich mir sicher. Genauso gut hätte man zwei Kampfhähne in einen Käfig sperren und darauf hoffen können, dass sie einander lediglich distanziert betrachteten. Dies war allerdings nur ein und vergleichsweise unbedeutender Grund, weshalb ich ein Treffen möglichst vermeiden wollte. Ich hielt Steel für vertrauenswürdig, doch nicht einmal ihm hätte ich den jungen Erschaffenen vorgestellt. Dass er ihn dennoch zu Gesicht bekommen hatte, war wohl eine Laune des Schicksals gewesen – und ich war nicht sicher, ob es eine gute gewesen war. Berichten zufolge war Kenai, im Gegensatz zu Steel, nicht gerade für seine Diskretion bekannt und ich war geneigt, den Schilderungen Glauben zu schenken. Dank Steels Unterstützung war es mir gerade erst gelungen, Noël vor einer nicht zu unterschätzenden Gefahr zu bewahren. Ich hatte nicht vor ihn erneut einer solchen auszusetzen und war daher bestrebt, so wenige Informationen wie möglich an andere Vampire weiterzugeben. „Nun“, erwiderte Ichimura schließlich, „wenn Ihr es nicht wünscht, kann man natürlich nichts machen.“ Die Großmütigkeit und scheinbare Gelassenheit mit der er es aussprach, ließ mich daran zweifeln, dass er meinte was er sagte. Es fiel mir nicht schwer mir vorzustellen, dass er eine kurze Abwesenheit meinerseits nur zu gern dazu genutzt hätte, sich ein wenig nach Noël umzusehen. Als er den Ausdruck auf meinem Gesicht bemerkte, wurde seine Lächeln noch eine Spur intensiver. Dann ließ er den Blick langsam durch den Raum streifen. „Ihr habt eine wirklich beeindruckende Sammlung von Büchern in Eurem persönlichen Besitz.“ Ich fasste es als Kompliment auf und sah davon ab ihn daran zu erinnern, dass dies für einen Bibliothekar nicht besonders ungewöhnlich war. „Ich würde gerne einen Blick in das eine oder andere werfen. Haltet Ihr das für möglich?“ Sein Blick hatte etwas verschwörerisches und riet mir, auf der Hut zu sein. „Das ist Ihr Preis?“ Er neigte den Kopf ein wenig und bedeutete mit einer Bewegung der Hände seine Zustimmung. Zumindest deutete ich es als solche, denn die Geste an sich war ausgesprochen vielsagend. Ich musterte ihn eingehend und kam zu dem Schluss, dass mein erster Eindruck mich nicht getäuscht hatte. „Einverstanden“, erwiderte ich, hob jedoch die Hand, bevor er zu einer Antwort ansetzen konnte. „Sie können sich innerhalb dieser Regale alles ansehen, was für Sie von Interesse ist, solange Sie sich an zwei Bedingungen halten. Erstens, Sie werden dieses Haus noch vor Sonnenaufgang wieder verlassen. Eine Einsicht außerhalb dieses Zeitfensters ist nicht Bestandteil unserer Vereinbarung.“ Er lächelte amüsiert. Er schien eine gewisse Freude daran zu haben, dass ich seine Art des Handels mit Informationen kannte und auf ähnliche Weise vorging wie er. Enttäuschung schien er dagegen keineswegs zu empfinden. „Und zweitens?“, fragte er höflich. „Zweitens erhalten Sie ausschließlich Zugang zu offiziellen beziehungsweise frei zugänglichen Dokumenten. Bücher und Papiere, die, aus welchen Gründen auch immer, der Geheimhaltung unterliegen oder als verbotenes Gut klassifiziert sind, sind ebenso wenig Teil des Handels.“ „Derartige Dokumente befinden sich in Eurer privaten Bibliothek?“ Seine Lippen zeigten ein verschmitztes Lächeln, doch seine Augen glitzerten gefährlich. „Einige, ja“, erwiderte ich kühl und fixierte ihn, während er bedächtig die Fingerspitzen aneinanderlegte und einen Moment darüber nachzudenken schien, ob diese Bedingung für ihn akzeptabel war. „Selbstverständlich“, antwortete er schließlich mit unverändert guter Laune. Ich ließ ihn nicht aus den Augen. Es bestand kein Zweifel daran, dass er dies als eine herbe Einschränkung verstehen musste. Selbst wenn ihm bewusst gewesen sein musste, dass ich ihm zu diesen Unterlagen ohne die entsprechende Erlaubnis der zuständigen Personen keinen Zugang gewähren konnte. Außerdem war er Händler und es schien mir recht ungewöhnlich, dass er meine Bedingungen ohne Weiteres akzeptierte. „Ihr seid sehr vorsichtig und das auf eine erfrischend forsche und entschlossene Art.“ Einen Moment lang glaubte ich, mich verhört zu haben, dann wurde mir erneut bewusst, wen ich vor mir hatte und dass ich keineswegs ausschließen konnte, dass diese Form der Direktheit unter jüngeren Vampire gerade in Mode war. Zu meiner Zeit hätte es kein Vampir gewagt, so mit einem Meister zu sprechen – weder was seine Haltung, noch die Wortwahl anging. Schließlich waren Unsterblichkeit und Schmerzunempfindlichkeit zwei vollkommen verschiedene Dinge und nicht wenige der Oberen konnten sehr schnell sehr unangenehm werden, wenn sie sich in irgendeiner Weise nicht ernst genommen oder gar belästigt fühlten. Ich gehörte nicht zu ihnen, aber Ichimura hatte das Pech, dass ein gewisser jemand bereits vortreffliche Vorarbeit geleistet hatte, was die Zermürbung meiner so vielgepriesenen Geduld anging. Nun, in jedem Fall war es für mich wohl an der Zeit, meine Maßstäbe zu revidieren oder zumindest ein wenig mehr der Realität anzugleichen. Schließlich lebten wir in einer modernen Welt. „Bitte verzeiht mein loses Mundwerk. Ich bemühe mich wirklich es unter Kontrolle zu halten, aber ich fürchte, es ist ein aussichtsloses Unterfangen.“ Seine plötzliche Entschuldigung überraschte mich. Offenbar merkte man mir meine Stimmung doch mehr an, als ich es beabsichtigt und angenommen hatte. Und nicht zum ersten Mal ärgerte ich mich darüber, dass ich einer solchen Kleinigkeit derartige Beachtung schenkte. „Nun, ich scheine im Allgemeinen keine Person zu sein, die man für würdig hält, ihr mit Respekt und Höflichkeit zu begegnen.“ Selbst in meinen Ohren hörten sich die Worte verbittert und auch ein wenig zornig an. Noël hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Ichimura zog die Brauen hoch. „Tatsächlich?“ Es klang mehr als nur beiläufig interessiert und schon bereute ich, überhaupt etwas gesagt zu haben. Eine Weile schwiegen wir, dann ergriff mein Gast wieder das Wort. „Wie auch immer. Ich akzeptiere Eure Bedingungen. Allerdings gibt es da noch ein kleines Problem, weshalb ich dem Handel unter diesen Voraussetzungen nicht zustimmen kann.“ Fragend hob ich eine Braue und er beeilte sich, mir die Angelegenheit zu erklären. „Seht, die Informationen die Ihr wünscht mögen für Euch einen gewissen Wert haben, doch sie waren weder schwer zu beschaffen, noch sind sie für mich von nennenswerter Bedeutung.“ Ich lauschte seinen Worten aufmerksam und wartete. „Die Bücher, in die ich Einblick nehmen möchte, sind dagegen von geradezu unschätzbarem Wert. Einige von ihnen sind in dieser Ausführung nirgendwo sonst zu finden und ich akzeptiere grundsätzlich nur Gegenleistungen, deren Wert dem, was ich anzubieten habe, zumindest einigermaßen entspricht.“ Das war eine interessante Entwicklung der Dinge. Der junge Vampir besaß also so etwas wie ein Berufsethos. Das war zum einen natürlich erfreulich und zum anderen kam es meinem Anliegen durchaus entgegen. „Nun, ich denke was das angeht, kann ich Ihre Sorge zerstreuen.“ Er sah mich erstaunt an. „Es gibt noch eine weitere Bedingung.“ Beinahe augenblicklich kehrte das Lächeln auf seine Züge zurück. „ Ein drittens?“, fragte er amüsiert. „So ist es.“ „Nun“, er breitete die Arme aus, „was darf es sein?“ „Es ist nicht nötig, dass Sie das Stattfinden dieses Gesprächs leugnen und ich erwarte dies auch nicht von Ihnen. Allerdings muss ich darauf bestehen, dass Sie alles, was Sie in diesem Hause gehört, gesehen oder gelesen haben, für sich behalten. Selbstverständlich sind all jene Erkenntnisse und Fakten, die Sie den Büchern und Dokumenten entnommen haben, davon ausgenommen. Für alles andere gilt die Vereinbarung, dass Sie nichts davon in irgendeiner Form an irgendjemanden weitergeben.“ Das Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden und er sah mich mit nur mühsam beherrschter Fassungslosigkeit an. Ich hatte ganz offensichtlich einen wunden Punkt getroffen. Über die Informationen die er erhielt nicht frei verfügen zu können war wie es schien etwas, das er weder gewohnt, noch widerstandslos zu akzeptieren bereit war. Auf seinem Gesicht arbeitete es. Ein paar Mal schien es, als wolle er etwas sagen, überlegte es sich dann jedoch anders. „Einverstanden“, erwiderte er schließlich mit einem Lächeln, das ihn offensichtlich sehr viel Mühe kostete. „Sie akzeptieren die Bedingungen?“, fragte ich noch einmal und er nickte bestätigend. „Ich akzeptiere die Bedingungen.“ Dankbar, dass dieser erste wesentliche Teil des Handels abgeschlossen war, lehnte ich mich in meinem Sessel zurück. Es war nicht sicher gewesen, ob Ichimura auf die von mir gestellten Bedingungen eingehen würde, da sie für ihn weder zielführend noch gewinnbringend waren. So aber konnte ich, ohne die Befürchtung Noël Schaden zuzufügen, die Informationen erhalten, die ich benötigte. Ich konnte nicht leugnen, dass ich erleichtert war. Nach mir nahm nun auch Ichimura eine bequemere, auf längere Gesprächszeiten ausgerichtete Sitzhaltung ein. Der Mann in seinem Schatten bewegte sich nicht einen einzigen Millimeter. „Was können Sie mir über die Erschaffenen sagen?“, begann ich, den Blick aufmerksam auf meinen Gegenüber gerichtet. „Was möchtet Ihr denn wissen?“, erwiderte er und lächelte amüsiert. Offenbar hatte er den Rückschlag bezüglich der Bedingungen unserer Unterhaltung recht schnell verkraftet. Und es war keine besondere intellektuelle Leistung zu bemerken, dass er die Angelegenheit offenbar eher als ein unterhaltsames Spiel betrachtete, als mit der Ernsthaftigkeit mit der ich es tat. Als er den wenig erfreuten Ausdruck auf meinem Gesicht bemerkte, beeilte er sich mir zu erklären, was er eigentlich hatte sagen wollen: „Fragt mich.“ Es klang eher wie eine Forderung als ein Angebot und die Art, in der er gönnerhaft die Arme ausbreitete um seine Worte zu unterstreichen, ließ meine Meinung ihm gegenüber nicht gerade positiver werden. Ich hoffte für ihn, dass er mit diesem Verhalten nicht einmal an den Falschen geriet. „Besitzen Erschaffene einander sehr ähnliche Fähigkeiten oder sind diese genauso vielfältig wie diejenigen geborener Vampire?“ „Letzteres.“ „Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir in ganzen Sätzen zu antworten?“, fragte ich nun doch ein wenig ungehalten und erntete dafür gleich zwei erstaunte Blicke. Kritik schien demnach auch nicht zu den üblichen Verhaltensweisen gegenüber dem jungen Ichimura zu gehören. Oder aber sie hatten sie nicht von mir erwartet. Ichimura hielt sich jedoch nicht lange damit auf und beinahe augenblicklich wanderten seine Mundwinkel wieder nach oben. „Selbstverständlich, ich bitte um Entschuldigung.“ Ich antwortete nicht und wartete darauf, dass er sich wieder dem eigentlichen Thema zuwandte. „Tatsächlich unterscheiden sich die Erschaffenen, wie Ihr sie nennt, im Wesentlichen durch zwei Eigenschaften von geborenen Vampiren.“ Er legte wieder die Fingerspitzen aneinander. „Die erste ist, dass sie als Menschen geboren und dann von einem der unseren zu Vampiren gemacht werden. Die zweite ist, dass sie auf das Blut desjenigen angewiesen sind, dem sie ihre, wenn auch nicht ganz so unsterbliche, Existenz verdanken.“ Ich hatte also recht behalten. Sie waren wie wir. Und der Gedanke daran erschien um so erschreckender, wenn man sich nur einen einzigen Moment in Erinnerung rief, welchen Platz sie in dieser Gesellschaft einnahmen und wie die geborenen Vampire – insbesondere Angehörige des Adels – sie zu behandeln pflegten. Außerdem bedeutete es, dass ich im Grunde keine Möglichkeit hatte etwas über meinen Gast herauszufinden, das über einige allgemeine Aussagen über die Erschaffenen hinausging. Eine ernüchternde Erkenntnis, doch ich war gewillt, mein Wissen in dem Maße zu erweitern, wie Ichimuras Kenntnisse es zuließen. Selbst wenn kaum etwas davon auf Noël zutreffen sollte, so hoffte ich dennoch, zumindest die Umstände seines bisherigen Lebens und damit vielleicht auch ihn etwas besser verstehen zu können. „Sie können männlich oder weiblich und natürlich auch alles zwischen diesen beiden Extremen sein“, fuhr Ichimura fort und setzte dabei ein amüsiertes Grinsen auf. Ich fand es einen interessanten Ansatz, die Geschlechter als Extreme zu bezeichnen, beschloss aber, mir die Überlegungen dazu für einen späteren Zeitpunkt aufzuheben. „Theoretisch können sie jeden Alters sein, tatsächlich werden meist nur junge Menschen zu Vampiren gemacht. Außerdem ist ihre Lebenserwartung meist sehr viel geringer als die unsrige. In Zahlen gesprochen bedeutet dies eine Zeitspanne von weniger als 200 Jahren. Soweit ich informiert bin, ist der aktuell älteste Erschaffene etwa 250 Jahre alt und die Geschwindigkeit seiner geistigen Degeneration nimmt mittlerweile beunruhigende Züge an. Es ist anzunehmen, dass er sehr bald, nun, sagen wir, die Jäger werden sich darum kümmern.“ Er verschränkte die Finger ineinander und ich kam nicht umhin zu bemerken, dass das Leuchten in seinen Augen angesichts der Thematik über die wir sprachen unpassend schien. „Wie Euch sicherlich bekannt sein dürfte, neigen sie dazu den Verstand zu verlieren.“ „Warum?“, fragte ich und einen Moment lang schien er erstaunt darüber. „Nun“, begann er schließlich, „ das hängt natürlich von ganz unterschiedlichen Faktoren ab, aber zusammenfassend betrachtet dürfte es wohl darauf zurückzuführen sein, dass das Vampirblut für ihre ursprünglich menschlichen Körper und mehr noch ihren Geist zu stark ist.“ „Ich verstehe“, sagte ich, war jedoch nicht sicher, ob das der Wahrheit entsprach. Die Tatsache an sich überraschte mich nicht, hatte ich selbst sie als Ursache doch bereits vermutet. Es war vielmehr die Bedeutung und Tragweite dessen, die sich bisher meiner Kenntnis entzogen hatte und nur allmählich Zugang zu meinem Vorstellungsvermögen erhielt. Wussten die Erschaffenen, dass das Blut das sie nährte zugleich ihren Tod herbeiführte? Und wenn es so war: Was war es für ein Gefühl sich dessen bewusst zu sein? Schmerzte es sie? Hatten sie Angst? „Es gibt sehr schwache Erschaffene, genauso wie es starke und mächtige gibt. Viele von ihnen entsprechen eher dem klassischen Bild des Vampirs, also der gerade typischsten Vorstellung, die die Menschen von uns haben. Im übrigen unterliegen all jene einem Irrtum die glauben, dass die Erschaffenen lediglich die Fähigkeiten und Eigenschaften haben, die ihrem Meister eigen sind. Es gibt einige unter ihnen, denen Knoblauch, Kreuze und sogar Silber und Weihwasser nichts anhaben können. Außerdem solche, die ein Pfahl in ihrem Herzen ebenso wenig töten würde, wie die Strahlen der Sonne.“ Wie Noël, dachte ich und fragte mich im Stillen, ob er mächtiger war als er zu erkennen gab. Wenn dem so war, dann war er wahrlich ein Meister der Täuschung. Denn bei aller Bescheidenheit, einen durchaus erfahrenen und nicht mehr ganz jungen Vampir wie mich so lange Zeit zu täuschen, war, wenn auch nicht unmöglich, so doch überaus schwierig. Außerdem sagte seine Resistenz gegenüber der Sonne nichts über seine Kräfte im Kampf aus. Ich erinnerte mich an die Nacht, in der wir uns zum ersten Mal begegnet waren. Überall hatte ich das Blut und die Körper seiner Brüder und Schwestern gesehen und es bestand kaum ein Zweifel daran, wer sie getötet hatte. Dennoch, wer konnte sagen, welche Kräfte sie besessen und welcher es bedurft hatte, sie zu vernichten? „Einige von ihnen wären ohne jeden Zweifel in der Lage, ihren Meister zu töten.“ Ich musterte ihn aufmerksam. Sprach er von Urag? Er hatte den Kopf ein wenig schief gelegt und sah mich mit forschendem Blick an. Als er wolle er mich prüfen, herausfinden ob und was ich mit dieser Angelegenheit zu tun hatte. Doch ich musste mich nicht verstellen, um einigermaßen erstaunt zu fragen: „Das halten Sie für möglich?“ Er verzog das Gesicht wie jemand der feststellen musste, dass die Entwicklung des Gesprächs nicht seinen Vorstellungen entsprach. „Sicher. Ihr nicht?“ „Offen gestanden, ich hatte keine rechte Vorstellung davon, über welche Kräfte sie verfügen. Davon einmal abgesehen kann ich nicht erkennen welchen Sinn es für sie hätte ihren Meister zu töten, wenn sie doch auf sein Blut angewiesen sind.“ „Wirklich nicht?“, er fixierte mich, als befänden wir uns in einem Verhör und ich mich in der Rolle des Verdächtigen. Ich hielt seinem Blick jedoch mühelos stand. Ich war nicht ganz sicher, was genau er mit dieser Frage bezwecken wollte, doch was immer es letztendlich war, ich würde ihm keinerlei Auskünfte über Urag oder Noël geben. „Ich könnte Mutmaßungen anstellen“, erwiderte ich, „aber eigentlich habe ich Sie um eine Unterredung gebeten, damit das nicht nötig ist.“ Er lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück und für den Bruchteil einer Sekunde sah ich in seinen Augen etwas aufblitzen, das in meinem Inneren eine Vielzahl an Alarmsignalen auslöste. Sein Lächeln blieb unverändert. „Nun, ein Grund dafür mag sicherlich der gleiche sein, aus dem gelegentlich auch einige der Unseren den Tod wählen.“ Die Furcht vor der Unendlichkeit. Die Angst davor, dass das Leid, das Sterben, das wir so oft sahen, niemals enden würde. Langeweile, weil alles möglich und zugleich doch immer nur die Wiederholung des schon dagewesenen zu sein schien. Die Erkenntnis, das unsere Existenz letztlich vollkommen bedeutungslos war. „Dazu wäre es nicht notwendig ihren Meister zu töten“, erwiderte ich, obwohl ich seine Antwort darauf bereits ahnte. „Ob sie es wollen oder nicht, vom Moment ihrer Geburt an sind sie Eigentum desjenigen, der sie ein zweites Mal ins Leben rief. Und solange ihr Meister nur ein wenig Interesse an ihnen hat, dürfte es ihnen ausgesprochen schwer fallen, ihrem Dasein ein Ende zu bereiten. Kein Vampir, da werdet Ihr mir sicherlich zustimmen, wird jemals zulassen, dass sein Eigentum eine solche Entscheidung ohne seine Zustimmung trifft.“ Ich nickte. Natürlich nicht. Und es gab mehr als nur einen Weg, einen potenziellen Selbstmörder an seinem Vorhaben zu hindern. Sogar dann, wenn man nicht selbst anwesend sein konnte. Zudem waren die Erschaffenen Vampire und als solche nicht ohne Weiteres zu töten. Die Möglichkeiten eines schnellen Todes waren nicht sehr vielfältig und jene für einen schmerzfreien besaßen wahrlich Seltenheitswert. Es war nicht ungewöhnlich, dass jemand, der diese Schmerzen des Sterbens nur ein einziges Mal gefühlt hatte, ein schier unerträgliches Leben jenen Qualen vorzog. Und wen hätten die Erschaffenen darum bitten können sie zu töten? Selbst wenn das Unterfangen fehlschlug, wäre die Strafe dafür vermutlich um ein Vielfaches schlimmer gewesen als der Tod – ganz zu schweigen davon, wenn es gelang. So lange war ich bereits am Leben, so viele Bücher hatte ich gelesen und doch hatte ich nie von einem Vampir gehört, der das Leben eines Erschaffenen aus Zuneigung zu diesem beendet hatte. Die Erschaffenen waren Gefolgsleute, Sklaven, die keine eigenen Rechte besaßen. Alles was sie waren, waren sie durch ihren Meister – im guten wie im schlechten Sinne. Wollten sie sterben, quälten sie sie und klammerten sie sich ängstlich und mit all ihrer Kraft ans Leben, bereitete es ihren Herren nur umso mehr Vergnügen sie leiden zu sehen, bevor sie sie auslöschten. Es wäre eine Lüge gewesen zu behaupten, dass ich keine Vorstellung davon hatte, was man diesen Wesen antat – die Grausamkeit und Perversion mit der einige von ihnen behandelt wurden und die mich jedes Mal aufs neue erschütterte. Von dieser Warte aus betrachtet war es erstaunlich, dass die Erschaffenen unseresgleichen nicht noch mehr hassten, als sie es ohnehin schon taten und die geborenen Vampire bisher weitestgehend unbehelligt gewähren ließen. „Ich bin allerdings der Ansicht, dass vielmehr ihre Gefühle für derlei Zwischenfälle verantwortlich sind.“ Obwohl ich wusste, dass er nicht von Liebe sprach, versetzte mir der Gedanke daran einen Stich. Und einmal mehr wurde das Lächeln des Anderen für mich schier unerträglich. „Es ist äußerst interessant zu beobachten, welche Gefühle die Erschaffenen gegenüber ihren Meistern hegen. Ich denke, Hassliebe beschreibt es ganz gut. Natürlich wünschen sich die meisten Herren Gehorsam, Liebe und Verehrung. Allerdings wissen sie auch ein gewisses Maß an Rebellion und Stolz zu schätzen, weil diese die Langeweile vertreiben und ihnen die Möglichkeit der Demütigung nicht verlorengeht.“ Mir wurde bei dem bloßen Gedanken daran übel, mit Vampiren die so dachten und danach handelten auch nur im entferntesten verwandt zu sein. „Gehorsam sind sie bis zu einem gewissen Grade alle, wenn auch nicht immer ganz freiwillig. Was Charakter und Temperament anbelangt, so finden sich bei ihnen alle erdenklichen Ausprägungen und Extreme.“ „Aber als Motive für die Ermordung ihres Meisters kommen lediglich Verzweiflung, Hass oder Liebe in Frage“, sinnierte ich und er grinste. „So ist es.“ Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann fügte er hinzu: „Allerdings habe ich noch nie von einem Erschaffenen gehört, der seinen Meister aus Liebe getötet hat. Nicht einmal aus Eifersucht.“ „Also ist so etwas in der Vergangenheit schon einmal vorgekommen?“, fragte ich und bemerkte eine gewisse Härte in meiner Stimme, die ich mir selbst nicht erklären konnte. „So etwas?“, fragte er betont unschuldig, doch davon ließ ich mich nicht täuschen. Im Anflug eines Lachens stieß ich die Luft aus, doch meine Augen, das wusste ich, waren von einem Lächeln weit entfernt. „Sie wären ein schlechter Informant, wenn Sie die Gerüchte um Meister Urags Tod nicht kennen würden.“ Er hob die Hände, als wolle er anzeigen sich zu ergeben. „Sieht aus als wäre ich durchschaut.“ Der Schalk blitzte in seinen Augen und es war nicht zu übersehen, dass ihm unser Gespräch Vergnügen bereitete. Als er bemerkte, dass ich diese positive Einschätzung unserer Unterredung nicht teilte, beeilte er sich, mir meine Frage zu beantworten. „Es ist wohl tatsächlich früher schon ein paar Mal vorgekommen, allerdings selten genug, um es nicht als Bedrohung einzuschätzen.“ Zweifellos hatte er recht. Wäre es anders gewesen, würden wir die Erschaffenen heute vermutlich nur noch aus Büchern kennen. „Obwohl es verwundern mag, denn die Erschaffenen haben ja durchaus Grund dazu uns töten zu wollen.“ Irritierender Weise schien ihm der Gedanke zu gefallen, wenngleich ich nicht hätte sagen können warum. „Es mag daran liegen, dass die Gefühle, die sie ihrem Meister gegenüber hegen, selten so eindeutig sind. Denn selbst wenn sie ihn nicht im sexuellen Sinne lieben, selbst wenn sie ihn überhaupt nicht lieben, betrachten doch viele von ihnen ihren Schöpfer als eine Art Vater.“ Was dem, was er mit ihnen tut, noch einmal eine ganz besondere Note verleiht, dachte ich und schauderte. Es war widerwärtig, besonders da sie wussten, was die Erschaffenen in ihnen sahen. Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass Noël Urag als seinen Vater betrachtet haben könnte. „Nicht enden wollende Qualen, Schmerzen, die einem die Seele zerreißen, Hass, Demütigung und gekränkter Stolz. Ja, ich denke, das sind die wesentlichen Elemente“, sinnierte er und ich hütete mich davor ihn zu unterbrechen. „Das und natürlich ihre grundsätzliche Fähigkeit und Bereitschaft zu töten.“ „Ein Erschaffener dem es gleichgültig ist, dass er damit sich und seine Brüder und Schwestern zum Tode verurteilt.“ Er nickte, doch dann ging die Bewegung in ein hin und her wiegen über. „Weil der Tod des Meisters zu seinem Lebensinhalt geworden ist.“ „Gut möglich“, erwiderte er, während er nachdenklich vor sich hinstarrte. „Allerdings solltet Ihr Euch nicht dazu hinreißen lassen, sie als eine große Familie zu betrachten. Es ist richtig, dass sie das Blut ihres Meisters teilen und damit gewissermaßen Kinder ein und derselben Person sind. Aber jenseits dessen besteht zwischen ihnen keine Verwandtschaft oder tiefere Verbundenheit, außer vielleicht in dem Sinne, dass sie das gleiche Schicksal teilen. Besser, Ihr stellt es Euch wie einen Harem vor. Anders ausgedrückt, solange sie sie nicht selbst wünschen und herstellen, gibt es zwischen ihnen keine tiefere emotionale Verbundenheit.“ Und ich hatte Noël vorgeworfen, dass er den gesamten Adel als eine geschlossene Einheit betrachtete. Dabei hatte ich selbst in Bezug auf ihn nichts anderes getan. Ich ärgerte mich über diesen Fehler meinerseits, zumal ich mir eingebildet hatte, den Blick auf das Individuum stets zu wahren. „Und welchen Grund hat Meister Urag ihnen gegeben, ihn so zu hassen?“ Diesmal verschwand das Lächeln von seinem Gesicht und machte einem ernsten Ausdruck platz. „Jeden nur erdenklichen, fürchte ich“, erwiderte er und bei dem bloßen Gedanken daran, was er damit meinte, stieg Übelkeit in mir auf. „Sagt, Meister Veleno, ist es korrekt, dass Ihr einen Hang zum musikalischen habt und daher einige Musikinstrumente Euer Eigen nennt?“ „Ich selbst bin nicht sonderlich musikalisch veranlagt, aber es stimmt, dass ich gute Musik sehr schätze“, antwortete ich, ohne zu wissen, worauf er mit seiner Frage eigentlich hinaus wollte. „Eurem Grammophon kann ich es ansehen, aber wie steht es mit Euren anderen Instrumenten? Nutzt Ihr Sie?“ „Sicher, wenn mir der Sinn danach steht“, erwiderte ich zögernd, da mir das Ziel seiner Fragen noch immer unklar war und ich zudem den Eindruck hatte, dass es ihn eigentlich nichts anging, wie und womit ich meine Zeit verbrachte. Er nickte und fuhr dann in ernstem Ton fort: „Seht, Meister Veleno, auch Meister Urag war ein Sammler, wenngleich von weitaus weniger harmlosen Instrumenten als Ihr. Er sammelte Folterinstrumente und war seines reichen Arsenals wegen auch nicht ganz unbekannt. Und Ihr werdet mir gewiss zustimmen, wenn ich sage, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass er nie von ihnen Gebrauch gemacht haben soll. Im Übrigen ist nicht anzunehmen, dass sich sein Einfallsreichtum darin erschöpft hat, sie für seine speziellen Gäste zu nutzen. Ich fürchte, seine Fantasie war weitaus umfassender.“ Ich nickte betreten, während ich versuchte den Kloß loszuwerden, der sich in meinem Hals gebildet hatte. Ich selbst hatte Urag nie in seinem Haus aufgesucht, aber ich kannte die Gerüchte und hatte, wenn ich ehrlich war, auch keine Zweifel daran gehegt, dass sie der Wahrheit entsprachen. In meinem Geiste sah ich Bilder aufsteigen, die die erbarmungswürdigen Kreaturen auf Streckbänken und anderen lebensverachtenden Gebilden zeigten, doch in dem Moment, in dem ihre Gesichter Noëls Züge annahmen, hörte ich mich selbst die nächste Frage stellen. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass es nicht zwingend des Blutes ihres Meisters bedarf, um sie zu ernähren und vor dem Verfall zu bewahren.“ Er lächelte. „Demnach habt Ihr Euch eines der von Meister Urag erschaffenen Vampire angenommen? Oder habt Ihr Euch am Ende selbst dazu entschlossen, Euch einen Gefolgsmann zuzulegen?“ Mir gefiel weder die Art wie er mich ansah, noch wie er mit mir sprach, doch dies war nicht der richtige Moment für Erziehungsmaßnahmen, weshalb ich lediglich bemerkte: „Ich nahm an Sie wären hier um meine Fragen zu beantworten und nicht umgekehrt.“ Ich blickte ihn kühl an und glaubte einen Anflug von Enttäuschung auf seinem Gesicht zu sehen, wohl weil ich nach wie vor nicht bereit war, ihm Informationen über Noël zukommen zu lassen. „Ihr habt recht“, räumte er schließlich ein und widmete sich dann ganz der Beantwortung meiner Frage. „Ich darf davon ausgehen, dass Ihr Euch mit Blutgruppen und deren Passung bei Menschen ein wenig auskennt?“ Ich nickte. „Bei den Erschaffenen und ihren Meistern ist es so ähnlich.“ Es schien ihm zu gefallen mir etwas berichten zu können, dass mich so offensichtlich überraschte. Beinahe erwartete ich, dass er sich in stillem Vergnügen die Hände rieb. „Natürlich nicht in diesem extremen Sinne, dass sie sterben, wenn sie das Blut einer falschen Blutgruppe zugeführt bekommen“, fuhr er fort und beobachtete dabei sehr genau mein Mienenspiel. „Das Blut der Menschen ist anders als das unsere und für die Erschaffenen ist es nahezu wertlos. Ihr Körper ist nicht mehr menschlich und das Blut der Sterblichen ist für ihre Bedürfnisse zu schwach. Wie kann ich es am besten ausdrücken? Erschaffene wurden, ob nun freiwillig oder gewaltsam, in einen Zustand versetzt, der ihrem natürlichen Lebensverlauf vollkommen zuwiderläuft. Ihre Körper wehren sich dagegen beziehungsweise sind von sich aus nicht in der Lage, diesen Zustand des Vampir-Seins aufrecht zu erhalten. Zugleich sind sie jedoch unfähig wieder Menschen zu werden. Man könnte es vielleicht so sagen: Das Blut der Vampire erinnert sie und jede Faser ihres Körpers beständig daran, was sie sind. Nur dadurch sind sie fähig sich zu bewegen, zu regenerieren und so weiter und so weiter. Denn das Blut geborener Vampire ist dem der Menschen zu jedem Zeitpunkt überlegen. Es dominiert, ganz gleich wie viel des Lebenselixiers wir in uns aufnehmen. Den Erschaffenen fehlt diese Stabilität und deshalb benötigen sie das Blut anderer, möglichst mächtiger Vampire.“ Er machte eine Pause und genoss sichtlich die Faszination, mit der ich seinen Ausführungen lauschte. „Dennoch haben sie, wie Ihr wisst, eine höchst unterschiedliche Lebensspanne. Einer der wesentlichsten Gründe dafür ist selbstverständlich ihr Status. Die meisten von ihnen sterben lange bevor sie das Stadium des Irrsinns erreichen durch die Hand ihres Meisters. Für all jene, deren Ableben eigentlich vermieden wurde, ist die in meinen Augen derzeit plausibelste Erklärung die, dass eine gewisse Passung zwischen Blutspender und -empfänger vorliegen muss.“ Ein Blutspender, dachte ich. Das also war die Rolle, die ich für Noël spielte. „Da dieses Problem nur bei Erschaffenen auftritt und unsere geliebten, forschungswütigen Menschen nichts von deren Existenz wissen, gibt es so gut wie keine Informationen darüber, wie viele Blutgruppen und -merkmale bei Vampiren existieren.“ Er machte erneut eine Pause und sah zu seinem stummen Begleiter auf. Der hochgewachsene Mann rührte sich nicht, auch Ichimura sagte kein Wort und doch war ich sicher, dass zwischen ihnen eine Form von Kommunikation stattfand, die sich mir nicht erschloss. Ich beneidete sie ein wenig, während ich beobachtete, wie sie einander einzig durch Blicke verstanden. Einige Sekunden lang verharrten sie so, dann wandte mein Gast seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. „Letztendlich scheint es jedoch darauf hinauszulaufen, dass sie umso länger leben, je besser Meister und Erschaffener zusammenpassen.“ Mir entging die Doppeldeutigkeit seiner Worte nicht und an seinem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass sie auch ihm selbst gefiel. Gerade als ich im Begriff war die nächste Frage zu stellen, hob er die Hand und beantwortete sie, bevor ich sie aussprechen konnte. „Während das Blut der Menschen zu schwach ist, ist das der Adligen, die ja zumeist ihre Herren sind, im Grunde zu stark. Einige der Meister wissen das auch und nehmen es bereitwillig in Kauf. Nicht wenigen von ihnen erscheint es sogar zweckgemäß, da sie ihrer Spielzeuge ohnehin rasch überdrüssig werden. Über die Wirkung des Blutes anderer Vampirkreise ist wenig bekannt, da es dort nicht üblich ist sich diese Art von Untergebenen zu halten. Die Erschaffenen sind weitestgehend dem Adel vorbehalten und wie es scheint nicht ohne Grund. Soweit die Geschichte und unsere Erfahrungen mit ihnen es zulassen, kann man feststellen, dass sie – wenn sie es überhaupt tun – nur Wesen gehorchen, die stärker sind als sie selbst.“ Ich erinnerte mich, etwas darüber gelesen zu haben. Es gab eine Theorie die besagte, dass eine Art Prägung stattfand in dem Moment, in dem das Blut ihres Meisters in die Adern der Erschaffenen floss. Damit erklärte man die Tatsache, dass viele von ihnen freiwillig auch grausamsten Vampiren folgten und sich ihnen unterwarfen. Wenn man den Ausführungen des Autors Glauben schenken durfte, so taten die meisten von ihnen dies ohne den Noël eigenen Widerstand. Dafür, dass sie grundsätzlich nur Meister akzeptierten die stärker waren als sie selbst, sprach, dass das Mal, welches sie am Körper trugen und das sie als Besitz ihres Herrn brandmarkte, ausschließlich durch das Zeichen eines noch mächtigeren Vampirs ersetzt werden konnte. Als wollte er meine Gedanken bestätigen erklärte Ichimura: „Übernimmt ein Vampir, aus welchen Gründen auch immer, einen Erschaffenen aus dem Besitz eines anderen Meisters, so scheint dies nur zu funktionieren, wenn der neue Besitzer über größere Kräfte verfügt als der vorherige. Bekanntheit und Status können das wohlgemerkt nicht aufwiegen. Anscheinend entscheidet ausschließlich die körperliche und bis zu einem gewissen Grad auch die geistige Stärke des Meisters.“ Obwohl es absurd war auch nur einen einzigen Moment daran zu glauben, dass Noël einer solchen Übernahme zustimmen würde, fragte ich mich plötzlich, ob ich stärker war als Urag. Es war nicht das erste Mal, dass ich darüber nachdachte, aber es war das erste Mal, dass meine Überzeugung dass es so war schwand. „Allerdings“, begann er erneut und unterbrach damit meine Gedankenkette, „scheint auch das richtige Mischungsverhältnis von Bedeutung zu sein.“ Ich ahnte was er meinte, jedoch fehlte mir eine klare Vorstellung davon. „Die Menge des Blutes wie auch die Häufigkeit des Trinkens sind wesentliche Aspekte, wenn es darum geht, den Verstand und das Leben eines Erschaffenen möglichst lange bewahren zu wollen.“ Er unterstrich seine Worte mit einer eindrucksvollen Geste und fuhr mit seinen Erklärungen fort, doch ich hörte ihn kaum. In meinem Kopf kreisten die Fragen und Gedanken und meine Sorge um den jungen Erschaffenen wuchs mit jeder Sekunde. Woher sollte ich wissen, wie viel meines Blutes gut für ihn war? Wusste er selbst es? Wenn dem so war konnte ich ihn fragen, doch falls nicht... Ich atmete einmal tief durch und versuchte dann wieder Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass Noël sich mir soweit öffnen würde, dass ich es an seinem Verhalten und seiner Körpersprache würde ablesen können – sofern das überhaupt möglich war. Selbst die Tatsache, dass ich sein Leben gerettet hatte, hatte ihn bisher lediglich dazu bewegen können, sich gelegentlich und äußerst widerwillig mit mir zu unterhalten. Wie also sollte ich ihn dazu bewegen, mir eine so wichtige Information anzuvertrauen? Zumal mir das Wissen darum eine gewisse Macht über ihn verlieh. Und ich musste befürchten, dass er eher bereit war sein Leben aufzugeben, als zuzulassen, dass ich ihn in irgendeiner Weise beherrschte. Angesichts dieser Problematik, gewann eine andere, wenn auch keineswegs neue Frage wieder an Bedeutung. Nämlich jene, ob ich Noël überhaupt bei mir behalten wollte. Alle Erwartungen und Hoffnungen, die ich in den jungen Mann gesetzt hatte, hatten sich als unerfüllbar herausgestellt. Und war ich nicht – in einem Anflug von Faszination und Mitgefühl – schon viel zu weit gegangen? Ich hatte ihn vor seinen Verfolgern bewahrt, ihm mein Blut gegeben und verwandte einige Mühe darauf, ihn vor den Informanten und auch anderen Vampiren abzuschirmen. Und auch wenn er mich nicht darum gebeten hatte, so nahm er meine Hilfe doch stillschweigend an. Was hatte ich im Gegenzug dafür erhalten? Nichts, nicht einmal ein Wort des Dankes. Deshalb war es an der Zeit, für mich selbst die Frage zu beantworten, ob ich so weitermachen wollte wie bisher. Ich schützte einen Mörder, daran bestand kein Zweifel und wie es schien war ich bereit einige Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen, um diesen Schutz aufrecht zu erhalten. Zu Beginn unserer gemeinsamen Zeit, wenn man es denn so nennen wollte, mochte es allerlei Gründe gegeben haben, dies zu rechtfertigen. Doch Noël verweilte nun bereits einige Monate in meinem Haus und allmählich verlor das Argument, dass er lediglich ein wenig Zeit benötigte um sich hier einzugewöhnen, an Glaubwürdigkeit. Zugegeben, inzwischen sprach er sogar gelegentlich mit mir, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sich in diesen Wochen irgendeine Art von Beziehung zwischen uns entwickelt hatte. Warum also klammerte ich mich noch immer an die Vorstellung, eines Nachts einen Vertrag mit ihm zu schließen? Denn warum sonst hätte mich dieses Thema so sehr beschäftigen sollen? Ganz offensichtlich gab es irgendetwas in meinem Inneren, das nicht bereit war die Hoffnung aufzugeben und von der Realität wenig wissen wollte. Dabei hatte ich ehrlich gehofft, diese Art romantischer Vorstellung endlich hinter mir gelassen zu haben. Eine andere Frage kam mir in den Sinn und ihre Brutalität schmerzte mich. Ist es das wirklich wert? Ist er das wirklich wert? „Letztendlich bedeutet es, dass sowohl ein zu wenig als auch ein zu viel des Blutes den Prozess geistiger Degeneration erheblich beschleunigen kann“, schloss Ichimura seinen Bericht und sah mich aufmerksam an. Vermutlich erwartete er weitere Fragen, doch ich war nicht sicher, ob es klug war sie zu stellen. Es gab so vieles, über das ich nachdenken musste und ich brauchte Zeit, um meine Gedanken zu ordnen. Und das konnte ich nicht, solange diese beiden Vampire in meinem Haus verweilten. Einen Moment überlegte ich, ob ich ihn noch zu dem Ritual befragen sollte, mit dem man Erschaffene eines anderen Meisters zu seinen eigenen machen konnte, entschied mich dann aber dagegen. Ich hätte ihm wohl kaum mit der gebotenen Aufmerksamkeit lauschen können. Außerdem hielt ich es für unwahrscheinlich, dass er selbst schon einmal einen Erschaffenen aus fremdem Besitz übernommen hatte. Das theoretische Wissen dafür besaß ich bis zu einem gewissen Grade bereits selbst und meine Bibliothek barg, wie ich wusste, bemerkenswert zahlreiche und detaillierte Informationen zu diesem Thema. „Gibt es sonst noch etwas, das Ihr gerne in Erfahrung bringen möchtet?“ Ich seufzte und verneinte. Für diese Nacht war es wahrlich genug. Er schwieg einige Sekunden, dann fragte er erwartungsvoll: „Dürfte ich dann meinen Lohn einfordern?“ Von einem Moment auf den anderen wirkte er alles andere als gefährlich oder geheimnisvoll. Eher wie ein Schuljunge, der es nicht erwarten konnte, zum ersten Mal einen Blick in das neue Klassenzimmer zu werfen. „Bitte sehr“, erwiderte ich und musste feststellen, dass man meiner einladenden Geste die Erschöpfung ansah. Doch Ichimura schien es gar nicht zu bemerken. Mit leuchtenden Augen sprang er auf, deutete noch rasch eine Verbeugung an und verschwand, gefolgt von seinem getreuen Schatten, zwischen den Bücherregalen. Eine gewisse Trägheit und der Umstand, dass ich Besucher in der Bibliothek nur ungern unbeaufsichtigt ließ, veranlassten mich dazu, in meinem Sessel sitzen zu bleiben und lediglich von Zeit zu Zeit festzustellen, welche Werke Ichimura sich ausgesucht hatte. Ich nahm an, dass es mit seiner Tätigkeit als Informant zusammenhing, dass er sich in erster Linie für die Stammbäume und Lebensläufe seiner Mitvampire interessierte. Alles was auch nur im entferntesten Aufschluss über die Familiengeschichten der Großen und Mächtigen der Vampirwelt gab oder versprach, wurde zum Gegenstand seiner Recherche. Stundenlang vertiefte er sich in Pergamente, Bücher und Akten und ich konnte nicht leugnen, dass sein reges Interesse mir Freude bereitete. Ich war stolz auf meine Sammlung und es kam schließlich nicht sehr häufig vor, dass jemand meine Leidenschaft für Bücher teilte – und sei es auch nur für einen winziges Ausschnitt dessen, was ich mein Eigen nennen durfte. Natürlich waren die hier zusammengetragenen Werke nichts im Vergleich zu dem, was sich in der offiziellen Bibliothek befand. Mochte es auch nur ein Teil davon sein, so war doch das Wissen einer ganzen Welt dort zusammengetragen worden und ich als sein Wächter damit beauftragt es zu schützen und über die Jahrhunderte hinweg zu bewahren. Ich stellte mir Noëls Gesichtsausdruck vor, wenn er erfuhr, dass der Mann bei dem er lebte und den er wohl auch ein wenig fürchtete, in Wirklichkeit nichts anderes war als ein mittelalterlicher, langweiliger Bibliothekar. Bei dem Gedanken daran musste ich unwillkürlich lächeln. Die große Standuhr schlug die fünfte Stunde und mahnte meine Gäste zum Aufbruch. Es war lange her, dass jemand so reges Interesse an meiner Sammlung gezeigt hatte und dennoch war ich erleichtert, dass die beiden Männer mich nun verlassen würden. Ichimura dagegen zeigte tiefes und ehrliches Bedauern darüber, dass er nicht länger hier verweilen und die Bücher studieren konnte. Doch er hielt sich an unsere Vereinbarung und so verließen wir die Bibliothek und standen wenig später wieder in der Empfangshalle. Ichimura verabschiedete sich in der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen, der er sehr höflich und durchaus glaubwürdig Ausdruck verlieh. Eine Hoffnung, die ich um Noëls willen nicht teilen konnte. Kenai Ichimura war ein interessanter Vampir, dies stand außer Frage und gewiss hätte ich mit ihm so manches Thema erörtern können und gewiss einen Nutzen davon gehabt. So aber blieb mir nur zu wünschen, dass diese Nacht, wenn sie denn kam, möglichst lange auf sich warten ließ. Seine Wissbegierde in allen Ehren, doch solange Noël in meinem Hause weilte, konnte Ichimura zu einer ernstzunehmenden Gefahr werden. Einer Gefahr, die sich weniger auf mich, als vielmehr auf den jungen Erschaffenen bezog. Und als hätte er es gehört und wollte mir nun widersprechen, betrat er nur einen Moment später das Haus. Mehrere Sekunden lang schien die Zeit still zu stehen. Auf den Gesichtern aller Anwesenden – Jima ausgeschlossen – zeigte sich zunächst eine milde Überraschung, die bei Noël jedoch rasch in ein ungläubiges Starren überging. Sein Blick war unablässig auf die beiden Besucher gerichtet. Dann begannen seine Lippen zu zittern, bis sie schließlich mit einem Laut, der nicht mehr als ein erschrecktes Keuchen war, zwei Worte formten. „Der Informant.“ Und dann tat er etwas, das er nie zuvor getan hatte. Er eilte an den beiden vorbei, packte mich am Arm und versteckte sich, mit einem Ausdruck der Angst und des Misstrauens auf dem Gesicht, hinter meinem Rücken. Bisher kannte ich ein solches Verhalten lediglich von Kindern und nie hätte ich erwartet, dass mein störrischer Gast es einmal zeigen würde. Auch die Heftigkeit seiner Reaktion gab mir Rätsel auf, doch noch bevor ich sie verstand, hatte ich bereits den Arm erhoben und mich schützend vor ihn gestellt. „Ist er schüchtern?“, fragte Ichimura amüsiert, beugte sich ein wenig vor und trat einen Schritt näher. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern ging ich zu ihm und streckte ihm die Hand entgegen. „Ich danke Ihnen für die Unterredung, sie war wirklich sehr erhellend. Auf Wiedersehen, Herr Ichimura“, sagte ich mit einem Lächeln und in einem freundlichen Ton, der jedoch keinen Zweifel daran ließ, was ich von ihm und seinem Begleiter erwartete. Er musterte mich und entschied dann offenbar, dass dies nicht der rechte Moment für Verhandlungen war. Er lächelte ein perfektes, geschäftliches und nicht ganz ehrliches Lächeln. „Auf Wiedersehen, Meister Veleno. Es war mir eine Freude mit Euch Geschäfte zu machen“, betonte er, ergriff meine Hand und küsste sie. Ich verzog keine Miene, wenngleich ich sicher war, dass er es nicht getan hätte, wäre Noël nicht anwesend gewesen. Es war nicht auszuschließen, dass er dem jungen Erschaffenen damit zeigen wollte, wie man einem Meister üblicherweise begegnete. Vielleicht tat er es aber auch nur, weil er den Abstand zwischen ihnen dadurch ein wenig verringern konnte und sei es auch nur für einen Moment. Solange er meine Hand hielt, ruhte sein Blick auf Noël, dann verließen er und sein Begleiter das Haus. Gerade als er sich noch ein letztes Mal nach dem jungen Mann an meiner Seite umsah, fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss. Es vergingen einige Sekunden, in denen keiner von uns etwas sagte. Zeit genug, um mir darüber klar zu werden, dass es schon eine Weile zurücklag, dass Noël und ich uns im selben Raum befunden hatten und gewillt waren miteinander zu reden. Ich wandte mich zu ihm um, doch er starrte immer noch völlig entgeistert die Tür an, durch welche meine Gäste gerade verschwunden waren. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, doch schließlich wanderte sein Blick langsam zu mir. „Das war der Informant!“, rief er fassungslos. „Was wolltet Ihr von ihm?“ Es bedurfte lediglich eines Blickes um zu erkennen, dass er nicht vorhatte mir sein Verhalten gegenüber Ichimura zu erklären, weshalb ich mich damit begnügte seine Frage zu beantworten. „Er ist ein Informant und ich brauchte Informationen. Also habe ich Kontakt zu ihm aufgenommen.“ „Was ist so wichtig, dass Ihr diesen Mann in Eurer Haus holen musstet?“ Er sah mich an. Empört, ungläubig und mit einem wunderschönen, lebendigen Funkeln in den Augen. Ich hätte ihn ewig so ansehen können, doch sein Ungeduld war geradezu greifbar. „Du scheinst ihm nicht sonderlich zugetan zu sein“, bemerkte ich und bereute es sofort, da er noch im selben Moment den Blick abwandte. Ob er es wohl gewagt hätte Meister Urag diese Frage zu stellen, ging es mir durch den Kopf und seufzend schob ich den Gedanken beiseite. Wann hatte ich eigentlich damit begonnen, mich bei jeder Gelegenheit mit seinem früheren Meister zu vergleichen? „Du“, beantwortete ich seine Frage und sofort galt seine gesamte Aufmerksamkeit wieder mir. Es war amüsant zu beobachten, wie sich seine Augen vor Überraschung weiteten und sein Mund sich in sprachlosem Erstaunen öffnete. „Ihr macht Euch über mich lustig“, knurrte er, als er endlich seine Sprache wiedergefunden hatte. „Wenn es das ist, was du glauben möchtest“, erwiderte ich und zuckte leicht mit den Schultern. Ich beobachtete mit einigem Interesse sein Mienenspiel, das sehr rasch wechselte und jenen irritierend schönen Hauch von Rot zurückließ, den ich so gern bei ihm sah. „Ich brauchte Informationen über die Erschaffenen und Kenai Ichimura war der Mann, der bereit war sie mir zu geben“, erklärte ich und wieder dauerte es eine Weile, bis er seine Sprache wiederfand. „Was wollte er dafür?“ Noëls Stimme war nicht mehr als ein atemloses Flüstern. Ganz so, als könne er noch immer nicht glauben was ich getan hatte und mehr noch, als fürchtete er etwas schreckliches könne geschehen, wenn er es laut aussprach. Eigentlich ging es ihn nichts an. Ein Anflug von Widerwillen war in meine Gedankenwelt zurückgekehrt, doch ich verbannte ihn so gut es ging aus meinem Bewusstsein. Ich erreichte nichts, wenn ich jetzt auf Anstand und Etikette beharrte. „Das Einzige, das ich zu bieten habe“, antwortete ich und an seinem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass er an etwas vollkommen anderes dachte als ich. Vermutlich hätte ich an diesem Punkt und zu recht wie ich fand, mit einer gewissen Empörung reagiert, doch dann wurde mir bewusst, dass es vermutlich der Behandlung von Meister Urag zu verdanken war, dass er so dachte. „Wissen und die Bücher in denen es steht“, erklärte ich und sah ihn aufatmen, bevor erneut eine feine Röte sein Gesicht überzog. „Ich glaube, ich muss dich um Verzeihung bitten. Meine Unkenntnis hat dir womöglich einige Unannehmlichkeiten bereitet. Ich werde in Zukunft aufmerksamer sein.“ Ich hatte nicht beabsichtigt ihn in Verlegenheit zu bringen, tat es aber ganz offensichtlich, denn die Färbung seiner Wangen blieb. „Warum habt Ihr nicht mich gefragt?“, erwiderte er. Er klang verstimmt, wenngleich ich nicht mit Sicherheit hätte sagen können, worin die Ursache seines Ärgers bestand. Jedenfalls war es nun an mir, ihm ein erstauntes Gesicht zu zeigen. „Nun“, sagte ich schließlich, „ich hatte angenommen, dass du mir nicht antworten würdest. Und du wirst mir sicher zustimmen, dass es nicht ganz einfach ist, mit dir ins Gespräch zu kommen.“ Kaum hatte ich es ausgesprochen, bereute ich meine Worte auch schon und so fügte ich eilig hinzu: „Aber ich würde wirklich gern mehr über dich wissen.“ Einen Moment lang starrte er mich an, dann nahm sein Gesicht einen wirklich ganz erstaunlichen Rotton an. „Idiot!“, fauchte er, doch fehlte es seiner Stimme an Überzeugungskraft, weshalb ich die Beleidigung nicht wirklich ernst nehmen konnte. Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand irgendwo im Inneren des Hauses. Eine Weile sah ich ihm nach, dann seufzte ich schwer und machte mich auf den Weg in mein Schlafgemach. Idiot. Ich musste zugeben, dass mich sein Mut und seine Dreistigkeit, mir so etwas ins Gesicht zu sagen, beeindruckten. Es war lange her, dass jemand so etwas gewagt hatte und wenn ich mich recht entsann, waren es stets Menschen gewesen. Allerdings war ich weder so unbesonnen noch so egozentrisch, über irgendeine Form der Bestrafung nachzudenken. Positiv gewendet bedeutete es womöglich, dass er so weit Vertrauen zu mir gefasst hatte, dass er nicht fürchtete, ich könnte ihn in irgendeiner Weise dafür zur Rechenschaft ziehen. Und die Kombination seiner Verlegenheit und des Unvermögens damit umzugehen, machten es schon beinahe liebenswert. Unwillkürlich wanderten meine Mundwinkel nach unten. Offenbar war ich inzwischen einsam genug, um sogar eine Beleidigung als positives Zeichen zu deuten. Etwas, dass zugegebenermaßen recht abwegig schien und, hätte es jemand anderen betroffen, doch zumindest einige Verwunderung bei mir hervorgerufen hätte. Es war allmählich wirklich an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Und doch wusste ich, dass ich genau das nicht tun würde – zumindest nicht in allzu naher Zukunft. Es sei denn, mein eigensinniger Gast gab mir einen Grund dazu, meine Meinung zu ändern. Wahrscheinlich, zumindest war es zu befürchten, hatte Anoha doch recht. Ich brauchte dringend wieder eine Frau an meiner Seite. Jemanden, der zu mir passte und dem das Leben mit mir angenehm genug war, um es wenigstens ein paar Jahrzehnte lang mit mir zu teilen. Selbstverständlich hätte ich nur zu gern eine Person gefunden, die ein Leben lang mein Gefährte sein würde, aber ich war mittlerweile klug genug, meine Erwartungen der Realität anzupassen. In Bezug auf Noël allerdings... Idiot. Nun, in jedem Fall war es doch wirklich außerordentlich erfrischend, auf so deutliche und eindeutige Weise daran erinnert zu werden, wofür ich all diese Umstände in Kauf nahm. Kapitel 12 - Ende Kapitel 13: ------------ Beginn: 14.08.2011 Ende: 14.08.2011 Kapitel 13 Die Nachricht erreichte mich während des Abendessens. Noël war inzwischen wieder häufiger Gast in meinem Hause und leistete mir an diesem Abend Gesellschaft. Ich hatte nicht herausfinden können, woher sein plötzlicher Sinneswandel kam, ob er einer Veränderung in der Gemeinschaft der Jäger geschuldet oder lediglich eine seiner Launen war. Jedenfalls bekam ich nun weitaus häufiger die Gelegenheit, ihn auch persönlich anzutreffen, anstatt seine Anwesenheit nur zu vermuten. Und wäre es nicht Noël gewesen, ich hätte direkt annehmen müssen, er wäre eifersüchtig. Seit jenem Gespräch über meine Jagdmethoden gewann ich immer mehr den Eindruck, dass er mich, wenn auch vielleicht nicht unbedingt mit Argusaugen, überwachte. Allerdings war ich geneigt, dies als Einbildung meinerseits abzutun. Denn zum einen fehlte eine Person oder etwas anderes, auf die beziehungsweise das er eifersüchtig hätte sein können und zum anderen sprachen wir hier von einem Mann, der den geborenen, adligen Vampiren nicht eben freundlich gesinnt war. Der Gedanke an ein Gefühl wie Eifersucht war unterhaltsam – und mindestens ebenso absurd. Jedenfalls saßen wir gerade beim Dinner – mein Gast war die meiste Zeit damit beschäftigt gewesen, mich mit brennendem Blick zu beobachten –, als ich plötzlich ein Geräusch vernahm, das definitiv nicht hierher gehörte. Noël bemerkte die Veränderung in meinem Verhalten ganz offensichtlich, denn auch er hob aufmerksam lauschend den Kopf. Nur einen Moment später hatte ich erkannt was es war und musste mir ein Lachen verbeißen. Im nächsten Augenblick schoss ein kleines schwarzes Etwas durch den Raum, taumelte und landete dann zielsicher in der Schüssel mit dem Fruchtgelee. Noël war ganz offensichtlich sprachlos, während ich mich beeilte, den Neuankömmling aus dem Gefäß zu fischen, bevor er darin erstickte. „Pirikuan, du Dummerchen, komm her!“ Die kleine Fledermaus hatte sich von ihrer Bruchlandung offenbar bereits wieder erholt und protestierte nun lautstark gegen meinen Versuch, sie mit einer Serviette zu reinigen. Glücklicherweise war sie nicht verletzt und hatte zudem, ob nun geistesgegenwärtig oder zufällig, den Brief bereits losgelassen, bevor sie ein Bad im Fruchtgelee genommen hatte. „Pirikuan, ist ja gut, bleib da sitzen!“ Der Nachtschwärmer marschierte bereits über die ehemals weiße Tischdecke und sah sich vermutlich nach etwas Essbarem um. Noël sah das Tier fasziniert an und ich meinte auf seinem Gesicht jenen Oh-wie-süß-Ausdruck zu erkennen, den erstaunlich viele Vampire beim Anblick dieser Fledermaus zeigten. Ich war inzwischen zur Obstschale hinübergegangen und kehrte nun, mit einigen Johannisbeeren bewaffnet, zurück. Kurz wog ich den Brief in der Hand und stellte mit einiger Missbilligung fest, dass er wie erwartet viel zu schwer für das kleine Tier war. Ich erkannte das Siegel sofort und war alles andere als überrascht, dass der Absender sich nicht an die Regeln zum Transport von Briefen gehalten hatte. Weitaus mehr erstaunte mich dagegen, dass er mir schrieb. Es lag bereits eine ganze Weile zurück, dass Anoha und ich einander Gesellschaft geleistet hatten, zumal wir uns charakterlich mehr und mehr auseinandergelebt hatten. Und nun lud er mich spontan auf einen seiner Landsitze ein. „Schicken sich Vampire Briefe immer so?“ Ich hob den Kopf, doch Noël war noch immer in die intensive Betrachtung Pirikuans vertieft und erwiderte meinen Blick nicht. Es ärgerte mich ein wenig, dass er so viel Faszination für eine Fledermaus aufbrachte, während er mich für gewöhnlich zu ignorieren pflegte. Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken. „Fledermäuse werden nur für den Transport von Briefen eingesetzt und ab einem bestimmten Gewicht der Lieferung auch nur dann, wenn sie zu mehreren sind. Für größere Fracht nutzen wir Eulen.“ Er nickte, obwohl ich mir nicht sicher war, ob er mir wirklich zugehört hatte. Der Neuankömmling hatte ganz offensichtlich Vorrang. „Ist das nicht ziemlich riskant?“, fragte Noël, während er Pirikuan dabei zusah, wie dieser dem Bratenteller auswich, als hätte man ihn damit persönlich beleidigt. „Man merkt, dass du noch nie mit einem Vampir Kontakt hattest, dessen Bote angegriffen wurde. Die Kleinen verteidigen die Briefe mit ihrem Leben und ein verletztes Tier gibt sehr schnell Aufschluss darüber, wer sich unrechtmäßig Einblick in die Privatsphäre anderer verschafft hat. Aber du hast natürlich recht. Kein Vampir würde jemals ein wichtiges Dokument auf diesem Wege verschicken, es sei denn, es bliebe ihm keine andere Möglichkeit das Schriftstück zu bewahren. Diese Art der Nachrichtenübermittlung wird eher aus traditionellen Gründen und auch meist nur für Einladungen oder ähnliches verwendet.“ Ich schnalzte mit der Zunge und sofort hatte ich Pirikuans ungeteilte Aufmerksamkeit. Sogar Noël sah auf. „Komm her“, sagte ich und beinahe augenblicklich machte das kleine Tier kehrt und kam zu mir zurück. Dankbar und mit großer Freude ließ es sich von mir eine Beere nach der anderen füttern. „Was ist das?“, fragte Noël und sah fassungslos auf die genüsslich schmatzende Fledermaus. „Johannisbeeren“, erwiderte ich und zog meinen Finger zurück, bevor das hungrige kleine Wesen vergaß, dass dieser nicht Bestandteil seiner Nahrung war. „Sie...trinkt kein Blut?“, fragte Noël und wirkte dabei, als würde ihn dieser Umstand zutiefst erschüttern. Offenbar glaubte er an die Legenden, in denen Vampire eng mit Fledermäusen verwandt waren oder sie als ihre Dienerschaft hielten, wenngleich es auch noch andere Tiere gab, deren Nutzung man ihnen nachsagte. „Natürlich gibt es auch solche, die das Blut von Tieren trinken, aber diese Art hier ernährt sich nahezu ausschließlich von Beeren. Es ist übrigens ein Männchen. Autsch, nicht beißen!“ Pirikuan war ganz offensichtlich eine sehr hungrige kleine Fledermaus und so dauerte es eine Weile bis sein Appetit gestillt war. Mit leisem Bedauern stellte ich fest, dass mein Essen bereits kalt geworden war, deutete dies jedoch als Zeichen, dass es Wichtigeres zu tun gab. Ich streckte den Zeigefinger aus und Pirikuan hängte sich kopfunter daran, wickelte die Flügel um seinen Körper und ließ sich von mir durch den Raum und in eine dunkle Ecke bringen, wo er sich zwischen zwei künstlichen Fledermäusen erneut zusammenfaltete und wenig später tief und fest schlief. „Sie schlafen nicht gern alleine“, erklärte ich beiläufig, doch als ich mich umdrehte und Noël ansah, hielt ich erstaunt inne. Hatte ich seinen Blick zuvor als brennend beschrieben, so musste ich mich jetzt korrigieren. Denn er war nichts im Gegensatz zu dem, den er mir jetzt zeigte. Es war ein intensiver Blick, voll kalter Wut, deren Ursprung ich mir nicht erklären konnte. Als er meinen Blick bemerkte, wandte er den seinen ab, wenn auch langsam, als wolle er mir sagen, dass ich wissen müsste, weshalb ich ihn verdient hatte. Eine Weile herrschte eisiges Schweigen, dann fragte er: „Was ist das für ein Brief?“ Erleichtert darüber, dass er von sich aus ein Thema ansprach, versäumte ich es ihn darauf hinzuweisen, das ihn das eigentlich nichts anging. „Ein Freund lädt mich in sein Landhaus ein. Ich werde mich gleich auf den Weg dorthin machen. Du entschuldigst mich?“ Ich erwartete keine Antwort und so beeilte ich mich den Tisch abzuräumen und zog mich dann in mein Zimmer zurück. Als ich wenig später wieder in der Empfangshalle stand und gerade das Geschenk für meinen Gastgeber verwahrte, kam Noël auf mich zu. „Darf ich Euch begleiten?“ Erstaunt betrachtete ich ihn. Es schien ihm ernst zu sein, denn er hatte sich bereits umgezogen und sah mich nun mit verhalten erwartungsvollem Blick an. „Ich glaube nicht, dass du das wirklich möchtest“, erwiderte ich zweifelnd, da ich bereits wusste, was ihn dort erwarten würde. „Warum nicht?“, fragte er mit der gleichen Ernsthaftigkeit wie zuvor. „Nun, der Mann, den ich zu besuchen gedenke, ist ein Adliger, der sich zudem mit Erschaffenen umgibt“, antwortete ich und war mehr als erstaunt, dass ihn auch das offenbar nicht von seinem Wunsch mich zu begleiten abbrachte. Er schien einen Moment darüber nachzudenken, doch dann sagte er: „Ich möchte Euch begleiten.“ Ich hielt das für keine gute Idee, aber ich ahnte, dass er keines meiner Argumente akzeptieren, sondern auf seinem Wunsch beharren würde. Da mir der Sinn nicht nach Auseinandersetzungen stand und es mir immerhin die Gelegenheit bot, mich mit Noël zu unterhalten, willigte ich schließlich ein. Ich glaubte nicht, dass ihm von Seiten Anohas Gefahr drohte – zumindest nicht, solange ich bei ihm war –, aber ich hatte kein gutes Gefühl bei dieser Angelegenheit. Daher nahm ich mir vor, Noël, soweit als möglich, im Auge zu behalten. In der stillen Hoffnung, dass sich die Entscheidung ihn mich begleiten zu lassen nicht als Fehler herausstellen würde. Kapitel 13 - Ende Kapitel 14: ------------ Beginn: 12.09.2011 Ende: 05.02.2012 Kapitel 14 Ich bereute meine Entscheidung, noch lange bevor wir an unserem Zielort ankamen. Zugegebenermaßen war eine Kutschfahrt nicht unbedingt der Inbegriff einer aufregenden Reise und da wir beide – ich von Natur aus, Noël vermutlich aus Prinzip – wenig gesprächig waren, war es für einen jungen Vampir wie ihn vermutlich eher langweilig. Allerdings erklärte dies meiner Ansicht nach nicht seine ausgesprochen schlechte Laune, die er seit unserem Aufbruch mehr als deutlich zur Schau stellte. Und allmählich war ich es wirklich leid. Schließlich hatte ich ihn auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin mitgenommen. Wenn er dieses Verhalten in meinem Haus an die Nacht legte war das eine Sache, wenn auch ärgerlich genug, aber im Inneren einer Kutsche konnte man sich schwerlich aus dem Weg gehen. Doch anstatt ein wenig Konversation zu betreiben – ich hielt es zum Beispiel für nicht allzu abwegig, dass er mich zumindest nach dem genauen Ziel unserer Reise fragte – sah er mürrisch aus dem Fenster und strafte mich mit tödlicher Missachtung. Und zum ersten Mal seit, ich wusste nicht mehr wie langer Zeit, spürte ich ein Gefühl in mir aufsteigen, das ganz und gar untypisch für mich war – Zorn. Dieser Mann hielt mich zum Narren. Er war unkooperativ, egoistisch, undankbar und verweigerte beinahe jede Form der Interaktion. Ich war ein geduldiger Vampir, doch allmählich neigte sich auch meine Motivation zu wohlwollender Rücksichtnahme dem Ende. „Gibt es keine andere Art zu reisen?“, fragte Noël und endlich verstand ich, was ihn so verstimmt haben musste. Er war kein geborener Vampir, deshalb waren ihm viele unserer Denk- und Verhaltensweisen vermutlich noch nicht vertraut und es haftete ihnen auch gewiss der eine oder andere, von menschlicher Fantasie inspirierte Mystizismus an. Vermutlich hatte er also, bezüglich der vampirischen Art zu reisen, etwas anderes, spektakuläreres erwartet. Eine unangenehme Erinnerung stieg in mir auf und gewaltsam verbannte ich sie zurück in die Tiefen meines Gedächtnisses. „Du könntest laufen“, bemerkte ich kühl und mit einer nicht zu überhörenden Anspannung in der Stimme. Mein Begleiter bemerkte es ganz offensichtlich, denn der Ausdruck auf seinem Gesicht verlor merklich an Strenge und sogar seine Körperhaltung wirkte mit einem Mal weitaus weniger selbstbewusst. In den verbliebenen zwei Stunden Fahrt sagte keiner von uns mehr ein Wort. Anohas Landsitz war ein schönes, altes Gebäude und dazu von einer Größe, die keinen Zweifel an seiner gesellschaftlichen Stellung ließ. Ein wenig übertrieben vielleicht, doch solange ich das Innere des Hauses nicht gesehen hatte, wollte ich mir darüber kein Urteil erlauben. Noël schloss nur langsam zu mir auf, beschleunigte jedoch seine Schritte, als auch er das Läuten vernahm, das die Räume des Hauses erfüllte. Bald darauf hörte ich Schritte und nur wenig später öffnete mir ein junger Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte, die Tür. „Guten Abend, Sir“, begrüßte mich der Fremde höflich und mit einem wirklich ganz bezaubernden, wenn auch schüchtern-zurückhaltenden Lächeln. „Der Meister erwartet Sie schon. Bitte, treten Sie doch ein.“ „Undine?!“ Der überraschte Aufschrei Noëls ließ sowohl mich als auch den jungen Diener erstaunt inne halten. Undine? Ich musterte den Diener noch einmal genauer. Bleiche Haut, weiches braunes Haar und große rehbraune Augen. Er besaß eine ganz andere und weniger spröde Art der Schönheit als mein Begleiter - aber er war definitiv männlich. Und soweit mir bekannt war, handelte es sich bei Undine um einen Mädchen- und Frauennamen. Es dauerte jedoch nicht lange bis mir aufging, woher die beiden sich kennen mussten. Und wenn ich mit meiner Vermutung richtig lag, dann hatte Meister Urag wahrlich das schlechteste Gespür für Namen besessen, das mir jemals untergekommen war. „Noël?“, fragte der Andere nicht weniger erstaunt, bemerkte dann jedoch sein Versäumnis uns ins Innere des Hauses zu führen und beeilte sich mit eine hastig gemurmelten Entschuldigung dem nachzukommen. Er kam allerdings nicht mehr dazu, uns um unsere Mäntel zu bitten, denn kaum, dass wir die Empfangshalle erreicht hatten, stürzte sich Noël auch schon auf ihn und umarmte ihn innig. „Undine“, wiederholte er noch einmal und mit solcher Sanftheit, dass ich nur sprachlos daneben stehen konnte. Von meinem Standpunkt aus konnte ich sein Gesicht nicht sehen, wohl aber das des Mannes, den er gerade so glücklich in die Arme schloss. Der Diener lächelte ein sanftes, leicht wehmütiges Lächeln. Seine Hände berührten meinen Begleiter sehr viel zögernder und zurückhaltender. „Es heißt jetzt Hazel“, erklärte er und ich sah plötzlich einen Mann vor mir, der sich in alles, was sein Schicksal für ihn bereit hielt, fügte. Hazel, dachte ich und musste mich beherrschen, um nicht etwas Unpassendes zu sagen. Was für eine Verbesserung! Nun gut, es passte zu ihm, aber dass Anoha – denn ich ging davon aus, dass der junge Mann zu ihm gehörte – aus allen in dieser Welt existierenden Namen ausgerechnet diesen gewählt hatte... „Ich bin so froh! Ich dachte schon, du wärst vielleicht... Was machst du hier?“ Ich kam nicht dazu, mich über die erstaunliche Emotionalität meines Begleiters zu wundern oder mehr noch mich darüber zu ärgern, dass er sich mir kein einziges Mal so offenbart hatte. Denn in diesem Moment betrat der Hausherr die Szene und seine Stimme füllte den Raum. „Wen haben wir denn da? Wenn das nicht mein guter alter Freund Miguel ist.“ Seine Worte hatten diesen für ihn so typischen leicht spöttischen und dadurch häufig überheblich wirkenden Klang. Aber ich kannte ihn und wusste damit umzugehen. Der junge Diener dagegen wirkte mit einem Mal derart angespannt, dass kaum zu übersehen war, welche Art von Gefühl ihn mit seinem Meister verband. Anoha trat näher und während er es tat, richtete er das Wort an Hazel. „Na so etwas, haben unsere Besucher etwa noch ihre Mäntel an?“ Er gab sich betont überrascht, bemerkte es wie beiläufig, doch der Andere wusste ganz offensichtlich, dass eine unausgesprochene Drohung in diesen Worten lag. Ich konnte ein leichtes Zittern ausmachen, das binnen eines Moments seinen gesamten Körper erfasst hatte. Kein Zweifel – er fürchtete Anoha. Eilig löste sich der junge Mann von Noël. „Ich... Es tut mir sehr leid, ich bitte vielmals um Verzeihung!“ Erstaunlicherweise waren die Worte weniger an seinen Herrn als vielmehr an uns gerichtet. „Dir ist doch hoffentlich bewusst, dass du mit diesem Verhalten deinem Meister Schande bereitest?“ Die Augen des jungen Mannes weiteten sich und er zitterte so sehr, dass er kaum fähig war mir den Mantel abzunehmen. Ich bemerkte es und wunderte mich über die heftige Reaktion. Offenbar wusste Hazel, was Anoha betraf, mehr als ich, denn ich konnte in der Stimme meines Freundes nichts ausmachen, dass eine solche Furcht begründet hätte. Es mochte sonderbar und ganz sicher unangebracht sein, dass Anoha es sichtlich genoss, den Jüngeren derart aus der Fassung zu bringen, indem er ihm sein Versäumnis vorhielt, aber ich hatte keinerlei Drohung, ja nicht einmal ernstlichen Tadel aus seinen Worten herausgehört. „Du hast wirklich eine sonderbare Art von Humor“, bemerkte ich ein wenig verstimmt, doch auch das schien meinen Gastgeber zu amüsieren. „Danke“, erwiderte er mit einem Grinsen, während ich ihm mit einem Blick zu verstehen gab, dass es durchaus nicht als Kompliment gemeint gewesen war. Doch Anoha lachte nur ausgelassen, kam zu mir, umarmte mich und sah dann mit verschwörerischem Blick zu mir auf. „Und?“, fragte er, „Hast du mir etwas mitgebracht?“ „Du bist doch kein kleines Kind mehr“, erwiderte ich und tat, als hätte ich es absichtlich versäumt, ihm ein Geschenk mitzubringen. „Bah, das spielt doch keine Rolle! Also, hast du?“ Natürlich hatte ich das, aber ich fand es amüsant zu beobachten, wie er, erwartungsvoll wie ein kleines Kind, zu mir aufsah. „Mi-gu-el“, schmollte er und mit einem Lächeln überreichte ich ihm die Weinflasche. „Tadaa“, sagte ich, auch wenn es nicht sehr geübt klang. „Bitte sehr.“ Er nahm sie entgegen, hielt sie so, dass das Licht auf das Etikett fiel und betrachtete sie gespielt kritisch. „Wein! Nun mein Lieber, da hast du dich aber nicht gerade übernommen.“ Ich lächelte. „Würdest du deine Meinung noch einmal überdenken, wenn ich dir sage, dass es kein Wein ist?“ Er gab vor darüber nachzudenken und erwiderte dann: „Vielleicht.“ „Es ist dein Jahrgang.“ Sein Mund öffnete sich in sprachlosem Erstaunen und er sah mich mit großen Augen an. „Ist nicht wahr!“, sagte er und machte sich diesmal tatsächlich und ernsthaft daran, das Etikett zu studieren. „Ich glaub es nicht! Das ist ja der Wahnsinn!“ Seine Augen leuchteten vor Begeisterung und er drehte sich einmal um die eigene Achse. Ich bemühte mich, nicht zu lachen, jedoch mit nur mäßigem Erfolg. Es freute mich und erfüllte mich mit einem gewissen Stolz, dass ich seinen Geschmack auch nach all den Jahren noch gut genug kannte, um ihn zu einer solchen Reaktion zu bewegen. Nachdem er seine Drehung vollendet hatte sah er mich wieder an. „Aber im Ernst, ist das Zeug nicht inzwischen eingetrocknet und zu Staub zerfallen?“ „So wenig wie sein neuer Besitzer“, erwiderte ich mit einem Augenzwinkern, da es mir nicht gelingen wollte ihm vorzugaukeln, seine Bemerkung hätte mich beleidigt. „Fast 800 Jahre“, murmelte er fassungslos, „Wie machst du das bloß?“ Ich lächelte und schwieg. Wusste ich doch, dass ihn die Annahme einer geheimen Technik weit mehr faszinierte, als ihn die Aufklärung derselben interessierte. Plötzlich schlug etwas gegen das Fenster und alle Anwesenden zuckten erschrocken zusammen. Einen Moment lang herrschte Stille, dann brach Anoha in schallendes Gelächter aus. Der junge Mann, der sich als Hazel vorgestellt hatte, sah seinen Meister mit einer Mischung aus Furcht und Verwirrung an, während dieser sich vor Lachen bog. Es war doch wirklich nicht zu glauben. Missbilligend beobachtete ich das Verhalten meines Freundes, dann schritt ich zum Fenster, fasste hinter den Vorhang, wo ich die Apparatur vermutete und drehte an der kleinen Kurbel, um einen Teil der Glaswand zu öffnen. Pirikuan erschien wenig später, schwankte jedoch gefährlich und taumelte dann in einer großen Spirale abwärts. Es war nicht zu übersehen, dass das arme Tier sich sehr gründlich den Kopf gestoßen hatte. Dennoch gelang es ihm, auf meiner Schulter zu landen, nur um dort mit ausgebreiteten Flügeln liegen zu bleiben. Ich sah wieder zum Fenster hinauf und blickte direkt in Rosalies große, dunkle Augen. Für einige Sekunden betrachtete sie die Szene, dann glitt sie in den Raum und landete nur einen Flügelschlag später auf meinem ausgestreckten Arm. Ich hörte, wie ihre scharfen Krallen den Stoff durchschlugen und fühlte den Schmerz, als sie sich in meinen Arm bohrten. Rosalie war eine große, bezaubernd schöne Schneeeule und Anohas Bote für besonders wichtige oder schwere Fracht. Jetzt gerade gurrte das eindrucksvolle Tier wie ein Täubchen und schmiegte ihr weiches Gefieder an meine Wange. Keiner der beiden trug einen Brief oder etwas anderes bei sich, dennoch empfand ich es als ungewöhnlich und nicht weniger aufschlussreich, dass sie nicht sofort zu ihrem Meister geflogen waren. Anoha lachte noch immer. „Du liebst große Auftritt, was?“ Ich verzog das Gesicht zu einem säuerlichen Lächeln. „Nicht besonders“, erwiderte ich und versuchte Rosalie sanft aber bestimmt daran zu hindern, mein Haar in ein kuscheliges Nest zu verwandeln. Unser Gastgeber hatte sich wieder gefasst, das breite Grinsen auf seinem Gesicht blieb jedoch. „Tiere scheinen dich sehr zu mögen.“ Ich glaubte seinen Blick zu Noël wandern zu sehen. „Nun“, ich legte die Hände um Rosalies Flügel und hob sie vorsichtig von meinem Rücken, bevor sie weitere Versuche unternehmen konnte mir ins Ohr zu hacken, „womöglich liegt es daran, dass ich sie nicht quäle.“ Anohas Mundwinkel wanderten noch ein wenig weiter nach oben und eine Mischung aus Stolz und Selbstgefälligkeit lag in seinem Blick als er antwortete: „Sie gehören mir. Ich kann mit ihnen tun und lassen was ich will.“ „Gewiss. Und ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass du genau das tust“, erwiderte ich. „Würdest du sie jetzt bitte zurückrufen.“ Er schnippte mit den Fingern und augenblicklich verschwanden die Tiere, so schnell ihre Flügel sie trugen, aus unserem Sichtfeld. „Entschuldige, normalerweise sind sie nicht so aufdringlich. Ich fürchte, ich habe ihre Erziehung in letzter Zeit ein wenig vernachlässigt.“ Diesmal galt sein Blick Hazel, der, so sehr er es auch zu verbergen suchte, erneut heftig zu zittern begann. „Hör auf damit“, knurrte ich und strich mir die Eulenfedern von der Kleidung. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich Noëls aufmerksamen und Hazels ängstlichen Blick. Anoha hob in einer abwehrenden Geste die Hände. „Was denn, was denn? Wenn man sie nicht erzieht, machen sie nur Unfug. Und sag mir nicht, das wäre geschmacklos. Wie du weißt besitze ich einen ganz ausgezeichneten Geschmack, schließlich schätze ich sowohl dich als auch die hier.“ Er streichelte liebevoll über die bauchige Weinflasche. Nun, zumindest hatte er diesmal eine diplomatische Reihenfolge seiner Aufzählung gewählt. Er betrachtete mich einen Moment und biss sich auf den Finger um nicht zu lachen. „Wie wär‘s? Wenn du willst kann Hazel dir die Haare kämmen. Er macht das wirklich ganz ausgezeichnet.“ Ich warf einen kurzen Blick auf den verschüchterten jungen Mann, dann öffnete ich mein Haarband und schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Ich bin es gewohnt das allein zu machen.“ Er beobachtete mich dabei, wie ich es erneut zusammenband und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Sie sind lang geworden“, bemerkte er und damit hatte er zweifellos recht. Für gewöhnlich trug ich sie selten mehr als schulterlang, doch nun reichten sie mir bereits bis zur Hüfte. „Ich werde sie mir bald wieder schneiden lassen“, antwortete ich. Der Ausdruck auf seinem Gesicht wandelte sich langsam von Be- zu Verwunderung. „Weißt du was mir einfach nicht in den Kopf will?“ Er erwartete wohl keine Antwort, daher schwieg ich. „Du bist ein verdammt gutaussehender Mann, Miguel Veleno. Jetzt sieh mich nicht so an, du weißt ja wohl hoffentlich, dass ich recht habe. Ehrlich gesagt, je älter du wirst, desto besser siehst du aus.“ „Danke“, erwiderte ich, reichlich verwirrt. Ich war es nicht gewohnt, dass man mir Komplimente machte. Vor allem nicht zu meinem Erscheinungsbild, dass man gewiss als gepflegt, aber doch eher durchschnittlich bezeichnen konnte. „Was ich nicht verstehe, ist“, begann er von Neuem, „warum jemand wie du keine Frau an seiner Seite hat.“ Ich spürte wie mir das Blut ins Gesicht schoss und wandte den Blick ab. „Ich meine, du bist ja nicht festgelegt. Wenn du von Frauen erstmal nichts wissen willst, kannst du dir ja auch was anderes Hübsches suchen. Sollte für dich doch kein Problem sein. Auch wenn es beim letzten Mal nicht so gut geklappt ha-.“ „Könnten wir dieses Thema bitte auf sich beruhen lassen“, unterbrach ich ihn, bevor er noch mehr sagen konnte. Allein bei dem Gedanken daran, zog sich meine Brust schmerzhaft zusammen. Ich hatte nicht vergessen, was mein letzter Partner mir zum Abschied gesagt hatte, wenngleich ich es bis vor kurzem einigermaßen erfolgreich verdrängt hatte. Es herrschte unangenehmes Schweigen, dann fragte Hazel vorsichtig: „Meister, soll ich Eure Gäste in den Salon führen.“ „Sieh da, du setzt deinen Kopf ja doch manchmal zum denken ein. Nun gut, gehen wir.“ Die Bemerkung seines Meisters färbte das Gesicht des jungen Mannes dunkelrot. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen“, murmelte er und wir schlossen uns ihm wortlos an. Es dauerte eine Weile bis wir den Salon erreichten und Anoha wusste die Zeit mit einigen Anekdoten und wissenswertem über das Haus zu füllen. Es erstaunte mich, dass er sich so für Architektur interessierte, aber wahrscheinlich hatte er sich nur damit beschäftigt, um mir eine Freude zu machen. Er wusste, dass mich historische Gebäude faszinierten. „Ich hab mir den ganzen Mist echt nur eingepaukt, damit du dich freust“, murrte er und bestätigte damit meine Vermutung. „War nicht leicht, also freu dich gefälligst!“ „Danke, ich freue mich“, erwiderte ich lächelnd und er verzog ein wenig das Gesicht. Ich kannte Anoha lange und gut genug um zu wissen, dass dies seine Art war, sich für den Patzer, den er sich mit der Anspielung auf meine früheren Beziehungen geleistet hatte, zu entschuldigen und ihn wieder gut zu machen. Er hatte schon immer Schwierigkeiten damit gehabt, sich einfach direkt bei jemandem, dem er in irgendeiner Weise zu nahe getreten war, zu entschuldigen. Als wir wenig später den Salon betraten, war er jedoch wieder ganz der Herr des Hauses. „So mein lieber Miguel, nun erzähl mir doch mal, wer ist eigentlich dieser reizende junge Mann, den du da bei dir hast?“, fragte er, nachdem Hazel zwei Kristallgläser für uns bereitgestellt und, nachdem Anoha die Flasche entkorkt hatte, den Wein eingegossen hatte. Ich warf Noël einen kurzen Blick zu, doch seine Gesichtszüge waren vollkommen unbewegt. „Sein Name ist Noël.“ „Ja haben wir denn schon wieder Weihnachten?“, spöttelte Anoha und zwinkerte mir zu. „Und, ist er ein Geschenk?“ „Nun, wenn du mehr über ihn wissen möchtest, solltest du ihn vielleicht besser selbst fragen“, wich ich ihm aus und stellte leicht frustriert fest, dass ich ihm tatsächlich nicht viel mehr über Noël hätte sagen können. Anoha sah Noël an, doch dieser blieb stumm. „Also“, unser Gastgeber stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn auf die Hände, „wie wäre es, wenn du ein wenig von dir erzählen würdest?“ Ich bemühte mich, mir meine Anspannung nicht anmerken zu lassen, da ich noch immer – und vermutlich weit mehr als Anoha – daran interessiert war, mehr über den jungen Erschaffenen zu erfahren. „Ihr seid nicht mein Meister. Ich bin nicht verpflichtet Euch zu antworten.“ Verblüfft sah ich Noël an und entdeckte, als ich mich wieder Anoha zuwandte, in dessen Gesicht den gleichen Ausdruck. Er fasste sich jedoch beinahe ebenso schnell wieder wie ich. „Also eigentlich bist du jedem Meister eine Antwort schuldig, wenn er dich etwas fragt. Insbesondere da du, wenn ich mich nicht sehr täusche, im Augenblick herrenlos bist“, meinte Anoha lächelnd. Noël verzog keine Miene, doch ich spürte die Feindseligkeit, die von ihm ausging. „Na wie auch immer. Ich bin Miguels Freund, daher kannst du ruhig mit mir sprechen.“ „Ein Freund? Was seid Ihr für ein Freund, wenn Ihr ihm gedankenlos solche Schmerzen zufügt?“, platze Noël heraus und einen langen Moment hatte ich das Gefühl nicht atmen zu können. Ich sah etwas in Anohas Augen aufblitzen, etwas gefährliches und ich fürchtete schon er würde sich zu einer unbedachten Reaktion hinreißen lassen, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen verzog Anoha das Gesicht und sah mich mit einer Mischung aus Mitgefühl und Enttäuschung an. „Wo hast du den denn aufgelesen? Wirklich Miguel, sag mir bitte, dass das nicht wahr ist. So einsam kannst du doch nicht gewesen sein.“ Ich sah die Röte auf Noëls Wangen und den Zorn in seinen Augen und wusste, dass Anoha genau das bezweckt hatte. „Ich meine, es ist so offensichtlich, dass er dir nicht gut tut“, er seufzte theatralisch und schüttelte den Kopf. „Ganz ehrlich, entweder erziehst du ihn anständig oder du setzt ihn schnellstens vor die Tür.“ „Das geht Euch überhaupt nichts an“, zischte Noël, seine Stimme war voll kalter Wut. „Ach? Nun, mein Kleiner, da irrst du dich. Ich bin nämlich Miguels Freund und als solcher komme ich nicht umhin zu bemerken, dass er schlechte Laune hat. Ich kannte ihn schon, da warst du noch gar nicht geboren, und in all der Zeit habe ich ihn noch nie so ungehalten gesehen. Und merkwürdig, irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass du der Grund dafür bist.“ Einen Moment lang schien es, als wolle Noël etwas erwidern, doch er tat es nicht. Stattdessen biss er sich auf die Unterlippe und senkte den Blick. Seine ganze Haltung drückte Widerwillen und Ablehnung aus. Ich wusste, dass ich mich längst in diese Unterredung hätte einmischen sollen, doch Noëls Reaktion irritierte mich. Bisher hatte er, von wenigen Ausnahmen abgesehen, wenig Interesse daran gezeigt, durch seine Anwesenheit einen positiven Beitrag zu meinem Leben zu leisten. Weshalb also traf ihn Anohas Hinweis darauf? Hazels husten unterbrach uns. Sein Zittern war wieder stärker geworden und seine Augen flackerten unruhig. „Meister, würdet Ihr es gestatten, dass“, er schluckte heftig und sein Gesicht wurde noch eine Spur bleicher, „dass ich mich zurückziehe?“ „Was ist mit ihm?“, fragte ich Anoha, den der erbarmungswürdige Anblick, den der junge Erschaffene bot, kaum mehr als nachdenklich zu stimmen schien. „Er hat Hunger“, erwiderte er und entließ den Anderen mit einer Handbewegung. Schon wandte sich Anohas Diener von uns ab, als sein Meister ihn noch einmal zurückbeorderte. „Hazel, nimm doch Noël mit. Miguel und ich haben noch einiges zu besprechen, ihr könnt ja solange spielen gehen.“ Für einen Moment sah ich Zorn die Besorgnis in Noëls Gesicht überlagern, dann sah er mich fragend an. „Geh nur“, sagte ich und meinte Erleichterung bei ihm zu bemerken. Dann war er auch schon an der Seite seines Freundes und verließ gemeinsam mit ihm den Raum. „Also, was genau bezweckst du damit?“, fragte ich, kaum dass sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte. „Was bezwecke ich womit?“, erkundigte sich Anoha betont unschuldig, doch ein Blick genügte um ihn davon zu überzeugen, dass es dem Frieden mehr diente, wenn er mir antwortete. „Ich wollte wissen wie er zu dir steht. Falls es dir nicht aufgefallen ist, vorhin in der Halle sah er aus, als wolle er Rosalie und Pirikuan am liebsten auffressen und der Blick den er dir zugeworfen hat war auch nicht gerade nett. Als ich dich umarmt habe schien er – wie würdest du es ausdrücken? – ziemlich verstimmt zu sein und seine heftige Reaktion auf ein paar kleine Wahrheiten spricht auch für sich, wie ich finde.“ Er grinste als er meinen fragenden Blick bemerkte und lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück. „Also, wenn ich es mal ganz grob zusammenfassen darf, deine Sorge, dass du ihm gleichgültig sein könntest, ist absolut unbegründet. Entweder kann er es nicht leiden, dass du ihn wie ein entlaufenes Kätzchen behandelst und – seiner Logik nach – damit auf eine Stufe mit Eulen und Fledermäusen stellst oder er ist total in dich verschossen – wobei das eine das andere nicht ausschließt“, fügte er nach kurzer Überlegung hinzu. Ich konnte ihn nur erstaunt anstarren. „Er ist, bitte was?“ Anoha verdrehte ungeduldig die Augen. „In dich verschossen, verliebt, verknallt, scharf auf dich.“ Zweifelnd sah ich ihn an, dann schüttelte ich den Kopf. „Anoha, ich verstehe wirklich nicht, worauf diese Annahme basieren soll. Er hasst geborene Vampire, ganz besonders adlige, was seine Reaktion dir gegenüber erklärt und womöglich auch die bezüglich deiner Tiere.“ „Also bitte“, sagte er vorwurfsvoll und in einer Weise, als fände er diese Interpretation der Dinge vollkommen abwegig. „Anoha, er weigert sich die meiste Zeit mit mir zu reden, ja selbst mit mir in einem Raum zu sein! Nimm es mir nicht übel, aber mir erscheint das nicht gerade als Liebesbeweis.“ „Was soll er denn tun?“, grummelte Anoha. „Sich dir an den Hals werfen und dir einen Heiratsantrag machen?“ „Nun“, antwortete ich resigniert, „er könnte damit beginnen mit mir zu sprechen.“ Anoha musterte mich aufmerksam. „Und du? Sprichst du denn mit ihm?“ Ich seufzte. „Ich habe es versucht, glaub mir, und ich versuche es noch, aber...“ Mein Freund machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich meine darüber wie du dich fühlst.“ „Ich hatte nicht den Eindruck, dass ihn das interessiert“, erwiderte ich wahrheitsgemäß und er stöhnte, als hätte er einen besonders begriffsstutzigen Schüler vor sich. „Okay, okay. Weißt du was dein Problem ist?“ Ich war durchaus interessiert daran zu erfahren, auf welche meiner weniger liebenswerten Eigenschaften er anspielte und wartete gespannt darauf, dass er weitersprach.“ „Du bist viel zu gutmütig. Wenn du etwas willst oder dir etwas nicht passt, dann musst du das auch sagen.“ Da ich ihn nicht unterbrach fuhr er fort: „Hör mal, ich kenne dich jetzt schon ziemlich lange.“ „667 Jahre, 314 Tage, 22 Stunden, 18 Minuten und 7 Sekunden um genau zu sein.“ Es dauerte einen Moment, bis sich sein Erstaunen wieder legte, er den Mund schloss und seine Sprache wiederfand. „Äh, ja, kann schon sein, danke. Verdammt, worauf wollte ich hinaus?“ „Dass wir uns schon sehr lange kennen“, erwiderte ich lächelnd. „Nein, das davor!“ „Dass ich zu gutmütig bin.“ „Richtig, richtig! Also, die Sache ist die: Du bist nett, höflich, freundlich, zurückhaltend, hilfsbereit, verständnisvoll, gewissenhaft, pflichtbewusst, rücksichtsvoll und – abgesehen von deinem etwas abgefahrenen Faible für die Etikette der Vormoderne – ein grundaufrichtiger und liebenswerter Kerl.“ „Und...das ist ein Problem?“, fragte ich ein wenig irritiert, unschlüssig, ob ich mich für dieses Kompliment bedanken sollte. „Nein, ja, ach verdammt hör mir einfach bis zum Ende zu! Das Problem ist, dass du immer alles in dich hineinfrisst. Ich kenne dich schon ziemlich lange und deshalb kann ich die Zeichen die du gibst inzwischen ganz gut deuten, aber...“, er schüttelte den Kopf, „das kannst du von diesem Jungen nicht erwarten. Keine Ahnung was er angestellt hat, dass du so sauer bist, aber wenn du‘s ihm nicht direkt ins Gesicht sagst, wird er‘s nicht verstehen.“ Er machte eine Pause, dann begann er von Neuem. „Weißt du, was dein Problem ist?“ Ich wartete gespannt darauf, welches neue Problem er mir nun als das meine eröffnen wollte. „Du bist ein Sammler.“ Fragend musterte ich ihn. Ich verstand nicht recht, was genau daran problematisch sein sollte, zumal diese Eigenschaft für einen Bibliothekar geradezu charakteristisch war. Er fing meinen Blick auf und verzog das Gesicht. „Sieh mich nicht so an! Ich rede nicht von deinen verdammt...interessanten Büchern“, gelang es ihm im letzten Moment, seine eigentliche Aussage zurückzunehmen. „Es geht um deine Gefühle! Etwas ärgert dich und du sagst nichts. Jemand kränkt dich und du sagst nichts. Herrgott noch mal, selbst wenn du in jemanden verliebt bist sagst du nichts! Und immer überlässt du es anderen, deine Gesten zu interpretieren!“ Ich wollte etwas erwidern, doch Anoha hob abwehrend die Hand, noch bevor ich die leise Kränkung die ich empfand in Worte kleiden konnte. „Das ist kein Vorwurf, Miguel. Ehrlich, es ist sogar etwas, das ich ziemlich gerne an dir mag, aber du schadest dir damit vor allem selbst. Ich meine, es ist ja nicht so, dass du diese Gedanken und Gefühle nicht hättest. Aber weißt du, du zerdenkst immer alles. Du machst immer alles mit dir selbst aus. Die Gefühle stauen sich an und BUMM, irgendwann gibt es die große Explosion.“ Ich musste zugeben, dass er nicht unrecht hatte. Es war ganz zweifellos eine meiner Schwächen, dass ich zu viel über bestimmte Dinge nachdachte, ohne sie jemals zur Sprache zu bringen. Gedankenverloren sah ich vor mich hin und schrak zusammen, als Anoha plötzlich heftig mit der Hand auf den Tisch schlug. „Da! Du tust es schon wieder. Sag doch einfach was du denkst!“ „Vielleicht hast du recht“, erwiderte ich langsam, doch er unterbrach mich. „Danke, aber warte, ich gebe dir ein Beispiel. Erinnerst du dich daran, wie du mir damals eine Ohrfeige verpasst hast?“ Betroffen senkte ich den Blick. Es dauerte einen Moment, bis ich ihm antworten konnte. „Ja und ich schäme mich noch heute dafür.“ „Und das ist falsch“, sagte er und als ich den Kopf hob sah ich, dass er mit dem Finger auf mich zeigte. „Du hattest nämlich allen Grund dazu. Ich hatte sie verdient. Und weißt du was das Gute daran war?“ „Nein.“ „Dass ich es in diesem Moment kapiert habe. Dass ich ein verdammter, unsensibler, egoistischer Klotz war, der nur Müll geredet und überhaupt nicht verstanden hat, wie sehr dich die Trennung von Sarah verletzt hat. Du warst so ruhig und gefasst, dass ich einfach nicht begriffen habe, dass es dir verdammt noch mal das Herz gebrochen hat. Dass ich in einer klaffenden Wunde herumgestochert, ach was, gewühlt habe, die du so mühsam versteckt hattest. Und ich hatte dich auch noch dazu gebracht etwas zu tun, das du eigentlich strikt ablehnst – Gewalt anzuwenden und jemandem Schmerzen zuzufügen. Glaub mir, ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so schäbig gefühlt, wie in diesem Moment. Weil ich die verdammten Zeichen, die du mir gegeben hast, nicht gesehen habe. Weil ich auf dir herumgetrampelt bin, anstatt dir aufzuhelfen. Weil ich – weil du immer so aufrecht vor mir standest – nicht bemerkt habe, dass du längst am Boden lagst.“ Er hielt inne und der Raum war erfüllt von bedrückendem Schweigen. Es war lange her, dass ich so deutlich an jene Ereignisse erinnert wurde. Und mit den Erinnerungen, kehrte auch der Schmerz zurück. Nicht so stark wie früher, nein, bei weitem nicht so stark, aber er waren immer noch da. Meine Gedanken drohten abzudriften, sich erneut in den Ereignissen jener Zeit zu verlieren, doch Anohas Stimme holte mich in die Gegenwart zurück. „Da habe ich dich zum ersten Mal weinen sehen. Ich weiß noch wie mir der Kopf dröhnte, wie meine Wange glühte und deine Hand zitterte. Das war der einzige große Gefühlsausbruch, den ich jemals bei dir erlebt habe.“ Wieder schwieg er, doch diesmal kaum mehr als einen Atemzug lang. „Und deshalb, also, ich weiß ja nicht, was du mit dem Jungen vorhast, aber bevor du irgendetwas unüberlegtes tust oder eine deiner lang erwogenen, aber wieder mal nur mit dir selbst ausgemachten Entscheidungen fällst, sprich mit ihm. Bind ihn an einen Stuhl oder fessel ihn ans Bett wenn es sein muss, aber rede mit ihm.“ Er schnaubte missbilligend. „Obwohl ich persönlich ihn ja mit einem Tritt in den Hintern vor die Tür setzen würde. Und ich hoffe sehr, dass du das auch tust, falls das Gespräch nicht das bewirkt, was du dir erhofft hast.“ Ich musste lachen. Er erinnerte mich so sehr an den Anoha, wie er früher gewesen war. Zu einer Zeit, in der wir uns verstanden und einander häufig Gesellschaft geleistet hatten. „Ja, das wäre wohl das Vernünftigste“, erwiderte ich und wusste, dass er recht hatte. Ich musste ohnehin irgendwann eine Entscheidung treffen. „Eben“, bekräftigte er, bevor ich wieder in Grübelei verfallen konnte. „Aber hör mal Miguel.“ „Noch ein Problem, das ich habe?“, fragte ich augenzwinkernd und er grinste. „Nein, weil ich es zu lösen gedenke, bevor es eines wird.“ „Oh?“ „Ich weiß du bist einsam und dass obwohl wir beide wissen, dass dir das nicht gut bekommt. Leugnen ist zwecklos. Wenn du dir so einen Charmebolzen ins Haus holst und dich auch nach Monaten noch nicht nach einer anderen Unterbringungsmöglichkeit umgesehen hast, spricht das ja wohl für sich.“ „Verzeihung“, unterbrach ich ihn, „was war das für ein Wort? Das mit Charme am Anfang.“ Anoha winkte ab. „Ach schon gut, schon gut, spar dir das dozieren. Ich weiß, dass meine Ausdrucksweise nicht die beste ist.“ Etwas, das sie auch nie gewesen war. Ich lächelte ihn entschuldigend an. „Nein, du missverstehst mich. Ich wollte dich fragen, was es bedeutet.“ Er musterte mich zweifelnd, als sei er nicht sicher, ob er diesen Begriff meinem Wortschatz hinzufügen sollte. „...Dass er keinen Charme besitzt und zwar in dem Sinne, dass er ein ziemlich unangenehmer Zeitgenosse ist.“ „Charmebolzen“, wiederholte ich nachdenklich und er verfiel in ausgelassenes Gelächter. „Wenn du es sagst, ist es echt zum Brüllen!“ Ich verzog ein wenig pikiert das Gesicht und er beeilte sich, mich wieder zu besänftigen. „Schon gut, schon gut. Also, was ich eigentlich sagen wollte, ist, du kannst ruhig öfter vorbeikommen. Außerdem kenne ich eine Menge interessanter Leute. Ich könnte dir ein paar ganz reizende junge Damen vorstellen.“ „Ich fürchte, das ist keine besonders gut Idee“, bemerkte ich mit leichtem Zweifel in der Stimme, lächelte jedoch. Es freute mich, dass er so um mich und mein Wohl besorgt war. „Wieso? Zweifelst du an meinem Geschmack?“ „Nein, es ist nur... Ich denke nicht, dass ich besonders interessant bin – schon gar nicht für junge Damen.“ Mit einer einfachen Handbewegung schob er meinen Einwand beiseite. „Du siehst gut aus, du hast Geld und im Gegensatz zu mir sind deine Manieren tadellos. Und wenn du jemanden liebst, dann tust du es mit absoluter Hingabe. Was kann sich eine Frau denn mehr wünschen?“ Eine ganze Menge, dachte ich, sprach es jedoch nicht aus. Stattdessen fragte ich ihn: „Denkst du nicht, dass du mir ein wenig zu sehr schmeichelst? Deine Erfolge bei Frauen sprechen für dich.“ Mein Freund verzog sehr eindrucksvoll das Gesicht. „Wusstest du übrigens, dass es dir an Selbstvertrauen mangelt?“ „Bevor ich hierher kam, war mir gar nicht bewusst wie viele Probleme ich habe“, bemerkte ich lächelnd. „Nun, dafür hast du ja mich.“ Ich lächelte still vor mich hin und wir schwiegen eine Weile, bis Anoha schließlich mit einem Ausdruck der Entschlossenheit auf dem Gesicht in die Hände klatschte. „So, und nun genug von all den ernsten Themen. Darüber werde ich immer ganz trübsinnig.“ Ich konnte es mir nicht vorstellen, nicht bei Anohas Charakter. Er war ein zu positiv denkender und in gewisser Weise auch leichtfertiger Mann, als dass er jemals über etwas trübsinnig geworden wäre. Aber ich wusste, dass er von jeher schlecht mit Problemen umgehen konnte und es daher vorzog, ihnen aus dem Weg zu gehen. Und da es in diesem Fall bedeutete, von meinen charakterlichen Schwächen abzulenken, hatte ich auch nicht das Geringste dagegen einzuwenden. In den folgenden Stunden sprachen wir über alles mögliche und wie üblich kam Anoha nicht umhin, mich über alle nennenswerten Ereignisse innerhalb der herrschenden Familien zu informieren. Nachdem wir die Flasche Wein, die ich ihm als Geschenk mitgebracht hatte, geleert hatten, wechselten wir zu einem ausgezeichneten Whisky. Vermutlich, weil er den Vergleich scheute und auch tatsächlich eine gewisse Gefahr bestand, dass in dieser Nacht jeder andere Wein schal schmecken würde. „Sag mal, wie findest du eigentlich meinen Kleinen?“ Ich lächelte still in mich hinein. Ich hatte mich bereits gefragt, wann er dieses Thema anschneiden würde – denn ich war sicher gewesen er würde es tun – und jetzt, da er schließlich auf Hazel zu sprechen kam, war Anoha bereits merklich angeheitert. „Er wirkte sehr nervös.“ Anoha machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ist er immer. War er schon immer. Sonst noch was?“ Ich wusste, was er hören wollte und beschloss, ihn nicht länger auf die Folter zu spannen. „Nun, er ist hübsch.“ „Das ist alles?“, fragte er sichtlich enttäuscht, da ihm mein Lob zweifellos nicht überschwänglich genug gewesen war. „Was möchtest du denn hören?“ Anstatt zu antworten leerte er sein Glas in einem Zug und schenkte sich erneut Whisky nach. Er musterte mich, dann neigte er sich zu mir, seine Stimme hatte einen leisen, vertraulichen Klang. „Möchtest du ihn mal ausprobieren?“ „Anoha!“, erwiderte ich streng und auch ein wenig vorwurfsvoll. Ich wusste, dass diese Art zu denken von Anohas Bekanntschaften auf diversen Partys herrührte. Von Freunden, die ihm meiner Meinung nach nicht gut taten und die der Grund dafür waren, dass Anoha und ich uns auseinander gelebt hatten. „Was denn?“, fragte er und schmollte dabei wie ein kleines Kind. „Er ist wirklich gut. Er würde dir gefallen und da du mein Freund bist, würde ich es dir erlauben.“ Ich seufzte und schüttelte den Kopf. Was sollte ich dazu sagen? Einerseits war es sehr nett von Anoha, dass er mich so offen als seinen Freund bezeichnete, einen Status den ich bereits verloren zu haben geglaubt hatte. Und auch die Tatsache etwas mit mir teilen zu wollen, das für ihn offensichtlich einen nicht zu unterschätzenden Wert besaß, war durchaus ein feiner Zug von ihm. Nur, dass wir hier von einer Person sprachen und ich ihm klar machen musste, dass dieses Angebot ziemlich daneben war. „Du weißt, dass ich sowas nicht mag.“ „Ja, ja. Er hätte dir trotzdem gefallen“, schmollte er noch immer und so beschloss ich, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. „Ist ja gut. Du sagtest, er sei schon immer so gewesen. Also kanntest du ihn von früher?“ „Ja. Ich war zwei, drei Mal bei Urag eingeladen, da hab ich ihn gesehen – und auch mal mit ihm gesprochen. Da hieß er noch Undine. Bescheuerter Name, oder?“ Ich nickte zustimmend. Mir war ein ähnlicher Gedanke durch den Kopf gegangen. „Na jedenfalls war er da auch schon so. Hat kaum die Kiefer auseinander gekriegt, als ich mich mit ihm unterhalten habe. War immer darauf bedacht ja alles richtig zu machen. Ich fand ihn süß, aber Urag wollte ihn natürlich nicht rausrücken. Also hab ich im Scherz zu ihm gesagt, dass er ihn zu mir schicken soll, wenn er irgendwann mal genug von ihm hat. Dem Kleinen hab ich‘s auch gesagt. Und dann stand er eines Nachts vor meiner Tür. Da hab ich erst erfahren, dass Urag tot ist.“ „Noël gehörte auch zu Urags Gefolge. Hast du ihn dort nie gesehen?“ „Ach Miguel. Der Mann hatte dutzende von Sklaven, wahrscheinlich sogar hunderte.“ Er klang wenig hoffnungsvoll, dennoch war ihm anzusehen, dass er ernsthaft darüber nachdachte. „Warte mal... Doch, da war etwas...“ In gespannter Erwartung betrachtete ich meinen Freund und hoffte, dass seine Erinnerung noch ein wenig mehr zutage fördern würde, als mir bisher bekannt war. Eine Weile dachte er angestrengt nach, dann schnippte er plötzlich mit den Fingern und sah mich mit einem Ausdruck des Triumphs an. „Ha! Ich hab's! Urag hat damals irgendeine Bemerkung über Gehorsam gemacht. Undine hat er lobend erwähnt, während er ihn begrapscht hat und dann sagte er irgendetwas davon, dass es letztlich nur eine Frage der richtigen Erziehung sei – oder so ähnlich. Na egal, jedenfalls dreht er sich dabei halb nach hinten um und sagt mit einem ekelhaften Grinsen „Nicht wahr Noël?“. Ich bin vorhin nicht drauf gekommen, weil er es ganz anders ausgesprochen hat als du. Wirklich, jetzt wo ich daran denke, er hatte eine Art diesen Namen auszusprechen, dass man eine Gänsehaut davon bekam.“ „Du hast ihn nicht wiedererkannt.“ „Nein, es war ja nur ein kurzer Moment. Außerdem sah er damals ganz anders aus. Urag hatte da gerade so ein Faible für Rothaarige, deshalb hat er allen die Haare färben lassen. Außerdem sah der Junge aus, als wäre er unter eine Kutsche geraten. Ich hab ja nur sein Gesicht und seine Hände gesehen, außerdem war das Licht schlecht, aber ich wette, du hättest alles finden können, was der Farbkasten hergibt.“ Ich schauderte. „Eigentlich mochte Urag Gerede, also ich meine, wenn etwas los war und es hoch herging. Deshalb habe ich auch nicht kapiert, warum sie damals alle nicht geredet haben. Ich wusste ja von anderen Besuchern, dass sie es sehr wohl konnten. Undine, Hazel, hat mir später erzählt, dass das auch so eine Marotte von Urag war. Obwohl Marotte es wohl nicht so ganz trifft. Er hat sich immer neue Dinge einfallen lassen, um seine Dienerschaft zu schikanieren. Bei meinem Besuch damals hatte er gerade die Grabesstille ausgerufen. Niemand spricht, außer er wird von Urag persönlich dazu aufgefordert. Na, du kannst dir sicher vorstellen wie lustig das die feinen Herren fanden, die dort vorbeikamen. Haben sicher viel Spaß dabei gehabt sie dafür zu bestrafen, dass sie nicht höflich antworteten, wenn sie was gefragt wurden. Übrigens waren Laute jeglicher Art in jeglicher Situation verboten.“ Es brauchte nicht viel Fantasie um sich vorzustellen, was das für die Erschaffenen bedeutet hatte. Mir lief ein Schauder über den Rücken und mit einem Mal fiel mir das Schlucken schwer. „Hazel hält sich übrigens bis heute daran. Alles richtig machen und bloß nichts falsches sagen.“ „Warum hast du...“, begann ich, doch er fiel mir ins Wort. „Warum ich ihnen damals nicht geholfen habe?“ Er schnaubte. „Weil es mich nicht interessiert hat und ich wusste, dass es sowieso nichts nützen würde. Urag hatte sie geschaffen, sie waren sein Eigentum und er konnte mit ihnen tun und lassen was er wollte. Du weißt genauso gut wie ich, dass sie keine Rechte haben. Jetzt da Urag tot ist regen sich alle auf, aber wer hat denn etwas gegen ihn unternommen? Jeder wusste von ihm und davon, was er tat. Manche weniger, andere mehr, aber gewusst hat es jeder. Auch du, Miguel.“ Ich senkte betreten den Blick. Er hatte recht und ganz gleich wie viel Reue ich auch empfinden mochte, ich konnte es nicht ungeschehen machen. „Mach dir nichts draus, es hätte sowieso nichts geändert. Selbst wenn er den Unwillen der Obrigkeit erregt hätte, dann hätte er eben vorübergehend niemanden mehr eingeladen oder sie zum Stillschweigen verpflichtet. Was soll‘s? Er hätte genau so weitergemacht wie bisher, nur eben ohne Publikum.“ „Das meinte ich nicht“, sagte ich und spülte den bitteren Geschmack in meinem Mund mit einem Schluck Whisky hinunter. „Was?“ „Ich wollte dich eigentlich etwas anderes fragen.“ „Oh.“ Er wollte es mir gleich tun, doch sein Glas war bereits leer. Wortlos schenkte ich ihm nach. „Danke. Also, was wolltest du wissen?“ „Wenn du es weißt, ich meine, wenn du weißt, was Urag ihm angetan hat, warum ängstigst du ihn dann noch mehr?“ Er drehte das Glas in seiner Hand und sah mich eine ganze Weile wortlos an. Dann beugte er sich plötzlich vor und begann in rasantem Tempo zu sprechen: „Okay, ich gebe es zu, ich hab Spaß daran. Ja, es macht mir Spaß Streiche zu spielen, wie das vorhin mit dem Fenster. Und ja, ich mag es Leute aufzuziehen und nochmal ja, ich finde es einfach umwerfend, wenn er mich mit seinen großen Rehaugen anschaut und zittert wie ein frierender Welpe. Okay? Das find ich so fantastisch, dass ich ihn am liebsten auf der Stelle flachlegen möchte, klar?“ Ich war sprachlos. Sein plötzliches Geständnis hatte mich vollkommen aus dem Konzept gebracht. Bevor ich jedoch die Zeit hatte mich zu sammeln, begann er bereits mit einer Erklärung. „Aber ich mache ihm verdammt noch mal nicht absichtlich Angst, okay? Erinnere dich bitte an unser Gespräch in der Empfangshalle. Was hast du gedacht als ich mit ihm gesprochen habe und du seine Reaktion gesehen hast?“ Ich überlegte kurz, dann antwortete ich: „Dass er offenbar mehr weiß als ich. Er hat gezittert wie Espenlaub, obwohl ich keine Drohung aus deinen Worten herausgehört habe.“ „Eben! Ich habe ihm auch nicht gedroht. Ich habe ihn ein bisschen aufgezogen, weil er so fahrig war und das obwohl er doch immer so darum bemüht ist alles perfekt zu machen. Dass er mir Schande bereitet, weil er euch 10 Sekunden später als üblich die Mäntel abnimmt! Ha! Wer glaubt denn sowas?“ „Er hat es geglaubt“, erwiderte ich ruhig und sofort lenkte Anoha, sichtlich zerknirscht, ein. „Ich weiß, ich weiß! Verdammt ich weiß, dass ich nicht ganz einfach bin und ich war auch bestimmt nicht immer nett zu ihm, aber ich schwöre dir, ich habe ihn nicht ein einziges Mal bestraft!“ Ich dachte einen Moment darüber nach, dann sagte ich: „Aber er schläft mit dir.“ Anoha blickte grimmig drein. „Nein, ich schlafe mit ihm.“ „Du zwingst ihn doch nicht dazu?“, fragte ich, ebenso ruhig wie zuvor. „Nein! Ja. Ich weiß es nicht, verdammt! Er lehnt nicht ab und er wehrt sich nicht, okay? Und wenn du sehen könntest, wie er mich dabei anschaut und umarmt, dann hättest du keinen Zweifel daran, dass es ihm gefällt.“ Ich dachte eine Weile darüber nach, dann fragte ich ihn: „Möchtest du eine Vermutung hören?“ „Sicher, ich bin ganz Ohr.“ Ich verschränkte die Finger ineinander und neigte mich ein wenig nach vorn. „Also erstens, er hat Angst vor Bestrafung, vermutlich gewaltsamer, körperlicher Art.“ „Da bin ich sicher, akzeptiert.“ „Zweitens, womöglich hat er gar keine Angst vor dir, sondern davor dir lästig zu werden und dass du das Interesse an ihm verlieren und ihn verstoßen könntest. Das würde ihn mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben kosten. Und wenn er dich mag, dann hat er noch weitaus mehr zu verlieren.“ Anoha starrte mich an, als hätte ich ihm den heiligen Gral auf einem Silbertablett gereicht. „Meinst du wirklich? Ich meine, das hältst du für möglich? So habe ich es noch nie betrachtet.“ Er hatte sich ganz offenbar auf den zweiten Teil meiner Aussage konzentriert und ich wollte ihn weder entmutigen, noch ihm falsche Hoffnungen machen. „Wie gesagt, es ist nur eine Vermutung. Aber warum fragst du ihn nicht selbst?“, fügte ich neckend hinzu und er verzog augenblicklich das Gesicht. „Mit den eigenen Waffen geschlagen! Was bin ich doch für ein Glückskind! Weißt du was mein Problem ist? Ich pflege Freundschaft mit einem Mann, der so verdammt intelligent ist, das ich mir neben ihm immer wie ein Idiot vorkomme.“ Ich lächelte. „Wie nett. Stellst du ihn mir mal vor?“ „Besser nicht. Ihr könntet euch verstehen“, erwiderte er grinsend und ich nahm das Kompliment mit einem stillen Lächeln entgegen. „Aber sag mal, warum fütterst du ihn nicht, wenn er so hungrig ist?“, nahm ich das Thema wieder auf und als Antwort seufzte mein Freund tief. „Wenn das so einfach wäre! Manchmal denke ich, Hazel wäre in einem Kloster bestens aufgehoben. Aber wer weiß, wo Urag ihn aufgelesen hat. Mir persönlich macht das Füttern sehr viel Spaß, aber er zögert es immer so lange hinaus, bis er wirklich kaum noch stehen kann. Keine Ahnung ob er sich etwas beweisen will oder einfach Angst hat, sich jemandem so auszuliefern.“ „Oder dir lästig zu werden“, erinnerte ich ihn und er warf mir einen mürrischen Blick zu. „Blödsinn!“ „Sag es ihm“, erwiderte ich freundlich und bemerkte das Unbehagen, das diese Forderung bei ihm auslöste. „Jedenfalls ist er dann jedes mal völlig entkräftet und sehr anschmiegsam.“ Er unterstrich seine Worte mit einem genussvollen Schnurren. Dann beugte er sich plötzlich nach vorn und sah mich mit einem Ausdruck größten Interesses an. „Wie ist das bei euch?“ Diesmal war es an mir, meine Mundwinkel in Richtung meines Herzens zu bewegen. „Beim ersten Mal hat er mich fast umgebracht:“ Anoha zog die Brauen hoch. „Wow, liebenswertes Kerlchen.“ „Ansonsten... Ich weiß nicht, es kommt mir eher wie eine Pflichtübung vor.“ Er sah mich ungläubig an. „Echt? Also ehrlich und du behältst ihn bei dir, weil?“ Ich lachte verlegen. „Wie du schon sagtest, ich fürchte, die Einsamkeit bekommt mir nicht besonders gut. Aber noch mal zu etwas anderem. Ich habe kürzlich mit Kenai Ichimura über die Erschaffenen gesprochen.“ „Tatsächlich?“, fragte er interessiert. „Erzähl!“ Ich berichtete ihm, was Ichimura mir über die Erschaffenen erzählt hatte und Anoha hörte aufmerksam zu. Das freute mich, weil es bedeutete, dass ihm wirklich etwas an Hazel lag. Nachdem ich meinen Bericht beendet hatte schwiegen wir beide und als mein Freund schließlich wieder das Wort ergriff, klang er sehr nachdenklich. „Klingt, als sollte ich dafür sorgen, dass Hazel seine Essgewohnheiten noch einmal überdenkt.“ „Möglich, da kann ich dir leider nicht weiterhelfen. Ihr werdet selbst herausfinden müssen, was für ihn am besten ist.“ „Hm“, er nickte nachdenklich, dann hielt er inne und sah zu mir auf. „Was ist?“ „Ich dachte nur, es ist schön, dass du jemanden gefunden hast, der dir so am Herzen liegt“, antwortete ich und lächelte ihn sanft an. „Du liegst mir auch am Herzen“, murrte er und auf seinen Wangen zeichnete sich eine bemerkenswerte Röte ab. „Danke.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Keine Ursache.“ Erneut verfielen wir in Schweigen, jeder in Gedanken versunken. „Sag mal, stimmt es, dass Urag von einem seiner eigenen Gefolgsleute ermordet wurde?“ Ich hatte das Gefühl als würde sich ein schwerer Gegenstand in meiner Kehle festsetzen. „Warum fragst du?“ „Die Sache wurde so hochgeputscht. Steel – du kennst ihn doch? – war hier und hat Fragen gestellt. Hazel hat gesagt er wüsste nicht wer es getan hat, aber ich vermute, er hat ihm nicht geglaubt.“ „Und du?“ „Ich?“ Er seufzte. „Ich weiß nicht. Er selbst war es nicht, dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen. Er ist viel zu ängstlich und würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Er hätte auch gar nicht die Kraft dazu, einen Vampir wie Urag zu überwältigen. Nein, er war es nicht, da bin ich mir absolut sicher.“ Nachdenklich starrte er einen Moment ins Leere, dann fuhr er fort: „Vielleicht weiß er wirklich nicht wer es getan hat. Es würde allerdings zu ihm passen Stillschweigen zu bewahren, besonders wenn er die Person gut kannte. Es gab wohl nicht sehr viele Überlebende aus Urags Gefolge und Steel hatte vor sie alle zu befragen.“ „Ja, bei mir war er auch.“ „Und, was hat Noël dazu gesagt?“ „Er hat nicht mit ihm gesprochen. Steel und ich haben uns unterhalten.“ „Aha. Und was hat Noël nun dazu gesagt?“ „Er schien nicht gerade traurig darüber zu sein, dass Meister Urag getötet wurde“, antwortete ich nach einigem Zögern. Ich bedauerte es sehr, meinem Freund nicht die Wahrheit sagen zu können, auch wenn ich ihn nicht belogen hatte. Im Augenblick war es einfach zu gefährlich, ihn in die ganze Geschichte einzuweihen. Glücklicherweise hakte er nicht weiter nach. „Hah! Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Nimm‘s mir nicht übel, aber der Mistkerl hat bekommen was er verdient! Gelobet sei die Hand, die uns von ihm befreite, Amen!“ Diesmal sah ich davon ab ihn zu tadeln. „Nebenbei, wo hast du ihn eigentlich gefunden?“ Ich schilderte ihm in knapper Form die Ereignisse jener Nacht. Die Details, die Aufschluss darüber hätten geben können, dass Noël derjenige war, dem Urag sein Ableben zu verdanken hatte, ließ ich jedoch aus. Vielleicht würde ich Anoha eines Nachts ins Vertrauen ziehen, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Anoha nahm einen Schluck aus seinem Glas und ich folgte seinem Beispiel. „Anoha“, fragte ich ihn nach einigen Minuten des Schweigens, „hast du Hazel eigentlich zu deinem Gefolgsmann gemacht?“ „Nein. Urag ist tot, es erschien mir unnötig.“ Nachdenklich wog ich das Glas in meiner Hand. „Vielleicht solltest du es tun. Meister Urags plötzlicher Tod hat für ziemlichen Wirbel gesorgt und ich werde das Gefühl nicht los, dass Steel nicht der Letzte war, der sich für die von ihm Erschaffenen interessiert.“ Anoha schien einen Augenblick darüber nachzudenken, dann stimmte er mir zu. „Vielleicht hast du recht. Ich habe nicht vor, ihn mir von irgendjemandem streitig machen zu lassen. Nach dem was du berichtet hast bleibt nur zu hoffen, dass ich mächtiger bin als unser Freund Urag es war.“ Ich nickte ernst und fügte dann mit leisem Bedauern hinzu: „Ich wünschte, ich könnte das Gleiche für Noël tun.“ Er grinste. „Na hör sich das einer an. Du willst dir den kleinen Drachen also echt halten? Ich fange ja lieber mit einem Kätzchen an, aber wenn du natürlich mehr auf die großen bösen Fleischfresser stehst...“ Ich spürte wie mein Gesicht heiß wurde. Ich hatte es gar nicht laut sagen wollen, aber nun war es zu spät. „Ach sei still!“, murrte ich. „Ich übernehme die Verantwortung, das ist alles.“ Noch während ich es sagte wurde mir klar, dass ich es selbst nicht glaubte – und Anoha selbstverständlich auch nicht. „Ja natürlich“, meinte er ironisch, indem er das ‚ü‘ unnötig in die Länge zog. Dann fragte er, diesmal ernster: „Mal im Ernst, willst du mit ihm schlafen?“ „Darüber habe ich ehrlich gesagt noch nicht nachgedacht“, gestand ich. „Mach keine Witze! Im Ernst? Grundgütiger, an dir hat der Himmel echt eine unschuldige Seele verloren.“ „Sehr komisch.“ „Nein, im Ernst! Glaubst du ich hab Hazel hier aufgenommen, weil ich braune Augen so mag? Nein, nein. Ich wollte ihn schon flachlegen, da hat er noch ganz und gar Urag gehört.“ „Und ich bin ein Idiot, weil ich nicht andauernd daran denke mit jemandem ins Bett zu steigen?“ „Na ja, zumindest ein hoffnungsloser Romantiker.“ Das Grinsen auf seinem Gesicht wurde noch eine Spur intensiver. „Und dafür hast du dir absolut zielsicher den Falschen ausgesucht. Ich wette der Kleine steht drauf richtig hart genommen zu werden. Die Kuscheltour kannst du bei dem vergessen.“ „Da er kein Interesse hat, wird nichts dergleichen stattfinden“, erwiderte ich, bemüht meine Stimme distanziert klingen zu lassen. Doch so leicht ließ sich Anoha nicht abschütteln. „Aber du hast Interesse?“, bohrte er weiter. „Das habe ich nicht gesagt“, erwiderte ich ausweichend, doch er grinste nur und ich fühlte mich dabei äußerst unbehaglich. Von fern drang der Klang einer Kirchenglocke an mein Ohr und verkündete die vierte Stunde. „Was denn, so spät schon? Ist ja nicht zu fassen“, stellte Anoha fest und streckte sich. Er wirkte in Gedanken versunken, doch nur einen Moment später war er wieder voller Tatendrang. „Na schön, da ich weiß, dass du es sowieso aufschieben wirst, wirst du mir jetzt hoch und heilig versprechen, dass du mit Noël darüber redest was du denkst und was du willst. Klar?“ Ich lächelte. „Und du wirst mir versprechen, dass du aufhörst Hazel zu ängstigen und ihm sagst, dass du ihn viel zu gern hast, als dass du ihn wegschicken würdest.“ Anoha verzog das Gesicht. „Miguel. Das ist nicht fair“, quengelte er, doch ich blieb unerbittlich. „Aber vermutlich das Beste, das wir beide im Augenblick tun können.“ Ich streckte ihm die Hand entgegen und nach einigem Zögern ergriff und schüttelte er sie. Damit war das Versprechen besiegelt. „Schön, dass du mich mal wieder besucht hast“, sagte Anoha, hielt dann jedoch argwöhnisch inne. „Was lächelst du so komisch?“ „Ach, es ist nur, ich freue mich zu sehen, dass du dich doch nicht allzu sehr verändert hast. Als ich deine Einladung bekam, war ich ziemlich skeptisch.“ „Du verschickst ja keine“, grummelte er und ich gelobte feierlich Besserung. „Tja dann“, bemerkte er zufrieden, „danke nochmal für den Wein. Und kommt gut nach Hause ihr beiden.“ Gemeinsam erhoben wir uns – und erstarrten im selben Moment. Wortlos sahen wir einander an, die Augen in unausgesprochenem Erstaunen aufgerissen. „Miguel?“, fragte Anoha vorsichtig, wohl um sich zu vergewissern, dass er sich nicht irrte, dass ich es ebenso bemerkt hatte. Der Klang seiner Stimme löste mich aus meiner Starre und ich stürzte zur Tür. Kapitel 14 - Ende Kapitel 15: ------------ Beginn: 11.02.2011 Ende: 06.02.2012 Kapitel 15 Kein Zweifel – es war der Geruch von Blut. Blut, das einmal mein eigenes gewesen war. Und das bedeutete... Ich hastete die Stufen hinauf und riss die Tür zu dem Zimmer auf, aus dem der Geruch strömte. Sie saßen auf dem Boden. Kauerten beieinander und sahen zu mir auf wie zwei Kinder, die man bei etwas Verbotenem ertappt hatte. Nur ein einziger Blick und ich wusste was sie getan hatten – und wessen Idee es gewesen war. Zorn stieg in mir auf. Eine heftige, nie gekannte Wut, bereit dazu, jedes logische Denken auszulöschen. Es kostete mich erhebliche Mühe, sie zu beherrschen. Nicht zuzulassen, dass ich etwas tat, das ich bereits einmal getan hatte und bis heute bitter bereute, auch wenn Anoha es mir verziehen hatte. „Anoha möchte etwas mit dir besprechen“, sagte ich an Hazel gewandt, der sich daraufhin hastig das Blut von den Lippen wischte. Ich sah die Angst in seinen Augen, doch im Augenblick war ich nicht fähig ihm Mut zuzusprechen. Zumal ich nicht sicher sein konnte, wie Anoha auf die Nachricht reagieren würde, dass sein Diener das Blut eines anderen Vampirs getrunken hatte. „Wir gehen“, sagte ich zu Noël, „Verabschiedet euch.“ Dann verließ ich das Zimmer, ohne ihm die Gelegenheit zu einer Erwiderung oder Erklärung zu geben. Wie betäubt schritt ich die Stufen wieder hinab. „Miguel!“, hörte ich die besorgte Stimme meines Freundes, antwortete jedoch nicht. Ihm war die Befürchtung anzuhören, ich könne etwas Unvernünftiges tun und sie schien – zumindest für den Moment – größer als seine Empörung über das Verhalten seines Untergebenen. Doch ich war im Augenblick nicht in der Verfassung mit ihm darüber zu sprechen. Ich warf mir meinen Mantel über und trat hinaus in die kühle Morgenluft. Ich stand noch nah genug bei der Tür um zu hören, dass Anoha etwas sagte, ob zu Hazel oder Noël wusste ich nicht, und wenig später erschien der junge Erschaffene in der Tür. Das Unbehagen, das er empfand als er zu mir in die Kutsche stieg, war nicht zu übersehen. Ich konnte es körperlich fühlen, tat diesmal jedoch nichts, um es zu beenden. Während unserer Rückreise sah ich stur aus dem Fenster und sprach kein einziges Wort mit ihm. Ich weigerte mich strikt, irgendeinen Gedanken zuzulassen und konzentrierte mich einzig auf die Landschaft, die an uns vorbeizog. Andernfalls, so fürchtete ich, würde genau das geschehen, wovor mein Freund mich gewarnt hatte. Als wir ein paar Stunden später im Haus eintrafen, kündigten bereits die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne den neuen Tag an. Noël folgte mir, ohne, dass ich ihn dazu hätte auffordern müssen. Wohl wissend, dass er dieses Mal nicht so ohne Weiteres davonkommen würde. Ich ging in die Bibliothek, den Ort, der am ehesten Ruhe versprach und auf dessen positive Wirkung ich hoffte, und warf mich in einen der großen Lehnsessel. Ich versuchte mich auf meine Atmung zu konzentrieren und als ich bemerkte, dass meine Finger den Stoff der Polster zu zerreißen drohten, faltete ich die Hände ineinander und schloss die Augen. Ich hätte schlafen sollen, doch daran war gar nicht zu denken. Ich hätte es tun sollen, das wusste ich. Darüber schlafen, mich beruhigen und unter dem sanften Licht des Mondes noch einmal alles überdenken. Doch im Augenblick war mir eher danach, Noël eine kräftige Ohrfeige zu verpassen. Und allein die Tatsache, dass ich es in Erwägung zog, beunruhigte mich zutiefst. Die Intensität, mit der die Wut in meinem Inneren brannte und die mir vollkommen fremd war, machte mir Angst. Ich musste ihn fortschicken – unbedingt. Ich würde mit ihm reden, wie ich es Anoha versprochen hatte, aber nicht jetzt. Denn was auch immer ich in diesem Moment sagen oder tun würde, es würde mehr Schaden anrichten als es Nutzen brachte. Vielleicht mehr Schaden, als ich wieder gut machen konnte. Und vielleicht wäre es mir gelungen, den besänftigenden Worten meines Verstandes zu folgen, wenn ich nicht den Fehler begangen hätte, Noël anzusehen. „Du“, sagte ich nur mühsam beherrscht, „Wofür hältst du mich eigentlich?“ Offenbar hatte er etwas anderes erwartet, denn er sah mich irritiert an. „Wofür?!“ Meine Stimme hallte wie Donner durch den Raum. Ich erkannte sie kaum wieder. Ich erkannte mich kaum wieder. Wenn ich jetzt in den Spiegel sah, was würde ich sehen? Stattdessen beobachtete ich Noël, der unter dem Klang meiner Stimme zusammenzuckte und den Blick senkte. Herrgott noch mal, konnte sich dieser Mann nicht an die einfachsten Regeln halten?! Dass man einem Meister antwortete, wenn man etwas gefragt wurde. Dass man Vampiren, die einen höheren Rang einnahmen als man selbst, mit Respekt und Höflichkeit zu begegnen hatte. Und dass Erschaffene, die unter dem Schutz eines Meisters standen, nie und unter gar keinen Umständen ohne entsprechende Erlaubnis Blut austauschen durften! Wie in Gottes Namen sollte ich ihn beschützen, wenn er nicht fähig war, sich an die einfachsten Grundregeln zu halten?! Wenn er auf diese Weise seine Sicherheit immer und immer wieder leichtfertig aufs Spiel setzte? Meister Urag hatte ihn dafür gezüchtigt. Hatte er daraus denn gar nichts gelernt? Es musste doch auch in der Welt aus der er stammte solche Regeln geben! Dass man einem Gott diente. Dass man in der Kirche zu schweigen hatte. Dass man demütig das Haupt vor dem Herrscher des Landes senkte. Regeln die, wie unsinnig sie auch erscheinen mochten, einzuhalten waren! Natürlich führte nicht jede Zuwiderhandlung zum Tod, aber das änderte doch nichts daran, dass sie zu befolgen waren! Es waren doch nur ganz einfache Grundregeln! Jeder kannte sie! Jeder hatte sich daran zu halten! Nicht nur er, nicht nur ich, jeder! Aber er noch mehr als andere, weil er kein geborener Vampir war. Bei ihm gab es keine Entschuldigung. Jede einzelne seiner Handlungen würde mit Argusaugen überwacht, daran konnte auch ich nichts ändern! Im Grunde machte ich mich schon lächerlich, indem ich ihn gewähren ließ. Anoha war jung und lebhaft genug, um darüber hinwegzusehen. Die Mehrzahl der Adligen war es nicht. Sie würden kurzen Prozess mit ihm machen. Und da Noël nicht mein Gefolgsmann, sondern nur ein Gast in meinem Hause war, würde es ihnen leicht fallen, denn sie mussten mich nicht einmal um Erlaubnis fragen. Und hatte er nur ein einziges Mal darüber nachgedacht, was dieses Verhalten – jenseits aller Konventionen – für seine Lebensspanne bedeuten konnte? Was mein Blut mit seinem Körper und mehr noch seinem Verstand anrichten konnte?! Wütend schlug ich mit der Hand auf die Armlehne des Sessels. Gefolgsmann oder nicht, er schuldete mir eine Erklärung. Warum also schwieg er jetzt? Bei Gott, ich hasste es! Hasste es, dass er mir nicht ins Gesicht sah. Dass er nicht mit mir sprach. Dass er mich nur in meinem Haus aufsuchte, wenn er hungrig war. Dass er nur hierher kam um mein Blut zu trinken und ich ansonsten Luft für ihn war. Dass er das Einzige, das uns verband, so leichtfertig weggab. Ja, ich hasste es. Nie zuvor war mir dies so bewusst geworden wie in dieser Nacht. Und allein den Gedanken daran zuzulassen, kam mir wie eine Befreiung vor. Aber ich konnte es ihm nicht sagen. Nicht jetzt, da ich so voller Wut und meine Worte so völlig aus dem Zusammenhang gerissen waren. Wenn ich es ihm jetzt sagte, hatte er nicht einmal die Chance es zu verstehen. Frustriert ballte ich die Hände zu Fäusten und schloss die Augen. Das Gespräch mit Anoha hatte mich dazu bewogen einzusehen, dass ich unbedingt mit Noël sprechen musste. Dass ich aufhören musste, diese Unterredung und die daran geknüpfte Entscheidung vor mir herzuschieben. Und ich hätte es getan, wenn Noël dieses Vorhaben nicht mit einer einzigen großen Dummheit zunichte gemacht hätte. Dabei hätte er mich nur fragen müssen! Glaubte er denn ernsthaft ich verstünde nicht, was ihn dazu bewogen hatte? Nicht einmal mich darum zu bitten hätte ich von ihm verlangt! Das Einzige, das er hätte tun müssen, war, mich und Anoha um Erlaubnis zu fragen! Doch er hatte es nicht getan. Hatte nicht getan, was er unbedingt hätte tun müssen und sei es nur der Form halber! Aber nun war es zu spät. Er hatte sich darauf verlassen, dass ich ihm verzeihen würde. Dass ich freundlich und verständnisvoll über sein Verhalten hinwegsehen würde – genau so, wie ich es bisher getan hatte. Und das machte mich wütend. Ich war nachsichtig mit ihm gewesen. Immer und immer wieder. Dass er es genutzt, um nicht zu sagen ausgenutzt hatte, war eine Sache, aber dass er es nun auch noch gegen mich verwendete, das ging zu weit. Er war zu weit gegangen und an der Art wie er vor mir stand, den Kopf gesenkt, erkannte ich, dass auch er es wusste. Und dass er ausgerechnet in einem Moment wie diesem nicht zu streiten bereit war, machte mich rasend. „Deine letzte Mahlzeit ist noch keine 24 Stunden her“, stellte ich wütend fest und hielt unerbittlich meinen Blick auf ihn gerichtet. „Nachdem du deinen Freund mit Blut versorgt hast, dürftest du hungrig sein. Ich nehme an du erwartest jetzt von mir, dass ich dir erneut mein Blut zu trinken gebe.“ Meine Stimme klang kühl und distanziert, als wolle sie die Flammen der Wut niederkämpfen, die in meinem Inneren loderten. Ich musterte ihn und ließ ihn spüren, wie eingehend ich es tat. Ja, ich konnte es sehen. Sehen, dass er hungrig war. Die flüchtigen Blicke, die er mir wieder und wieder zuwarf, ohne dass sie ihm selbst bewusst waren. Die kaum wahrnehmbare Unruhe, die ihn erfasst hatte. Wie er es vermied mich anzusehen, weil er befürchten musste, dass ich es sofort bemerkte. Und doch wagte er nicht, es auszusprechen. „Also“, begann ich erneut, „ich frage dich noch einmal. Wofür hältst du mich?“ Eine Weile herrschte Schweigen, war im Raum einzig das Ticken der großen Standuhr zu vernehmen. Es schien eine kleine Ewigkeit zu dauern, doch schließlich hob Noël den Kopf und sah mir in die Augen. „Für meinen Meister.“ Ich war sicher ich wäre aufgesprungen, wenn ich nicht das Gefühl gehabt hätte, als hätte er mir eine Nadel von der Größe einer Degenklinge in die Brust gerammt. Entgeistert starrte ich ihn an. Und in diesem Moment wurde mir bewusst, wie sehr ich in Wahrheit darauf gehofft hatte, eines Nachts diese Worte von ihm zu hören. Dass er sie jetzt aussprach, während er mich mit ruhigen, beinahe ausdruckslosen Augen ansah, dass er sie sagte, nur um zu bekommen was er wollte, das war mehr als ich ertragen konnte. Dass er diese Worte, diesen Wunsch gegen mich verwendete, damit ich ihm verzieh und stillschweigend mein Blut gab – das war selbst für mich zu viel. Ich musste gehen – auf der Stelle. Wenn ich ihn auch nur einen Moment länger in meiner Gegenwart duldete, dann... „So?“, erwiderte ich kühl und erhob mich. „Nun, in diesem Fall ist es die Entscheidung deines Meisters, dass du heute Nacht hungrig bleibst.“ Mit diesen Worten ging ich an ihm vorbei und verließ den Raum. Und diesmal folgte Noël mir nicht. Kapitel 15 - Ende Kapitel 16: ------------ Beginn: 06.02.2012 Ende: 06.02.2012 Kapitel 16 Wütend warf ich mich auf mein Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte zur Decke hinauf. Ich würde an diesem Tag keinen Schlaf finden, das wusste ich. Die vertraute Müdigkeit, die die Strahlen der aufgehenden Sonne bewirkten, würde sich nicht einstellen. Natürlich hätte ich mich ebenso gut in meinen Sarg legen können. Ich wäre binnen Sekunden in einen todesähnlichen Zustand verfallen und von allen Gedanken und Eindrücken dieser Nacht befreit worden. Doch es gab zu vieles, über das ich nachdenken wollte, nachdenken musste und ich würde nicht eher Ruhe finden, als bis dies geschehen war. Es gab viele Fragen, die ich mir, wie unangenehm sie auch immer sein mochten, stellen musste. Ich dachte daran, was Anoha zu mir gesagt hatte. Dass ich nie sagte, was ich wollte. Nun gut, das konnte ich ändern. Sobald mein Zorn abgeklungen war, würde ich – wie ich es versprochen hatte – mit Noël darüber sprechen. Aber, und dies war ein nicht minder schwerwiegendes Problem, ich konnte und durfte den zweiten Schritt nicht vor dem ersten machen. Bevor ich dem jungen Erschaffenen erklärte, was ich von ihm erwartete, musste ich mir zunächst erst einmal selbst darüber klar werden. Und vielleicht war ich gerade jetzt, da ich meine natürliche Zurückhaltung abgelegt hatte, in einer passenden Stimmung dazu. Was möchte ich, fragt ich und verwarf den Gedanken mit einem Kopfschütteln. Ich streckte den Arm aus und betrachtete meine Handfläche. „Was willst du?“, fragte ich leise und musste nicht lange auf eine Antwort warten. Ich ließ mich von der Flut an Gedanken überrollen und wartete, bis sich die Wogen geglättet hatten, um dann gezielt das herauszufiltern, worauf es mir wirklich ankam. Ich will, dass er mit mir spricht. Gut. Ein klarer, verständlicher und akzeptabler Wunsch. Ich will, dass er mir Gesellschaft leistet. Nachvollziehbar. Weiter! Ich will, dass wir wirklich zusammenleben. Unwillkürlich runzelte ich die Stirn. Was heißt ‘wirklich zusammenleben‘?, fragte ich mich selbst, doch die Antwort darauf wurde von einem verzweifelten Aufschrei aus meinem tiefsten Inneren übertönt. Ich will, dass er mich wahrnimmt! Warum?, schaltete sich die Stimme der Vernunft mit geradezu brachialer Gewalt ein, bevor ich etwas erwidern konnte. Plötzlich herrschte Stille. Nicht ein einziger Gedanke kam mir ins Bewusstsein und so wiederholte ich die Frage laut: „Warum?“ Es dauerte ein paar Sekunden, bevor sich aus dem leisen Wispern eine zögernde, schüchterne Stimme erhob. Ich mag ihn. Ich spürte wie mein Gesicht heiß wurde und stöhnte, während ich meine Augen mit der Hand bedeckte. Bitte nicht... „Mal im Ernst, willst du mit ihm schlafen?“, Anohas Worte kamen mir wieder in den Sinn, ebenso wie meine Antwort. „Darüber habe ich ehrlich gesagt noch nicht nachgedacht.“ Nun, jetzt hatte ich Gelegenheit darüber nachzudenken. Will ich mit ihm schlafen?, fragte ich, wagte es jedoch weder Noëls Namen, noch die Wort laut auszusprechen. Ich fand keine Antwort darauf. Ich versuchte ihn mir vorzustellen. Seinen Körper, wie ich ihn in der Nacht unserer ersten Begegnung gesehen hatte. Noch konnte ich mir nicht vorstellen wie es war, ihn auf diese Weise zu berühren. Wie er mich ansehen, mich berühren und welche Laute er von sich geben würde. Und doch spürte ich, dass ich nicht abgeneigt war. Ja, ich musste feststellen, dass sich das Wie meiner Vorstellungskraft entzog, nicht aber die Tatsache an sich. Ich fühlte, dass die Sonne inzwischen aufgegangen war, doch war es nicht ihr Verdienst, dass meine Wangen glühten wie im Fieber. Ich konnte nicht fassen, dass ich ernsthaft darüber nachdachte mit dem jungen Erschaffenen eine solche Beziehung einzugehen und noch absurder erschien mir, dass mich diese Gedanken derart aufwühlten. Ich war schließlich kein kleines Kind mehr. Eine andere Frage, befahl ich mir und löste damit eine Welle des Protests aus, welcher der analytische Damm in meinem Inneren jedoch standhielt. Warum hat mich Noëls Verhalten so wütend gemacht? Wiederum warteten mein Verstand und mein Gedächtnis mit vielerlei Informationen auf, die ich sorgsam filterte. Ich will, dass er mich in seine Entscheidungen einbezieht. Ja, das war vermutlich das eigentliche Problem, dachte ich. Noël war nicht mein Eigentum, weshalb ich ihm, selbst wenn ich gewollt hätte, im Grunde keinerlei Vorschriften machen konnte. Abgesehen vielleicht von ein paar Ermahnungen zur Einhaltung der Hausordnung und einiger allgemeingültiger Verhaltensregeln. Zudem sprach die Tatsache, dass er einem Freund geholfen hatte, nun wirklich eher für als gegen ihn. Und auch das Blut war, sobald es in seinen Körper gelangte, nicht länger das meine und ich konnte wohl kaum weiterhin darüber verfügen. Also musste das Problem an anderer Stelle liegen. Ich will, dass er mich ansieht, mich umarmt und niemanden sonst! „Ach verdammt, Ruhe!“, fluchte ich und schlug mit der Faust auf die Laken. Ich versuchte hier ernsthaft ein Problem zu lösen! Da konnte ich solche Aufmerksamkeit heischenden Gedanken wirklich nicht gebrauchen! Ich versuchte ernsthaft es mir einzureden, mich selbst davon zu überzeugen, aber es war zwecklos. Denn es waren Gedanken wie diese, Gefühle wie diese, die mich am Ende zu einer Entscheidung führen würden. Eine Weile lag ich einfach still da, die Augen geschlossen, die Muskeln entspannt. Als ich sie schließlich wieder öffnete, war mein Blick voll Besorgnis und Zweifel auf einen fernen Punkt, weit jenseits dieses Raumes gerichtet. Läuft es denn wirklich darauf hinaus?, fragte ich und obwohl mir niemand antwortete, hatte ich das Gefühl auf der Bühne eines vollbesetzten Konzertsaales zu stehen, während das Publikum zustimmend nickte. Steels Worte kamen mir wieder in den Sinn. Seine Warnung, dass ich mich nicht zu sehr auf Noël einlassen sollte, weil man nicht wissen könne, was er denke und tue. Er hatte es damals weit weniger freundlich ausgedrückt, doch ich weigerte mich, den jungen Erschaffenen in einem Satz mit Ungeziefer zu nennen. Denn was auch immer Noël war, das war er nicht. Blieb dennoch die Frage, ob ich es zulassen konnte, dass er sich nicht nur in meinem Haus, sondern auch in meinem Herzen häuslich einrichtete. Du zerdenkst immer alles, tadelte mich Anoha und ich gab ihm recht. Kaum war ich ein paar Stunden allein, schon dachte ich wieder zu viel, zu weit und zu schnell. Also, was jetzt?, fragte ich mich und beschloss, zunächst erst einmal die wesentlichen Fragen zu klären. Will ich Noël bei mir behalten? Ja, kam die rasche und meiner Meinung nach etwas zu entschlossene Antwort. Vorerst, ergänzte ich. Wann werde ich mit ihm über die Dinge reden, die mich beschäftigen? Sobald ich wieder ruhiger bin und er satt ist. Wann?, wiederholte die Stimme der Vernunft ungeduldig. Morgen. Es hätte noch einige andere Fragen gegeben, die zu klären mir wichtig war – zum Beispiel was ich zu tun gedachte, wenn Noël nicht bereit war mir zuzuhören oder meine Wünsche zu respektieren –, doch ein anderer Gedanke verlangte hartnäckig nach Beachtung. Wenn er satt ist... Ich setzte mich auf. War ich wirklich so weit gegangen, Noël das für ihn lebenswichtige Blut vorzuenthalten? Hatte ich ihn aus lauter Wut und Enttäuschung wirklich weggeschickt? Nicht zu fassen, dachte ich und wiederholte gedanklich das Wort, mit dem Noël mich erst kürzlich betitelt hatte. Idiot. Wenn ich ihn wegen einer solchen Lappalie – denn im Vergleich zu der Bedeutung, die mein Blut für ihn hatte war es eine Lappalie – hungern ließ, dann war ich keinen Deut besser als Meister Urag es gewesen war. Entschlossen stand ich auf, doch ein leises Klopfen an der Tür ließ mich innehalten. Ich warf einen raschen Blick auf die Uhr – es war fast Mittag. Wer um alles in der Welt hoffte mich um diese Zeit noch wach anzutreffen? Ich sah wieder zur Tür, als erwartete ich von ihr eine Erklärung und hätte einen Moment später über meine Begriffsstutzigkeit lachen mögen. Es gab nur eine Person, die an diesem Tag hoffen durfte, mich noch in wachem Zustand anzutreffen. Nur eine Person, die leise und zögernd an meine Tür klopfen würde. Nur eine einzige Person, deren Anwesenheit ich bereits so gewohnt war, dass ihr Erscheinen in meinem Haus keine wachsame Aufmerksamkeit auslöste. „Herein“, sagt ich und sah, wie ein schmaler Streifen Licht ins Zimmer fiel, als die Tür leise, fast schon zaghaft geöffnet wurde. Da stand er. Reglos, den Kopf gesenkt, als fürchtete er noch immer meinen Zorn oder mehr noch meine Zurückweisung. Und anders als zuvor, hob er nicht einmal mehr den Blick. Doch die Anzeichen seines Hungers waren stärker geworden und ich fragte mich, wie quälend er bereits sein musste, wenn er es über sich brachte, mich in meinen Gemächern aufzusuchen. Und mehr noch – in meinem Schlafzimmer. Einem Ort, den er stets sorgfältig gemieden hatte. Empfand er es als demütigend?, fragte ich mich plötzlich, doch der Blick in seine Augen, der mir Aufschluss darüber hätte geben können, blieb mir verwehrt. Kränkte es ihn, zu mir zu kommen und um mein Blut zu bitten? Er war so weit gegangen mich hier aufzusuchen und wagte es doch nicht einmal mich anzusehen, auch nur einen Fuß über die Schwelle zu setzen. Was fürchtest du?, fragte ich ihn stumm und mir fiel darauf nur eine einzige sinnvolle Antwort ein. Abhängigkeit. Das Wissen, ein Leben lang von anderen abhängig und schutzlos all ihren Launen ausgesetzt zu sein. Urag hatte ihn gezeichnet und er fürchtete sich davor, jemand anderem diese Macht über sich zu geben. Und das war etwas, das ich sehr gut verstehen konnte. „Komm herein“, sagte ich ruhig, doch er hob nicht einmal den Kopf. Ich konnte seine Anspannung fühlen, als er langsam und zögernd eintrat und leise die Tür hinter sich schloss. Stille. Wir hätten nur den Atem anhalten müssen und sie wäre perfekt gewesen. Er rührte sich nicht. Stand da wie in Stein gemeißelt und nur das leise Zittern seines Körpers verriet, dass er lebendig war. Er kann nicht darum bitten, schoss es mir plötzlich durch den Kopf und im Geiste verglich ich den temperamentvollen jungen Mann, als den ich ihn kennengelernt hatte, mit demjenigen, der jetzt vor mir stand. Und mit einem Mal erschien es mir vollkommen logisch, dass er nicht nach dem fragen konnte, weshalb er gekommen war. Denn es stand im absoluten Kontrast zu allem, was er war. Er konnte mich nicht darum bitten, ohne all das aufzugeben und sei es auch nur für diesen Moment. Und noch etwas anderes machte es ihm vollkommen unmöglich es auszusprechen. Er hatte es nie gelernt. Meister Urag war niemand gewesen, den man um etwas bat. Er forderte, befahl, gewährte oder verwehrte, aber immer war es der Meister, der über alles entschied. Die Grabesstille. Als ich den Arm hob, zuckte er merklich zusammen. Die feinen Härchen in seinem Nacken richteten sich auf und eine Gänsehaut überzog seine Arme. Was fürchtest du?, wiederholte ich still und nachdenklich, laut sagte ich: „Hier“, und streckte ihm mein Handgelenk entgegen. Und zum ersten Mal, seit er diese Tür geöffnet und den Raum betreten hatte, hob er den Kopf und sah mich mit einem Ausdruck ängstlicher Verwirrung an. Noch immer rührte er sich nicht, offenbar unsicher, ob er mich richtig verstand, dem was er hörte Glauben schenken durfte. „Ist schon gut“, sagte ich sanft und ließ mich erneut auf dem Bett nieder. „Komm her. Es ist in Ordnung.“ Ich bemerkte, dass ich mit ihm wie mit einem Kind sprach, doch schien es diesmal eine positive Wirkung auf ihn zu haben. Er löste sich aus seiner Starre und trat vorsichtig näher. Er schien mir noch immer nicht zu trauen, denn sein Blick wanderte rastlos zwischen dem meinen und meiner ausgestreckten Hand hin und her. Dann kniete er plötzlich nieder, umfasste meine Hand und fuhr begierig mit der Zunge über das Handgelenk. Er hatte mich überrascht, doch ich merkte kaum wie er zubiss und als ich das leise, saugende Geräusch vernahm, entspannte ich mich wieder. Trotz seines Hungers war er erstaunlich sanft und schien sich auch nicht daran zu stören, dass ich ihn aufmerksam beobachtete. Als sich unsere Blicke jedoch begegneten, musste ich den meinen abwenden. Es mochte an dem Gespräch mit Anoha liegen, jedenfalls beflügelte der Ausdruck in seinen Augen allzu sehr meine Fantasie. Also widmete ich meine Aufmerksamkeit den Kissen zu meiner Rechten, sah jedoch erneut auf, als das leise Trinkgeräusch plötzlich verstummte. Der Blick seiner schönen blauen Augen war atemberaubend und ich wagte nicht einmal den Versuch ihren Ausdruck zu deuten. Er hatte die Wunde an meinem Handgelenk bereits wieder geschlossen, doch auf seinen Lippen lag noch der feuchte Glanz des Blutes. Was..., ich kam nicht einmal dazu diesen einfachen Gedanken zu Ende zu führen, da war er auch schon an meiner Seite. Ich sah das hungrige Leuchten in seinen Augen und wich unwillkürlich zurück. Nur ein wenig, ein paar Zentimeter, damit das Gefühl seines Atems auf meiner Haut verschwand. Eine Weile sah er mich einfach nur an. Dann streckte er die Hand nach mir aus und schob in einer beinahe zärtlich anmutenden Geste den Kragen meines Hemdes zurück. So weit, bis Hals und Schlüsselbein frei lagen. Doch er trank nicht. Er saß einfach nur da und sah mich an. Er war mir so nah, dass ich jede Feinheit seines Gesichts, ja selbst jede noch so feine Schattierung seiner Iris ausmachen konnte. Und ich fühlte die gleiche Faszination, wie ich sie im Moment unserer ersten Begegnung empfunden hatte. Ich hätte ihn berühren können. Sein Haar, dessen ungewöhnliche Färbung anders als damals nicht von einem Blutschleier bedeckt war. Sein Gesicht, dem noch immer jene Lebhaftigkeit innewohnte, die nur Menschen eigen war. Seine Schultern, die mir mit einem Mal schmaler vorkamen, als ich sie in Erinnerung hatte. Jede einzelne Faser seines Körpers war in so greifbarer Nähe, dass ich nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um sie zu berühren. „Bist du nicht hungrig?“, fragte ich stattdessen und als Antwort strich er mit den Fingerspitzen über meinen Hals. Was geht jetzt in dir vor?, fragte ich stumm, wenngleich ich mir diese Frage ebenso gut selbst hätte stellen können. Plötzlich schmiegte er sich an mich und ich musste mich zwingen ruhig weiter zu atmen. „Jedenfalls ist er dann jedes Mal völlig entkräftet und sehr anschmiegsam“, hörte ich Anoha in meiner Erinnerung sagen und konnte nicht glauben, dass ausgerechnet Letzteres nun auch auf Noël zutreffen sollte. Er war nie schüchtern gewesen, was sein Trinkverhalten anging, aber jetzt gerade strich er wie eine Katze um mich herum, bis er aus meinem Blickfeld verschwunden war. Nur einen Moment später spürte ich seinen Atem in meinem Nacken, dann fühlte ich seine Umarmung. „Es wäre mir lieber, wenn ich dich dabei sehen könnte“, bemerkte ich, während ich versuchte, die Gefühle einzuordnen, die die ungewohnt sanfte Berührung in mir auslöste. Er antwortete mir nicht und ließ stattdessen seine Zunge über meinen Hals gleiten. Es war ein eigenartiges und auf irritierende Weise erregendes Gefühl. Gerade weil ich nicht sehen konnte, was er als nächstes tun würde. Reiß dich zusammen, schalt ich mich und versuchte mich zu entspannen. Zu allem Überfluss erschien gerade jetzt Anohas Gesicht vor meinem inneren Auge und hörte ich ihn erneut interessiert fragen: „Wie ist das bei euch?“ Im selben Moment fühlte ich einen kurzen, scharfen Schmerz und vernahm wenig später das vertraute Geräusch, das sein Kehlkopf bei jedem neuen Schluck Blut erzeugte. Er trank wie ein Neugeborenes. Hungrig, an mich geschmiegt, doch ohne jede Form von Gewalt oder Aggressivität. Ruhig und gleichmäßig sog er mein Blut in sich auf und konnte ich an der Art seiner Umarmung spüren, wie es ihm neue Kraft verlieh. Einen Moment lang zögerte ich. Überlegte, ob ich es wagen sollte, dann legte ich den Kopf in den Nacken und lehnte mich an ihn. Es schien ihn nicht zu stören, ihm Gegenteil. Er fand offenbar Gefallen daran, dass ich es war, der sich ihm auslieferte – und nicht umgekehrt. Es war ein überraschend angenehmes Gefühl, so nah bei ihm zu sein und ich genoss die sanfte Stärke, die von ihm ausging. Ich würde schon bald wieder auf die Jagd gehen müssen, kam es mir in den Sinn, doch ich schob den Gedanken beiseite und schloss entspannt die Augen. Die Raumtemperatur hatte sich verändert, die Sonne musste bereits hoch am Himmel stehen und endlich senkte sich die vertraute Müdigkeit über mein Bewusstsein. Ich berührte Noël am Arm, um ihm zu bedeuten, dass es für heute genug war. Doch er umarmte mich nur noch fester und grub seine Zähne noch tiefer in meinen Hals. Ich seufzte leise und lächelte. Für einen jungen Vampir hatte er wahrlich einen gesunden Appetit. Mir kam der Gedanke, dass es im Grunde ziemlich unvernünftig war, sich so in die Hände eines Mannes zu begeben, der erst ein paar Monate zuvor seinen Meister getötet hatte. Ich unterdrückte ein Gähnen und augenblicklich kam mir der Gedanke unsinnig vor. Wenn ich ernsthaft Sorge gehabt hätte, dass er mir in dieser Weise gefährlich werden könnte, dann hätte ich ihn nie in mein Haus gelassen. Es vergingen weitere, von schlafähnlichen Episoden durchsetzte Minuten, doch schließlich schien Noëls Hunger gestillt zu sein. Sorgsam verschloss er die Wunde und achtete darauf, dass ich wieder aufrecht und aus eigener Kraft saß, bevor er sich von mir löste. Ich wandte mich halb zu ihm um und sah den Ausdruck tiefster Zufriedenheit in seinen Augen. Ein letzter Funke des Verlangens glomm noch darin, doch nur einen Moment später hatte die Müdigkeit ihn ausgelöscht. Er gähnte, streckte sich genüsslich und rollte sich dann neben mir zusammen. Noch einmal sah er zu mir auf und umspielte ein zufriedenes Lächeln seine Lippen, dann schloss er die Augen und war binnen weniger Minuten eingeschlafen. Obwohl ich erstaunt war über sein plötzlich Vertrauen, musste ich unwillkürlich lächeln. Eigentlich hätte mein Blut ihn mehr als nur wach machen sollen, aber justament fiel mir ein, dass sich wohl ein nicht zu vernachlässigender Anteil an Alkohol darin befunden haben musste. Andernfalls wäre ihm zumindest sicher noch aufgefallen, dass er sich nach wie vor in meinem Schlafzimmer befand. Ich betrachtete ihn eine Weile, bis ich wirklich sicher sein konnte, dass er tief und fest schlief. Dann streckte ich zögernd die Hand nach ihm aus und strich ihm durch das schöne blonde Haar. Er gab ein leises Schnauben von sich, das ich in diesem Moment jedoch unglaublich liebenswert fand. Ich hätte ihn ewig so betrachten können, doch die Müdigkeit siegte. Vielleicht sollte ich noch ein wenig Wein trinken, überlegte ich und sah erneut auf Noël herab. Es konnte sicher nicht schaden, dem jungen Erschaffenen ausgeruht und gestärkt zu begegnen. Andererseits, dachte ich und gähnte, würde er mich schon nicht auffressen. Dieser Gedanke war irgendwie tröstlich. Ich stand auf, deckte Noël vorsichtig zu und machte es mir dann, vollständig bekleidet, auf der anderen Hälfte des Bettes bequem. Kapitel 16 - Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)