Vergessene Orte (Ryuchengshi) von abgemeldet ([Hanryo & Chikará Version]) ================================================================================ Erster Tag ---------- Die warme Mittagssonne schien grell auf die Überreste der alten Drachenstadt, sie färbte die ockerbraunen Steinfragmente trübweiß. Ryuchengshi, so ihr Name, lag in einer Schlucht mit einer Größe von ungefähr fünfzehn Quadratkilometern, um die Absenkung herum befand sich ein dunkelgrüner Tannenwald, er versteckte sie vor der Menschenwelt. Durch Erdbeben sank das Plateau des Stadtgebietes vor langer Zeit mehr als hundert Meter tief hinab, das Areal war schlecht gewählt für eine Stadt. Jedoch waren vielen der Gebäude bereits vor den Erschütterungen zerstört oder zerfallen, vor vielen Jahrtausende wanderten die Drachen von hier weg auf den anderen Kontinent. Sie fanden heraus, dass diese Stadt bald zurück in Erde gezogen würde, deshalb siedelten sie um in eine neue Stadt am anderen Ende der Welt. Sie hinterließen neben gigantischen Bauwerken auch unzählige verschollene Schätze und Geheimnisse. Das Wissen vieler Jahrehunderte lag dort unten begraben, weit weg von der menschlichen Zivilisation. Hanryo und Chikará standen am Rand der Schlucht und sahen hinunter auf ihr Ziel, ungefähr ein Monat war nun seit ihrem ersten Treffen vergangen. Trümmer und Ruinen bestimmten das Bild der Schlucht, die meisten Bauwerke waren nicht mehr zu erkennen, nur ihre Umrisse waren noch sichtbar. Leichte Neben- und Staubschwaden zogen durch die alten Straßen, getrieben von einem schwachen, kalten Ostwind. Von dort oben waren nicht nur die enorme Größe der Siedlung zu erkennen, sondern auch ebenso gut das Ausmaß der Zerstörung und der Leere. Alles sah aus wie nach einer Katastrophe, einem großen Brand, einer Epidemie oder einer Überflutung. Chikará erinnerte der Anblick an eine Geschichte, die sie irgendwann einmal von Mitglieder einer religiösen Gruppe in den Slums gehört hatte. Sie sprachen davon, dass ihre Götter eines Tages alle Lebewesen für ihre Sünden bestrafen würden. Es würde die Luft brennen, die Erde überflutet und alle Kreaturen würden von tödlichen Krankheiten befallen werden. Niemand würde es überleben, und die Welt würde komplett zerstört werden. Das würde die Rache dafür sein, dass die Menschen so viele Sünden in ihrem Leben begangen haben. Sie würden morden, rauben und die Natur ebenso wie die anderen Lebewesen vernichten. Beim Betrachten der Ruinenstätte begann Chikará noch einmal über diese Zukunftsvision nachzudenken. Vielleicht war sie hier Realität geworden? Nein, bestimmt nicht, sagte sie sich selbst, sie hasste Religionen und Philosophie. Sie meinte immer, das wären die Lehren vom Nichts, da es keinerlei richtige Beweise für Götter oder Ähnliches gab, und wenn es um Übernatürliches ging, dabei fantasierte doch jeder gerne, sei es von dämonischen Monstern oder vom Leben in Parallelwelten oder einem Paradies. Was für ein Schwachsinn! Es gab keinen Pfad oder Pass nach unten in die Schlucht, die felsigen Klippen, die fast senkrecht zum tiefen Grund führten, ermöglichten keinen Abstieg. Ob es dort unten überhaupt noch Leben gab? Chikará war skeptisch. Hanryo trug alleine ihr Gepäck, was aus einem großen Rucksack und ihren beiden Schwertern bestand. Sie wendete sich zu ihm: "Lebten hier nur Drachen?", fragte sie, immer noch fasziniert von der Aussicht auf die Schlucht. "Ja", antworte Hanryo. "Und wie viele?" "Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende von uns." "Was wurde aus ihnen?" "Der Krieg wurde zu ihrem Ende." "Von hier oben kann man noch einige Bauten erkennen." "Viele wichtige Gebäude sind heil geblieben." "Wieso hat man diese Stadt in einer Schlucht gebaut?" "Um besser ans Grundwasser zu gelangen." "Aber es gibt doch anscheinend keinen Pfad nach unten?" "Es gab einst eine steinerne Rampe, die sogar Fahrzeuge benutzen konnten, aber die Menschen haben sie nach ihrer Eroberung zerstört und dadurch keinen direkten Weg zu den Stadtruinen übriggelassen." "Was du einmal hier, als diese Stadt noch existierte?" "Nein, ich kenne sie nur von Erzählungen und Karten, aber das reicht uns aus." "Was wird uns dort unten erwarten?" "Vieles, lasse dich überraschen." "Lebt dort noch irgendwer?" "Nur Untote." "Was?", sagte Chikará verwundert. "Diese Stadt ist verflucht, alle Menschen, die hier sterben, sollen nach ihrem Tod als Wiedergänger die Stadt bewachen." "Wirklich?" Hanryo beantwortete diese Frage nicht und drehte sich weg von der Schlucht, dies war für Chikará das gleiche wie eine Antwort. "Wie kommen wir darunter?", fragte sie. "Komme zu mir." Sie ging langsam zu ihm. Er schloss seine Arme fest um sie, dann kamen seine Schwingen zum Vorschein. Chikará ahnte, was nun passieren würde. Sie kniff ängstlich ihre Augen zu. Sie spürte, wie sie beide den Boden verließen und hinunterschwebten. Das Gefühl des Fliegen und der Schwerelosigkeit genoss sie, obwohl es ihr gleichzeitig unheimlich war. Alles dauerte nur wenigen Sekunden, dann spürte sie wieder Boden unter ihren Füssen, er ließ sie los und sie öffnete wieder ihre Augen. Sie waren jetzt vorm Stadteingang in der Tiefe der Schlucht. Ihre Blicke wanderten sofort zum Eingangstor der Stadt, das sich direkt vor ihren Augen befand. Es schien noch nahezu unversehrt zu sein. Zwei große hellbraune Steinsäulen aus Sandstein, die ungefähr zehn Meter von einander entfernt standen und mehr als zwanzig Meter hoch zum Himmel ragten. Sie waren voller Reliefe, auf denen man Drachenkörper erkennen konnte. Oben verband die Säulen ein senkrecht auf beiden liegender Steinbalken in derselben Farbe. Auf ihm standen alte Schriftzeichen, die Chikará niemals zuvor irgendwo gesehen hatte. Angestrengt versuchte sie Parallelen zu anderen, ihr bekannten Schriftzeichen zu finden. Hanryo bemerkte ihre angestrengten Blicke hinauf. "Willkommen in Ryuchengshi", las er vor und zog seine Schwingen wieder in seinen Rücken ein. "Diese Schrift ist sehr alt, ich beherrsche nur einige wenige Zeichen von ihr." "Hat diese Stadt keinen Schutzwall oder so", bemerkte sie wieder hinabblickend. "Über die Rampe hätten ja auch Feinde hinuntergelangen können?" "Zur Zeit, als sie gebaut wurde, brauchte man keine Angst vor anderen Mächten zu haben." "Das muss sehr lange her sein." "Ja, das ist es. Es gibt eine kilometerlange Hauptstraße durch die gesamte Stadt, ihr werden wir folgen." Direkt hinter dem gigantischen Stadttor begann jene Straße. Sie war ungefähr zwanzig Meter breit, gebaut aus Sandstein und überzogen von pechschwarzem Teer, der jedoch von der Vergänglichkeit grau gefärbt wurde. Schwache Winde zauberten über den Boden staubige Figuren, die sich kurz nach ihrer Erscheinung wieder verabschiedeten ins Nichts, seltsame Risse bildeten ein Relief der Zeit im Asphalt. Neben dem alten Weg säumten die Reste der Vergangenheit, aufeinandergehäufte braungraue oder sandfarbene Steine, früher waren es einmal Häuser, nur wenige sind nach dem Beben erhalten geblieben. Erkennbar waren nichts außer Bauteile aus Stein, die übrigen überdauerten die vielen Jahrtausende nicht. Es wirkte fast wie eine natürliche Felsenlandschaft, in der niemals irgendwer gelebt hatte. Ein Massenfriedhof ohne Leichen, nur mit Gräbern, die bereits selbst verfielen, keine Geräusche waren zu hören, absolute Stille herrschte. Chikará bekam allmählich Erfurcht vor diesem Ort, vor allem die noch stehenden Häuser machten ihr aus irgendwelchen Gründen Angst. Jedes von ihnen betrachte sie genau. Einfache, fast schon primitive Geschäfte für Kleidung oder Nahrung, eine Polizeiwache, eine Arztpraxis und viele Wohnungen. Nahezu unlesbare Holzschilder mit den Namen der Laden waren oft mit Symbolen bemalt, an ihnen konnte man die frühere Verkaufsware oder Aufgabe des Gebäudes bestimmen. Jedoch nahm dies Chikará nicht die Beunruhigung, von der sie Hanryo allerdings nichts mitteilte. Wenn sie schon in einer Ruinenstätte Panik bekommen würde, dann wäre sie keine gute Drachenkaiserin, redete sie sich ein. Die Hauptstraße verlief gerade mit vielen Kreuzungen und Abzweigungen, an der dritten Hauptkreuzung, die sie passierten, hielten die beiden Drachen an. Hanryo drehte sich nach rechts, am Straßenrand stand ein guterhaltenes Gebäude, zwar war die Vorderseite mit kleinen dunkelgrünen Einzellern bewachsen, aber ansonsten schien es noch recht stabil zu sein. "Vor uns liegt eine kleine Bibliothek", sagte er. "Hier gehen wir hinein. Dort lagern alte Stadtpläne, wir werden sie brauchen, um den Weg zu den Katakomben finden zu können." "Katakomben?", fragte Chikará verwundert. "Davon hattest du aber bisher noch nichts erwähnt." "Ich weiß, es sollte eine kleine Überraschung werden." Er ging mit einem leichten Lächeln an ihr vorbei und dann hinein in die Bibliothek, sie folgte ihm ein wenig verärgert. Dies waren wirkliche Nervenproben für sie, Ruinenstätten und dann auch noch Katakomben, ob Kaiserdrachen durch Angst sterben könnten? Wahrscheinlich eher nicht, dachte sie. Es blieb ihr nichts übrig, außer mit Vorsicht und Misstrauen abzuwarten, was passieren würde. Die Bibliothek war wirklich nicht gerade groß und nahezu komplett aus Holz erbaut, das mittlerweile teils verfault war. Eine Türe hatte das fensterlose Gebäude schon lange nicht mehr, ein Schild an der Außenfassade erinnerte an die ehemaligen Öffnungszeiten. Insgesamt standen drinnen nur sieben, bis zur Decke reichende Eichenholzregale, sie standen parallel zu den Seitenwänden des einstöckigen Hauses. Beim Überschreiten der holzigen Türschwelle brachen mit knackenden Geräuschen unter Hanryos Füssen einige Bretter durch, Staub wurde aufgewirbelt, aber der Drachenkrieger schaffte es sein Gleichgewicht zu halten. Chikará kicherte leise. Diese Bibliothek war ohne Frage sehr klein für eine Bibliothek, die Bezeichnung Bücherladen wäre fiel passender gewesen. Man stieß sogar unter dem tiefen Dach fast mit dem Kopf gegen die hölzerne Decke, die einige wenige Löcher hatte, durch die Sonnenstrahlen gelangen konnten. Die Lichtfetzen reichten aber dennoch, um drinnen alles gut zu behellen und so alles sichtbar zu machen. Spinnenweben hangen überall an den Wänden, Staubpartikel tanzten in den Lichtkegeln. Chikará musste wegen ihnen ein paar mal kräftig niesten. Im Gegensatz zur übrigen Stadt, machte ihr dieses Gebäude jedoch keine wirkliche Angst, sie fühlte sich fast ein wenig wie zu hause, da die Häuser der Slums oft genauso aussahen, der einzige große Unterschied war, dass die Slums trotzdem voller Leben waren. Hanryo erkundete die Regale genau, bis er aus einem ein Buch nahm, aber als er es aufschlug, fiel es zu seiner Verwunderung völlig auseinander, die Fragmente landeten unsanft auf den steinernen Fußboden. Ein verduzter Blick ging über sein Gesicht, während seine Begleiterin sich die Hände vorm Mund hielt, damit er nicht ihre Schadenfreude bemerkte. Er sah sich die Stelle an, wo das zerfallene Buch stand, kleine Würmer und andere Insekten krochen aufgeregt im leeren Zwischenraum. Kopfschüttelnd ging er weiter zum nächsten Regal, Chikará blickte kurz auf die Kleintiere zwischen den Büchern, sie ekelten sie sehr an, ihr wurde fast ein wenig übel durch diesen Anblick, eilig folgte sie Hanryo. Er befürchtete, dass alle Bücher derart unlesbar sein könnten und er bemerkte auch, dass einige Bücher fehlten, besonders welche, die über längst vergessene Dämonen und Höllenkreaturen berichteten. Eine Plakette zeigte die Stelle, die eigentlich für diese Literatur vorgesehen war, der Raum war leer, kein einziges Werk war mehr zu finden, was Hanryo sehr beunruhigte. Er wusste, dass in Ryuchengshi einst viele Dämonenforscher lebten, deren niedergeschriebenes Wissen in den vielen Bibliotheken der Stadt lagerte. Wenn dieses Wissen in die falschen Hände gelangt wäre? Jetzt war keine Zeit, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, sagte er sich. Schließlich fand er im letzen Regal das Kartenarchiv der Bibliothek, glücklicherweise waren die meisten Zeichnungen besser erhalten als die Bücher. Er begann sofort ein gutes Exemplar für die weitere Stadterkundung zu suchen, währenddessen suchte Chikará sich ein noch lesbares Buch, sie fand einen Roman, der von einer Liebegeschichte berichtete. Nachdem sie die ersten paar Seiten leise lass, fing sie an, den weiteren Teil laut vorzutragen. Sie wollte damit Hanryo ein wenig provozieren, das sollte die Gegenleistung für die noch bevorstehende Katakombenbesichtung sein. "So standen sie mitten im feinen Sand, das warme Wasser reichte ihnen bis zu den Knien. Am Ende des blauen Meeres ging langsam die Sonne unter, der Strand färbte sich rotviolett. Sie schauten sich gegenseitig tief in die Augen. Schließlich berührten sich ihre Lippen. Na Hanryo, nette Geschichte, findest du nicht?", wendete sie sich den Feuerdrachen zu. "Wunderschön Chikará", seufzte er. "Das Buch brennt bestimmt gut." "Weißt du überhaupt, was Liebe ist?" "Was ich weiß, und was ich nicht weiß, lässt du mal lieber meine eigene Sorge sein." "Hattest du niemals so etwas wie eine Partnerin?" "Im Moment habe ich dich, das reicht vollkommen." "Bleibe doch mal ernsthaft." "Ernsthaft kann ich dir sagen, dass ich gerade einen guten Stadtplan gefunden habe, wir können bald weitergehen." Chikará war etwas wütend über Hanryos Ignoranz und Verschlossenheit, aber ihr war eigentlich auch schon vorher klar, dass man mit ihm keine emotionalen Gespräche führen konnte. Diese Wortkargheit konnte man auf zwei Arten interpretieren, dachte sich das Kaiserdrachenmädchen, entweder war er wirklich so emotionslos oder er wusste mehr, als er zugab. Aber da er wohl noch sehr Zeit miteinander mit ihr verbringen würde, war sie zuversichtlich, irgendwann sein Schweigen brechen zu können. Verärgert über ihn stellte sie das Buch wieder weg und lehnte sich gegen die Hauswand. Ein quietschendes Geräusch, dann ein lauter Knall, die Wand hielt den Druck nicht stand, von Chikará war nur noch ein kurzer heller Schrei zu hören, darauf folgte lautes Gepolter. Hanryo drehte sich erschreckt um. Ein großer Teil der Wand war nach außen eingefallen, Chikará war spurlos verschwunden. Noch bevor er den Schreck verdauen konnte, hörte er ein weiteres lautes Poltern, dieses Mal jedoch über sich. Sein Blick ging nach oben, genau in diesem Moment fiel das Dach hinunter, reflexartig er zog seine Hände über sein Gesicht zum Schutz vorm drohenden Einsturz, aber zum Glück konnte der leichte Dachstuhl von den Regalen gebremst werden. Nur Staub und Käfer regneten aus den Holznischen, mehr passierte nicht, die Dachkonstruktion blieb solide auf den stabilen Regalen liegen. Hanryo atmete wieder gelassener, bis er sich erneut zur kaputten Wand wendete, Chikará war wie vorhin nicht zu sehen. Ihm kamen direkt schreckliche Gedanken, er lief alarmiert zu den eingestürzten Mauerteilen. Neben dem Haus lag der Überrest der Wand, ein Haufen aus Holz und Schutt. Aufhetzt schaute er sich die Unfallstelle genau an, er entdeckte eine kleine blaue Haarsträhne, die zwischen den Balkenstücken herausragte, Chikará musste unter der Holz- und Staubdecke begraben sein. Hanryo hob einige schwere Bretter von der Stelle weg, an einem hing der rechte Ärmel ihres Pullovers, er musste beim Zusammenfall an Splittern hängen geblieben sein und wurde so vom Stoff abgerissen. Langsam kam Chikarás ganzer Körper wieder zum Vorschein, sie war noch bei Bewusstsein und hielt ihre Hände am Hinterkopf, ihr Gesichtsausdruck offenbarte ihre Schmerzen, sie jammerte wie ein kleiner Hund, obwohl sie sich bei diesem Unfall keine schweren Blessuren zugezogen hatte. Lediglich die Gläser ihrer Brille waren zersprungen, und ihr Wollpullover hatte zahlreiche Stoffstücke verloren, die im Holz hängen geblieben waren. Jetzt sah es so aus, als würde sie eine durchlöcherte Decke tragen, zumindest ihre feste Hose und ihre Schuhe waren heil blieben. Hanryo hatte Mühe sich ein beleidigendes Lachen zu ersparen, er streckte ihr seine Hand zur Hilfe aus, Chikarás ergriff sie, und er half ihr aufzustehen. "Mein Rücken", keuchte sie und fasste mit ihren Hände in die Nierengegend. "Meine Beine, mein Pullover ist fast nicht mehr da, meine Brille ist kaputt." Hanryo zog ihr die Brille aus und warf sie weg auf den Bretterhaufen. Chikará schaute ihn sehr verwundert an. "Deine Schmerzen werden nicht lange andauern und für unsere Abenteuer ist eine Brille nur hinderlich." "Aber du hast mir doch zu einer geraten?" "Besser man kann nicht lesen, als man nicht richtig kämpfen." "Und was soll ich jetzt mit dem Pullover machen, so kann ich doch nicht herumlaufen, auch wenn das hier eine Ruinenstätte ist." Hanryo nahm seinen Rucksack ab und holte aus ihm ein schwarzes Hemd. "Ziehe das an", sagte er freundlich. "Ich hatte erwartet, dass deine Alltagskleidung solche Reisen nicht übersteht. Wenn wir wieder zuhause sind, schneidern wir dir einen richtigen Kampfanzug." "Warum haben wir das denn nicht schon früher getan?", kritisierte sie ihn. "Du wusstest schließlich, was uns erwartet, ich wusste es nicht." "Aus den eigenen Fehlern lernt man mehr als aus den Worten anderer." "Ich verstehe", sagte Chikará abweisend und zog sich das Hemd über den verrissenen Pullover. Sie gingen wieder durch das Loch in der Wand zurück in die Bibliothek, die Regale hielten immer noch das Dach, die Staubwolken hatten sich inzwischen wieder gelegt, die Insekten hatten sich wieder in den Nischen verkrochen. Hanryo wollte noch nach einigen Büchern über die Stadt schauen, er kannte aus Geschichten einige unheimliche Legenden über die Katakomben, beziehungsweise über das, was dort unter der Erde ruhen sollte. Er behielt dies vorerst für sich, er wollte schließlich nicht, dass Chikará einen Nervenzusammenbruch bekommt. Vielleicht waren es auch nur erfundene Begebenheiten, ohne wahren Kern? Die Antworten würden kommen, da war er sich sicher. Leider war die Anzahl der Werke über diese Thematik mehr als dürftig, die Fragen blieben noch offen, deshalb beschloss er, endlich die Bibliothek zu verlassen. Chikará wollte Hanryo noch kurz fragen, wohin sie jetzt gehen werden, aber genau in diesem Moment spürte sie plötzlich eine Hand vor ihrem Mund. Erschreckt murmelte sie irgendetwas Unverständliches, während die Hand sie hinter eines der Regale zog. Hanryo war es, der sie so überrascht hatte, er deutete ihr mit seiner anderen Hand an, sie solle leise sein, dann ließ er sie wieder los. Sie schwieg und guckte ihn fragend an, er zeigte mit seinem Zeigefinger kurz in Richtung des Eingangs der Bibliothek. Sie nickte und schlich sich vorsichtig zum Rand des Regals, erwartungsvoll und angespannt blickte sie unauffällig zur Eingangspforte. Ein Schatten schlich langsam durch den Zugang hinein ins Haus. Solch ein Geschöpf hatte sie niemals zuvor gesehen. Es hatte den Körper eines Menschen, eines erwachsenen Mannes, aber die Haut war dunkelgrau und schien ausgetrocknet, die Haare waren weißgrau wie bei Alten, die Kleidung war schmutzig und braun, ob das Wesen Augen besaß, konnte sie nicht erkennen. Es machte hechelnde Geräusche, so als könnte es nicht richtig atmen und ging, als hätte es gebrochene oder verstauchte Gliedmaßen, es kam sehr langsam vorwärts. Als es sich dem Versteck der zwei Drachen näherte, konnte man seine Gestalt genauer erkennen, seine Kleidung war wahrscheinlich einmal eine Rüstung gewesen, Metallstücke und Abzeichen waren zu sehen, die Ummantelung eines östlichen Schwertes trug es auf seinem Rücken, ebenso einige Dolche am Gürtel. Seine Haut hatte viele Risse und Wunden, die jedoch weder bluteten noch zu verheilen schienen. Die Kreatur hatte doch Augen, glasige weiße, ohne eine Farbe. Was war das für ein seltsames Wesen? Blitzartig zog Hanryo Chikará weg und stieß sie unsanft durch das Loch in der Wand, sie stolperte nach draußen über die Trümmer und fiel erneut hin. Er stellte sich in die Maueröffnung und trat einmal feste gegen eines der Regale, die das Dach stützten. Danach lief er schnell zu Chikará in Deckung, während binnen Sekunden die gesamte Bedachung des Hauses kurz wackelte und dann mit läuten Poltern hinab stürzte. Die Bücherregale konnten dieses Mal den Druck nicht mehr standhalten, die gesamte Bibliothek fiel in einer großen Staubwolke zusammen und begrub die vielen Bücher ebenso wie die fremdartige Kreatur unter sich, die sich mit schrillen Kreischen im Moment des Zusammenbruchs verabschiedete. Chikará beobachte alles sprachlos vom Boden aus. Hanryo setzte sich zu ihr. "Entschuldigung", sagte er aufgesetzt betrübt. "Das gerade wurde einfach zu gefährlich, hast du dir wehgetan?" "Nein, aber nächstes Mal kann ich auch ohne Hilfe ein Haus verlassen." "Es musste halt schnell gehen, ich wollte dir nur eine direkte Berührung mit dem Typ ersparen." "War das ein Untoter?", fragte sie auf die Trümmer blickend. "Ja." "Wie kam er zu uns?" "Er muss unsere Fußspuren gesehen haben, und dein Zusammenbruch eben war unüberhörbar." "Ist er jetzt wieder oder richtig tot?" "Tot ist er sowieso schon, es wird aber wahrscheinlich sehr lange dauern, bis er sich aus den Trümmern befreit hat." "War er einst ein Mensch?" "Ja, es gibt hier einen Fluch. Jeder Mensch, der hier unten in der Stadt sein Leben lässt, soll sie nach dem Tod als Wiedergänger bewachen." "Und wie viele sind hier gestorben?" "Die Stadt ist groß, aber wenn wir Glück haben, treffen wir nicht mehr allzu viele von denen." "Sind die überhaupt gefährlich, ich meine, der humpelte und war sehr langsam?" "Glaubst du", sprach er nach einem flüchtigen Lachen. "Ich hätte die schöne Bibliothek zerstört, wenn der freundlich gewesen wäre?" "Er schien zumindest recht harmlos", erwiderte sie naiv. "Das ist der Fehler, den viele machen, diese Kreaturen zu unterschätzen. Einen Menschen und die meisten anderen Gegner kann man mit einem gezielten Schlag erledigen, den Untoten aber macht es nichts aus, den Kopf oder Ähnliches im Kampf zu verlieren, die kämpfen bis sie sich nicht mehr bewegen können. Außerdem sind ihre halbverwesten Körper Träger vieler Seuchen und Parasiten, für uns beide sind sie ungefährlich, aber Menschen bringen sie oft den Tod." Chikará dachte ein wenig über die Geschehnisse nach, dann fragte sie ihn: "Wie geht unsere Expedition weiter?" "Die Stadt hatte einst fünf Bibliotheken", antwortete er zur Hauptstraße schauend. "Ich habe einen bösen Verdacht, deswegen werden wir auch die verbleibenden vier noch aufsuchen müssen. Es könnte zwar nur eine Illusion sein, aber ich muss der Sache auf den Grund gehen." "Was für einen Verdacht?" "Ich werde es dir später erzählen." Hanryo stand auf und ging zur Hauptstraße, Chikará schaute ihm hinterher bis er sich noch einmal zu ihr umdrehte und mit seiner Hand andeutete, sie sollte endlich kommen. Sie zog eine rebellische Grimasse, stand auf und folgte ihm. Der Wind lies mittlerweile nach, so dass man nur noch die Schritte der beiden hören konnte in der Stille dieses vergessenen Ortes. Das Bild der Stadt nahm allmählich eine Monotonie an, die Gebäuderuinen sahen beinahe alle gleich aus, alle waren hauptsächlich aus Sandstein und grauen Ziegeln erbaut, die Dächer waren oft aus Holz oder dunklen Dachziegeln. Immer konnte man irgendwo mindestens ein Loch in den Wänden erkennen, wenn das ganze Haus noch nicht ein Schutthaufen war. Man sah auch viele Kleinigkeiten, alltägliche Gegenstände in den Ruinen und auf der Straße, verrostete Töpfe und Messer, verbleichte Papierfetzen, kaputte Spielzeugteile, aufgebrochene Holzschatullen, zerbrochenes Porzellan, die Spuren des Lebens. Chikará begann sich vorzustellen, wie es hier wohl damals war, als hier noch Drachen lebten. Jedenfalls lebten die Drachen nicht viel anders als die Menschen, wenn nicht sogar genauso wie jene. Akashia erzählte, die Drachen hätten die Form und Lebensart der Menschen angenommen, um mit ihnen zusammen in Frieden leben zu können, die Impressionen der Stadt spiegelten diese Theorie deutlich wieder. Mehr als einen Kilometer war der Fußmarsch bis zur zweiten Bibliothek lang, jene war viel größer als die erste, sie hatte die Größe eines durchschnittlichen Hauses der reicheren Bevölkerung. Die braunen Wände waren verstaubt und porös, die Fenster hingegen hatten noch Glasfragmente, die das dumpfe Sonnenlicht durchließen. Dieses Bücherhaus besaß zwei Obergeschosse und ein Kellergeschoss, in denen Hunderttausende von Lektüren lagerten. Das gesamte Gebäude war stark beschädigt, die Zeit zerstörte unerbittlich den Sandstein, der Boden hatte viele Durchbrüche, durch die man einige Meter tief in den Keller blicken konnte, wo das Wasser ungefähr kniehoch stand. Direkt neben der offnen Eingangspforte entdeckte Hanryo einen Wegweiser, ein kleines Metallschild, dessen Reliefschrift noch gut zu erkennen war, es dauerte nicht lange, bis er die Botschaft entschlüsselt hatte. Die Dämonenwerke wurden im Keller aufbewahrt, Chikará konnte mit viel Mühe den Wegweiser ebenfalls lesen. Ihre Blicken wanderten über die brüchigen Mauern, bis zum leeren Dachstuhl, es lag ein feuchter, modriger Geruch in der Luft, er kam wohl vom Keller aus. Sie wollte nur ungern dorthinunter, aber tapfer ging sie dicht hinter ihrem Begleiter. Die Steintreppe, die hinunter führte, diente als Brutstätte für Einzeller aller Art, mit den ersten Schritten auf den grünbewachsenen Steinen sah man bereits rote Ameisen aus ihrem grünen Verstecken fliehen. Nach einigen Stufen verließ Chikará der Mut und sie bat Hanryo, oben auf ihn warten zu dürfen, er willigte ein, immerhin hatte kein wasserfestes Schuhwerk. Sie setzte sich vorsichtig auf den grauen Fußboden des Erdgeschosses und beobachte ihn gespannt durch einen der Durchbrüche, er musste aufpassen, dass er nicht auf den glatten Weg ausrutschte. Unten angekommen, watete er langsam und behutsam durch das dunkle Wasser, Algen blieben unter der Oberfläche an seinen Schuhen und seiner Hose hängen, man sah durch seine Schritte aufgewirbelten Staub. Im Morast wimmelte es von winzigen Würmern und Insekten, die durch den fremden Besucher aufgeweckt worden und nun wild und ziellos umherschwammen. Der Geruch des Sumpfloches wurde immer intensiver, er hatte neben den Gestank auch etwas Beißendes in sich, vielleicht der Witterung von zersetzten Leichen, aber so etwas schreckte Hanryo selbstverständlich nicht ab. Er fand schnell den Platz für die Werke über Dämonologie, erneut war jener leer, seine Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten. Irgendjemand plünderte die Bücherlager der Stadt aus auf der Suche nach dämonischer Literatur, derjenige würde bestimmt versuchen, sich der Hilfe der Schattenwesen zu bedienen. Ein schwieriges und anspruchvolles Unterfangen, aber wer weiß, welche ernormen Kenntnisse der Dieb haben könnte? Vielleicht wäre es ein Debütant, vielleicht aber auch ein Dämonenmeister? Er musste aufgehalten werden, sofern dies überhaupt noch möglich wäre, aber ein Versuch müsste mindestens erbracht werden, um das drohende Unheil möglicherweise noch zu verhindern. Chikará sah, wie Hanryo unruhig zurück zur Treppe ging. "Es scheint, als wäre meine Angst berechtigt", erklärte er. "Es fehlen in beiden Bibliotheken die Bänder über Dämonologie, es könnte zwar nur ein blöder Zufall sein, aber ich persönlich vermute, das mehr dahinter steckt. Die Untoten können nicht lesen, sie haben sie wahrscheinlich nicht entwendet, es muss jemand anders gewesen sein, jemand, der wusste, was er tat." Sie ahnte, dass ihnen nun wohl eine Jagd bevorstehen würde, eine Jagd auf eine unbekannte Kreatur, die wohl Schreckliches plante. Die Suche schien anfangs relativ aussichtslos, bis Hanryo einen wichtigen Hinweis entdeckte, er bemerkte Fußspuren in den grünen Pflanzen auf den Stufen, es waren nicht die seiner Schuhe, es mussten die des Diebes sein. Er beugte sich zu ihnen, sie waren noch frisch und deshalb gut zu erkennen, sie konnten nicht älter als einige paar Stunden sein, die Pflanzen hatten noch Tropfen des Schleims aus dem Keller im Moosgeflecht. Er fand noch ein weiteres Fragment des vermeintlichen Diebes in den Einzellern, ein kurzes helles Haar. Es war kein menschlicher Farbton, das erkannte Hanryo sofort, aufgeregt wandte er sich zu Chikará, die ihn vom Erdgeschoss aus aufmerksam beobachtet hatte. "Ein Lichtdrache ist es", sagte er ein wenig aufgewühlt. "Seine Spuren sind noch frisch, er kann nicht weit sein, wir haben doch noch eine Chance." "Ein Lichtdrache?", wiederholte sie überrascht. "Kennst du ihn?" "Ich kenne viele jener Art, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, um wen es sich handeln könnte." "Werden wir versuchen, ihn zu finden?", wollte Chikará bestätigend wissen, obwohl sie die Antwort eigentlich schon kannte. "Ja, das werden wir. Wir wissen nicht, ob er mit der dämonischen Macht umzugehen weiß oder wofür er sie verwenden will." "Wo vermutest du ihn jetzt?" "Es gibt noch drei Bibliotheken, ihn den beiden, in denen wir waren, war er bereits. Es wäre also gar nicht so unwahrscheinlich, dass er dieselbe Route wie wir verfolgt. Es könnte aber auch sein, dass er bereits in den anderen drei Bibliotheken vor uns war", er unterbrach kurz um nachzudenken, dann sprach er weiter. "Ich habe einen Plan." Er ging schnell die Treppe hoch und verließ ohne Umwege das Haus, Chikará spurtete ihm stumm hinterher. Draußen blieb er stehen und breite erneut seine roten Schwingen aus, die binnen weniger Sekunden aus seinem Rücken wuchsen. Er schlug mit ihnen einige Male kräftig, wie ein Vogel, der fliegen will, Staub wurde aufgewirbelt, schließlich stieg er durch den Aufwind ruckweise empor in die Lüfte. Chikará schaute zu ihm hinauf und staunte. Nachdem er eine Höhe von ungefähr fünfundzwanzig Metern erreicht hatte, konnte er gut die umliegenden Straßen überblicken, er suchte aufmerksam nach weiteren Spuren. Von dort oben sah die Stadt viel kleiner, als sie in Wirklichkeit war, die Ruinen schienen wie Sandhügel und die Straßen wie ausgetrocknete Flussläufe. Hanryo erkannte zuerst nichts Auffälliges, aber nach kurzer Zeit wurde er auf ein Straßenstück, ungefähr vierhundert Meter vor ihm liegend, aufmerksam. Er sah eine Kreatur am Boden liegen, es war wahrscheinlich kein Untoter, er bewegte sich nicht, vielleicht war er verletzt oder tot, neben ihm lagen rechteckige Gegenstände, es könnten Bücher gewesen sein. Dies konnte vielleicht ein wichtiger Fund auf der Suche nach dem Dieb sein, wenn nicht sogar jener selbst. Man müsste unbedingt zu dieser Stelle gelangen, dachte sich Hanryo und er hörte auf mit seinen Schwingen zu schlagen, der Auftrieb ließ daraufhin nach und er schwebte wieder langsam zurück zum Boden. Chikará starrte ihn nach seiner Landung gespannt an. "Hast du etwas gesehen?", fragte sie ihn hastig. "Komm mir hinterher", forderte er sie auf. "Ich glaube, wir könnten ihn gefunden haben." Er nahm Chikarás Schwert ab und warf es ihr zu, sie fing es sicher und beide liefen los, der Hauptstraße entlang. Es war schwer, sich zwischen den Überresten der Häuser, die ja auch teils auf den Wegen lagen, schnell fortzubewegen, dennoch kamen sie in ihrem Eifer gut voran, binnen weniger Minuten erreichten sie ihr Ziel. Nach der letzten Abbiegung konnte Chikará bereits von weitem die auf den Boden liegende Kreatur deutlich sehen. Es handelte sich um einen jungen Mann, er trug verschmutzte hellbraune Lederkleidung, ein kurzärmeliges Hemd und eine lange Hose, er trug keine Schuhe und hatte zerzauste helle Haare. Er lag dort seitlich zusammengekauert, den Kopf unter seinen Armen versteckt, und zitterte stark, als hätte er einen epileptischen Anfall oder etwas Vergleichbares. In seiner Nähe befanden sich viele aufgeschlagene Bücher, auf Zeichnungen waren Dämonen zu erkennen. Chikará war über den Fund dieses Geschöpfes sehr verwirrt, sollte dieses bedauerndste Wesen derjenige sein, der die vielen Dämonenbücher aus den Bibliotheken entwendet hatte? Seltsam, wie konnte das sein und wozu? Wollte er vielleicht die Literatur weiterverkaufen an Okkultisten oder Sammler? Was sollte so ein unscheinbarer Dieb mit derart realitätsfernen Büchern anfangen? Es musste doch bestimmt noch viel mehr dahinter stecken, es war bestimmt nicht so leicht zu erklären, welches Geheimnis verborg er nur, fragte sie sich, und fand in diesem Moment keine plausible Antwort darauf, weswegen blieb sie vorsichtshalber einige Meter von ihm entfernt stehen. Hanryo hingegen hatte keine Furcht oder größere Bedenken, er erkannte den Mann wieder. Verwundert ging er nah zu ihm und kniete sich vor ihm, er legte ihn behutsam seine Hand auf die Schulter. "Jimo, was ist mit dir passiert?", fragte er ihn leise und mit trauriger tiefer Stimme. Der Mann drehte seinen Kopf um, seine Augen waren grün und sein Gesicht sah so aus, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen. Langsam begann er zu sprechen: "Ein Dämon", er stockte kurz beim Reden. "Er hat besitz von mir ergriffen, er kontrolliert mich, ich wollte ihn mit Hilfe der Bücher vertreiben, aber er ist zu stark." "Ich werde versuchen dir zu helfen", sagte Hanryo entschlossen und schaute ihn dabei tief in seine beinahe tot wirkenden Augenlieder. Plötzlich veränderte sich ihre Farbe, das drachentypische Smaragdgrün wurde auf einmal zu Blutrot. "Nein", hauchte Jimo mit einer anderen, tieferen und künstlich klingenden Stimme. Hanryo blickte ihn entsetzt an, und noch bevor er reagieren konnte, schlug Jimo ihn auf einmal mit seiner rechten Faust mitten auf die Stirn, Hanryo fiel zurück auf den staubigen Boden. Hinter ihm lagen zum Glück nur stumpfe Trümmerteile, so dass er sich beim Sturz nicht mehr als leichte Prellungen zuzog. Völlig erschreckt rannte Chikará sofort zu ihn, sie griff nach seiner linken Hand und half ihn auf zu stehen, er taumelte etwas wegen der leichten Kopfschmerzen, die der Schlag bewirkt hatte, aber wenige Sekunden später war er bereits wieder bei vollem Bewusstsein. Er zog sein Katana aus der Ummantelung und stellte sich in Kopfposition, ohne zu zögern, rüstete sich auch Chikará zum Kampf. Jimo war mittlerweile ebenfalls aufgestanden, er hielt ein Kurzschwert in seiner rechten Hand und seiner linken einen Dolch. Hanryo wagte noch einen Versuch, seinen Gegner wieder zur Besinnung zu bringen: "Jimo", schrie er ihn verzweifelt an. "Sei stark! Lass dich nicht von ihm besiegen! Kämpfe! Kämpfe gegen ihn!" Jimo konnte nicht mehr kämpfen, der Dämon hatte ihn zu diesem Zeitpunkt schon längst besiegt. Er grinste flüchtig und sein willenloser Körper lief wütend auf die beiden Drachen zu, er holte zu einem großen Hieb aus, Hanryo konnte jedoch sein langes Schwert als Schutzschild benutzen und so den Angriff parieren. Chikará sah ihre Chance und fügte Jimo im selben Moment mit einem gezielten Schlag eine tiefe Wunde am rechten Unterarm zu, Blut lief an der Klinge ihres Schwertes hinunter. Der Schmerz war sehr stark, der Dämon konnte den charakterlosen Körper nicht dazu bringen, ihn zu ignorieren, das Kurzschwert konnte er nicht mehr festhalten und musste es fallen lassen, aber dies steigerte nur seine Kampfesekstase. In seiner Raserei wandte er sich zu Chikará, sie sollte für diesen Treffer bitter büßen, er holte zu einem neuen Angriff aus, dieses Mal sollte sie das Opfer sein. Sie erkannte schnell die Absicht ihres Widersachers und konnte sich dadurch noch mit ihrer Klinge vor dem mächtigen Dolchangriff verteidigen. Dennoch musste sie durch die Wucht des Aufpralls einen Schritt zurück gehen, um das Gleichgewicht zu halten, sie verstand, dass dieser Gegner trotz seiner vagabundischen Erscheinung eine hohe Körperkraft besaß. Jimo sah seinen Teilerfolg und wurde optimistisch, diesen Kampf für sich entscheiden zu können, er wollte direkt einen Stichschlag zu ihrer Brust ansetzten, aber dabei vergaß er ihren Gefährten, Hanryo sah das nahende Unglück und stach ohne lange nachzudenken mit seinem Schwert einige Zentimeter tief in Jimos Nierengegend. Ein neuer, noch viel stärkerer und intensiverer Schmerz durchfuhr ihn jetzt, diesen Treffer konnte er nicht mehr überspielen, er sah seine Niederlage vor Augen, blutend sank er wie eine Leiche zu Boden. Erleichtert beobachtete Chikará seinen Sturz, aber dies stoppte nicht ihre Konzentration und ihren Adrenalinfluss, um den entgültigen Sieg zu erringen, nahm sie ihre Waffe hinunter und setzte die Spitze auf der Brust des Feindes an, so dass sie ihn jeden Moment mit einem Durchstich hätte töten können. Hanryo vollendet den Triumph, indem er seine scharfe Hiebwaffe an Jimos Hals ansetzte. Der Kampf schien eindeutig entschieden. "Gib auf, du hast verloren Schattenwesen, verlass seinen Körper!", befahl Hanryo, immer noch vor Aufregung unruhig atmend. Der Lichtdrache lag völlig erschöpft auf den Rücken und reagierte zunächst nicht auf die Aufforderung, als seine beiden Gegner jedoch langsam den Druck ihre Schwerter erhöhten, so dass diese leicht in Jimos Haut eindrangen konnten und etwas Blut aus den zwei lebensgefährlichen Verletzungen lief, bewegte er sich. Er streckte zaghaft seinen linker Arm aus, so als wollte er den Dolch neben seinen Körper niederlegen. Hanryo sah nun Hoffnung für Jimo, der Dämon würde ihn wohl doch verlassen, aber es sollte anders kommen. Anstelle einer finalen Entwaffnung, zog er grinsend in einer unerwarteten, blitzartigen Bewegung den Dolch vom Boden weg und rammte ihn mit voller Wucht in seinen eigenen Bauch. Chikará blieb der Atem stehen, ein schwerer Schock überkam sie, ihr Blick wurde kalt und leer vor Fassungslosigkeit, ebenso war Hanryo sehr verwundert und zuckte reflexartig zurück. Jimo hechelte noch einige Sekunden, der Dolch steckte tief in seinem Körper, viele lebensnotwendige Organe wurden stark verletzt, er spuckte hustend einige Tropfen Blut aus und krümmte seinen Leib vor Schmerzen. Nach weniger als einer Minute hatte sein Todeskampf ein Ende, der Dämon hatte gewonnen, nach seinem letzten Atemzug, auf dem die Totenstarre folgte, ließ Chikará ihr Schwert fallen, sie wurde kreidebleich und zitterte. Hanryo beugte sich zu ihm hinunter und versuchte vergeblich seinen Puls zu fühlen, er schlug nicht mehr. "Ist er wirklich tot?", fragte sie stockend. "Sie sind beide tot", antwortete er niedergedrückt. "Jimo und genauso der Dämon." "Was für ein Dämon war das?" "Es gibt viele Arten von Dämonen, dies war einer ohne Körper, eine Art Geist, der in schwache Körper eindringen kann, er verdrängt die richtige Seele und kann somit den hilflosen Körper kontrollieren. Die Seele ringt mit dem Dämon, zeitweise kann sie ihn sogar besiegen, aber irgendwann werden ihre Kräfte nachlassen und der Dämon wird sie entgültig bezwingen. Mit alter Magie kann man solch einen Dämon austreiben, Jimo hatte genau das mit den Büchern aus den Bibliotheken versucht, aber er hat es nicht geschafft." "Was meintest du mit ,schwachen Körpern'?" "Menschen, Tiere, niedrige Drachenarten wie er. Dir als höchste Drachenart wird so etwas nicht passieren, dein Körper und deine Seele sind zu stark und mächtig für einen Dämon." "Warum hat der Dämon sich am Ende selbst getötet, was hatte er davon zu sterben?" "Er wollte nicht verlieren, und in diesem Fall war sein Tod doch noch so etwas wie ein Sieg, immerhin hat er Jimo ins Totenreich mitgerissen." Chikará wartete mit ihrer nächsten Frage einen Moment lang, sie wusste, dass sie vielleicht etwas respektlos wirken würde, dennoch stellte sie sie: "Du kanntest Jimo gut, oder?" "Wir waren zeitweise in derselben Truppe." Sie hatte so eine allgemeine Antwort erwartet, sie waren typisch für Hanryo. "Wart ihr miteinander befreundet?", bohrte sie nach. "Nein!", schrie Hanryo sauer. Es folgten einige Minuten Schweigen, sie war überrascht über seine plötzliche Wut. Sie begriff ihren Fehler und regte sich innerlich sehr über ihr naives Verhalten auf, am liebsten hätte sie sich dafür selbst geschlagen. Noch bevor sie sich entschuldigen konnte, lenkte Hanryo von diesem, für ihn selbst sehr seelenwunden Thema ab: "Lass uns weitergehen. Jetzt, wo diese Angelegenheit geklärt ist, kommen wir schneller voran." Chikará war sehr froh über diese Worte, sie wollte ihn und sich selbst nicht länger quälen, dieses schlimme Ereignis wollte sie nur noch schnellstmöglich vergessen. "Wohin gehen wir nun?" "Siehst du den Turm da vorne?" Er zeigte auf ein guterkennbares, hohes Bauwerk, ungefähr zwei Kilometer vor ihnen stand es. "Ein alter Wachturm, er müsste nahezu unbeschädigt sein." "Was wollen wir dort?", fragte Chikará. "Lasse dich überraschen." Er ging weiter, ohne sich umzuschauen. Sie folgte ihn, jedoch drehte sie sich noch einige Male um, sie hatte die vergebliche Hoffung, dass Jimo vielleicht noch leben könnte und jeden Moment aufstehen würde. Er blieb liegen. Sie verstand das mit diesem seltsamen Dämon nicht ganz oder sie wollte es nicht verstehen. Dieser Gedanke, eine fremde Macht eignet sich eines Körpers an und kontrolliert ihn und man hast keine Chance gegen ihn, war für sie sehr schrecklich. Ob Jimos wahre Seele überhaupt noch alles realisierte, was mit ihrem Körper geschah? Ob seine Seele nun noch irgendwo weiterleben kann, wie es der Glaube der meisten Menschen besagt? Oder hat der Dämon ihr auch dieses Recht geraubt? Diese Fragen waren sinnlos, es gab keine eindeutigen Antworten auf sie, jedenfalls wusste Chikará keine und ihr sollten auch keine einfallen, deshalb versuchte sie diese Unklarheiten zu ignorieren und zu verdrängen, obwohl sie ihr hochinteressant erschienen. Der Weg wurde immer mühsamer, die Hauptstraße hatte immer tiefere, teils meterbreite Risse im Asphalt und war übersät von Steinbrocken und anderen Gebäudefragmenten. Selbst die zerstörten Konstruktionen schienen wie Tote langsam, aber sicher zu verwesen, für Chikará entwickelte sich dieser Ort immer mehr zur Verbildlichung von Ende der Welt. Soviel Tod und Zerstörung würde es bestimmt nirgendwo anders auf der Welt noch einmal geben, dachte sie sich. Es kam ihr auch irgendwie so vor, als wäre das Stadtzentrum viel beschädigter und als der Stadtrand, von dem aus sie aufgebrochen waren. Ein sehr seltsamer Gedanke, das wäre doch eigentlich sehr unwahrscheinlich? Wieso sollten die Menschen die Stadt in der Mitte mehr verwüstet haben als die äußeren Teile? Dort, im Stadtzentrum war doch bestimmt nichts so Wichtiges für die Drachen? Sie teilte ihre Gedanken Hanryo mit, vielleicht würde er es wissen? "Bilde ich mir das nur ein, oder sind die Gebäude im Stadtzentrum wirklich viel schlechter erhalten als die am Stadtrand?" "Das kann sein." "Warum denn, wieso haben die Menschen im Stadtkern mehr zerstört?" "Die Stadtmitte war der Stadtteil mit den reichsten Einwohnern, dementsprechend prachtvoll und schön waren die Bauten hier und die Menschen, die haben natürlich das Beste am gründlichsten zerstört, das nehmt man menschlichen Sadismus im Krieg." Natürlich war das eine Lüge, in Wirklichkeit war die stärkste Zone des Erdbebens in der Stadtmitte. Aber mit dieser Irreführung schaffte Hanryo es weiterhin, die Illusion des Niedergangs der Stadt aufgrund eines Krieges für Chikará aufrechtzuerhalten. Sie akzeptierte und glaubte ihn diese Geschichte, auch festigte sie ihren Friedenswillen weiter. Sie begann allmählich auch Kriege zu verabscheuen, nicht aus eigener Erfahrung und nicht aus eigener Überzeugung, sondern lediglich wegen Hanryos teils falschen Argumenten gegen Kriege. Aber würde Chikará ohne ihn genauso weiterdenken? Er hoffte es vom tiefsten Herzen, da er wusste, dass sich ihre Wege irgendwann wieder trennen würden, spätestens wenn er sterben würde. Er war sterblich, sie nicht, auch war er schon viel älter als sie, sein Leben würde bei weitem nicht mehr so lange andauern wie ihres. Das war das Schicksal von Kaiserdrachen, in ihrem hohen Lebensalter sahen sie mehr Freunde sterben und gehen als alle anderen Lebewesen. Früher oder später kam jeder von ihnen mindestens einmal in seinen Leben an eine Stelle, wo er wirklich alleine war, ohne Rat und Hilfe, wo er ohne jegliche Fremdeinwirkung wichtige Entscheidungen treffen musste und wo sich sein Schicksal und seine Zukunft ganz allein in seiner eigenen Hand befanden. Plötzlich blieb Hanryo kurz vor einer Abbiegung stehen und streckte seinen Arm vor Chikará aus, sie sollte ebenfalls stehen bleiben. Sie rührte sich nicht und blickte ihn verwundert an, er lehnte sich an eine Gebäudewand und horchte angestrengt. "Hörst du das?", fragte er sie. "Nein, was?" "Dieses Schmatzen." Sie stellte sich neben ihn an die Wand und lauschte angestrengt. Sie hörte es nun auch. Essensgeräusche, Schmatzen und lautes Kauen, sie entstanden hinter der Wand, hinter der Straßenabbiegung, vor der die beiden sich befanden. "Was ist das?", wollte sie wissen. "Wahrscheinlich sind da Ghuls, wir machen besser einen Umweg." "Sind sie gefährlich?" "Nein, eigentlich nicht, aber wieso sollten wir sie sinnlos bekämpfen? Das hier ist ihr Reich, wir sind die Eindringlinge, allein schon aus diesem Grund sollten wir keinen Kampf mit ihnen suchen." Sie nickte bestätigend und überzeugt. Hanryo blickte kurz auf seinen Stadtplan, danach drehte er sich um und zeigte auf eine enge Gasse rechts von ihnen. Der Umweg führte sie mitten durch einige verfallene Häuser und Hinterhöfe, es war viel eher ein klettern als gehen, viele Trümmerstücke blockierten den kleinen Pfad. Trotz der Unwegsamkeit mussten die beiden Drachen leise und vorsichtig sein, sie waren zeitweise nur etwa fünfzehn Meter weit von den Ghuls entfernt, die sich weniger leise benahmen und deutlich zu hören waren. Chikará interessierten diese Geschöpfe sehr, wie eigentlich auch alle anderen unmenschlichen Wesen, sie hatte eine starke Neigung zum Anormalen entwickelt, wahrscheinlich weil sie ja auch selbst kein alltägliches Wesen war. Es gelang ihr nicht, ihre Neugier ewig zu unterdrücken. An einer Stelle, wo alle Wände zur Straße hin zerstört waren, wo man also direkt zu den Ghuls durchblicken konnte, traute sie sich einen flüchtigen Blick zu den mysteriösen Kreaturen. Sie sahen nicht viel anders aus als der Untote aus der ersten Bibliothek. Bleiche und verstaubte Haut mit Rissen und blauen Flecken, tote, leere Augen, einige von ihnen hatten missgebildete Gliedmaßen. Sie waren größer als Menschen, bestimmt hätte sie durch keine durchschnittliche Tür hindurchgehen könnten ohne mit dem Kopf den Türrahmen zu berühren. Sie trugen Lederkleidung, jene war jedoch von sehr schlechter Qualität, vielleicht hatten sie sie sich selbst geschneidert, vielleicht sogar aus der Haut ihrer Opfer. Es waren sieben, sie aßen einen toten Körper, es könnte ein menschlicher gewesen sein, zu diesem Zeitpunkt konnte man es nicht mehr erkennen, zuviel hatten sie bereits gierig von ihm verschlungen. Sie rissen ihn die toten, schlaffen Gliedmassen ab und nagten von ihnen das Fleisch ab, ihre Münder waren blutverschmiert, ihre Zähne erinnerten an die von wilden Raubtieren, ihre starken Kiefer zermahlten sogar die Knochen ihres Opfers. Sie bemerkten ihren Zuschauer nicht, sie konzentrierten sich viel mehr auf ihr Essen, es war schon ein grausames und ekelerregendes Schauspiel, Chikará musste tief durchatmen. Sie musste sofort an Jimo denken, ihn würde wohl dasselbe schreckliche Schicksal zuteil werden. Sie fragte sich, ob es besser wäre so, als Leichenfressermahl zu verenden oder als Untoter durch die Ruinen wandern zu müssen? Sie wollte aber nicht über eine Antwort nachdenken, dies war ihr zu grotesk und widerwärtig. Auf einmal Hanryo klopfte ihr leicht auf die Schulter, sie sollte endlich weitergehen, sonst würde das hier zu gefährlich für sie beide. Sie folgte ihn schnell weiter durch die dunklen und zerstörten Gassen. Im Nachhinein bereute sie es, zu den Ghuls herübergeschaut zu haben. Sie hatten wieder eine gewisse Angst vor den Ruinen in ihr geweckt, es war keine richtige Angst, viel eher eine Abscheu oder eine Abneigung, jedenfalls wollte sie hier wieder weg. Allerdings überdauerte dieser Gedanke nicht lange, als sie weiterging und sich den widerwärtigen Kreaturen allmählich entfernte, kamen ihr Mut und ihr Ehrgeiz zurück. Diese Aufgabe war doch nichts im Vergleich zu dem, was sie noch erwarten würde, erklärte sie sich selbst. Die Geräusche wurden immer leiser, bis sie schließlich völlig verschwunden waren. Als die beiden Drachen mehr als fünfzig Meter von ihnen entfernt waren, nahmen sie wieder den richtigen Weg auf der Hauptstraße, welcher viel heller war als der durch die schattigen Hintergassen. Sie näherten sich immer mehr den Mittelpunkt der Stadt. Sie sahen schon von weitem einige hohe Gebäude, die noch standen, unter ihnen auch den Turm, den Hanryo vorhin als Ziel erklärt hatte. Ein Torbogen führte zum großen Stadtplatz, der umgeben war von einer Art Stadtmauer, von der jedoch nicht mehr viel übrig war, die Trümmerteile boten längst keinen Schutz und keine Grenze mehr. Der Torbogen war damals der einzige Weg auf den Stadtplatz, es war kein besonders großes Bauwerk, höchstens drei Meter musste sein einstiger Durchmesser betragen haben, die gelbbraunen Sandsteinwände waren durchlöchert und porös, es war lediglich eine Frage der Zeit, wie lange sie noch halten würden. Obwohl sie den Torbogen auch hätten umgehen können, schritten die beiden unter ihm hindurch, wie es früher die Einwohner der Stadt pflegten zu tun. An der rechten Innenwand befanden sich aufgemalte, dunkelbräunliche Schriftzeichen, Chikará entdeckte sie gleich, sie waren gut zu erkennen, wahrscheinlich waren sie noch nicht sehr alt, höchstens einige Jahre. Sie stammten aus der Standardsprache des Ostens und somit konnte das Drachenmädchen sie leicht entziffern: ,Monster!', dies war ihre Bedeutung, gemeint waren bestimmt die wandelnden Leichen und Ghuls. Sie ging etwas näher an die Schriftzeichen heran, erst jetzt sah sie, dass sie alle mit Blut aufgemalt wurden, ihr Atem stockte. Hanryo erkannte ihr Entsetzen, er konnte sich denken, dass Chikará wahrscheinlich glaubte, mit ,Monster' wären die Untoten gemeint, er aber hatte eine ganz andere, viel schlimmere Vermutung, er behielt sie dennoch für sich und tat so, als hätte seine Gefährtin recht. "Vielleicht sind hier mittlerweile mehr Leute durch diese Untoten umgekommen als durch den Krieg", sagte er trocken und entgegen seines Verdachtes. "Glaubst du, der Verfasser dieser Botschaft hat sie mit seinem eigenen Blut niedergeschrieben?", fragte sie, immer noch ungläubig auf die Schriftzeichen starrend. "Vielleicht", antwortete er und schwieg danach kurze Zeit. "Befass dich nicht so sehr mit den Schicksalen anderer Geschöpfe, das wird dich auf Dauer nur in den Wahnsinn treiben." Sie starrte noch einige Momente lang auf die Schriftzeichen, dann drehte sie sich mit gesenktem Kopf von ihnen weg und ging weiter durch den Torbogen "Du hast recht", bestätigte sie ihn nach kurzem Überlegen. Der Stadtplatz war kreisförmig angelegt und hatte eine enorme Größe, es waren vom Rand aus ungefähr siebzig Meter bis zur Mitte, wo sich eine alte Bronzestatue befand. Der Platz war vollkommen leer, keine Untoten oder Ähnliches waren zu sehen, nur wenig Gebäudefragmente lagen auf ihm, auch waren alle Bauten um ihn herum recht gut erhalten. Schwache, kalte Winde fegten über die ebene Fläche, sie wirbelten etwas Staub vom Boden auf, sie enthüllten ein verstecktes Geheimnis, die Bodenplatten waren nicht aus normalem Sandstein oder Asphalt, sondern aus rotem Gestein, was es genau war, war nicht erkennbar, jedenfalls war der Marsch auf diesem Material wesentlich angenehmer und leichter als auf dem brüchigen Straßenasphalt. Früher waren bestimmt Hunderte, wenn nicht sogar Tausende täglich auf diesem großen Platz, Chikará stellte es sich vor, ja, diese Stadt war damals bestimmt ein schöner Ort, viel schöner als die Ostmetropole. Hanryo ging geradeaus zur Statue im Zentrum, ohne ihr den Grund dafür zu nennen, was sie ein wenig verwundert, sie hatte aber zu diesem Zeitpunkt keine Lust, ihn danach zu fragen, sie war zudem langsam müde vom vielen Gehen. Der große leere Platz hatte auf sie eine besondere Wirkung, es war für sie wie ein Ort des Endes, ein finales Ziel nach einer Reise durch die Schatten der Zerstörung. Hier wurde nichts zerstört, hier gab es niemals etwas zu zerstören, dieser Platz war der letzte unveränderte Abschnitt der Stadt, ihr leeres, totes Herz, ob es noch schlug, war schwer zu sagen, selbst wenn es noch schlug, so würde es bald aufhören und endgültig sterben. Der Krieg und die Wesen des Todes hatten es erobert und in ihrer Gewalt, es gab keine Hoffnung und keine Zukunft mehr. Die Statue in der Mitte des Stadtplatzes stand auf einer kleinen weißen Marmorsäule, zumindest war sie früher weiß gewesen, heute bedeckte sie eine dichte Schicht aus Staubpartikeln. Die Figur zeigte einen Mann, er trug einen langen Mantel und schaute hoch zum Himmel, vielmehr war auch nicht zu erkennen, die Zeit nagte selbst an der beständigen Bronze, sie zerstörte sie und nahm ihr ihren einstigen Glanz. Was diese Statue einst darstellen sollte war längst vergangen, heute hätte man sie genauso gut als Bildnis eines Untoten ansehen können, schließlich waren sie die jetzigen Einwohner von Ryuchengshi. Die beiden Drachen blieben vor der Gestalt stehen. Hanryo wischte mit einer Hand ein verschmutztes Schild an der Marmorsäule sauber, damit man es wieder lesen konnte. Chikará beugte sich zu ihm, sie konnte es sonst nicht lesen ohne ihre Brille, die Reliefzeichen entzifferte sie schnell: ,Quanli'! Sie schreckte zurück, sie dachte an nichts mehr, ein tiefer Schock durchfuhr ihre Seele. "Dein Vater", sagte Hanryo leise. Er sollte es also wirklich sein, der, an die sie nicht die geringste Erinnerung besaß. Der, der einst die ganze Welt beherrschte und danach von den Menschen getötet wurde. Ihr Vater, ihr einziger Schlüssel zu ihrer verlorenen Vergangenheit. Aber diese Statue von ihm konnte kein einziges Rätsel lösen. Es dauerte einige Minuten bis sie aufhörte, entgeistert die Statue anzustarren, dann begann sie langsam und mit tiefer Stimme zu sprechen. "Ich kenne nicht mehr als seinen Namen, dieses alte Abbild zeigt mir auch nicht viel mehr von ihm. Ich habe keinen Vater, ich habe keinen Vater mehr, vielleicht hatte ich niemals einen, und selbst wenn ich einen gehabt hätte, so war er niemals für mich dar gewesen, als ich ihn brauchte", sie unterbrach und atmete tief durch. "Lass uns bitte weitergehen, ich will hier nicht länger bleiben." Hanryo legte seine warme Hand auf ihre Schulter und zog sie anschließend wieder langsam wieder von ihr weg, Chikará drehte sich seufzend von der Statue weg, sie hatte eine Träne im Auge, weshalb, wusste sie selbst nicht. Wieso trauerte sie jemandem nach, den sie niemals kannte, nur weil er ihr Vater gewesen sein soll? "Komm, wir gehen weiter zum Turm." Hanryo unterbrach ihren Selbstkonflikt, er ging schnell weg von der Statue. Chikará schaute noch ein einziges Mal zur Statue zurück, nein, es war nur in Form gegossene Bronze, was sie darstellen sollte war unwichtig und sowieso nicht mehr klar erkennbar. Sie schüttelte den Kopf und lief Hanryo hinterher ohne einen weiteren Gedanken an ihren vergessenen und toten Vater zu verschwenden. Am anderen Ende des Platzes stand der hohe Turm, den sie bereits von weitem gesehen hatten, es war einst ein Wachturm, der hauptsächlich zur Überwachung des Stadtplatzes diente. Er war erstaunlich gut erhalten, nur wenige Schäden waren zu erkennen, lediglich einige winzige Risse und kleine Einbrüche, eigentlich passte dieses ungefähr dreißig Meter hohe Bauwerk nicht hierhin in die Ruinen, es hätte ebenso in einer heutigen, normalen Stadt stehen können. Eine Tür gab es nicht mehr, drinnen führte eine steinerne Wendeltreppe hoch zur Aussichtsplattform, im Innenraum des Gebäudes schien ebenfalls noch alles stabil und nahezu unversehrt zu sein, nur Unmengen Staub und Spinnweben hatten mit der Zeit den freien Bereich in Anspruch genommen. Oben, hinter der letzten Treppenstufe, befand sich ein runder leerer Raum, über dem direkt das Dach des Turmes war, viele einhalbmetergroße Fenster ermöglichten an einen Ausblick in alle Himmelsrichtungen. Da die Glasscheiben längst verschwunden waren, konnte man sich auch aus den großen Wandöffnungen herauslehnen, Chikará begab sich zu einer von ihnen und genoss die Aussicht auf die Stadt aus dreißig Metern Höhe. Die Ruinen waren wirklich gigantisch, von hier oben konnte sie genau sehen, wie weit sie bereits gegangen waren, undeutlich waren in der Ferne die Felswände der Schlucht zu erkennen. "Lehne dich nicht zu weit raus, sonst könnten dich Untote sehen", sagte Hanryo. Sie drehte sich daraufhin zu ihm um, er packte gerade an der gegenüberliegenden Wandseite einen Schlafsack aus, sie konnte sich vorstellen, was dies bedeuten sollte. "Das meinst du doch nicht ernst, oder?", fragte sie überrascht und mit böser Vorahnung. "Ich werde zuerst bis zum Sonnenuntergang schlafen, also ungefähr drei Stunden wären das jetzt noch, du schiebst in der Zeit Wache. Danach, wenn die Sonne untergegangen ist, weckst du mich, wir essen dann zu Abend, im Anschluss daran passe ich auf und du kannst bis zum Sonnenaufgang schlafen, einverstanden?" "Habe ich eine Alternative?" "Eigentlich nicht. Tagsüber unternehmen die Untoten nicht viel, die meisten von ihnen sind nachtaktiv, mache dir also keine Sorgen und außerdem kannst du mich ja jeder Zeit wecken, falls es dennoch Probleme geben sollte." Noch bevor Chikará weiteren Protest äußern konnte, legte sich der erschöpfte Drachenmann in den Schlafsack und schlief nach kurzer Zeit ein. Sie stand da und dachte immer noch, dass dies eventuell nur ein Scherz sein könnte und er jeden Moment wieder aufstehen würde. Nach einigen Minuten realisierte sie, dass seine Worte ernstgemeint waren. Wie konnte er sie hier alleine lassen und einfach schlafen, sie konnte doch noch nicht einmal allzu gut kämpfen, geschweige denn hatte sie so etwas wie Mut, wenn sie alleine war? Sie lief panisch zu einigen Fenstern und schaute aufgeregt hinaus, zum Glück waren keine Untoten in der Nähe zu sehen, dem ungeachtet zog sie vorsichtshalber ihr Schwert aus der Ummantelung und hielt es hoch, so als hätte sie jeden Moment jemanden angreifen wollen. Sie hörte ein leises Knistern und drehte sich blitzartig um. Hanryo hatte sich nur im Schlafsack bewegt, Erleichterung überkam sie und sie sah auch ein, dass sie etwas leiser sein sollte, um ihn nicht aufzuwecken, er hatte sich diese Pause wirklich verdient. Es war vielleicht schwer, mit ihm richtig zu reden, aber trotzdem war er genau der richtige Begleiter für solche Ausflüge an vergessene Orte. Sie vergaß langsam ihre Angst, legte ihr Schwert wieder weg und ging zurück zum Fenster, sie schaute runter auf den Stadtplatz. Diese blöde Statue, was sollte sie schon sein? Immerhin hatte sie es Chikará ermöglichst, zum ersten Mal in ihrem Leben ihren Vater zu sehen. Als sie sich die Figur noch einmal genau vorstellte, sah sie in ihren Gedanken eine gewisse Ähnlichkeit zu sich selbst, sein Gesicht war jugendlich ausgearbeitet, sehr symmetrisch und schön, der restliche Körper wirkte dünn, aber nicht schwach. Vielleicht bildete sie sich diese Parallelen auch nur ein, vielleicht wollte sie diese Übereinstimmungen nur wahrnehmen, auch wenn sie in Wirklichkeit vielleicht gar nicht existierten? Hatten diese Überlegungen überhaupt irgendeinen Sinn? Er war tot, sie hatte nicht die geringste Erinnerung an ihn, wieso sollte sie also so sein oder so werden wie er? Sie hatte zwar seine Kraft und seine Fähigkeiten, nicht aber sein Imperium und seine Macht, sie war doch nur ein dreckiges kleines Mädchen aus den Slums, er war der Herrscher der gesamten Welt. Er hinterließ ihr kein Erbe und keine Erinnerungen, seine Macht und sein Imperium waren längst untergegangen, vielleicht hatte er es auch nicht anders verdient? Chikará bemerkte, dass sie nur die Meinungen von Hanryo und Akashia adoptierte, ohne jene großartig zu bezweifeln oder zu hinterfragen, aber eine eigene Meinung konnte sie sich schließlich nicht machen, nein, sie wusste doch selbst überhaupt nichts von der Vergangenheit. Gerne hätte sie noch eine andere Version gehört, eine, in der ihr Vater gut und gerecht gewesen wäre, eine, in der auch sie ihre wahre Position gefunden hätte. Sie konnte zwar ihren beiden Freunden glauben, aber es gab da doch, ihren eigenen Erzählungen zu folge, auch noch eine andere Gruppe, die ihren Vater treu ergeben war und die nun versuchte, sein Reich wiederauferstehen zu lassen. Vielleicht wären sie eine viel bessere Orientierung als Hanryo? Ihr Weg zur Wiedergeburt der Drachenherrschaft war jedoch mit einem Krieg verbunden, sie hatte zwar niemals einen Krieg miterlebt, aber diese Stadt zeigte ihr sehr wohl, was ein Krieg anrichten konnte. Wäre dieses Leid und diese schier grenzenlose Zerstörung wirklich gerechtfertigt, um die Vergangenheit zur Zukunft zu machen? Wieso sollte es eigentlich die Weltherrschaft sein? Eine Wiedervereinigung der Drachen, eine Gemeinschaft dieser alten Rasse, so wie es sie vor vielen Jahrhunderten gab, wäre das nicht ein viel wünschenswerteres Ziel? Ein friedliches und glückliches Zusammenleben aller noch übrigen der Drachenart bis zum Ende der Welt oder bis zum Ende ihrer langen Leben? So etwas wie eine Familie, eine Familie, die sie niemals hatte? War dies nicht genau das Ziel von Hanryo? Chikarás Entscheidung stand fest. Am Horizont ging langsam die Sonne unter, die Ruinen und der Himmel wurden in purpurne Farbtöne getaucht, es waren liebliche und zugleich seelenlose Farben, so künstlich und unnatürlich wirkten sie auf den sandfarbenen Gebäuden in der Schlucht. Der Stadtplatz war immer noch leer und tot, auch die Verfärbung gab ihn keinen Funken Leben. Langsam verschwand das helle Licht der Sonne völlig, der Mond ging auf und die Sterne zeigten sich, in dieser Nacht war das Firmament klar und beinah wolkenlos, man konnte viele wunderschöne Sternbilder sehen. Sterne, verlorene Lichter in der ewigen Finsternis. Chikará erinnerte sich an eine alte Legende, die sie vor vielen Jahren gehört hatte, die davon berichtete, dass für jeden guten Menschen, der stirbt, ein neuer Stern am Himmel erscheint. Ob für Mián auch einer erschienen war? Sie war ein guter Mensch und sie fehlte ihr sehr, sie war für lange Zeit ihre einzige Freundin auf dieser kalten und bitteren Welt. Ob Hanryo sie ersetzen konnte? Nein, man konnte Seelen nicht ersetzen, man konnte lediglich ähnliche finden, und Hanryo ähnelte ihr schon ein wenig, wie sie kümmerte nun er sich um das Drachenmädchen, damals war sie ihr einziger Halt im Leben, jetzt war er es. Ihr fiel auf, wie schnell die Zeit vergangen war, es war bereits stockdunkel, sie sollte ihn allmählich aufwecken. Sie ging zu ihm, beugte sich zu ihm herunter und rüttelte mit meiner Hand sanft an seiner Schulter. "Hanryo, steh auf, die Sonne ist gerade untergegangen", sagte sie leise und behutsam. Er erwachte und öffnete langsam seine tiefgrünen Augen. "Gab es keine Probleme oder Zwischenfälle während ich schlief?" "Nein, es kamen nur fünfzig Untote hier hoch gestürmt, aber ich habe sie alle alleine erledigt, damit du in Ruhe weiterschlafen konntest." Er lachte und stand langsam auf. Aus seinem Rucksack holte er eine Taschenlampe, er leuchtete mit ihr nur auf den Boden des Raumes, damit die Untoten den Lichtkegel nicht von unten aus sehen konnten. Das Abendessen der beiden bestand aus Reiskeksen und Wasser, Chikará hätte viel lieber etwas anderes zu sich genommen als trockenes Gebäck mit geschmackloser Flüssigkeit, aber dieses Essen war wohl das beste für solche Abenteuer. Die Kekse machten schnell satt und gaben neue Kraft, das Wasser war leicht und ebenso wie das Reisgebäck leicht verdaulich und lange haltbar, also hervorragend als Reiseproviant geeignet, manchmal war halt der Zweck wichtiger als der Genuss, dachte sie sich. Mit der Zeit begann die Ration ihr sogar ein wenig zu schmecken, es war immerhin viel besser als das, was sie noch vor einigen Tagen täglich essen musste. "Ich bereue es, dir eben die Statue gezeigt zu haben, es war ein Fehler von mir, ich dachte, sie könnte vielleicht Teile deiner Erinnerungen zurückrufen, verzeihe es mir bitte", sagte Hanryo, nachdem er den letzten Keks gegessen hatte. "Ich bin wirklich froh, dass du sie mir gezeigt hast. Jetzt habe ich immerhin ein Bild von meinem Vater in meinen Gedanken, dass die frühere Leere ersetzt, zwar ein sehr ungenaues, aber das ist besser als nichts. Ich wollte mich auch noch bei dir dafür entschuldigen, dass ich dich vorhin so ausgefragt habe über Jimo, ich hätte erkennen sollen, dass dir sein Schicksal so nah ging." "Ach, weißt du, ich kenne zwar meine Vergangenheit, dennoch erinnere ich mich nur sehr ungern zurück, zuviel Trauer steckt in meinen Erinnerungen." Beide schwiegen einige Sekunden, dann holte Hanryo zwei Dosen Bier hervor und gab eine Chikará, die sehr verdutzt darüber war und ihn ungläubig anstarrte. "Ich weiß doch, wie gerne du Alkohol magst", erklärte er grinsend. "In den Slums und heute morgen hast du stark danach gerochen, und erst recht nach solchen Wanderungen an Orten der Dunkelheit sollte man sich ein bisschen was davon gönnen." "Danke", erwiderte sie freudig. Sie öffnete ihre Dose und trank hastig vom lauwarmen Bier. Sie mochte den Alkoholgeschmack auf ihrer Zunge wirklich sehr, von einer Suche jedoch war noch lange nicht zu sprechen, lediglich von einem kleinen, aber unsterblichem Bedürfnis. Es war ihr zudem etwas peinlich, von ihm so direkt auf diese Schwäche für alkoholische Getränke angesprochen zu werden, aber das vergaß sie nach den ersten kräftigen Schlücken schnell wieder. "Musst du mich eigentlich nicht mit ,Ehrwürdige Kaiserin' oder so ansprechen?", fragte sie leicht angetrunken. "Da müsstest du mich doch wohl noch eher ,Erhabener Lehrmeister' nennen", konterte er. Sie lachte daraufhin kurz, er grinste nur flüchtig. "Ich weiß überhaupt nichts über dich, erzähle doch mal was von dir?", forderte sie ihn auf. "Was willst du wissen?" "Erzähl was von deinem Privatleben." "Du bist seit kurzem mein gesamtes Privatleben." Sie lachte erneut. "Und vor mir?" "Ich war einmal verheiratet." Sie kicherte hämisch. "Sie starb leider vor etlichen Jahren", entgegnete er mit einer plötzlichen Traurigkeit und mit tiefer Demut. Chikará hörte direkt auf, sich über ihn lustig zu machen, sie hatte solch eine tragische Antwort nicht im entferntesten erwartet. Schon wieder hatte sie ihn ungewollt an einem sehr wunden Punkt getroffen, aber woher hätte sie das denn wissen sollen? Sie wurde schlagartig auch sehr melancholisch und schwermütig. "Das tut mir leid", versuchte sie sich mit gesenkter Stimme zu entschuldigen. "Die Zeit heilt alle Wunden, egal wie tief und schwer sie waren, alles was bleibt sind Narben." "Ich wusste das nicht, entschuldige bitte mein Lachen vorhin." "Es ist schon gut, du konntest es schließlich auch nicht wissen. Seitdem ich sie verloren habe, bin ich viel einsamer und verschlossener geworden. Ich glaube, ich werde mich niemals damit abfinden können, sie verloren zu haben. Ich habe nach ihrem Tod niemals wieder etwas für eine Frau empfunden, wirklich überhaupt nichts und ich bezweifle, dass sich dieser Zustand irgendwann noch mal ändern wird." Sie sagte nichts darauf, sie starrte nur bedauernd und unfähig zu sprechen zum Boden. "Ich kann mir gut vorstellen, wie schwer das ist", sprach sie schließlich, dabei sah sie in ihrem Kopf ein Bild von Mián. "Das Leben ist halt manchmal zu hart und gnadenlos, das kann niemand ändern." Sie schwiegen einige Minuten, bis Chikará auf einmal laut gähnte und ihre Augen vor Erschöpfung kurz schloss. "Bist du müde?", fragte er sie. "Ja, sehr." "Dann lege dich ruhig schlafen, ich werde aufpassen bis zum Sonnenaufgang." Sie legte sich ohne zu zögern in den Schlafsack und drehte dann ihren Kopf noch einmal zu Hanryo, eigentlich wollte sie ihm noch ,Gute Nacht' sagen, aber sie war so müde, dass sie es nicht mehr schaffte, ihre schweren Augenlider fielen zu, ihr müder Körper erschlaffte, sie schlief langsam ein. Er lächelte kurz und räumte die Reste des Abendessens weg. Das Schlafelixier, das er vor dem Ausflug in ihre Dose gefüllt hatte, schien ausgezeichnet zu wirken. Er hatte befürchtet, dass sie vielleicht aus Angst vor den Untoten nicht hätte schlafen können, was sich jedoch inzwischen als Irrtum erwiesen hatte. Sie war viel besser für solche Abenteuer geeignet, als er es erwartet hatte, bestimmt hätte sie auch ohne den Schlaftrunk heute Nacht Ruhe gefunden. Er sah sie einige Zeit lang an, er fand, dass sie schlafend richtig niedlich aussah und schön war sie, ohne Frage, sie hatte ihr Schicksal wirklich nicht verdient. Er machte die Taschenlampe aus und setzte sich neben eines der Fenster, ein kalter Wind wehte durch die Wandöffnung, er hörte sich wie ein Klagelied der Untoten an, welches ihn aber nicht beeindruckte. Er schaute hinaus zu den Sternen. Zweiter Tag ----------- Am nächsten Tag war das Wetter wesentlich unfreundlicher und unruhiger als am vorherigen, die helle Morgensonne wurde von dichten, grauen Regenwolken überschattet und es regnete ununterbrochen. Das herunterprasselnde Wasser sammelte sich am Boden, wo es sich mit dem trocken Staub der Gebäuderuinen vermischte und so zu ockerbraunem Schlamm wurde. Hanryo beobachtete vom Fenster des Wachturmes aus die fallenden Tropfen, er sah sie mit gemischten Gefühlen, nicht nur der Weg würde jetzt moorähnlich werden, auch könnten sich die Katakomben mit Wasser füllen, aber zumindest würde der Regen ihnen Schutz vor den Untoten bieten, jene verabscheuten das Wasser, wahrscheinlich weil sie mit ihren oftmals verkrüppelten Gliedmaßen nicht schwimmen konnten und deshalb sogar um kleine Wasserlöcher einen großen Bogen zu machen pflegten. Sie würden dennoch bestimmt keine Zuflucht in den Katakomben suchen, sie wussten garantiert, was dort unten existierte, Chikará würde es ebenfalls bald erfahren. Er ging zu ihr und beugte sich zu ihr herunter, sie schlief noch tief und fest, gerne hätte er sie noch etwas länger ruhen gelassen, aber es wurde Zeit zum Aufbruch. Er rüttelte leicht an ihren Schultern, um sie aufzuwecken. "Es wird Zeit aufzustehen", flüsterte er ihr behutsam ins Ohr. Sie bewegte sich und öffnete ihre müden Augen, streckte ihre Arme aus und stand langsam und etwas benebelt auf, sie gähnte laut, als sie dann zum Fenster blickte, verschwand ihre Schläfrigkeit schlagartig. "Es regnet ja", bemerkte sie überrascht. "Das Wetter können wir leider nicht beeinflussen, normalerweise regnet es hier so gut wie niemals." "Nun, meine Kleidung ist sowieso mittlerweile nicht mehr vorzeigbar, etwas Wasser und Schlamm werden ihr jetzt auch nicht mehr schaden können." "Der Eingang zu den Katakomben ist nicht weit entfernt, falls es dich interessiert, dort unten gibt es wahrscheinlich keine Untoten." "Genauso wie es hier normalerweise keinen Regen gibt?", entgegnete sie ihm vorlaut. "Untote sind nichts im Vergleich zu dem, was uns unter der Erde erwartet." "Sollte ich mich etwa fürchten?" "Du fürchtest dich doch sowieso immer?", sprach er grinsend und sammelte ihr Gepäck zusammen. Das Dach des Turms ließ glücklicherweise kein Regenwasser durch, somit waren ihre Sachen noch trocken und die Treppe nach unten nicht rutschig. Von der Eingangpforte aus, schaute Chikará zweifelnd nach draußen auf die fallenden Tropfen und auf den matschigen Boden. Sollte ein bisschen Wasser mit verflüssigter Erde ihr vielleicht mehr Respekt einflossen als ein Gegner? Nein, sagte sie sich und schritt muterfüllt hinaus ins Freie, Hanryo ging neben ihr und zeigte ihr den Weg, die ersten Wassertropfen auf ihrer Haut und auf ihrer Kleidung spürte sie noch deutlich, ihre Nässe und ihre Kälte. Chikará umging die großen Schlammpfützen und versuchte hauptsächlich auf die noch halbwegs trockenen Stellen zu treten, immer ihren Gefährten an der Seite bleibend und stets aufmerksam zum Boden schauend, trotzdem trat sie etliche Male in einige zentimetertiefe Wasserlöcher, ihre Turnschuhe waren schon bald triefendnass. Der heftige Regen durchnässte schnell die gesamte Kleidung der beiden, aber das machte ihnen jetzt auch nichts mehr aus, jetzt erst recht nicht mehr, solche Kleinigkeiten ignorierte sie, da sie sie nicht im geringsten behinderten. Nur das laute Prasseln des Regens nervte Chikará allmählich, wie Hammerschläge drangen die harten, monotonen Klänge in ihre Ohren, irgendwie bedeutete der Regen aber auch etwas Schönes und Angenehmes für sie, was sie sich jedoch selbst nicht wirklich erklären konnte. Ein ziemlich schlecht erhaltenes Haus, es war einst das Rathaus der Stadt gewesen, betraten die beiden, nur noch Trümmerwalle zeigten, wo früher die Wände standen, da es kein Dach mehr gab, fielen die kühlen Tropfen weiterhin auf sie herunter. Nachdem sie einige der völlig zerstörten Zimmern durchquert hatten, erreichten sie eine Treppe, die tief nach unten ins Erdreich führte. Chikará zählte beim Heruntergehen ungefähr zweihundert steinerne Stufen, als das Tageslicht nicht mehr ausreichte, schalte Hanryo seine Taschenlampe an und leuchtete ihnen den Weg, auch hörten sie irgendwann keine Regengeräusche mehr oberhalb von ihnen. Am Ende der Treppe begann das komplexe Tunnelsystem, künstlich angelegte Höhlen aus grauem Kalkstein, der älteste Teil von Ryuchengshi, ein großes Labyrinth, das nicht nur als Zufluchtsort für Notfälle diente, zugleich war es früher einmal ein Massenfriedhof und ein Gefängnis gewesen. Die Gänge waren relativ groß und breit angelegt, bei einer Flucht oder Evakuierung hätten wahrscheinlich binnen kurzer Zeit viele Leute gleichzeitig denselben Weg benutzen können, es gab auch damals noch dicke und stabile Grenztore, die jedoch schon längst nicht mehr existierten. Viele der Pfade wurden durch das Erdbeben zugeschüttet oder waren irgendwann im Laufe der Zeit eingestürzt, zum jetzigen Moment konnte man die Katakomben dennoch ohne Bedenken betreten, die Gefahren hatten die Ewigkeit nicht überdauert und mit einem gesunden Maß an Vorsicht würde schon nichts Großartiges passieren. Durchgesickertes Regenwasser tropfte an vielen Stellen von der Decke hinunter, Spinnweben, Pilze und Schimmelflecken überdeckten oftmals die uralten Wände, in die mancherorts Schriftzeichen gemeißelt waren, sie stellten wohl Wegweiser dar, dachte sich Chikará. Hanryo bestrahlte sie mit der Lampe und lass ihre Botschaft, seine Gefährtin bemühte sich sie ebenfalls zu entziffern, es gelang ihr aber nicht, zu ungebräuchlich und undeutlich waren die alten Symbole. Die Luft dort unten war zäh und stickig, es war ungewöhnlich warm, beschwerlich wurde der Marsch durch diese unsichtbare Barriere. Chikará schwitze stark, was ihr aber noch nicht einmal selbst auffiel, da ihre Kleidung schließlich noch vom Regen völlig durchnässt war und weil ein fauler Gestank überall zu riechen war, bemerkte sie auch ihren eigenen Schweißgeruch nicht, Hanryo fiel dies jedoch auch nicht auf. Dieser Ort unter der Erde bereitete ihr nicht besonders viel Angst, vielleicht lag es auch nur daran, dass sie sich immer noch in einem gewissen Halbschlafzustand befand und ihre Umgebung nur bedingt wahrnehmen konnte, frühes Aufstehen und Aufstehen allgemein gehörten wohl zu ihren größten Schwächen. Manchmal hörte sie das Quicken von kleinen Nagetieren, ob es Ratten, Mäuse oder andere Geschöpfe waren, konnte sie nicht herausfinden, jedenfalls waren es keine Untoten, worüber sie sehr froh war. Nach ungefähr einer Viertelstunde stießen die beiden Drachen auf Unmengen von Knochen, wahrscheinlich waren es menschliche, sie schienen noch nicht allzu alt zu sein, da sie noch gut erhalten waren und damit leicht ihren einstigen Lebewesen zugeordnet werden konnten. Es waren wohl die Überreste von sieben Personen, zumindest lagen dort sieben menschliche Totenschädel, Hanryo bückte sich, um sich den Knochenhaufen genauer anzusehen und um sein Alter besser abschätzen zu können. "Sie sind nicht sehr alt, bestimmt weit weniger als zwanzig Jahre, schätze ich, was heißt, dass sie keine Zeugen des Krieges um diese Stadt sein können. Vielleicht waren es einst Plünderer oder Abenteurer, die sich hierhin verlaufen hatten und den Ausgang nicht mehr fanden?" Chikará schwieg, ihre nachträgliche Müdigkeit war inzwischen völlig verschwunden, sie betrachtete die Leichenreste gefühllos und ohne großes Mitleid. Die Worte ihres Begleiters vom Vortag zeigten jedoch ihre Wirkung, sie trauerte nun nicht mehr jedem Wesen hinterher, sie hatte auch selbst eingesehen, das Trauer und Gedanken über jeden, der sein Leben lässt, nur entkräften und behindern. Bei Hanryo verhielt es sich nicht anders als bei ihr, er ging nach vorne schauend an dem Knochenhaufen vorbei und weiter durch den dunklen Gang, sie zögerte nicht und folgte ihm eilig, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie musterte im weiteren Verlauf ihrer Katakombenwanderung besonders die Wandverzierungen der Höhlengänge. Sie zweifelte zeitweise sogar daran, dass Hanryo wirklich den Weg kennen würde, weil es ihr so vorkam, als wären sie nur im Kreis gegangen, sie hatte versucht sich die Schriftzeichen zu merken und bildete sich ein, dass es immer dieselben gewesen wären, was sie jedoch nicht waren. Wahrscheinlich hätte jeder Laie sie für dieselben gehalten, ihre Ähnlichkeiten waren deutlicher ausgeprägt als die kleinen Unterschiede, die lediglich Hanryo erkannte, er war diesen Weg schon öfter als einmal entlang gegangen. Wie gerne hätte Chikará ihre Botschaft erfahren, neugierig sprach sie Hanryo auf die mysteriösen Zeichen an: "Diese in die Wand gemeißelten Wegweiser, was sagen sie dir?" "Wegweiser?", wiederholte er verwundert und hielt an. "Das sind Gräber." "Gräber?" Sie erschreckte sich einwenig. "Ja, was dachtest du denn, was man früher den Leichnamen von Drachen gemacht hat?" "Man hat sie doch wohl nicht wirklich in die Wände eingemauert?", fragte sie ungläubig. Er nickte nur und ging weiter, sie folgte ihn kopfschüttelnd und machte sich bald keine Gedanken mehr darüber. Chikará gewöhnte sich nicht an die unterirdische Dunkelheit, die ihr erst im Laufe der Zeit richtig auffiel, auf Dauer machte sie die Lichtlosigkeit etwas vorsichtiger, vielleicht auch etwas ängstlicher, sie war diese beinah völlige Finsternis nicht gewohnt. In den Slums war immer alles, auch nachtsüber, hell und beleuchtet, die unzähligen Neonlaternen und elektrischen Strahler überall, dort endete der Tag niemals wirklich. Das hier war genau das Gegenteil davon, eine Welt, in der die Nacht niemals endete, nur Hanryos Taschenlampe spendete einen Hauch von Licht, es war nicht viel, aber ohne dieses kleine Bisschen hätte sie wohl Panik bekommen. Lebewesen gab es hier unten, im tieferen Erdreich auch nicht mehr, keine Insekten und nicht mal Parasiten, hier wollte scheinbar überhaupt nichts leben, zwar gab es Spinnenweben, aber keine einzige Spinne zeigte sich aus ihrem Versteck, sofern sie überhaupt noch hier verweilten. Die toten Höhlen waren noch eine Steigerung der toten Ruinen, dachte Chikará sich, die Welt über ihr hatte sie schon als Ende der Welt bezeichnet, was wäre das hier unten dann? Jedenfalls waren diese Katakomben der unheimlichste und tristeste Ort, den sie bis dahin jemals gesehen hatte, sie fragte sich, weshalb Hanryo sie hierhin geführt hatte, wie wichtig müsste ihm der Grund oder das Geheimnis dieses Höhlenkomplexes sein? Chikará hätte ihn gerne danach gefragt, aber da sie sich seine viel zu allgemeine Standardantwort schon denken konnte, ließ sie es bleiben. Irgendwann, nach zahlreichen Abbiegungen und weiteren Treppen nach unten, noch tiefer ins Erdreich, stolperte sie fast über irgendetwas, daraufhin stieß sie vor Schreck einen lauten Schrei aus. Hanryo leuchtete sofort zu ihr, auf dem Boden lag eine Leiche, ihr fehlten der Kopf und ein Arm, ihre Kleidung war zerrissen. Ihre Hautfarbe, ihre Gestalt und die Tatsache, dass nirgendwo Blutspuren zu erkennen waren, wiesen auf die Tatsache hin, dass es sich entweder um einen Untoten oder einen Ghul handeln musste, also war das Wesen wohl schon tot, bevor es hierher fand, jetzt war es zumindest bewusstlos und somit handlungsunfähig und ungefährlich. Chikará schaute Hanryo grinsend an. "Hier unten gibt es keine Untoten?" Er war sprachlos und überlegte angestrengt und gründlich, wie diese Kreatur hierhin gekommen sein könnte, erfolglos, er konnte es sich einfach nicht erklären und fand keine sinnvollen und realistischen Begründungen für dieses Phänomen. "Gut, ich habe mich geirrt", gab er zu. "Aber das ist wirklich sehr ungewöhnlich. Vielleicht hat er sich ja nur verlaufen oder so?" "Und wer oder was hat ihn so zugerichtet?" Er zuckte mit den Schultern. "Das kann doch eigentlich gar nicht wahr sein, die Katakomben sind verflucht, die Untoten zwar auch, aber sie würden sich normalerweise niemals hier herunter wagen." "Wieso denn nicht?" "Den Grund dafür will ich dir zeigen, es ist unser Ziel, es ist nicht mehr weit. Komm, wir sollten weitergehen." Es dauerte nicht lange, bis Chikará erneut auf irgendwas Großes trat, das nur etwa zehn Meter weit von dem Untoten entfernt lag. Man hörte etwas durchbrechen unter ihrem Fuß, was bei ihr einen kleinen Schrecken verursachte, aufgescheucht sprang sie zurück. Hanryo leuchte schnell zu jener Stelle, er hatte nämlich die Vermutung, dass es sich eventuell um eine weitere Leiche handeln könnte. Der Lichtkegel zeigte es ihn, es handelte sich wirklich um einen weiteren Leichnam, wieder sah es so aus, als wäre es ein Untoter, der ein zweites Mal ins Totenreich gewandert war und dessen schwerverwundeter Körper nun auf seine Rückkehr wartete. Chikará atmete schwer und unregelmäßig vor Entsetzen. "Sind hier noch mehr?" Hanryo leuchtete weiter nach vorne, den Gang entlang, wo, wie sie jetzt sahen, alle paar Meter ein niedergemetzelter Rumpf eines Untoten lag. Sie atmete noch einmal tief durch, bevor sie weitersprach: "Was ist hier passiert?" Er antwortete nicht und ging unbeeindruckt weiter. "Wer? Wer war das?", fragte sie energisch. Erneut ignorierte er die Frage seiner Gefährtin. "Wer verdammt?" Sie wurde wütend. "Ein Drache, einer von uns?" Er blieb stehen. "Ja, wahrscheinlich", antwortete er wehmütig und setzte seinen Weg schweigend fort. Chikará schwieg von nun an ebenfalls und folgte ihm langsam, wobei sie immer wieder zu den bewusstlosen Untoten herunterschaute und versuchte, sich den Verursacher dieses Massakers vorzustellen. Ein Drache war es also, vielleicht Jimo? Nein, im Kampf gegen ihn zeigte sich, dass er nicht gerade der stärkste und erfahrenste Kämpfer war, seine Kraft hätte niemals für solch eine Tat ausgereicht. Wer sollte es dann sein? Ein mächtiges und zugleich gefühlloses Wesen, das die Dunkelheit der Katakomben ebenso liebte wie das Kämpfen und Töten, ein Wesen, dessen Charakter erfüllt war von Hass und Wut, eine vergessene Seele an diesem vergessenen Ort, vergessenen in dieser schier endlosen Finsternis. Um was für ein seltsames Schattenwesen handelte es sich nur? Sie fand keine hinreichende Lösung auf dieses Rätsel, zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht, obwohl sie sich sehr nach einer sehnte und intensiv darüber nachdachte während ihres weiteren Marsches. Die beiden erreichten schließlich einen großen Korridor, das Ende der Katakomben. Es war ein langer Flur, an dessen Seiten sich Gefängniszellen befanden, das schwache Licht der Taschenlampe zeigte nicht viel mehr von ihnen. Dunkles Steingrau und tiefes Schwarz dominierten die Umgebung, die Schrittgeräusche der beiden waren die einzigen Töne, die die Stille des Todes brachen. Wie im letzen Gang, so lagen auch im Korridor Leichen, wild verstreut und verstümmelt, wie als hätte eine übernatürliche Macht sie bekämpft, eine gewaltige, nahezu göttliche Macht. Hanryo und Chikará gingen, ohne irgendwann auch nur einziges Mal stehen zu bleiben, geradeaus durch den Flur, beide dachten nicht mehr über die Untoten nach, sie wussten, dass ihr Ziel nahe war. Am Ende des Korridors befand sich die größte Zelle, ihre rostige Gittertür war offnen. Hanryo blieb vor der offnen Tür stehen und starrte auf den dunklen Zellenboden. "Es ist genauso, wie ich es vermutet habe. Hier war er, dies sollte sein Gefängnis für die Ewigkeit sein", sagte er leise und mit tiefer Stimme, bevor eine alte Erinnerung an diesen Ort wie ein Blitz durch seinen Verstand fuhr: * "Was führte dich zu mir, Hanryo? Nahezu fünfzig Jahren sind seit deinem letzten Besuch vergangen?" "Du bist immer noch einer von uns, obgleich du verurteilt bist, hier unten dein Dasein zu fristen." "Was geschieht in der Welt über mir?" "Die Welt zerbricht immer mehr, viele Menschen leben in Armut und Hungersnot. Die Maschinen der Jishus erleichtern zwar ihren Alltag, jedoch führen sie genauso zur Arbeitslosigkeit der unwichtigeren Arbeiter. Der Osten hat wieder einen neuen Kaiser, die Hauptstadt des Osten ist wunderschön geworden." "Hast du noch welche von uns auf deinen Reisen getroffen?" "Nein, wir sind ein aussterbendes Volk, nach meiner Generation folgt keine mehr. Niemanden mehr von uns fand ich, weder im Osten noch im Westen, ebenso wenig fand ich diejenige, nach der ich schon so lange suche." "Du wirst sie eines Tages treffen, da bin ich mir sicher." "Hoffentlich, wenn es für uns noch eine letzte Rettung gäbe, dann wäre sie es." "Gehen die Verschwörungen aus unseren eigenen Reihen weiter?" "Ja, leider. Sie bezeichnen uns als ,Verräter', ihre Vorhaben sind fern jeder Realität, aber sie haben zum Glück niemanden, der ihnen helfen wird und alleine können sie nichts unternehmen. Ich hörte zwar Gerüchte, dass sie mit den Jishus Verträge schließen würden, dies kann ich mir jedoch kaum vorstellen." "Wieso lässt du mich nicht dein Gefährte werden, ich würde dir bei deiner Suche helfen und dich im Kampfe gegen die Abtrünnigen unseres Volkes unterstützen? Es liegt doch alles so weit in der Vergangenheit, Ryuchengshi existiert längst nicht mehr, niemanden interessiert mein Verweilen hier, warum lässt du mich nicht endlich frei?" "Ich kann das nicht tun." "Weshalb nicht? Wegen Beschlüssen und Urteilen, die mehr als tausend Jahre zurückliegen?" "Du kanntest unsere Gesetzte von Anfang an, die Konsequenzen deines Handelns hätten dir bewusst sein sollen. Zudem ist dein Gefängnis durch alte Magie verschlossen, die ich nicht beherrsche." "Aber wen interessieren denn die alten Gesetze heute noch, wo es unser Volk nicht mehr gibt, wo wir keinen Herrscher mehr haben und im Schatten der Menschen leben? Und du, du beherrschst doch Teile der alten Magie?" "Lebe wohl, ich werde jetzt gehen." "Nein, gehe noch nicht, lasse mich bitte nicht noch einmal alleine in der Finsternis zurück, in der ich schon seit Ewigkeiten gefangen bin, ich kann mich überhaupt nicht mehr an das warme, helle Sonnenlicht erinnern, meine Schmerzen und Qualen sind so groß, befreie mich, befreie mich doch bitte!" "Nein, akzeptiere endlich dein Schicksal!" * "Wer war er?", fragte Chikará und riss ihn damit aus seiner Erinnerung. "Einer von uns", antwortete Hanryo. "Sein Name war Yiwèn, er hatte jedoch keine menschliche Erscheinungsform, er besaß noch unsere ursprüngliche Gestalt." "Wieso war er hier unten eingesperrt?" "Er hat einen anderen Drachen im Streit getötet, unsere Gesetze sahen dafür eine lebenslange Haftstrafe vor." "Lebenslang?", wiederholte sie ungläubig. "Wir leben doch etliche Jahrzehntausende lang?" "So ist es." "Und jetzt ist er anscheinend doch noch ausgebrochen und hat auf seiner Flucht einige Untote verprügelt. Also, ich nehme ihm das nicht übel, wenn man mich so lange einsperren würde, dann würde ich, wenn ich freikomme, auch ein bisschen übermütig werden und so etwas veranstalten." "Aber er konnte nicht hier raus, das war unmöglich, alte Magie hielt ihn hinter diesen dünnen, rostigen Gittern gefangen, den Schlüssel zu seiner Zelle hatte man vor langer Zeit vernichtet. Er konnte sich nicht selbst befreien, ebenso wenig konnte irgendwer anders ihn befreien, ich habe keine Ahnung, wie er entkommen konnte." "Vielleicht war es Jimo?" Er lachte kurz und versteckt. "Nein, er war es bestimmt nicht." "Wieso? Vielleicht beherrschte der Dämon die alte Magie?" "Das war Drachenmagie, keine Dämonenmagie, ich frage mich aber noch viel mehr, weshalb er die Untoten so zugerichtet hat?" "Er war doch ein Mörder?" "Er bereute seine Tat wirklich, ich traue ihm das große Massaker hier unten ehrlich gesagt nicht zu." "Wer war es denn dann?", wollte sie unbedingt wissen. "Das könnte vielleicht Jimo gewesen sein, der Dämon hat doch alles ohne Sinn und Verstand attackiert? Vielleicht hat er sich irgendwann einmal auf seiner Suche nach Dämonenbüchern nach hier unten verirrt und die Tatsache, dass hier unten Untote waren, lässt sich jetzt ja auch erklären. Sie kamen niemals herunter, weil sie sich vor Yiwèn fürchteten, und wir wissen ja auch nicht, wie lange sein Ausbruch zurückliegt, vielleicht geschah es bereits vor einigen Jahrzehnten, ich war schon lange nicht mehr hier. Jedenfalls gönne ich ihm ehrlich gesagt seine Freiheit, er war hier unten so lange alleine eingesperrt, hätte ich es gekonnt, so hätte ich ihn wohl schon früher selbst befreit." "Du warst schon öfters hier unten bei ihm?" "Ja, alle paar Jahrzehnte habe ich ihn hier unten besucht, ich war wohl der einzige, der sich noch an seine Existenz erinnern konnte, aber befreien konnte auch ich ihn wirklich nicht, um so mehr freut es mich nun, dass er nicht mehr hier sein muss." "Aber wenn du schon etliche Male hier warst", fiel Chikará auf. "Weshalb brauchten wir dann einen Stadtplan?" "Normalerweise flog ich vom Rande der Schlucht aus immer sofort zum Katakombeneingang, den Rest der Stadt kenne ich kaum", erklärte er. "Ich hatte auch gehofft, dass Yiwèn dir vom Krieg berichten könnte, er hatte zumindest die Anfänge noch hautnah miterlebt, das war auch der Hauptgrund, für unsere gesamte Expedition hierhin. Nun, wie du siehst, ist er leider nicht mehr hier und damit war der beschwerliche Weg durch die Ruinen eigentlich umsonst." "Werden wir nicht versuchen ihn zu finden?" "Nein, wieso sollten wir? Er soll seine Freiheit genießen, außerdem habe ich keine Idee, wo er sich jetzt aufhalten könnte, geschweige denn, wer ihn überhaupt befreit hat?" "Vielleicht wird er dich irgendwann suchen, um sich für die vielen Besuche bei dir zu danken, dann kannst du ihn ja auch noch fragen, wer ihn befreit hat." "Bestimmt wird er das irgendwann einmal tun, bis dahin werde ich mir an dieser Frage den Kopf zerbrechen." "Na ja, dafür sieht es aber fast so aus, als hätte zumindest seine Geschichte nun doch noch ein glückliches Ende gefunden." "Es scheint so." Als sie wieder am Eingang der Katakomben angekommen waren, hatte es bereits wieder aufgehört zu regnen, auch war die Kleidung der beiden mittlerweile wieder getrocknet. Die Sonne schien dumpf durch das dichte Wolkendach, viele großen Pfützen waren am sandigen Boden vom starken Regen übriggeblieben, durch die das Grauweiß des Himmels gespiegelt wurde. Die Luft war trüb und kühl, Ruhe und Windstille herrschten, keine Untoten waren zu sehen, die Straßen und der Stadtplatz von Ryuchengshi waren leer. Einzig die beiden Gefährten standen dort, in Mitten des Nichts und der Leere, wo sie sich mit leichter Freude umsahen, jetzt blieb ihnen nur noch der Weg raus aus der Schlucht, bald schon wären sie weg von diesem Ort des Todes und der Vergänglichkeit. Hanryo schlug vor, dass sie von ihrem momentanen Standpunkt aus direkt zum Rand der Senke fliegen sollten, was der schnellste und einfachste Weg wäre, um die vergessene Stadt zu verlassen. Chikará sollte sich, wie als sie am Vortag hinuntergeflogen waren, an ihm festhalten und sich so mitnehmen lassen in die Lüfte. Sie war sehr froh darüber, in absehbarer Zeit weg von diesem verlassenen und unheimlichen Ort zu sein, so viele schlimme Gedanken und Erlebnisse waren ihr hier wiederfahren. Die Untoten, die Ghule, Jimos Tod und die Statur ihres Vaters, die in der Ferne auf dem Stadtplatz zu sehen war, immer noch schwirrte sie durch ihren Kopf, obwohl sie versuchte jeden Gedanken an ihren Vater zu verdrängen. Auch hatte sie hier ihre ersten Erfahrungen im Kampf gemacht, er war zwar nur ein schwacher und leichter Gegner, dennoch wusste sie nun, wie es war, jemanden fast bis zum Tode zu bekämpfen. Es war kein schönes Gefühl, aber es gab ihr mehr kämpferisches Selbstbewusstsein, und das würde sie bestimmt noch in weiteren Duellen brauchen, wenn sie es alleine mit schwereren und kampferprobteren Gegnern aufnehmen müssen würde, dachte sie sich. Obgleich dies wohl nur die erste Etappe ihrer langen Reise war, so war sie sich trotzdem sicher, auch die folgenden Aufgaben und Hindernisse zu meistern, für ihr Volk, für sich selbst, für ihren treuen Begleiter und Lehrmeister und vielleicht auch ein wenig für ihren toten Vater. Auch Hanryo war mit dem Besuch der alten Drachenstadt am Ende relativ zufrieden, nicht nur hatte Chikará viele neue Erfahrungen in den Ruinen gewonnen, ebenso konnte er ihr seine pazifistische Haltung nahe bringen und sie vielleicht sogar von ihr teilweise überzeugen, meinte er. Gerne hätte er sie noch mit Yiwèn sprechen gelassen, aber jener hatte ja nun endlich sein Gefängnis verlassen können, nur die Frage, wie er entkommen konnte, schien Hanryo sehr rätselhaft. Wie nur konnte er fliehen? Er konnte es niemals aus eigener Kraft geschafft haben, er musste von irgendjemandem befreit worden sein, nur von wem? Wer sollte sich denn noch an ihn erinnern und vor allem, wer sollte noch die alte Drachenmagie beherrschen? Diese ganze Geschichte schien unbegreiflich zu sein, fern ab jeglicher logischer Zusammenhänge oder Gründe, es war wirklich ein schier unlösbares Geheimnis. Hanryo gab dieser Ausflug mehr Fragen als Antworten, mehr Unklarheiten als Erkenntnisse. Zumindest konnte er Chikará die Statue ihres Vaters zeigen, er hatte sich erhofft, dass der Anblick bei ihr Erinnerungen an die Vergangenheit zurückrufen würde, aber dem war leider nicht so. Damit blieben aber wenigstens auch größere Veränderungen ihres Charakters aus, er wusste nicht, ob sie damals nicht vielleicht zu den strengen Befürwortern Quanlis gehört hatte, falls ja, dann hätte ihr totaler Gedächtnisverlust nur positive Folgen gehabt, sowohl für sie, als wohl auch für den Rest der Welt. Im nachhinein konnte man sagen, dass sie die Begegnung mit ihm verhältnismäßig kalt gelassen hat, wobei sie ja eigentlich doch oft zu Ausrastern geneigt war, jedenfalls bis vor kurzem, aber nach ihrem letzten, bei dem sie sogar weggelaufen war, schien sie viel beherrschter und geduldiger geworden zu sein, was ihr natürlich in keiner Weise schadete, eine gewisse innere Ruhe war sehr wichtig im Leben und im Kampf, davon war Hanryo überzeugt. Schließlich stellte sich Chikará vor ihm hin und umklammerte ihn, während er seine Schwingen ausbreitete und seine Arme um ihren Oberkörper legte. Sie schloss ihre Augen und krallte sich noch etwas stärker an ihren Gefährten, vor Angst im Flug herunterzufallen, dann spürte sie nur noch, wie ihre Füssen nicht mehr den Boden berührten, das angenehme Gefühl der Schwerelosigkeit. Sie liebte es zu fliegen, obwohl sie stets die Augen dabei schloss, hauptsächlich aus Ungewissheit, aber auch um das Fluggefühl und die Freiheit noch intensiver genießen zu können. Plötzlich spürte sie einen harten Schlag gegen ihren Rücken, eine ungeheuere Kraft steckte hinter ihm, durch die selbst Hanryo das Gleichgewicht verlor, er konnte sich nicht mehr in der Luft halten und stürzten ab, aus einer Höhe von ungefähr drei Metern fielen er und Chikará wie schwere Steine herunter. Alles ging so schnell, dass sie weder ihren Absturz verhindern, noch während des Falls die Lage realisieren konnten. Ungebremst und sich nur aus Reflex mit Armen und Händen den Kopf schützend, landeten sie zwar mit den Füßen zuerst in einer Pfütze am Straßenrand, konnten aber nicht mehr das Gleichgewicht halten und stürzten ins Wasser, das zum Glück die Wucht des Aufpralls etwas abschwächte. Nicht mehr als ein paar Prellungen waren die Folgen des Sturzfluges, der auch weitaus schlimmere Konsequenzen nach sich hätte ziehen können, aber glücklicherweise ging alles derart glimpflich aus. Bei der Landung hatte Hanryo seine Schwingen bereits wieder in seinen Rücken eingezogen, damit sie nicht verletzt wurden und er so eventuell nicht mehr hätte fliegen können. Chikará hatte vom Absturz nicht viel mehr mitbekommen, als einen großen Schock, da sie ihre Augen die ganze Zeit über geschlossen gelassen hatte vor Ungewissheit, deshalb bemerkte sie lediglich die nasse Landung in dem etwa knietiefen Wasserloch. Der Aufprall bereitete ihr nur kurzweilige, aber dennoch starke Schmerzen, vor allem an ihrer rechten Körperseite, mit der sie aufgeschlagen war. Dass sie wieder völlig durchnässt war, realisierte sie überhaupt nicht, zu groß war der Schrecken über den plötzlichen Schlag in der Luft. Sie hob den Kopf aus dem verdreckten Wasser, dabei hingen ihr ihre nassen Haare im Gesicht, die sie mit zwei Fingern wegstrich, die Tropfen liefen an ihrer Haut herunter bis zur Wasseroberfläche. Angestrengt blickte sie zur Stelle, an der sie die überraschende Attacke erfahren hatte, sie hatte noch Wasser in den Augen, weswegen es einen Moment lang dauerte, bis sie den Grund ihres Absturzes genau erkennen konnte. Mitten auf der Straße, ungefähr zehn Meter weit von ihr entfernt, stand er, der Verursacher des Unfalls, es war ein Drache, ein echter Drache in seiner ursprünglichen Form. Chikará traute ihren Augen nicht, tatsächlich, es war ein Drache, endlich sah sie eines dieser mysteriösen Geschöpfe, von denen sie auch selbst eines war, in seiner wahren Erscheinungsform. Es gab sie also wirklich, die letzten kleinen Zweifel an all den Geschichten von Hanryo und Akashia, die sie bis dahin noch mit sich trug, waren endgültig dahin. Ein Drache, es war unglaublich für sie, sie schüttelte vor Staunen kurz den Kopf, es schien ihr alles wie in einem Traum, der nicht enden wollte. Aber die Faszination währte nicht lange, beim zweiten, genauern Blick erkannte sie, das mit diesem Drachen etwas nicht stimmte, es handelte sich um keinen normalen Drachen, was selbst sie, obwohl sie niemals zuvor solch ein Wesen gesehen hatte, sofort erkannte. Seine beschuppte Haut war bleich und rissig, sein etwa zwölfmeterlanger Körper war mit unzähligen Narben übersät, Verletzungen, die weder verheilten noch bluteten, seine Augen waren nicht typisch grün, sie waren leer und tot. Seine Glieder waren ungleichmäßig, tiefe Wunden zeigten Teile seiner Knochen, er schrie laut, es hörte sich wie ein Klagegesang an, unverständlich für Menschen und alle anderen, die der alten Drachensprache nicht mächtig waren. Er stand dort zitternd und schwankend, scheinbar benebelt und perplex, orientierungslos und willenlos, weder tot noch lebendig. Ein untoter Drache, wie war das nur möglich? Chikará und ebenso Hanryo konnten es nicht verstehen und es sich nicht erklären, es war unmöglich, solch ein Wesen hätte niemals existieren dürfen? Drachen konnten keine Untoten werden, niemals hätte so etwas eigentlich passieren können, Drachen, die Abkömmlinge der Götter, sie standen über den menschlichen Definitionen von Leben und Tod, sie konnten nicht zu Untoten werden, sie nicht, oder vielleicht etwa doch? Welche furchtbaren und unerklärlichen Wege mussten beschritten worden sein, um diese bedauernswerte Kreatur zu erschaffen, wie gewissenlos muss ihr Erschaffer gewesen sein? Die beiden standen wie versteinert vor diesem Geschöpf der Finsternis und des Todes, das sein Klagelied beendete und in großer, scheinbar grundloser Wut auf sie losstürmte. Für Antworten auf die vielen ungelösten Fragen blieb keine Zeit mehr, ein Kampf gegen den Drachen schien unumgänglich, jetzt würde sich zeigen, wie stark dieses Wesen wirklich war. Im Moment des Angriffs des Drachen handelte Hanryo schnell, er packte Chikará am Arm und rannte mit ihr hastig raus aus dem Wasserloch und weiter weg vor ihren Gegner, bis hinter ein paar Hauswandtrümmer am naheliegenden Straßenrand, dort angekommen ließ er sie wieder los, schmiss den Rucksack zu Boden, welcher ihn jetzt nur unnötig behindern würde und griff fieberhaft nach seinem Schwert. "Ein untoter Drache?", fragte Chikará schnellatmend. "Ich habe so etwas noch nie gesehen", antwortete Hanryo und drückte ihr ihre Waffe in die Hand. "Wie können wir ihn bekämpfen?" "Mal sehen, wie weit wir mit unseren Waffen kommen, wenn wir ihn damit nicht erledigen können, dann haben wir ein Problem." Noch während er den Satz beendete, drehte er sich um in Richtung Straße, ihr Verfolger konnte sich nicht so schnell fortbewegen wie sie, dennoch war er zu jenem Zeitpunkt nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt und er hetzte weiter mit lautem Wutschreien, die ihnen in den Ohren schmerzten. Hanryo erkannte sogleich den Ernst der Lage und entschloss sich zum Angriff. Er nahm sein Schwert fest mit beiden Händen und rannte entschlossen auf den rasenden Drachen zu, welcher ihn mit einem lauten Schrei empfing, was wohl seinen Angreifer Respekt einflößen sollte. Unbeeindruckt davon stürzte sich Hanryo auf ihn, zwei harte Schwerthiebe setzte er an, beide konnte der Drache mit seinen Klauen parieren, bei der dritten Attacke rammte Hanryo ihm die Klinge mitten durch seine blockende Klaue und stach sie weiter durch in die Brust des Drachen. Nach diesem erfolgreichen Angriff fühlte Hanryo sich schon fast als Sieger des Duells, aber der Drache war viel stärker, als er dachte. Er reagierte auf den schweren Treffer nicht, kein einziger Tropfen Blut lief aus der Wunde, er zuckte nicht einmal, keinen Funken Schmerz schien er danach zu spüren, lediglich sein ungeheurer Zorn wuchs weiter. Er schlug wild mit seiner anderen Klaue nach Hanryo, was jenen sehr verwunderte, denn er hatte den Kampf bereits als entschieden angesehen, dennoch schaffte er es den Angriff auszuweichen und gleichzeitig sein Schwert wieder aus dem Körper des Drachen herauszuziehen, auch auf der scharfen Klinge war kein bisschen Blut zu erkennen. Er wusste nicht, wie er seinen Widersacher weiterbekämpfen sollte, nachdem diese normalerweise tödliche Attacke ihrem Zweck versagte, ratlos setzte er weitere mächtige Techniken an. Der Drache schlug nach ihm mit seinen kräftigen Klauen und versuchte ihn mehrmals mit seinen Reißzähnen zu packen, erfolglos, Hanryo war zu flink und gewandt für solche offensichtlichen Angriffe. Er konterte mit einem gewagten Schlag gegen den Hals des Drachen, er wollte ihn köpfen, aber die dicken Halswirbelknochen ließen keinen Durchschlag zu, selbst nicht mit Hanryos starkem Katana. Der Drache schlug sofort mit seinem gehörnten Haupt nach seinem Angreifer, der dieses Mal nicht ganz ausweichen konnte, die harte, schuppige Drachenhaut und die spitzen Hörner streiften seinen Körper. Hanryo schrie auf vor Schmerzen und zog blitzartig sein Schwert zurück, durch den letzten Angriff des Drachen erlitt er Schnittwunden am Kopf, am rechten Arm und am Oberkopf, das Blut färbte seine Kleidung und sein Gesicht rot. Die schweren Schmerzen machten ihn unaufmerksam, nach einem weiteren mächtigen Klauenhieb, der ihn direkt und uneingeschränkt traf, flog er mit samt seiner Waffe einige Meter weit zur Seite gegen einen Felsbrocken, beim harten Aufprall hörte man, wie Knochen durchbrachen. Hanryo kauerte sich zusammen vor Schmerzen, dieser unerahnt großen physischen Kraft war er nicht gewachsen, er konnte nicht mehr aufstehen und weiterkämpfen. Chikará wollte nicht glauben, was sie dort gerade gesehen hatte, es war ihr unbegreiflich, Hanryo wurde besiegt, er, den sie für den besten Kämpfer der Welt gehalten hatte, er wurde geschlagen, was sich soeben vor ihren Augen abgespielt hatte, niemals hätte sie so etwas für möglich gehalten. Nun lag er da, wie eine Leiche am Boden und krümmte sich vor Schmerzen. Weshalb hatte sie ihn nicht geholfen, warum war sie zu naiv gewesen um einzugreifen, sie hatte doch gesehen, wie aussichtslos seine Angriffe gewesen waren, ein gewisser Selbsthass überkam sie. Sie hatte nur zugesehen, wie er beinahe sein Ende gefunden hätte und sie hatte überhaupt nichts getan, nur zugesehen. Chikará verzweifelte fast an ihrer Schuld, so etwas sollte eine Kaiserin sein, dieses dumme Mädchen, das noch nicht einmal bereit war, ihren Gefährten im Kampfe zu unterstützen, beschuldigte sie sich selbst. Der Selbsthass verwandelte sich schnell in Aggression, sie sprang hervor, direkt vor den Drachen und attackierte ihn mit einer Wut, die seiner gleichkam. Sie schlug unentwegt auf ihn ein, ohne genaue Ziele zu haben, einzig die Entladung ihres angestauten Hasses trieb sie an. Der Drache konterte mit wilden Gegenangriffen seiner Klauen, ein paar Mal traf er Chikará, diese merkte nie mehr als einen kurzen Stoß in ihrer Ekstase, die Waffen ihres Widersachers konnten sie sowieso nicht verletzen, hingegen richteten ihre eigenen Angriffe keinen unerheblichen Schaden an. Am rechten Vorderbein fügte sie ihm eine große und tiefe Schnittwunde zu, die zwar nicht blutete, aber dennoch bemerkbar die Beweglichkeit des Drachen beeinflusste, wahrscheinlich hatte sie wichtige Sehnen und Muskeln durchtrennt, die selbst Untote brauchten, um sich bewegen zu können. Mutiviert durch diesen sichtbaren Erfolg holte sie schnell zu weiteren Schlägen aus und fügte ihren Gegner zahlreiche Wunden am Vorleib zu, der Drache konnte nur wenige Angriffe abwehren, weil die meisten seiner Bewegungen nun zu langsam und träge waren, die halbtoten, teils verkrüppelten und verletzten Gliedmaßen verloren langsam an Stärke. Chikará begriff jetzt, wie nahe der Sieg war, der Sieg, den nicht einmal Hanryo errungen hatte, er war so nahe und sie wollte ihn mehr als alles andere in diesem Moment, nur noch ein paar gezielte Hiebe und sie hätte es geschafft. Eine gute Möglichkeit um den Schrecken ein Ende zu setzen, sah sie, als der Drache den Kopf senkte mit seinem weitgeöffneten Maul und versuchte, Chikará mit den starken Zähnen zu erwischen. Sie nahm ihr Schwert fest in beide Hände und rammte es ihm von der Seite aus in den Schädel, sie durchdrang die harten Knochen und die Klinge steckte tief im Gehirn des Drachen, welcher laut aufschrie. Chikará lächelte flüchtig, ließ ihre Waffe los und huschte einige Schritte weit zurück, das musste es gewesen sein, jeden Moment würde der Drache umfallen und sie hätte gewonnen, davon war sie überzeugt. In ihrem Optimismus beachtete sie ihn jedoch nicht mehr gut genug, während ihrer Vorfreude schlug der Drache, scheinbar kurz vorm Ende stehend, mit seinem schwer verwundeten Schädel ziellos und wild durch die Gegend, das Schwert steckte immer noch in seinem Kopf fest, dabei starrte Chikará ihn mit leichter Freude in die leeren Augen, die einst wohl smaragdgrün waren, als er noch ein normaler Drache war. Wer hatte nur solch ein Ungeheuer aus ihm gemacht, welche Macht vermag dies zu schaffen, welche Bosheit? Der Drache schlug auch einmal aus Verzweifelung und Wut mit seinem Kopf auf den Boden, wobei die Schwertklinge in zwei Teile überbrach, von denen der eine jedoch in seinem Schädel stecken blieb. Daraufhin blickte er zu Chikará, die allmählich realisierte, dass sie ihn noch lange nicht besiegt hatte, aber wenn er doch sogar diese letzte Attacke überlebte, wie sollte man ihn denn dann überhaupt besiegen können? Ungläubig schaute sie auf den Griff ihres übergebrochenen Katanas, selbst diese mächtige Waffe konnte ihn so gut wie nichts anhaben. Welche Waffe sollte ihn überhaupt etwas anhaben? Eine späte Vernunft überkam Chikará, sie bückte sich hastig, hob den Rest ihrer Klinge vom Boden auf und schritt wieder einige Meter weit zurück, raus aus der Reichweite der Drachenklauen. Sie holte aus und warf ihren Gegner den Schwertgriff ins linke Auge, wo der spitze Klingenrest die Pupille aufschnitt, was den Drachen zwar nicht blendete, ihn aber kurzzeitig beschäftigte. Genau in diesem Moment lief Chikará so schnell sie konnte weg, ohne einen weiteren Angriff auszuüben, endlich hatte sie ihre Unterlegenheit erkannt und sich für das einzig Sinnvolle, die Flucht, entschieden. Sie blickte sofort zu Hanryo, er lag immer noch zusammengekauert vor dem Felsbrocken, auf dem er aufgeschlagen war, sie eilte zu ihm. Der Drache bemerkte ihren verzweifelten Fluchtversuch, er drehte sich schnell zu ihr und schlug mit seinem kräftigen Schwanz nach ihr, den sie in ihrer Panik nicht mehr beachtete, er traf sie wie eine meterdicke Peitsche an den Beinen und schleuderte sie hart zu Boden. Völlig unvorbereitet auf den Sturz knallte sie mit dem Kopf auf dem steinernen Straßenasphalt, der Aufprall war derart hart, dass sie eine Gehirnerschütterung erlitt, gänzlich benebelt blieb sie liegen und verlor für eine kurze Zeit lang das Bewusstsein. Ihr letzter Gedanken richtete sich an Hanryo, sie hatte versagt, nun würde er vom Drachen getötet werden, während sie dort lag und nichts unternehmen konnte, dann schlossen sich ihre verzweifelten Augen, ihr fehlte die Kraft sie aufzuhalten. Der Drache beachtete sie nun nicht mehr und wandte sich wieder zu Hanryo, der zusammengekrümmt am Straßenrand lag, sein Gesicht war schmerzverzerrt und blutverschmiert. Nach dem letzten mächtigen Schlag seines Widersachers war er sehr unsanft und unglücklich gegen das harte Gestein geprallt, wodurch er sich wohl den rechten Arm brach, den er gegenwärtig kaum noch bewegen konnte, geschweige denn noch sein Schwert mit ihm halten konnte. Auch hatte er sich am rechten Fuß irgendetwas sehr Schmerzhaftes zugezogen, er versuchte aufzustehen, fiel aber sofort wieder hin, sein Leiden war zu groß, er konnte nicht mehr aufstehen. Der Drache kam langsam und schreiend auf ihn zu, während Hanryo bewegungsunfähig nur noch auf sein sicheres Ende warten konnte. Kampflos wollte er nicht aufgeben, sein Schwert landete nicht weit von ihm entfernt, er streckte sich zu ihm und nahm es mit seiner linken Hand. Als der Drache die Waffe sah, schlug er nur einmal mit seiner Klaue nach ihr, Hanryo konnte so ziemlich überhaupt nicht mit links kämpfen, deshalb reichte auch ein leichter Hieb des Drachen aus, um ihn zu entwaffnen. Die Klinge flog einige weit zur Seite, unerreichbar für Hanryo, man hörte den hellen Klang des Metalls, als das Schwert den Boden berührte, das schrille Geräusch weckte Chikará aus ihrer Bewusstlosigkeit. Sie stand langsam auf, ihr Kopf schmerzte, ein dumpfes Dröhnen herrschte in ihm. Sie drehte sich zu Hanryo und den Drachen am anderen Ende der Straße, sie erschrak, sie erblickte, wie hilflos ihr Gefährte vor seinem Gegner lag, ihn seinen Augen erkannte sie, dass er sich aufgegeben hatte. Sie schrie entsetzt seinen Namen, aber er hörte sie nicht und reagierte nicht, sollte das wirklich sein Ende sein? Hanryo schien zwar besiegt, aber Chikará sah noch einen letzten Funken Hoffnung, jetzt hang alles von ihr ab, von ihr alleine, sie konnte ihn retten, aber die Zeit drängte. Eine Waffe hatte sie nicht mehr, das Einzige, was ihr übrig blieb, war die Flucht mit ihrem schwerverwundeten Freund. Entfesselt rannte sie zu ihm, es war noch nicht zu spät, da war sie sich sicher. Währenddessen stand der Drache nun direkt vor Hanryo, er öffnete sein großes Maul und schrie laut, es hörte sich an wie eine Art Triumphschrei an. Chikará irrte sich, Hanryo hatte sich noch nicht aufgeben und hatte es auch nicht vor, trotz der schier aussichtslosen Situation. Noch einen allerletzten Trick hatte er im Repertoire, eine sehr alte Technik, von der er nur sehr selten gebrauch machte, die ihn jetzt aber das Leben retten konnte. Er streckte unter ernormgroßen Schmerzen seinen rechten Arm aus und öffnete langsam seine Hand, in seiner Handfläche brannte ein Licht, eine kleine Flamme. Chikará war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt, als sie den Feuerzauber sah, sie traute ihren Augen nicht, er hatte doch immer behauptet, er würde keinerlei Magie beherrschen, staunend blieb sie stehen und wartete ab, was passieren würde, da sie davon überzeugt war, dass Hanryo nun gerettet wäre. Der Drache bemerkte den Zauber nicht und wollte dem Duell ein Ende setzen, mit seinem großen, weitgeöffneten Kiefer wollte er Hanryos Körper in Stücke zu reißen. Er senkte blitzartig sein Maul und hatte seinen scheinbar besiegten Gegner schon fast zwischen den kräftigen Zähnen, als dieser seine brennende Handfläche mit seiner letzten Kraft gegen den Drachenkörper presste. Eine riesige Stichflamme brannte auf, wie bei einer Explosion, das glühendheiße Feuer entflammte binnen eines einzigen Augenblickes den gesamten untoten Drachenkörper. Der Drache schrie noch ein letztes Mal laut auf, dabei fiel er bereits einige Meter weit zurück und blieb schließlich brennend am Boden liegen. Nur wenige Sekunden lang dauerte sein Endkampf ums Leben, der Sieger stand von Anfang an fest, das magische Feuer hatte ihn besiegt, der letzte Hauch Leben verbrannte in seinem untoten Körper und wurde zu Asche. Hanryo verbrauchte seine letzen Kraftreserven für diese alten anstrengenden Zauber, als der Drache starb, fiel er überglücklich, dass er noch lebte und gleichzeitig völlig erschöpft in Ohnmacht. Ungläubig starrte Chikará auf die Aschereste des mächtigen Drachen, sie atmete tief durch und realisierte langsam das Ende des Kampfes, sie hatte Hanryo sehr fiel zugetraut, aber dieser Zauber machte sie sprachlos. Es war so schnell gegangen, das Feuer, wie in einem Traum, hatte es den Drachen nach wenigen Sekunden vernichtet, die magischen Flammen hatten den mächtigen Drachenleib während eines einzigen Momentes verzerrt, wie war so etwas nur möglich? Diese Macht, diese unbeschreibbare Macht, ja, das musste die wahre Macht der Drachen sein, an deren Existenz Chikará bis dahin immer noch gezweifelt hatte. Eine unvorstellbare Kraft, eine beinahe göttliche Kraft, die selbst solch einen starken untoten Drachen so leicht zerstören konnte, es war kaum zu glauben. Dann kam ihr wieder ein Gedanke an Hanryo in den Kopf, sofort schaute sie zu ihm, er lag dort vor dem Felsbrocken und schien bewusstlos geworden zu sein, sogleich wandte sie sich zu ihm und kniete sich vor ihm hin. Seine Augen waren geschlossen, er atmete aber glücklicherweise regelmäßig. "Wach auf!", sagte sie zu ihm und rüttelte dabei an seinem Oberkörper, aber er reagierte nicht. Ihr kam eine Idee, wie sie ihn aufwecken konnte, sie holte den Rucksack, den er zu Begin des Kampfes an einer Hausruine liegengelassen hatte, packte eine Wasserflasche aus und schüttete ihn vorsichtig etwas kaltes Wasser über sein blut- und staubverschmiertes Gesicht. Daraufhin öffnete Hanryo langsam die Augen und schaute noch etwas benebelt hoch zum grauen Himmel, Chikará beugte sich über ihm und lächelte ihn froh an, die beiden umarmten sich überglücklich. "Es ist endlich vorbei", hauchte Hanryo leise. Chikará drückte ihren Kopf fest an seine Schulter. "Hanryo", sprach sie unruhig und mit Freudentränen in den Augen. "Zum Glück lebst du noch." "Wir haben es überstanden, er ist tot." Er legte seine linke Hand auf ihren Hinterkopf und strich ihr sanft über die Haare. "Das war so knapp", entgegnete sie ihn. "Ich bin wirklich so froh, dass er dich nicht getötet hat, ich hatte Riesenangst um dich." "Es war wirklich sehr knapp, aber ich lebe ja noch und die Verletzungen werden in den nächsten Tagen verheilen, alles wird wieder gut." Sie ließen langsam wieder voneinander ab, und Chikará setzte sich neben ihn hin, sie bemerkte seinen rechten Arm. "Dein Arm, er ist gebrochen." "Ja, mein linkes Bein auch, glaube ich, der Stein hier hinter mir war richtig hart." "Hast du noch Schmerzen?" "Ja, aber sie sind nicht mehr allzu stark." "Kannst du so überhaupt noch fliegen?" "Natürlich, meine Schwingen wurden ja schließlich nicht verletzt, das geht schon, du darfst dich dann nur nicht zu stark an meinem gebrochen Arm festhalten." "Das werde ich schon nicht tun. Es ist gut, dass du noch fliegen kannst, andernfalls hätten wir ja noch einige Zeit länger hier bleiben müssen." Hanryo lachte kurz. "Na ja", fuhr Chikará fort. "Mein Schwert ist leider übergebrochen, ich weiß, es war richtig teuer und dann bricht es mir schon beim zweiten Kampf über, das spricht ja nur für mein kämpferisches Talent." "Das ist schon in Ordnung, Waffen sind ja schließlich zum Kämpfen und nicht zum Andiewandhängen dar. Ich habe dir kurzzeitig beim Kämpfen zugesehen, als ich hier lag und mich nicht mehr aufstehen konnte, du hast wirklich gut gekämpft, wäre es kein Untoter gewesen, so hättest du ihn mit Leichtigkeit besiegt." Chikará senkte ihr Haupt und starrte zu Boden. "Ich bin eine miserable Kämpferin und sehr naiv obendrein, ich habe dir nicht geholfen, als du von ihm niedergeschlagen wurdest, du warst dem Tode so nahe und ich habe überhaupt nichts unternommen, um dich zu retten", berichtigte sie ihn deprimiert. "Mache dir keine Vorwürfe, ich hatte mir den Kampf auf viel leichter vorgestellt, du hast genau das Richtige getan." Sie schüttelte niedergeschmettert den Kopf. "Nein, das habe ich nicht, und du weißt das auch, rede es bitte nicht schön." "Chikará." Er griff nach ihrer Hand und schaute ihr tief in die Augen. "Niemand ist perfekt, selbst ein Kaiserdrache nicht. Ich hätte auch beinahe den Kampf verloren, aber du hast, als ich hier lag und mein Ende eigentlich schon sicher war, dich tapfer gegen den Drachen gestellt und mutig gekämpft, bis deine einzige Waffe zerstört wurde, und selbst dann wolltest du mir, obwohl du unbewaffnet warst und damit im großen Nachteil, immer noch helfen und bist zu mir gerannt und erst, als meine Rettung durch das magische Feuer feststand, hast du aufgehört, um mein Leben zu kämpfen. Du hast wirklich dein Allerbestes gegeben." "Ja, du hast wohl recht", seufzte sie und zog ihre Hand von seiner weg. Sie gab nur vor, ihre Selbstzweifel ablegt zu haben, in Wirklichkeit konnte sie sich von Hanryo nicht überzeugen lassen und beharrte innerlich weiter auf ihrer eigenen Meinung. Sie lenkte von diesem Thema ab: "Dein Feuerzauber war wirklich beeindruckend, wieso hast du mir nie gesagt, dass du so etwas kannst?" Hanryo lehnte sich wieder zurück und hörte wieder in die Ferne anzuschauen. "Das war nicht so einfach und gekonnt, wie es aussah, es kostete mich viel Kraft, wie du gesehen hast, bin ich danach direkt ohnmächtig geworden. Zudem ist es normalerweise sehr gefährlich öffentlich zu zaubern, die Menschen verabscheuen jegliche Art von Magie, wahrscheinlich weil sie selbst keine beherrschen, sie töten darum jedes magische Wesen aus Angst und Ungewissheit. Aber die meisten Menschen, zumindest die durchschnittlichen, haben in ihrem gesamten Leben nicht ein einziges Mal Kontakt zu Magie und glauben auch nicht daran, dass irgendwelche existiert." "Ich habe so etwas ja auch noch niemals zuvor gesehen, früher ahnte ich nicht, dass es so etwas wirklich gibt, woher weißt du, wie du sie anwendest?" "Während meiner Kindheit haben meine Eltern es mir beigebracht, der Feuerzauber, den du eben gesehen hast, ist ein angeborenes Grundtalent der Feuerdrachen, das gleiche, wie die Unverwundbarkeit bei den Kaiserdrachen." "Kann ich auch zaubern?" "Ich weiß es leider nicht, so gut kenne ich mich dann doch nicht mit deiner Art aus, aber ich glaube schon, dass du einige artspezifische Zauber, die ich jedoch nicht kenne, anwenden könntest." Chikará seufzte erneut und schaute auf die Aschereste des Drachen. "War er wirklich ein untoter Drache?" "Ja, wahrscheinlich schon, andernfalls hätte bereits meine erste Attacke für ihn tödlich enden müssen, außerdem blutete er nicht und spürte keine Schmerzen, auch besaß er die Hautfarbe der Untoten." "Aber du sagtest doch, das nur Menschen zu Untoten werden können?" "Ebenso wie du, habe auch ich die Gegenwart solch einer Kreatur niemals für möglich gehalten und selbst jetzt ist es mir immer noch ein großes Rätsel, wie ein Drachen zum Untoten werden konnte." "Ach, lass uns doch nicht so viel darüber nachdenken, zum Glück ist der Drache jetzt ja tot", sprach Chikará und blickte Hanryo mit einem leichten Lächeln an. Er hätte gerne zurückgelächelt, aber er konnte es nicht, es gab noch ein Geheimnis, dass sie nicht kannte und dass seine Seele sehr bedrückte. "Dieser Drache war Yiwèn." Ungläubig schaute sie ihn in die traurigen Augen. "Was, dieses Monster war doch bestimmt nicht Yiwèn, oder?" "Am Anfang des Kampfes hat er es mir in der alten Drachensprache Tatsuyuyan gesagt." "Bist du dir wirklich sicher?" "Ja, er war es, ich habe keine Zweifel daran, weil ich ihn damals oft gesehen und mit ihm gesprochen habe. Seine Stimme, seinen Blick, seinen Körper, an all das erinnere ich mich noch sehr gut, ich bilde es mir nicht ein, er war es wirklich." "Aber wie ist das möglich, er war doch ein normaler Drache?" "Ich habe keine Ahnung", sagte Hanryo und schüttelte ratlos den Kopf. Chikará lehnte sich zurück und überlegte. "Vielleicht hat derjenige, der ihn befreit hat, zu dem gemacht, was er am Ende war?" "Möglich, aber wir wissen ja nicht, wer ihn befreit hat. Erinnerst du dich noch an den Torbogen vor dem Stadtplatz? Die mit Blut gemalten Zeichen dort für ,Monster', vielleicht war er damit gemeint, wer weiß, wie lange er schon in diesem Zustand hier herum irrte?" "Wieso haben wir ihn denn nicht bereits gestern hier getroffen?" "Ryuchengshi ist groß, uns waren ja auch nur verhältnismäßig wenig Untote begegneten, Hunderte treiben sich hier herum, die Stadtruine ist riesig, wir haben eigentlich nur sehr wenig von ihr gesehen." "Und die Untoten in den Katakomben, das war er doch dann bestimmt auch?" "Ja, das ist gut möglich, vielleicht hat er sie hier oben erlegt und dann heruntergebracht in sein Zuhause, als Untoter war er schließlich sehr verwirrt und beinahe schon verrückt geworden, was ja bei Menschen in der Situation auch nicht viel anders ist." "Was ist mit seiner Seele, normalerweise müsste sie ja mit seinem Tod an einen anderen Ort gewandert sein, aber da er ein Untoter geworden war, ist sie so in seinem Körper geblieben?" "Ich weiß es nicht." Sie schwiegen beide einige Minuten lang. "Ich habe heute gesehen, wie gefährlich unsere Reise ist", sprach Chikará zusammenfassend. "Ich war mir dessen bisher nicht wirklich bewusst, erst heute habe ich erkannt, wie ernst das alles sein muss, die gesamte Geschichte der Drachen und ihr Schicksal." "Yiwèn war nichts im Vergleich zu den Drachen, die die Welt beherrschen wollen", erzählte Hanryo. "Jene sind noch viel stärker und mächtiger als er." "Aber wenn wir doch schon den Kampf mit Yiwèn fast nicht überstanden hätten, wie sollen wir dann mit diesen Drachen fertig werden?" "Es liegt alles in deinen Händen, du musst versuchen, sie von ihrem falschen Handeln zu überzeugen und sie wieder zu vereinen zu einem großen Volk, so wie wir es einst waren. Falls das nicht funktionieren sollte, du bist viel stärker und mächtiger als diese Drachen, jedoch müssen wir zurück auf den Kontinent der Drachen, denn da warten jene auf dich, die dir deine wahren Fähigkeiten zeigen können." "Glaubst du, dieser Konflikt könnte ohne einen Kampf beendet werden?" "Ich hoffe es, obwohl ich nicht wirklich daran glauben kann." Faguan & Hiranyaksha Version ---------------------------- * Dunkelheit. Nur verschwommene Umrisse und getrübte Farben waren sichtbar. Chikará erkannte diesen Ort wieder, ja, es musste der Zellenkorridor in Ryuchengshi sein, sie erinnerte sich noch genau an ihn, jedoch waren die vielen Leichen und Körper von Untoten nicht mehr da. Stille herrschte, bis plötzlich leise, gleichmäßige Schritte zu hören waren, die vom Eingang aus kamen und sich mitten durch den großen Raumes bewegten, sie nährten sich und wurden damit immer lauter und deutlicher, wie die Schritte von Menschen klangen sie. Chikará sah, dass es sich um zwei Personen handelte, wahrscheinlich um Männer, beide trugen schwarze Kleidung, mehr konnte sie von ihnen nicht wahrnehmen in der Finsternis. Sie gingen im Gleichschritt nebeneinander her, ihr Ziel war die große Zelle am Ende des Korridors, jene, in der einst Yiwèn gefangen gewesen war, jene, die bei Chikarás letzten Besuch noch leer gewesen war. Jetzt jedoch befand sich in ihr ein Wesen, dessen großer Schatten an der Zellenwand zu erblicken war. Sollte es etwa Yiwèn sein? Chikará wusste es nicht, sie hatte ihn niemals in seiner lebendigen Drachenform gesehen, vielleicht war er es, vielleicht auch nicht? "Was wollt ihr hier?", sagte eine tiefe und mächtige Stimme, es war wohl jene des eingesperrten Wesens. "Du bist immer noch hier?", fragte eine andere Stimme, sie gehörte wahrscheinlich zu einer der beiden Personen. "Weißt du etwas von Hanryo?", wollte die andere der beiden Personen wissen und führte so den Dialog fort. Chikará erschrak, woher kannte er nur Hanryo? Wer sollten diese zwei menschenähnlichen Schatten überhaupt sein? Die Dunkelheit ließ nur wenige, hauptsächlich akustische Information über diese merkwürdigen Gestalten zu Chikará gelangen, mit denen sie nahezu nichts über sie erfahren konnte. "Ja", antwortete nun das Wesen in der Zelle. "Er war etliche Male hier bei mir." "Alleine?" "Ja." "Er suchte sie doch, hatte er sie bereits gefunden?" Sie? Chikará kam sofort der Gedanke, dass sie selbst vielleicht damit gemeint gewesen sein könnte. Sie wussten auch von ihr? "Nein." "Gut", entgegnete eine der Personen, dann drehten sich beide um und gingen langsam fort. "Halt, wartet!" Sie blieben stehen und drehten sich nochmals zur Zelle hin um. "Was ist?" "Befreit mich doch bitte, ich bin seit schon seit so langer Zeit hier unten gefangen, bitte!", flehte die eingesperrte Kreatur. "Du willst also die Freiheit?" "Ja, ich sehne mich so sehr nach ihr, bitte helft mir!" "Gut, dann sollst du frei sein." Eine der Personen streckte ihren rechten Arm in Richtung der Zelle hin aus und öffnete langsam ihre zusammengeballte Faust. Genau in jenem Moment, in dem ihre Finger vollständig ausgestreckt waren und ihre leere Handfläche gegenüber der Zelle war, brachen die stabilen Gitterstäbe mit einem lauten Knall auf. Die Durchbruchstellen gaben ein wenig grauen Rauch ab, das entstandene Loch im Gitter war groß genug, dass das eingesperrte Wesen aus seinem Gefängnis entfliehen konnte. "Danke", hauchte es erleichtert und schritt ungläubig, fast wie in Trance, durch die Öffnung. "Deine Freiheit hat jedoch ihren Preis", sagte auf einmal eine der beiden Personen, es war wohl diejenige, die gerade das Wesen befreit hatte. "Du gehörst nicht zu uns, du bist unser Feind und somit eine Bedrohung für uns, die wir beseitigen müssen. Hiranyaksha, mache ihn zu einem deiner Rasse, so er nicht mehr uns, sondern nur noch unseren Feinden gefährlich werden kann." Die andere Person holte einen langen Stab hervor, wahrscheinlich war es ein Schwert, und stürmte auf das Wesen aus der Zelle zu, welches durch den plötzlichen Angriff völlig überrascht war und ihn somit nicht mehr rechtzeitig abwehren konnte. Der Angreifer rammte kaltblütig und zielgerichtet seine Waffe tief in den Körper jener Kreatur. Erst mit dem Schnitt der scharfen Klinge durch ihre Haut und mit dem darauffolgenden stechenden Schmerz realisierte sie die Attacke, doch zu diesem Zeitpunkt war alles schon längst zu spät. Sobald die Waffe mit einem schnellen Ruck wieder zurück aus in dem Körper des Wesens gezogen wurde, fiel es sogleich um, atmete noch einige Male schwer ein und aus, dann regte es sich nicht mehr. Die beiden Personen drehten sich um und gingen weg. * [Chikarás Traum in der folgenden Nacht] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)