Aro T. von Himi_und_Nami (fruity anthology 3) ================================================================================ Kapitel 1: (Die unerfüllte Liebe des) Aro T. -------------------------------------------- Es regnete aus Kübeln, ganze Wasserbindfäden hangelten sich an den Fensterscheiben entlang. Der Rythmus der trommelnden Tropfen ließ Aoi weder schlafen noch denken. Er drehte sich auf die Seite und sein Blick segelte geschmeidig über Uruhas freie Arme. Im Licht der kleinen Schlafzimmerleuchte hatten sie eine Farbe wie warmer Milchkaffe und schimmerten ebenso cremig. Aoi musste sanft lächeln. Uruha erinnerte ihn gerade an eine duftende Kaffeepraline. „Du bist lecker, Kätzchen ...“, säuselte er vor sich hin und daraufhin drehte Uruha sich auf den Rücken und gab seinem Koi den Blick auf die seidenweiche Haut seines Oberkörpers frei. Er ließ die Finger darüber gleiten, streifte eine der leicht orange-farbenen Brustwarzen, ganz klein und weich. Ein Murren folgte, eh der Leadgitarrist sich wieder ein Stück zu ihm drehte und den Arm um ihn legte. Aufgewacht war er nicht. Aoi grinste und fuhr ihm durch die Haare. Er spielte verträumt mit einer Strähne. Wo war die Zeit geblieben? Seit über einem Jahr waren sie jetzt zusammen. Ein Jahr und vier Monate. Es war viel passiert. Sie hatten sich gleich nach dem "Rock Full Level"- Festival auf die Suche nach einer gemeinsamen Wohnung gemacht, aber bisher nichts Passendes gefunden. Also trafen sie sich weiter wie gewohnt bei dem einen oder eben bei dem anderen. Aoi beobachtete das Lichtspiel der Stadtlichter an der Decke und schaute dann auf die Uhr. Halb drei. Uruha war dieses Mal wirklich unersättlich gewesen, war er doch gerade vor einer viertel Stunde eingeschlafen. Wieder musste Aoi lächeln. Nicht, dass er was gegen Uruhas Liebeshunger hatte - ganz im Gegenteil ... Aber langsam fielen ihm die Augen zu. Und morgen mussten sie ja auch früh wieder raus. Ein Knips tauchte das Zimmer in angenehme Dunkelheit. Gleichmäßig sog der Dunkelhaarige den Duft seines Partners ein, den er so liebte. Honig und Vanille, Bvlgari und Sex ... diese Kombination in seiner Nase war berauschend genug, um selig zu schlafen. Denkste ... Das nervende Geräusch des Handysummers ließ Aoi aufschrecken. Er griff schnell nach dem kleinen Mobiltelefon auf dem Nachtschränkchen und drückte auf Annahme. Uruha hatte gemurrt, schlief aber immer noch fest. „Moshi, moshi?“ „Hi ... hier ist Tora ...“ Der Klang in der Stimme seines Kollegen war unüberhörbar traurig. Ein Schniefen, das sich den leisen Worten anschloss, verriet Aoi, dass dieser sich in einem Ausnahmezustand befand. „Hey ... was ist denn? Was ist los ... hm?“ Neben diesen geflüsterten Fragen bemühte sich der Einunddreißigjährige ohne Geräusche aus dem Bett zu rascheln. "Moment, bitte ..." Schwang sich das Deckbett um und deckte den nackten Uruha mit einer Fliesdecke zu, die in den vergangenen kalten Monaten immer griffbereit neben dem Bett gelegen hatte. Auf Zehenspitzen und im beinahe peinlichen Storchengang schlich Aoi zur Tür hinaus und schloss diese vorsichtig von außen. Er dimmte den Ceiling Lighter im Wohnzimmer auf ein diffuses Licht. „Bin wieder on, schieß los ...“ Doch er bekam nur Schweigen, ein Schniefen. „Shou ...?“, fragte Aoi vorsichtig. „Hai ...“, kam es kaum hörbar in der Leitung herüber. „Was ist denn passiert?“ Aoi setzte sich auf die Couch, den Blick durch das große Fenster auf die Stadt gerichtet. „Nichts Konkretes ... Es wird nur immer schlimmer, ich weiß ... nicht mehr, was ich machen soll ... Aoi-kun ...“ An dem Abend, als sie vor einem Jahr und vier Monaten mit allen PSC-Mitgliedern und Mitarbeitern Silvester feierten, hatte er etwas über Tora erfahren, was all die vielen Tage, die vergangen waren, ein festes Geheimnis zwischen ihnen geblieben war: Tora hatte ihm unausgesprochen gesagt, dass er in seinen Bandkollegen Shou verliebt sei, als er versuchte Aoi aufzubauen, der damals verwirrt in den großen Proberaum geflohen war, nachdem er bei einer von miyavi angezettelten Battle im Gitarrespielen und FanService ein bisschen übertrieb und Uruha die Seele aus dem Leib gezüngelt hatte - ein unwiderufliches Liebesgeständnis. Tora hatte ihm Mut gemacht und war doch selbst am Verzweifeln ... Die Sache zwischen Aoi und Uruha war schließlich gut gegangen, doch er war weiterhin allein geblieben mit seiner unerfüllten Liebe zu einem Mann, der schwule Männer weder verstand noch mochte. Doch diese Liebe war für ihn zu einer tragischen Sucht erwachsen, derer er kaum Herr wurde - auch bis jetzt nicht. Nachdem Shou sah, wie Tora Aoi tröstend umarmt hatte, war er wie ausgewechselt - entlarvte seinen Gitarristen schließlich als ebenso schwul, oder zumindest als Sympathisanten dieser Männer. Dieses Thema war vorher nie zum Gespräch gekommen und danach genauso wenig. Shou sprach einfach von Tag zu Tag immer weniger mit seinem Freund. Und Tora verstand nicht einmal warum. „Fünf Wochen ... seit fünf Wochen hat er kein einziges Wort mit mir gewechselt ... Ich bin verzweifelt ... Ich würde mich gerne auf Knien vor ihn auf den Boden schmeißen und ihm alles sagen, aber dann ... wird er mich hassen und ...“ „So ein Unsinn! Ich glaube nach wie vor, dass Shou-kun dich mag. Ihr seid immer Freunde gewesen, warum sollte sich daran etwas geändert haben oder ändern? Shou ist ein verdammter Vollidiot, weil er dich meidet, nur weil du mich umarmt hast. Das ist so ... ich weiß gar nicht was du an ihm findest ...“ Aoi hatte dabei vergessen, dass er selber früher oft genug gepredigt hatte, er sei nicht schwul und dass ihm oft der eine oder andere Moderator oder Interviewer deshalb richtig eins auswischen und ihn damit aufziehen konnte. Aber zum Glück hatte er diese Lektion nun gelernt. Er redete ohne Pause weiter. „Ne mal im Ernst, Tiger ... warum Shou?“ „Warum Uruha ...?“ „Uruha ist nicht Thema ... außerdem würde ich dann nicht fertig werden bis die Sonne aufgeht ...“, kicherte der Ältere. „Also?“ „Ist schwer zu beschreiben ... Wir haben mal auf einem Dach gesessen in Saitama in nem kleinen Bungalowpark und haben zusammmen Urlaub gemacht ... Es war sternenklar und wir haben den ganzen Abend über Planeten und Sternbilder geredet. Und dann war da diese Sternschnuppe. Ich hab Shou gesagt, er soll sich was wüschen und ... das für sich behalten, aber Shou hat mir erzählt, dass seine Mutter immer sagte, man solle seine Wünsche nie für sich behalten, sondern sie laut in die Welt hinausschreien, sonst blieben sie unerhört, und das hat Shou gemacht.“ „Und was hat er sich gewünscht?“ Aoi musste gleich wieder weich Lächeln, denn Tora hatte beim Schwelgen in dieser schönen Erinnerung glatt vergessen, weiter völlig aufgelöst nach Luft zu schnappen. „Er schrie so laut er konnte ... Ich möchte ... geliebt sein ...“ Schon wurde der Tiger wieder leiser. „Er war dazu aufgestanden und legte sich danach einfach neben mich. Seine Augen haben mich angefunkelt und er war ein bisschen rot geworden. Er meinte, er wünsche sich jemanden, der gut zu ihm ist und ehrlich.“ „Wie süß ...“ „Shou ist ein guter Mensch ... Aoi-kun, bitte denke nichts Schlechtes über ihn ...“ „Hai und das war der Abend, an dem du dich verliebt hast?“ „Nein, nicht ganz, aber es war der Anfang ... verliebt hab ich mich in einer Nacht in Nagoya in ihn. Wir hatten einen Gig, sind dann noch zu zweit durch die Stadt getingelt und da war eine kleine Kirche, in die sind wir rein und Shou hat ein Lied für mich gesungen, ganz leise, nicht so kräftig wie sonst. Ich hab neben ihm auf der Bank gelegen und er hat meinen Kopf gestreichelt, bis ich eingeschlafen bin ...“ „Das klingt liebevoll ...“ „War er auch ... Wir haben also in der Kirche gepennt. Und ein paar Wochen später bei einem DVD-Abend ist er an meiner Schulter eingeschlafen ... Seine Hand lag auf meinem freien Arm und rutsche ab, sie ist dann in die Tortillasoße getunkt. Ich bin gleich aufgesprungen und hab was zum abwischen gesucht, aber nichts gefunden ... also hab ich ... anou ...“ „Was?“ „Das hab ich noch niemandem erzählt ...“ „Los raus damit, was hast du gemacht? Hey, dein intimstes Geheimnis ist seit vierhundertfünfundachtzig Tagen sicher bei mir ...“ Das brachte Tora zum Lachen, Aois Faible für Zahlen war unheimlich, aber immer für einen Gag gut. „Okay... vierhundertsiebenundachtzig ...“, witzelte Aoi weiter. „Also?“ „Ich ... ich ... hab die Soße von ... anou ... seinen Fingern genascht ...“ „Tora, Tora ... kleine Naschkatze ...“ Aoi konnte quasi hören, wie sein Gesprächspartner glühend rot anlief. „Du bist doof ... Aber weißt du, was noch viel dümmer war?“ „Na?“ „Dass ich auch vor den Krümeln an seinem Mundwinkel nicht Halt gemacht habe ...“ „Wirklich?“, quiekte der Ältere auf und hielt sich dann den Mund zu, warf einen besorgten Blick zu seiner Schlafzimmertür und zog dann die Bettdecke ein Stück höher um seine Brust, die er eh schon die ganze Zeit hinaufgezupft hatte, weil ihm langsam ein bisschen frisch um die Mamillen wurde. „Hai ... wenn ich mir das recht überlege, dann war das ein ganz schönes Spiel mit dem Feuer ... so im Nachhinein ...“ „Aber es machte Spaß, oder?“ „Hai ... da hatte ich das erste Mal wirklich intensiv das Verlangen, ihn küssen zu wollen ... schon komisch ...“ Toras Stimmung war wieder etwas geknickt, aber Aoi hatte sein Ziel erreicht. Er hatte Tora bewusst auf diese Weise angemotzt, damit er endlich einmal frei von der Leber weg über seine Liebe zu Shou reden konnte, was er sonst niemals durfte. Und es hatte ihm gut getan, war wahrscheinlich ein ganz neues Gefühl für ihn. „Ich wünsche mir diese Zeit zurück ...“, sagte der Jüngere dann atmosphärisch. „Ich will wieder mit ihm reden und lachen können ... Und ich platze, wenn ich ihm meine Gefühle nicht gestehen kann. Ich will es ihm sagen, Aoi-kun, aber dann zerstöre ich die Band ... er wird nicht mit einem Mann zusammenarbeiten wollen, der ihn liebt und XY-Chromosomen in sich trägt ...“ Schon wieder dieses XY+XY-Pärchentrauma-Antischwulenproblem ..., dachte Aoi und musste über ShuUs Worte über Satoshi beim Festival sinnieren, when will they ever learn ...? Aber was sollte er Tora raten? „Also ist das Hauptproblem, dass du dich ihm gerne anvertrauen würdest, aber dich nicht traust, weil sonst die Band und vor allem eure Freundschaft draufgehen würde... Hm ... Dann mach es doch anonym ...“ „Wie anonym ... wie meinst du das?“ „Schreib ihm einen Brief, in dem du ihm alles gestehst ...“ „Das ist doch total bescheuert ...“ „Nein ... ich find das schön, Liebesbriefe zu bekommen und ich schreib Uruha auch manchmal einen, wenn ich was ausgefressen habe, oder ihn überraschen will, oder beides ... aber das gehört hier jetzt nicht her ... Also, ich finde das ist eine gute Idee ... du kannst dir erstmal sicher sein, dass deine Botschaft bei ihm ankommt, ohne dass er dich unterbrechen kann und er weiß nicht, dass sie von dir ist. Ergo: Freundschaft und Band aus dem Schussfeld. Und wenn du dann merkst, dass dir das nicht reicht, dann kannst du ihm einfach, ohne große Erklärungen abgeben zu müssen, sagen, dass der Brief von dir ist ... Versuch ihm zu schreiben, was wichtig ist, aber bleib neutral - er darf erstmal nicht darauf kommen, dass du den Brief geschrieben haben könntest. Sprich bloß das Schweigen zwischen euch nicht an ...“ „Ich bin ja nicht blöd ...“ „Hai, ich meine ja nur ... was hältst du davon? Es ist kein richtiges Liebesgeständnis, aber ein Anfang ... so kannst du zum Bleistift auch ganz gut auschecken, wie er überhaupt mit solchen Briefen umgeht.“ „Ihn zerreißen und in den Müll feuern?“ „Daran darfst du gar nicht denken. Wenn er das tut, nachdem ihm jemand mit damit sein Herz ausgeschüttet hat, dann ist er wirklich ein verdammter Vollidiot!“ Es war einen Augenblick nur still am anderen Ende der Leitung. Tora schien zu überlegen ... „Also gut ... viel schief gehen kann dabei nicht ... Ich kann es versuchen.“ „Hai, ran an den Speck, äh Shou ... Mal im Ernst ... Gomen ... Ich bin kein würdiger Gesprächspartner für sowas ... Ich versuch nur, Wind in die Sache zu bringen ... Es muss sich ja was ändern, sonst wirst du noch wahnsinnig ...“, murmelte Aoi verlegen. „Hai, danke ... es hat mir echt geholfen, mit dir zu reden ... Ich hab dich auch lange genug wach gehalten ... Gomen ...“ „Ach was ...“ Dazu sind wir Freunde, dachte Aoi, aber waren sie das? Tora war immer sehr gut mit Uruha befreundet gewesen, mehr als gut, zu gut, hatte er immer gedacht und war oft genug furchtbar eifersüchtig gewesen, aber nun war einfach er in der Situation Toras Kummerkasten zu sein. „Freunde?“, fragte er leise. „Hai, Freunde ... Arigato ... Wir sehen uns morgen vielleicht in der PSC ...“ „Hai, versuch noch ein bisschen zu schlafen ...“ „Du auch, Aoi, oyasumi nasai ...“ „Oyasumi nasai mo.“ Dann drückte der Gazetto-Rhythmusgitarrist auf das rote Telefonsymbol. Ich will auch geliebt werden ..., schmunzelte er vor sich hin und tänzelte barfuß mit patschenden Schritten über die Fliesen im Flur und dann zurück ins Bett zu seinem Koi, der sich mittlerweile katzenhaft zusammengerollt hatte, weil ihm unter der dünnen Decke ein wenig kühl geworden war. Aber Aoi war ja schon zur Stelle, um ihn zu wärmen... ~~~ Benommen blinzelte Shou in das Morgenlicht. Die Sonne schien. Dafür dass es die ganze Nacht so geschüttet hatte, war der Tag mit erstaunlich blauem Himmel auferstanden. Fenster auf und raus auf den Balkon. Noch halb in Schlafsachen lehnte er sich an die Brüstung hin zum Stadtpark. Man konnte sich ja fast einbilden man könne frische Luft tanken, wenn man den kleinen Umstand wegschummelte, dass man sich mitten im Herzen von Tokio befand. Fahrig kämmte er sich mit den Fingern durch die Haare, stellte den Kaffee auf dem kleinen Tisch ab und pflanzte sich kurz darauf auf einem dazu passenden, gusseisernen Stuhl mit "Mosaikbepolsterung" - Unglaublich bequem, so ein paar Stückchen Steine. Also hielt er es nicht lange dort aus. War ja auch noch ziemlich frisch Anfang Mai. Erstmal die Post reinholen, dachte er sich. Und lugte hinter der Tür auf den Eingangsbereich, der sich wie ein großer Balkon über alle Wohnungen in dieser Etage erstreckte und durch eine Eisenwendeltreppe erreichbar war. Niemand zu sehen. Gerade wollte er das Tagesblatt aus dem Zeitungsrohr fischen, da bemerkte er etwas auf dem Boden. Einen kleinen beigen Umschag. Ohne weiter darüber nachzudenken, griff er danach und beschaute ihn von beiden Seiten. Kein Absender. Hm. Hatte ein Fan etwa ausgemacht wo er wohnte ... oh nein, das war furchtbar ... Er nahm den Brief erstmal mit rein. Tora, der an der Ecke zum Aufgang zur Trockenplattform stand, hatte er nicht bemerkt. Dieser atmete tief durch. Er hatte kein Auge zugetan und nicht warten können. Nun war es vollbracht. Es gab kein Zurück mehr. Shou würde den Brief lesen, hatte er ihn doch schon im Wiederreingehen aufgerissen. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Seine Hände zitterten. Er schluckte trocken. Dann verschwand er. Über die Feuertreppe. Schritt um Schritt im Gewissen, dass Shou gerade Zeile für Zeile seines Briefes las ... Jener hatte sich, nachdem er erstmal einen kritischen Blick auf die halbe Seite Computerschrift geworfen hatte, wieder auf seinem Bett nieder gelassen. Sein Herz fing ebenfalls an ungewöhnlich schnell zu schlagen, schon als er die ersten Zeilen mit den Augen abwanderte. Er blinzelte nervös und wurde rot. Legte die Hand auf seine Brust, als er den Text in einem Zug in sich aufsog ... An Kohara Kazamasa Ich bin feige. Feige, weil ich nicht den Mut besitze, dir unter die Augen zu treten, dir dies alles persönlich zu sagen oder dir zumindest diesen Brief zu geben. Aber die Angst und fehlende Worte versperren mir den Weg. Oft war ich so kurz davor gestanden, dir zu sagen, was ich für dich empfinde, aber immer wieder schnürt mir deine Abscheu die Kehle zu, deine Ungunst gegenüber Männern, die Männer lieben - die in deinen Augen leichtsinnig und oberflächlich gegen die Natur handeln. Aber so jemand bin ich nicht. Ich bin jemand, der dich einfach lieben möchte, der gut zu dir sein will und ehrlich. Anfangs hab ich viel gegrübelt, was das für ein Gefühl sein könnte, diese Wärme, die ich spüre, wenn ich dich sehe. Und ja, irgendwann wollte ich dich einfach küssen und dann war es schon zu spät. Du hast ja keine Ahnung, was dein Lächeln mit mir macht. Aber ich schaffe es nicht, dir das alles ins Gesicht zu sagen, wohlmöglich würdest du mich nicht zu Wort kommen lassen. Es ist, wie es ist, du bist, wie du bist, ich bin, wie ich bin und die Grenze zwischen uns scheint unüberwindbar. Meine Liebe für dich muss aufhören, aber ich würde lieber sterben, als sie zu zerstören. Denn sie ist seit Langem alles, was mich ausmacht, und das Einzige, dessen ich mir wirklich sicher bin. Ich bin ebenso bedingungslos verliebt wie chancenlos und kann nur hoffen, dass du mir irgendwie vergibst, dass mein Verstand schon lange weiß, was mein Herz nicht begreifen kann. Aro T. Shou war kreidebleich geworden... Auch seine Hände zitterten nun. Er sperrte ungläubig den Mund auf, musste noch einmal nachlesen, um wirklich zu realisieren. Und das Unheimliche war, dass er nicht mal bis zu dem einfallsreichen Pseudonym-Kürzel am Ende hatte Lesen müssen, um zu wissen, wer hinter diesem Liebesgeständnis steckte ... ~~~~~ Äußerst entspannt ließ Uruha seinen Fuß auf- und abwippen, während er seinen Morgenkaffee schlürfte. Aoi gähnte und versuchte im Flur seine Augenringe wegzuschminken – das einzige Make-up-Produkt, das er sich privat erlaubte. „Tut mir leid, Schatz“, rief Uruha ihm aus der Küche zu, gab in eine zweite Tasse zwei Würfel Zucker, nebst Kaffee und brachte diese seinem Koi in den Flur. „Ich wollte dich gar nicht so lange wach halten ...“ „Ach nein?“ Der Ältere grinste müde und küsste ihn auf die Wange, als er die Tasse annahm. „Ich dachte, wach könnte ich dir dienlicher sein.“ „Tzetzetze, so ausgesprochen hört sich das irgendwie frivol an.“ „Dein Stöhnen war äußerst frivol.“ „Yuu!“ Lachend schlug Uruha ihm sanft auf die Schulter. Aoi kicherte lieblich. „Entschuldige dich nicht für solche Stunden.“ „Okay.“ Das leicht gelockte Haar schwang hind und her. „Sag, kann es sein, dass dein Handy noch geklingelt hat? Ich hab’s geschickt in meinen Traum eingebaut ...“ „Hast du’s doch gehört.“ Ein letzter Blick in den Spiegel, Sonnenbrillen aufgesetzt, los zur Arbeit. „Klar, ich war zwar müde, aber nicht tot. Wer war’s denn?“ „Verrat ich nicht“, sagte Aoi wahrheitsgemäß, weil Tora vertraulich mit ihm geredet hatte. Zwar glaubte er, Uruha wisse ungefähr zu 98 Prozent Bescheid, aber er wollte auch Tora nicht in den Rücken fallen. Also schwieg er besser und wartete ab, was passieren würde ... Als sie an der PSC angekommen waren, kam Tora mit großen, federnden Schritten auf die beiden Gitarristen zu. Irgendwie tatsächlich wie ein Tiger auf der Jagd – und die Beute saß praktisch in der Falle. „Aoi-kun.“ Seine Wangen waren gerötet, seine Augen strahlten. „Nicht viel der Worte, nur so viel: Ich hab’s getan!“ Aoi zog die Augenbrauen in die Höhe, überrascht und gleichsam erfreut. „Das freut mich. Hast du ...?“ „Er weiß es nicht.“ „Ach so? Anonym?“ Tora nickte und strahlte noch mehr. „Erst war mir ganz schlecht, aber jetzt bin ich erleichtert.“ Er sprach in Rätseln, damit Uruha nicht verstand, worum es ging. „Das kann ich nachvollziehen“, sagte Aoi und legte einen Arm um Uruhas Schulter. Der alice nine.-Gitarrist nickte wieder, verabschiedete sich genauso federnd wie er gekommen war. „War das zufälligerweise dein Anruf von heute Nacht?“ Der Ältere räusperte sich. „So offensichtlich?“ „Nein, nur ... nachvollziehbar.“ Das war Alles, was sein Freund dazu sagte. ~~~~~ Was war so toll daran, mit einem Mann zusammen zu sein? Shou konnte es sich einfach nicht vorstellen, also nahm er sich vor, das einzige bekennende schwule Pärchen der PSC zu beschatten. Als die GazettE-Gitarristen im Westflügel ankamne, gaben sie sich einen Kuss, Aoi verabschiedete sich zu den Einzeltonaufnahmen für die nächste Single, die sein Partner schon am Vortag hinter sich gebracht hatte. „Ich komm gleich nach“, flüsterte Uruha an seinen Lippen, ohne dass Shou ihn verstanden hatte. „Die Kostümprobe wartet noch auf mich.“ „Du trägst bestimmt wieder Hotpants!“ „Das hättest du wohl gerne, was?“ „Ja.“ „Reicht es nicht, dass ich auf der Bühne wieder so rumrenne?“ „Nein. Au!“ Aoi hatte einen Klaps auf den Oberarm kassiert. Uruha grinste spitzbübisch. „Geh arbeiten. Und achte auf die Stimmmechaniken ! Ruki hat gestern Überstunden geschoben ...“ „Kouyou ... wir sind doch aus dem Alter raus, in dem wir einander die Instrumente verstellen ...“ Der Rhythmusgitarrist kicherte und der Brünette blies die Wangen auf. „Wir schon, Ruki nicht.“ „Macht nichts ... ich pass auf, ja?“ Noch ein Kuss, ihre Finger der einen Hand waren immer noch miteinander verhakt. „Hai ...“ Uruha strahlte, seine Wangen bekamen einen leichten Rouge-Touch, ihre Finger lösten sich voneinander. Aishiteru, formte er mit seinen Lippen und winkte Aoi nach, der mit dem Lift zurück nach unten fuhr. Uruhas Augen glitzerten, dann seuftze er und wollte ihren Proberaum öffnen, doch sich ihm nähernde Schritte hielten ihn zurück. „Uruha-san!“ „Shou-san? Was gibt es denn?“ „Ich ...“ Wie bitte sollte er das denn jetzt am geschicktesten anfangen! „Könnten wir uns nach der Arbeit treffen? Zum Kaffee, oder so? Ich möchte dich was fragen – was Persönliches.“ Uruha stutzte und überlegte kurz. „Ist ok“, sagte er dann und nickte. „Um fünf?“ Shou nickte und wurde rot. „Gibt es etwas, dass ich wissen sollte?“ Kopfschütteln. „Nein ... ich ... nachher reden wir, ja? Ich muss jetzt erst mal zu den Anderen. Schönen Tag noch!“ Shou verbeugte sich und ging schnell zu den Treppen, um sich auf die nächstbeste Stufe sinken zu lassen. Der erste Schritt war getan; der nächste war ein Zusammentreffen mit Tora. Zum ersten Mal, seit er den Brief gelesen hatte, dachte er den Namen bewusst: Tora ... Wie sollte er sich verhalten? Sollte er zugeben, dass er den Absender kannte? So tun, als ob der Brief nie gelesen worden wäre? „Guten Morgen, Shou.“ Hallo, einmalige Gelegenheit, was machst du denn hier? „Ohayou“, murmelte der Sänger und errötete. „Was hast du?“, fragte Tora und hielt ungefragt die Hand an Shous Stirn. „Hast du Fieber? Du glühst ja richtig.“ „Nichts ... ich hab ... nichts ...“ Toll, Shou, hast du ganz super gemacht ... Die geplante Gelassenheit war dahin und der Moment auch. „Mir gehts gut ... Danke ... Tora.“ Unbeabsichtigt war ihm dieser gewisse, vor allem bestimmte Tonfall entfleucht. Der Dunkelhaarige sah ihn an, mit großen Augen, erstaunt und geschockt zugleich. Seit Wochen waren dies ihre ersten gewechselten Worte – und dann so etwas wie die Anklage, die plötzlich zwischen ihnen im Raum stand: Du liebst mich. Und obwohl sie den Weg zum Bandraum hätten gemeinsam antreten können, nahmen sie beide einen Umweg ... ~~~~~ Shou wartete gegen Feierabend am Hauptausgang mit der großen Glasfassade und versuchte sich ein bisschen damit abzulenken, die Fenster der umstehenden Gebäude zu zählen. Immer wieder hielt er inne und erstarrte aufgrund seiner eigenen Gedankengänge. Ein Fenster vor sich, Tora dicht von hinten an ihn gedrängt, seufzend. Und der Sänger bildete sich ein, es könnte ihm gefallen, von Tora umsorgt zu werden. Der vergangene Tag hatte sich als anstrengend erwiesen, obwohl nichts Außergewöhnliches passiert war. Sie hatten ja schließlich kein weiteres Wort gewechselt. Nur die Tatsache, dass Shou dieses Schweigen selbst schmerzte, macht ihm zu schaffen. Und es schmerzte ihn, weil er mehr denn je Toras Leid spürte. Hinter den großen Brillengläsern wurde zum wiederholten Male die Schamesröte versteckt. Er war sich sicher – wie er zu seiner nicht-schwulen Schande gestehen musste – ziemlich sicher, dass er Tora mochte. Sehr mochte. Attraktiv fand. Sehr attraktiv sogar. Aber ihn ängstigte der Gedanke, mit einem Mann intimer zu werden als es bei einem Kuss der Fall wäre. War es so schlimm, wie er es sich vorstellte? Oder gar gut? Oder kam es auf den Partner an? Auf die Gefühle? Auf die ... Liebe? „Entschuldige die Verspätung.“ Diese sanfte Stimme war unerwartet neben ihm auf aufgetaucht und neben ihm stand Uruha, lächelnd und freundlich wie nie. „Willst du ins Café oder in den Park?“ Anscheinend ahnte der Gitarrist ein Krisengespräch. „Lieber ins Café. Ich fürchte, wir brauchen mindestens drei Runden, bis ich richtig anfangen kann.“ „Dein Koffeinkonsum macht mir Sorgen.“ „Diese Sorge ist unnötig. Kaffee ist mein Lebenselixier.“ „Ach? Durch deinen Körper fließt nur Kaffee?“ Nicht weit von ihrer Arbeitsstelle entfernt setzten sie sich einander gegenüber in eine Caféteria. Die erste Runde begann. Shou druckste herum. „Es ist sehr persönlich ...“ „Das hast du ja schon angekündigt.“ Uruha schob sich die Sonnenbrille in die Haare, um Shou besser in die Augen sehen zu können. „Hai ...“ Er holte tief Luft und nahm die Brille ab, um sie sich an den Hemdkragen zu hängen. „Wie ... war das für dich, als du erfahren hast ... dass Aoi-san dich liebt?“ Mit jeder anderen Frage hätte er gerechnet, wenn der alice nine.-Sänger nicht gerade ihn angesprochen hätte. Der brünette Gitarrist zuckerte seinen Kaffee und lächelte. „Ich ...“ Er schloss die Augen und lächelte glücklich. „Ich war teilweise schockiert und auch unsicher, aber dann ... war da nur noch Freude ... und Glück. Obwohl ich am Anfang etwas mit mir zu kämpfen hatte, wenn es darum ging, mit Aoi zu ... schmusen ...“ „Woran hast du gemerkt, dass er der Richtige ist?“ Shou rührte seinen Kaffee nicht an. „Willst du das wirklich wissen?“ Der Sänger erwartete eine Obszönität, doch er nickte und schaute seinen Gegenüber aufmerksam an. „Es ist ganz doof ...“ Uruha strich sich die Haare hinters Ohr und kicherte. „Eigentlich wusste ich es schon, als ... ich seinen Herzschlag spürte. Wir standen voreinander, unsere Herzen waren eins, ein Herzschlag, verstehst du?“ „Und das findest du nicht -“ „Kitschig? Doch, sehr sogar, aber richtig.“ „Darf ich ... noch etwas Indiskretes fragen?“ Uruha beäugte Shous unangerührte Tasse. Wenn er jetzt schon indiskret wurde, was sollte erst in der dritten Runde kommen? „Natürlich darfst du.“ „Hattest du Angst davor ... mit Aoi-san zu schlafen?“ Der Gitarrist überlegte. „Nein.“ Shou wirkte geknickt. „Erst überhaupt nicht.“ Der Ältere lächelte. „Doch als wir uns auszogen, hab ich Muffensausen bekommen. Verständlich, oder?“ „Ich denke schon ... ich glaube, ich würde auch -“ Der Sänger schlug sich die Hand vor den Mund und riss die Augen auf. Uruha lächelte. „Man hat vor jedem ersten Mal Angst.“ Wodurch hatte er sich verraten? „Das erste Mal auf der Bühne hattest du doch auch Angst? Siehst du? Sex ist doch nur – ein wenig anders.“ Er zwinkerte und sah kurz aus dem Fenster. „Warum fragst du solche Sachen?“ Ertappt. Endlich. Er schluckte schwer und nahm seine Kaffeetasse in die Hand, um über den Rand hinweg zu pusten. „Ich hab einen Liebesbrief bekommen ...“ „Einen Liebesbrief?“ „Von einem Mann“, flüsterte der Jüngere genant und trank seinen Kaffee in einem Zug aus. „Weißt du, von wem?“ „Er hat mit einem Pseudonym unterschrieben, aber ... er erwähnte Dinge, die nur er wissen kann.“ „Also kennst du ihn?“ „Ja ... ich ... kann’s dir nicht sagen ...“ „Ist schon okay. Aber wie soll ich dir denn jetzt helfen?“ „Ich weiß nicht, was ich tun soll ... Eine Beziehung mit einem Mann habe ich noch nie geführt. Ich weiß doch gar nicht, was da wichtig ist ...“ „Alles wie bei normalen Paaren.“ Uruha wiegte seinen Kopf hin und her. „Das heißt also, du möchtest deinem Verehrer ein Ja schenken?“ Shou wurde wieder rot. „Das weiß ich eben noch nicht. Wenn die Beziehung so wäre wie bei dir und Aoi-san, dann wäre meine Antwort klar, aber ... ich weiß nicht ...“ „Hat er schon Erfahrungen?“ „Soweit ich weiß, nein ... allerdings weiß ich wahrscheinlich Einiges nicht.“ Jetzt wirkte er wieder geknickt. „Versuch doch, mit ihm zu reden ...“ „Das hab ich bereits vermasselt, fürchte ich. Heute Morgen ... einfach verplappert ...“ Ein leiser Klingelton schreckte beide Männer auf. „Entschuldige mich bitte kurz“, murmelte Uruha und nahm das Gespräch an. „Hey ... Hm? Nein, ich bin mit Jemandem unterwegs, einen Kaffee trinken ... geh doch schon mal nach Hause, ich komm später nach ... Der Makler hat sich gemeldet? Wann?“ Uruha runzelte die Stirn. „Morgen Nachmittag ist hervorragend! ... Hai, bis später! Aishiteru mou.“ „Ihr ... wollt eine gemeinsame Wohnung?“ Ein Lächeln stahl sich auf das Gesicht des Sängers. „Das ist ja süß!“ „Nicht?“ Uruha kicherte. „Vielleicht wird es auch ein kleines Haus ... wir werden es herausfinden.“ Er nahm noch einen Schluck Kaffee und seufzte tiefsinnig. „Verplappert, ja? Ich finde trotzdem, du solltest es noch mal versuchen. Er wartet sicher auf eine Antwort – auch wenn du ihm vielleicht wehgetan oder ihn verängstigt hast.“ „Es ist ... das Klügste ...“ „Richtig. Auch für dich, Kazamasa-kun ... du tust dir selbst weh, je länger du wartest. Wo ist er jetzt?“ „Ich kann jetzt nicht zu ihm gehen!“, wehrte Shou panisch ab. „Warum nicht?“, erkundigte sich Uruha ruhig. „Weil-weil-weil ... er hasst mich jetzt bestimmt! Und ich kann ihn nicht einfach an mich reißen und ihn küssen und ihn streicheln ... ich habe Angst!“ Der Jüngere war aufgestanden. Nun stand er im Raum, alle Augen waren auf ihn gerichtet. Seine Gedanken so laut zu äußern war sonst auch nicht seine Art. Sein Herz raste. Seine Haut sehnte sich nach Berührung – die Berührung, die er soeben mit Worten so vehement ausgeschlossen hatte. Angst hatte er immer noch. Angst vor seiner eigenen Sehnsucht. Uruha bezahlte seinen Kaffee und schwang sich seine Arbeitstasche über die Schulter. „Egal, wer es ist ... So lange du mit direkten Kollegen nicht redest, geht es euch Beiden schlecht. Und das wirkt sich auf die gesamte Band aus. Frag den ehemaligen Experten im Nichtreden.“ Mit diesem super süßen Lächeln machte sich Uruha daran wieder zu gehen. „Du hast Recht ... aber ich ... glaube ich, kriege einfach blanke Panik ... wenn ich vor ihm stehe ...“ „Ich muss jetzt los ... der Makler wartet. Wenn du ... noch mal meinen fachmännischen Rat brauchst ... null eins acht vier sechs sechs drei vier eins acht null fünf ...“ „A ... nou ... okay ... null eins acht vier sechs ... sechs drei vier ... eins acht null ... f ...ünf, ich versuche es mir zu merken.“ Uruha kicherte, dann verschwand er durch die Glastür. Schnell zückte Shou sein Handy und notierte sich tippend die Nummer. Zum Glück war er ähnlich talentiert wie Aoi, was Zahlen betraf, während die anderen Frauen in der Ceféteria, die die Szene mitgehört hatten, vergeblich daran gescheitert waren, sich die Rufnummer zu merken. Etwas verwirrt von dem Gespräch schlich er zu seinem Tisch zurück, sah durch die Glasfassade nach draußen auf die Raucherecke. Sein Blick war leicht verträumt und er grübelte weiter vor sich hin. Wurde rot, schüttelte sich, wurde bleich, atmete tief durch. Er hatte wirklich Angst. Plötzlich nahm er eine vertraute Silhouette vor dem Fenster in der Raucherecke wahr. Diese Weste, diese Kapuze ... Tora. Seine Augen wurden größer und größer. Er hatte Saga im Schlepptau. Die beiden rauchten noch eine, bevor es nach Hause ging. Shou beobachtete den Gitarristen genau. Er war ruhig. Seine Augen waren unter der schwarzen Sonnenbrille nicht auszumachen, aber sein Rücken war rund, sein Kopf hing und es schien ihm sichtlich schwer zu fallen, sich normal mit dem Bassisten an seiner Seite zu unterhalten. Shous Herz begann schneller zu schlagen. Immer schneller. Was sollte er nur tun? Saga grüßte ihn. Der Sänger zuckte zusammen. Dann grüßte er gekünstelt freundlich zurück. Tora drehte sich zu ihm um. Sein Mund öffnete sich leicht, aber dann drehte er sich schnell wieder weg. Die Haare fielen ihm ins Gesicht, was Shou all sein Leid verbergen sollte. Shou ließ die Hand, die nach dem Gruß an Saga immer noch in der Luft schwebte, langsam sinken. Sein Herz gefror. Er blinzelte schockiert die Tischplatte vor sich an. Dann stand er auf und lief aus dem Raum. Er musste weg von hier. Er hatte Angst. ~~~ „Tora ...? Alles klar bei dir?“, fragte Saga verhältnismäßig vorsichtig. „Hai“, schniefelte der Andere und rang mit den Tränen, die er zum Glück hinter den getönten Gläsern gut verstecken konnte. Er zog die Schultern an, wich dem Kleineren damit aus. Dieser wartete ein paar Sekunden ... bis Tora schließlich ... aufgab. „Nein, es ist gar nichts klar bei mir ... Gar nichts ...“, weinte er plötzlich los und Saga war einfach nur erschüttert darüber, den anderen so aufgelöst zu sehen. War er doch seit über einem Jahr so gefasst gewesen, wenn es um Shou ging. Es überforderte ihn gerade unheimlich, denn er hatte nicht damit gerechnet, dass es Tora so schlecht ging, dass er so verletzt war. Schützend legte er einen Arm um seinen Bandkollegen, zog ihn um die Ecke, wo eine Wand sie vor den Blicken der Gäste der Caféteria schütze und auch Passanten sie nicht sehen konnten. „Tora ... was ist da zwischen euch los ...? Ich versteh das nicht. Rede mit mir, Mann!“ Sofort sackte Tora die Mauer herab, stützte sein Gesicht auf seine Hände. Träne um Träne quoll aus ihm hervor und er wiegte sich hin und her. „Ich kann nicht mehr ... ich kann das nicht mehr ertragen ...“ „Tora ... du machst mir Angst ... sag mir, was los ist; oder ich knall dir eine! Sag mir, was da zwischen euch passiert. Es reicht mir jetzt wirklich, die Klappe zu halten und zuzusehen, wie ihr euch gegenseitig so fertig macht ... Tora! Meinst du nicht, Hiroto, Nao und ich machen uns keine Sorgen?! Tag für Tag zermartern wir uns die Birne, was mit euch los sein könnte. Tag für Tag machen wir uns Sorgen. Raus damit! Das macht uns alle kaputt!! Tora!“ „Ja doch!“, trotzte der Andere in gleichlautem Tonfall zurück, hob auch den Kopf wieder, nachdem er die Sonnenbrille auf den Boden geschmissen hatte. Sagas Wutausbruch war berechtigt. Aber er hatte ihm gerade den letzten Nerv geraubt. „ICH LIEBE IHN“, brüllte er unüberhörbar durch die Gegend. „ICH LIEBE KAZAMASA!“ Saga konnte ihn nur entgeistert ansehen. Beide schreckten zusammen, als plötzlich eine Coladose auf den Boden krachte. Sie drehten die Köpfe abrupt in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Hiroto. Er war den Beiden gefolgt, weil er ebenfalls noch Eine rauchen wollte. Gleichmäßig überzog das braune Zuckergetränk die Pflastersteine. Der kleine Gitarrist blinzelte. Dann tat er das, was Saga einen Moment vorher eigentlich hatte tun wollen. Er setzte seine Tasche ab und lief mit langen Schritten zum Rhythmusgitarristen herüber, kniete sich auf den Boden und umarmte ihn schlicht. Tora legte das Gesicht in die Halsbeuge des Anderen, der ihn einfach nur festhielt. Auch Saga kam nun dazu und legte die Hand auf Toras Schulter. Hiroto sah ihn nur bittend an. „Ruf Nao an ... er soll herkommen ... schnell ...“ Saga nickte und griff zum Telefon. Er konnte vor Aufregung gar nicht richtig sprechen, sagte dem Drummer schließlich nur, dass Tora wohl einen Nervenzusammenbruch hätte. Und das stimmte auch, denn so fest wie in diesem Moment hatte sich der Bandälteste noch nie an Jemanden geklammert. Er hatte sich so danach gesehnt, einfach ... weinen zu dürfen ... ohne dabei alleine im Dunkel seines Zimmers zu sitzen, schwach sein zu dürfen, umarmt zu werden, alles zu sagen ... einfach so. Immer wieder durchkämmte Hiroto seine schwarzen Haare ein Stück weit unter der Kapuze, streichelte seinen Rücken. Saga legte seinen Kopf auf seine Schulter. Beide Männer wussten, was dieses Geständnis für Tora bedeutete. Und sie kannten Shous Abneigung gegenüber schwulen Männern. Bei einem Saufgelage hatten die Beiden mit Shou über dergleichen gesprochen. Er war ein klassischer Fall von Homophobie. Das hatten sie damals ganz schnell festgestellt. Besonders, als Saga sich sturzbetrunken daran gemacht hatte, den Sänger ein wenig zu befummeln, um ihn zu ärgern. Shou war damals so in Panik geraten, dass er den Bassisten beinahe mit einem Schlag niederstreckte, dann hatte er sich ins Klo eingeschlossen. War bis zum Morgen nicht mehr heraus gekommen ... als die Sonne wieder aufging und Hiroto ihn wachklopfte, weil er unbedingt ins Bad wollte, konnte sich der Sänger an nichts mehr erinnern. Das war auch gut so. Sie hatten ihm auch nie mehr davon erzählt. Sich als Mann in Shou zu verlieben ... war wie jeden Tag ein Stückchen mehr an dem Ast zu sägen, auf dem man saß. Es brachte einen weder voran, noch machte es glücklich. Es brachte einem nur dem Abgrund Stück um Stück näher ... bis man fiel ... Nao kam gleich mit einer Sani-Tasche und einer großen Flasche Wasser herangerannt. „Was ist denn passiert ...? Mein Gott, was ist hier los ...?“ Saga antwortete ihm relativ gefasst. „Tora und Shou ... ich ... ich bin ausgerastet und hab von ihm verlangt, uns endlich zu sagen, was los ist und ... Tora hat gesagt ... Er ist in Shou verliebt ...“ „Und Shou hat ihn zurückgewiesen ...?“ Nao begriff selber kaum, warum er diese für ihn völlig überraschende Tatsache einfach hinnahm. Sein Freund liebte seinen Freund, einen Mann. Ok. Das war jetzt so. Und weiter? „Keine Ahnung ...“ Tora fing wieder lauter an zu weinen. Er konnte fast keine Luft mehr bekommen, so sehr schoss der Schmerz durch seine Augen ans Licht. Er riss Hiroto ein Stück herum, umklammerte ihn nun wie ein kleines Kind seine Schmusedecke. Sein Freund war ein wenig irritiert und wusste nun auch nicht mehr, was er tun sollte, erwiderte aber einfach weiter die Umarmung. Nao kam so nahe an die beiden Gitarristen ran, wie er nur konnte. „Sch ... bitte atme ruhiger, Shinji ... ruhig ... sonst bekommst du keine Luft ...“ „Es tut mir so Leid ...“, stammelte Saga an Toras Seite nahe dessen Ohr. „Ich ... es ist einfach mit mir durchgegangen ... bitte beruhige dich ... Wir ... sind für dich da ... wir halten zu dir. In jeder Sekunde in den letzten Monaten hättest du zu uns kommen und mit uns reden können ...“ Toras Gesicht verließ sein Versteck am Hals des Anderen. Er schaute in das Gesicht des dunkelblonden Mannes zu seiner Rechten. Er schüttelte den Kopf. „Es wäre ... ungerecht Shou gegenüber gewesen, wenn ihr ... alle es gewusst hättet ... und die Wahrscheinlichkeit wäre ... gestiegen, dass er es erfährt ...“ „Also weiß Shou noch gar nichts ...? Aber wieso schweigt er dich dann an?“ „Er hat damals auf der Silvesterparty gesehen, wie ich Aoi getröstet habe ... seitdem ist er so komisch zu mir ... ich hab ihm einen anonymen Brief geschrieben ... weil ich es nicht mehr ausgehalten habe ...das war heute Morgen ... Wie konnte ich nur annehmen, Shou wäre dumm genug, um nicht zu kapieren, von wem dieses Liebesgeständnis kam ... Wie konnte ich nur so unglaublich blöd sein ...?“, platzte alles plötzlich aus ihm heraus. Er ließ Hiroto wieder ein bisschen mehr Luft, sodass dieser ihn anschauen konnte. „Dieses ängstliche Funkeln in seinen Augen ... der misstrauische Tonfall ... Er hasst mich. Und das wird alice nine. kaputt machen ... Es hat schon angefangen, Saga ... du hast es doch selbst gesagt ... eben gerade ...“ In diesem Moment wurde dem Bassisten klar, warum und an welchem Punkt seiner Anklage genau Tora so zusammengebrochen war ... Er schämte sich dafür, dem Anderen so einen Keil ins Herz getrieben zu haben. „Gomen ...“ „Wir schaffen das ... wir fünf haben doch immer zusammengehalten. Das sind wir auch unseren Fans schuldig. Number Six ... du weißt doch ...“, streichelte Nao an seinem Arm auf und ab. „Es wird alles gut werden ... vertrau mir ... Wir reden mit Shou ... gemeinsam.“ Nun schauten den Drummer drei Augenpaare verwirrt an, der nur beschwörend nickte. ~~~ Grübelnd schlich Shou durch seine Wohnung. Er ging auf und ab, in die Küche und wieder raus ... ins Schlafzimmer und wieder raus, wenn er sich vor dem Brief erschreckte, der dort immer noch auf dem Bett lag, den er seit fast sechzehn Stunden nicht angefasst hatte. Wieder ertappte er sich dabei ihn anzustarren. Das war doch bescheuert! Er kam sich selbst einfach nur doof vor ... Angst vor einem Brief, Angst vor einem Freund, Angst vor der Liebe ... Er war ein Weichei. Unsicher kletterte er auf die Matratze, legte sich auf den Rücken. Warum hatte er nur so eine Furcht davor. Tora war doch weder ein Monster, noch jemmand unbekanntes für ihn. Aber er erkannte auch, dass seine Abneigung gegen schwule Männer ihn schon seit Monaten hatte verstummen lassen, zumindest wenn er mit Tora sprechen sollte. Mit einem schwulen Mann umgehen ... das konnte er nicht. Er wusste nicht wie. Tora war damals so unabdingbar auf Aoi-sans Seite gestanden, dass es gar nicht anders sein konnte, als das Tora selber schwul war. Deshalb hatte er ihn nie mit Frauen gesehen. Und schließlich hatte er Recht behalten. Aber dass er es ausgerechnet war, an den Tora sein Herz verlor, das war etwas, mit dem er nicht hatte rechnen können. Es zog ihm jeglichen Halt aus den Händen. Seine zitternden Finger schnappten sich das Kuvert und öffneten den Brief erneut. Er begann wieder zu lesen. Diese Worte ... sie berührten sein Herz zutiefst ... Es waren die Worte, die er sich gewünscht hatte zu hören. Aber dass Shou der Einzige war, dem er seinen Lebenswunsch anvertraute und dass er ihn so fast eins zu eins zitierte, fühlte sich an wie ein Peitschenhieb. Und die Aussage, Tora würde lieber sterben, als seine Liebe zu töten, war ein Stich ins Herz. Es setzte ihn unabdingbar unter Druck. Hieß das dann, dass er nie wieder mit Tora normal umgehen konnte, nie mehr mit ihm befreundet sein durfte, wenn er diese Liebe nicht einging? Dieses Gefühl in ihm auszulösen hatte Tora sicher nicht erreichen wollen. Aber es war da. Und er konnte es nicht leugnen. Er schnappte sich sein Telefon, wählte Uruhas Nummer an, ließ klingeln. Er musste jetzt noch einmal mit Jemandem darüber reden. X Japan ... volle Lautstärke fiel dem Makler ins Wort. „Entschuldigen Sie mich einen Moment“, wedelte Uruha mit den Händen, warf Aoi einen Du-machst-hier-weiter-hai?-Blick zu. Dann verschwand er im Nebenraum und flüsterte, als er ran ging. Aoi blickte ihm nach. So langsam wurde er misstrauisch, das kam ihm Spanisch vor ... erst Recht, als er Uruha erröten und dann verlegen lachen sah. Ihm war klar: Das ist die Person, mit der er heute Kaffeetrinken war. Und die Beiden unterhielten sich über schlüpfrige Dinge ... er kannte Uruhas Verlegenheitsgrinsen genau, wenn es um dieses Thema ging ... Wer war das, verdammt?! „Shiroyama-san? Hören Sie mir zu?“, pfiff ihn der Mann in Schlips und Kragen an. „Hai, gomen nasai ...“ Doch trotzdem hatte er immer ein Auge auf seinen Koi. „Du willst WAS von mir wissen?!“ „Ich möchte wissen, was homosexuelle Männer im Bett machen ...“ Shou kam sich gerade vor wie ein kleines Kind ... „Was ... und kannst du mir sagen, wie sich das anfühlt ...?“ „Anou ... hör mal ... ich bin gerade bei einem wichtigen Termin. Der Makler ist gut und teuer. Ich ... wir können gerne später noch einmal miteinander telefonieren ... Vielleicht erkundigst du dich mal im Internet ... da gibt es Ratgeber ... Wir kommen darauf zurück, hai? Ich versprech es dir. Aber nicht jetzt! Ich ruf dich zurück.“ Damit legte er auf. Er wollte sich lieber Zeit nehmen für dieses Gespräch. Shou fühlte sich ein wenig verdummt. Aber andererseits konnte er auch verstehen, dass Uruha gerade überhaupt keine Zeit hatte. Also beschloss er auf den Rückruf zu warten. Er schaute einen Moment in die Leere. Dann beugte er sich vom Bett herunter, auf dem er immer noch hockte. Er griff ins Dunkel unter sich und holte seinen Laptop raus, klappte ihn auf, fuhr ihn hoch. Vielleicht würde er wirklich einen Ratgeber finden, Internetstick rein, online. Saga hatte ihm mal geraten Suchbegriffe auf Englisch einzugeben, so bekam man mehr Treffer. Also: Er wollte etwas über den Sex schwuler Männer erfahren ... Was lag da also näher, als >Gay Sex< einzugeben. Doch eh ihm klar wurde, wo diese kleine Wortgruppe hinführen würde, lachten ihn auch schon ein paar Pornothumbnails bei Google an. Er erschrak sich sogar, obwohl er auf den 150x200px-Bildchen kaum etwas erkennen konnte. Seine Hände zitterten. Der Mauszeiger wanderte auf die Kante eines Bildes, dessen Hovereffekt es als Link umrandete. Klick. Schreck. Dieses Bild war einfach nur abstoßend, eklig und grotesk. Shou schloss es schnell wieder. Unglaublich, was manche Menschen ins kollektive Gedächtnis der Menschheit einstellten ... Shou klickte sich weiter durch. Aber alles, was er fand, waren Schwänze, Ärsche, beides im Verbund und dreckige Posen von übertrainierten europäischen Männern. Er erschreckte sich noch mehr, als er zwischen drin aus Versehen ein Video anklickte, dass zwei Männer beim Sex zeigte, bei dem sogar eine Flasche zum Einsatz kam ... Das reichte! Shou schloss den Browser, warf den Internet Explorer von der Festplatte und schwor sich, fortan nur noch Opera zu benutzen! Er war so angewidert von dem, was er dort gesehen hatte. Das würde er nicht können! Niemals! Auch nicht für Tora! Auch nicht mit ihm! Und dass der Rhythmusgitarrist nicht nur Händchen mit ihm halten wollte, war klar. Er schüttelte nur den Kopf. Nein, nein. Das war nicht seine Welt. Das war eklig. Er verwarf den Gedanken ... Tora war ihm sympatisch, Tora war attraktiv und süß. Aber das dachte er auch über die Dame am Eingang der PSC oder über das Mädchen, das ihm seinen Kaffee gebracht hatte. Das reichte nicht und schon gar nicht, um sich auf so etwas Widerliches einzulassen. Es tat ihm im Herzen weh, an Toras süße Worte zu denken, die Worte, die er schon immer hören wollte ... Aber das konnte er nicht. Er schnappte sich seine Tasche, seine Jacke, den Schlüssel und rannte los. Draußen war es schon dunkel geworden. Und eh er sich versah, stand er vor Toras Wohnungstür. Er nahm allen Mut zusammen den er hatte und klingelte. Einmal, zweimal ... dreimal ... klopfte ... bis ihm ein, von seinen Freunden in der Zwischenzeit nach Hause gebrachten, Tora mit geröteten Augen die Tür aufmachte und gleich darauf noch fahler wurde, als er es eh schon war. „Shou ...“ Der Türgriff klapperte unter seiner zitternden Hand. Beide zitterten. Beide schauten sich starr an. „Magst ... du ... reinkommen ...?“ Tora bekam nur ein Kopfschütteln als Antwort, doch dann konnte Shou es nicht mehr zurückhalten. „Ich kann das nicht ...“, fing er unverhofft an. „Ich kann nicht mit dir zusammen sein ... Es geht nicht.“ Tora fühlte einen leichten Schwindel, der ihn überkam. Das war er, der Moment, den er gefürchtet hatte. Er erstarrte. „Das ... ist zu ... befremdlich für mich ... zu ... egal ... Es geht nicht. Bitte versteh das ... Tora, ich möchte ... dass wir Freunde bleiben ... ich möchte, dass wir weiter Musik zusammen machen können ... unseren Traum Leben. Aber dafür musst du begreifen, dass es zwischen uns nie etwas Anderes geben wird. Nie. Bitte ... bitte lass mich los.“ Nun nahm Shou all seinen Mut zusammen und ging auf den anderen zu, der weder zuckte noch anders reagierte. Er umarmte ihn und weinte: „Es tut mir Leid ... wirklich ... und ich ... danke dir für deine lieben Worte ... danke ...“ Toras Arme hoben sich nicht, um die Geste zu erwidern. Er stand unter Schock. Es war ihm auch nicht bewusst, dass er diese Nähe zum ersten Mal seit Monaten geschenkt bekam und sie im nächsten Moment vielleicht für immer verlor ... Shou ließ ihn los. Er ging ein paar Schritte rückwärts. Weinte. >Verzeih mir ...<, formten seine Lippen noch. Dann verschwand er wieder im Halbdunkel des Flures, durch die Tür, in die Nacht. Er hörte noch, wie sich die Tür hinter ihm schloss, einen dumpfen Ton – er wäre am liebsten zurückgelaufen, um Tora vor sich selbst zu schützen, vor der Einsamkeit und der Welt, die ihn verletzte. Doch es war unfair ... Shou war der Grund für seine Schmerzen. ~~~~~ In die Ecke gedrängt, auf dem Boden kauernd, sein Körper bebte. Sein Gesicht wurde nass, ohne dass er wusste, woher das hätte kommen können. Ein Winseln neben ihm ließ ihn aufschauen und schluchzen. Eine raue, feuchte Zunge leckte ihm die Tränen von der Wange und das liebevolle Gesicht seiner treuen Begleiterin. Die deutsche Schäferhündin namens Betty war nun schon drei Jahre bei ihm ... Toras Mutter hatte sie ihm als Welpin mitgebracht – und seitdem gingen sie durch dick und dünn. „Sweet girl“, flüsterte Tora und schluchzte wieder, woraufhin ihre Zunge erneut über seine Wange glitt. Er umarmte seine beste Freundin und wusste vor Schmerz und Verlust noch gar keinen klaren Gedanken zu fassen. ~~~~~ Der Gazetto-Rhythmus-Gitarrist summte und träumte in Erinnerung an das heute besichtigte Objekt. Es war herrlich gewesen. Aber der Makler wollte ihnen noch etwas Anderes anbieten, also wollte er den Tag nicht vor dem Abend loben ... Aoi kam aus der Dusche, tänzelte mit nassen Füßen über Uruhas Parkettboden, gab seinem Liebsten einen Kuss auf die Wange und verschwand in seinem geliebten ‚zweiten Probe-Raum’. Plan war eh nur zwei Stunden zu arbeiten, damit sie nachher zur Eröffnungsfeier eines neuen Clubs gehen konnten. Ein Gay-Club, wie Aoi und Uruha bereits schon seit ein paar Wochen vom Besitzer wussten. Als Uruha sich sicher war, Aoi hätte seine Kopfhörer aufgesetzt und würde gleich am Mischpult arbeiten, nahm er sein Handy zur Hand, wählte Shous Nummer an und horchte. Es klingelte ein paar Mal, ehe er ein tiefes Durchatmen und ein Schluchzen hörte. „Shou-san, was ist denn passiert?“ „Ich hab ihm ... einen Korb gegeben“, flüsterte der Sänger und Uruha sackte in sich zusammen. „Das ist meine Schuld, Shou-san ... ich hab noch mal nachgedacht, das mit dem Internet war eine bescheuerte Idee gewesen. Ich hab nicht bedacht, das man auf ... unseriöse Seiten stößt.“ Ein ersticktes, sarkastisches Lachen ertönte auf der anderen Seite. „Du hast heute einfach kein Händchen für die richtige Wortwahl, Uruha-san. Ich hab heute genug Stöße gesehen ...“ Der Gitarrist biss sich beschämt auf die Unterlippe und fuhr sich mit der Rechten durch die Haare. „Kann ich zu dir kommen? Ich möchte das wieder gut machen ... vielleicht ... es tut mir so Leid!“ Uruha selbst trieb es die Tränen in die Augen. Diese Sache hatte er komplett versaut. Der Mann, in den Shou verliebt war, lag jetzt bestimmt heulend in seiner Wohnung und wusste weder ein noch aus. Und Shou selbst ging es nicht besser. „Ich weiß nicht“, schluchzte der Jüngere und begutachtete anscheinend sein Spiegelbild. „Meine Nerven liegen blank, Uruha-san ...“ „Ich komme rum, ja? Wenn du nicht willst, musst du mich ja nicht reinlassen!“ Uruha rang sich ein Lächeln ab, obwohl es niemand sah. „Was ist mit Aoi-san?“ „Der arbeitet noch ne Runde. Ich bin in ... fünfzehn Minuten bei dir!“ Zum Glück hatte Aoi sein Navigationssystem auf dem Handy zum Laufen gebracht. So konnte er einfach die gespeicherte Adresse anklicken und – voilà – schon wurde ihm der Weg beschrieben. „Bis gleich – und tu nichts Unüberlegtes!“ „Hai.“ Shou seufzte theatralisch. „Es war ein Fehler, oder?“ „Das müssen wir noch herausfinden, Shou-san. Bis gleich.“ Er legte auf und bekam Herzklopfen, weil er sich bei Aoi abmelden musste. Er klopfte an der schweren, von innen ausgepolsterten Tür, doch natürlich hörte man ihn nicht. Also machte er auf und es war still im Raum. Die dunklen Haare verdeckten fast komplett die schweren Kopfhörer – und einen Moment lang kam er in die Versuchung, sich hinzusetzen und seinem Freund einfach beim Spielen zuzusehen. Die Hände zu betrachten, die wussten, wie man aus so manchem Instrument die Töne entlockte. „Aoi?“, fragte er leise. Der Angesprochene zuckte nicht mal. Uruha küsste ihn ins Haar. Die Saiten hielten inne, eine Hand schob sich in Uruhas Haare, um ihn zu streicheln. „Was gibt es denn? Hab ich das Wasser angelassen?“ „Unsinn.“ Noch ein Kuss. „Ich muss nur wohin. Was Dringendes. Treffen wir uns dann nachher? Um zwanzig Uhr?“ „Hm? Ist etwas Schlimmes passiert?“ „Das muss ich noch herausfinden“, wich Uruha aus. „Im Tawamure, hai?“ „Sou desu ne“, antwortete Aoi, doch sein Partner überhörte den skeptischen Tonfall. „Also dann ... ich muss los!“ Uruha küsste Aoi kurz auf den Mund und schnappte sich seine kleine Reisetasche, in der sich alle brauchbaren Utensilien befanden, wenn er ausgehen wollte. „Bis nachher! Komm nicht zu spät!“ „Du besser auch nicht – sonst heißt es noch, wir sind wieder Singles!“ „Bäh ... Was soll ich denn mit einem anderen Mann?“ Uruha lachte und warf ihm noch einen Luftkuss zu. Dann war er weg. Aoi presste die Lippen aufeinander, um ihm nicht hinterher zu schreien. ~~~~~ „Meinst du wirklich, ich sollte ...?“ Tora hielt sein Haustelefon in der Hand. „Er hat bestimmt Wichtigeres zu tun.“ Betty schien fast die Augen zu verdrehen und stupste ihm wieder gegen die Knie. „Du bist sicher?“ Wieder ein Stupsen. Dann bellte sie ein Mal, vernünftiges Tier, das sie war. „Na gut ... aber du tröstest mich, wenn er mich als Heulsuse bezeichnet!“ Er öffnete seine Anrufliste und tippte einen bestimmten Namen an. „Moshi moshi?“ „Aoi ...?“ „Tora, was ist denn passiert?“ Der andere Gitarrist schien sofort alarmiert zu sein. „Hat Shou -“ „Er hat mich zurückgewiesen, hai.“ Und die Wahrheit auszusprechen war mindestens so wirksam wie ein Faustschlag ins Gesicht. Tora begann hemmungslos zu weinen. „Aoi ... Yuu, ich weiß nicht mehr, was ich machen soll ... Ich muss ihn vergessen“, sagte er in einem Anflug von Verzweiflung. „Ich weiß, ich soll nicht aufgeben, aber ... ich habe keine Kraft mehr!“ „Warte, beruhige dich erst ... was ist denn passiert?“ „Er hat es irgendwie herausgefunden, dass ich ... ihm diesen Brief geschrieben habe ... und ... er kann nicht ... wie ich es mir dachte, er kann nicht mit mir leben ... nicht so wie ich-“ Tora hielt inne. Der erste Weinkrampf nach Shous Absage schüttelte seinen Körper und machte es ihm komplett unmöglich, sich zu unterhalten. „Shinji ... komm ...“ Aoi verhielt sich so, als würde er direkt neben dem jungen Mann sitzen. „Es wird alles gut ...“ Er warf einen Blick auf seinen Bildschirm. Seit Uruha losgegangen war, hatte er sowieso nicht weiterarbeiten können. „Ich hab eine kleine Idee ... vielleicht heitert dich das etwas auf. Hast du was dagegen, wenn ich zu dir komme?“ „Und dann?“ Tora weinte Herz erweichend. „Dann hübschen wir uns ein bisschen auf und überlegen uns was.“ Niemand wusste besser als Aoi, dass nach einer Absage Ablenkung die beste Methode war, um Schmerz zu betäuben. Tora sollte sich ja nicht besaufen oder so etwas in der Art, aber er sollte auf andere Gedanken kommen. Und wo könnte ein schuler Mann das am Besten, wenn nicht in einem neu eröffneten Schwulen-Club? ~~~~~ Uruha war sich sicher, dass er sich bei Shou mit dem Tawamure ganz schön weit aus dem Fenster lehnte, dennoch glaubte er an die positive Wirkung des Ladens, den ein guter Freund, den er gemeinsam mit Aoi gefunden hatte, heute Abend eröffnen würde. Wenn überhaupt, hätte er nur heute Abend die Gelegenheit, um Shou zu zeigen, dass Schwule nicht nur – vulgär gesagt – Löcher stopften. Shou hatte ihn hereingelassen, doch nun war er schon seit zehn Minuten im Badezimmer und das Wasser lief. Er duschte, um sich zu erfrischen. Vielleicht konnte die Flüssigkeit sein schlechtes Gewissen wegspülen. Uruha sah auf die Uhr und seufzte. Wenn sie noch rechtzeitig hinkommen wollten – na ja, Shou wusste ja noch gar nichts von seinem Glück – sollten sie sich vielleicht innerhalb der nächsten vierzig Minuten fertig machen. Oder sich erstmal entscheiden hinzugehen. Die Dusche verstummte. Uruha hörte nasse Schritte, dann das Quietschen eines Spiegelschrankes. „Shou-san ... ich möchte dir bitte etwas ... Kommst du bitte raus?“ „Warum?“ Uruha lachte. „Ich bin doch hier, um mit dir zu reden ... und ich möchte dich aufheitern.“ „Mich kann man heute nicht mehr aufheitern, Uruha-san ...“ Und trotz dieser Worte öffnete sich die Badezimmertür, ein nasser, verweinter Shou kam zum Vorschein. „Komm.“ Er lächelte und zog an Shous Arm, nicht darauf achtend, dass dieser nur spärlich durch ein Handtuch bekleidet war. „Wir suchen dir was Schickes zum Anziehen raus. Heute Abend eröffnet ein neuer Club, ein Freund von Aoi und mir ist der Besitzer. Ich möchte dich einladen, zur Eröffnung mitzukommen.“ Kleine Details über Homosexualität oder andere Abnormalitäten ließ man mal eben außen vor ... Ohne sich zu wehren ließ Shou sich von Uruha einkleiden und ein wenig schminken, um die Aufmerksamkeit von den roten Augen und den dunklen Ringen abzulenken. Als der Sänger sich schließlich im Spiegel begutachtete, war er überrascht. „Uruha-san?“ „Ja?“ „Ich weiß, dass du in diesem Club etwas mit mir vorhast, aber ...“ Er sah den Gitarristen mit einem schrägen Grinsen an. „... das sieht gar nicht nach einer Aufreißer-Klamotte aus!“ Uruha lachte. ~~~~~ „Und du bist sicher, ich störe euch bei der Eröffnung nicht? Ich meine, ihr werdet doch bestimmt oft verlangt und müsst Hände schütteln und so was ...“ „Unsinn, wir sind gute Freunde und konnten ihm bei kleinen Dingen helfen, aber wir sind zu nichts verpflichtet. So ein Club, in den wir uns nicht erst einschleußen müssen, ist einfacher zu besuchen – und auch irgendwie familiärer.“ Tora blinzelte und überlegte. Er war zwar verletzt und verheult, aber nicht dumm. „Ihr seid Miteigentümer?“ Daraufhin räusperte sich der Ältere nur hörbar. „Ich finde so was praktisch.“ „Also ja.“ „Ist das schlimm – oder von Nachteil für dich?“ „Nein ... aber eure Namen in der Öffentlichkeit -“ „Wir sind stille Teilhaber. Und jetzt genug davon.“ Aoi schaute liebevoll herab auf einen kleinen Tiger, der wie ein begossener Pudel auf seiner Couch saß und zu ihm hochlinste. „Wir kümmern uns jetzt um dein Styling!“ ~~~~~ Bunte Lichter tanzten auf dem Boden und an der Decke, während die Musik in den Ohren und im Körper vibrierte. Nach einer gewissen Gewöhnungsphase, die Aoi als auch Uruha gebraucht hatten, um sich in dieser Art Clubs zurechtzufinden, machte es ihnen nun nichts mehr aus, schwule und auch lesbische Paare beim Küssen oder engen Tanzen zu sehen. Und da dies die Eröffnung einer »Homo-Bar« war, hatte Aoi nichts anderes erwartet. Nur über den alice nine.-Gitarristen wunderte er sich ein bisschen. Nachdem er diesen nach langer Überredungskunst, zwei bis drei Handgriffen in den Kleiderschrank, zwei Kajalstrichen und einem Griff in den Schuhschrank endlich von einer kleinen Ablenkung an diesem Abend überzeugt hate, waren dem Single-Gitarristen doch Zweifel gekommen. Doch so, wie Tora sich jetzt verhielt, verstand Aoi dessen Zweifel nicht. Die wenigsten Leute im Raum beanspruchten das Hauptklischee der Homosexualität für sich. Die Frauen weder zu maskulin, noch die Männer zu feminin. Sie als Visual Kei-Künstler waren nun mal eher androgyn. Niemand beschwerte sich deswegen mehr. Aoi erkannte Leidenschaft und auch Verzweiflung in Toras Tanz; die Augen geschlossen gab dieser sich den Wogen der Musik hin und schottete sich von der Außenwelt ab. Die Aufmerksamkeit des älteren Gitarristen, der beobachtend an der Bar stand, wurde umgelenkt auf ein Licht am Eingang, als sich die Tür öffnete und Uruha eintrat. Über die Menge hinweg trafen sich ihre Blicke, und Aoi erkannte an Uruhas Glitzern, dass er ihn erkannt hatte. Kurz verschwand er aus Aois Sichtfeld, dann stand er schon fast neben ihm. Der Leadgitarrist deutete dem Barkeeper ein Getränk an und grinste, als der Longdrink für ihn gemixt wurde. An dem Strohhalm schlürfend, glühte er seinen Partner an. „Ne Menge Leute hier“, rief er. „Mehr als gedacht.“ Aoi nickte nur und lächelte, während sein Blick wieder davonschweifte. Tora tanzte noch immer ekstatisch. „Hast du also einen Notanruf bekommen?“ „Woher ...?“ Aoi erkannte, dass Uruha Tora meinte, und staunte, weil er seit langer Zeit wieder Kontaktlinsen mit Stärke trug. „Er tanzt immer so, wenn er eine Absage bekommen hat“, erzählte der Blondierte. „Wundert mich nur, dass du ihn ... hier reingekriegt hast!“ „Ich hab auch fast nicht drangeglaubt!“ Uruha kicherte. „Was meinst du, soll ich ihn ein bisschen schocken?“ „Wie denn?“ „Na tanzen.“ „Mach ihm nicht zu viel Angst.“ „Ich doch nicht.“ Uruha küsste Aoi auf die Wange und stellte ihm sein eigenes Glas vor die Nase, um darauf aufzupassen, dann schlich er durch die tanzende Truppe hindurch und schmiegte sich von hinten an Toras Rücken, um ihn ein wenig zu foppen; der Halbjapaner drehte sich überrascht um und lächelte den anderen Gitarristen an, wie immer, wenn er ihn begrüßte. Der GazettE-Gitarrist legte seine Hände an Toras Hüften und zog ihn an sich, um sich mit ihm im Takt der Musik zu bewegen. Tora kniff die Augen zusammen, als müsste er sich gegen einen kleinen Spaß unter Freunden wehren. Aoi beobachtete die Situation mit Argusaugen, denn er wollte nicht, dass Tora sich durch ein zu auffälliges Verhalten verriet. Er sollte nicht geoutet werden, wenn er es nicht wollte. Uruha kuschelte sich an ihn, und Aoi meinte, sein Lächeln als ein Zeichen von Triumph werten zu können, denn sicher hörte er in seiner Position Toras Herzschlag oder spürte ihn viel mehr unter seinen Fingerspitzen. Die Leute um die kuschelnden Gitarristen herum tanzten wie wild und enthemmt, während sie als Musiker in der Melodie schwelgten. Ein Wechselspiel der Gefühle spiegelte sich auf Toras Gesicht wider, indes seine Hände auf dem Rücken seines Gegenübers tänzelten, bis er kurz in Uruhas Haaren verweilte und an ihnen roch. Uruhas Hand schlich zu Toras Gesicht, doch der wehrte sich, schnappte nach dem Handgelenk, drehte den Lead-Gitarristen um sich selbst und drängte sich von hinten an ihn, als seien sie allein im Raum. Tora strich Uruhas Haare beiseite, so dass er seine Ohrläppchen freilegte und schnupperte an seinem Nacken. Auf einmal überkam Aoi ein ungutes Gefühl; er machte sich auf den Weg durch die Menge zu seinem Freund – wo er den Schock des Jahres erlebte: Uruha in Toras Armen, sie küssten sich ... Tora küsste Uruha. Uruha küsste Tora, denn seine Hände lagen nur an dessen Schultern – um ihn an sich zu ziehen oder ihn wegzudrücken, wer weiß das schon? Außerdem war es egal! Es war sein Lebensgefährte, den Tora da in Beschlag nahm! Ein Griff, eine Bewegung, ein Blick. „Reiß dich zusammen“, fauchte er den völlig perplexen Tiger an. „Ich verstehe deine Situation, aber Kouyou gehört -“ „Das wollte ich gar nicht, Yuu!“, rief Angesprochener ihm entgegen. „Er riecht so ... und ich konnte nicht mehr – Kou, es tut mir Leid!“ Uruha, der wie schlaff an Aois Arm, an seiner Brust hing, schüttelte nur den Kopf. „Es ist nicht deine -“ „Natürlich ist es seine Schuld!“, blaffte Aoi und Tora stiegen Tränen in die Augen. „Wir gehen!“, fügte der Älteste hinzu und ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen verließen sie den Club. ~~~~~ Was war das bitte gewesen? Tora zitterte. Warum bitte hatte er Uruha geküsst, als wäre er Shou? Ausgerechnet Uruha ... und Aoi hatte es gesehen ... Wie sollte er das erklären? Irgendetwas hatte ihn so hypnotisiert, dass er nicht anders konnte als seinen alten Freund zu küssen. Wenn Aoi nicht gekommen wäre, hätte sonst was passieren können. Die Größe hatte gepasst, die Weichheit ihrer Lippen war ähnlich und der Geruch ... seit wann trug Uruha Shous Parfum? Seine Sicht verschwamm ihm vor Tränen. Nach diesem schrecklichen Tag – seinem offiziellen Outing vor Shou, dessen Abfuhr, seinem Nervenzusammenbruch – sollte er jetzt auch noch einen seiner besten Freunde und seinen Mentor verloren haben? Wegen einer Dummheit, einem Moment, in dem er sich nicht hatte zurückhalten können ... Heiße Finger legten sich um sein Handgelenk, er wurde mitgezogen. Weg von Lärm, weg von küssenden Pärchen, weg von bunt tanzenden Lichtern. Egal ... und wenn man ihn in die Hölle zog – er hätte es vermutlich verdient. Es war still. Tora hörte nur seine eigenen Atemzüge und die der anderen Person, die ihn nun mit den Händen – warmen Händen – auf der Brust an die Wand drückte. Durch den Tränenschleier erkannte er nichts. Wahrscheinlich waren sie im Fluchtflur, er konnte ein grünliches Licht ausmachen. Da war Atem an seinem Hals, er wanderte hinauf zu seiner Wange. Atem strömte in seinen offenstehenden Mund und Tora inhalierte. Kamikaze. Er war nicht in der Hölle. Das wusste er mit Allem, was er war, als sich Lippen auf seine legten. „Ich habe dir wehgetan ...“ Tora zuckte zurück vor dem Kuss und stieß sich den Kopf. „Kazamasa, ich -“ „Halt den Mund“, wies Shou ihn mit sanfter Stimme zurecht. „Ich weiß, du willst mir nichts Böses ... Deswegen erlaube ich dir jetzt, mich zu küssen. Ohne Versprechen und ohne Konsequenzen, Shinji ...“ Der Gitarrist wartete nicht länger. Seine Hände griffen beinahe grob nach Shous Gesicht und er küsste ihn mit allen Gefühlen, die er für ihn aufbringen konnte. Mit aller Liebe, die er in sich spürte. Die Tränen flossen wieder ohne Unterlass, vor Freude und gleichzeitig aus Verzweiflung. Shous Lippen waren nachgiebig und weich, verlockend und süß ... ähnlich und doch vollkommen anders als Uruhas. Sie nippten aneinander und Tora glaubte, in den siebten Himmel zu fliegen. Für ein paar Minuten konnte er dort bleiben. Er würde Shou zu nichts zwingen. Und obwohl er seine Beweggründe nicht verstand – wie war eigentlich hergekommen? – dankte er ihm mit jeder Faser seines Körpers für Shous Mut. Und seine Liebe, die so viel anders war als das, was er für ihn empfand. ~~~~~ „Du rufst ihn sofort an und entschuldigst dich!“ Uruha war es jetzt egal, ob er all seine Nachbarn weckte und sie an seinen Beziehungsproblemen Teil haben ließ. „Den Teufel werd ich tun!“, schrie Aoi zurück und knallte seinen Autoschlüssel auf die Kommode im Flur. „Er hat dich geküsst ...“ „Ja, geküsst! Du führst dich auf, als hätten wir es wie die Tiere auf der Tanzfläche getrieben!“ „Ach, das ist es, ja? Ich bin dir nicht animalisch genug?“ Der Jüngere lief hochrot an vor Wut und Scham. „So ein Unsinn ...“, sagte er leiser und begriff gar nicht, warum Aoi auf Tora wütend war. Er war unglücklich verliebt, hatte einen Korb erhalten – wer war da besser als er, Uruha – schmal, in der Dunkelheit androgyn und er hatte ihn ja selbst dazu animiert! „Ich versteh nur nicht, warum du ihn so anfahren musstest.“ „Du gehörst zu mir, aber das vergisst du ja anscheinend zu gern!“ „Was?“ Aoi kam auf ihn zu, starrte ihn an – und küsste ihn. Nicht wie sonst so sanft und gefühlvoll, viel eher wild und hart, als müsste er sein Revier markieren. Das wieder in Besitz nehmen, was Tora ihm genommen hatte. Uruha keuchte ob der brodelnden Leidenschaft, die er schmeckte, doch gleichzeitig erinnerte er sich an den Geschmack von Toras Tränen. Um Aoi zu besänftigen, küsste er vorsichtig und zurückhaltend, wie auch seine Hände sanft über Aois Rücken streichelten. Doch in diesem kochte es. Die Wut, die Verzweiflung und Ungewissheit darüber, wohin sein Geliebter verschwand, wenn diese Anrufe kamen. Grob und fahrig schob er jedes Kleidungsstück von Uruhas Körper und obwohl er sich sonst über diese Empfindsamkeit freute, verfluchte er sie jetzt. Floss er unter anderen Händen ebenso dahin? Der Blondierte stöhnte leise und hielt sich die Hand vor den Mund, als Aoi ohne Umwege zwischen seine Beine griff und ihn massierte. Sobald er wieder klar im Kopf wäre, würde er sich bei Uruha für diese rüde Art entschuldigen. Sonst war er nicht so ein Höhlenmensch, dass er nahm, was ihm gehörte – doch jetzt verlangte sein Körper nach seinem Gegenstück! „Kouyou.“ Es war der raue Ton in seiner Stimme, der ihn selbst schockierte und kurz innehalten ließ. „Schon gut“, antwortete ihm ein atemloses Flüstern. „Wir reden nachher ...“ Uruha küsste Aoi nun seinerseits leidenschaftlich. „Dann zeig mir mal deine animalische Seite!“ ~~~~~ Sie hatten es noch nie im Flur getan ... Aoi starrte an die Deckenleuchte, die noch immer brannte, seit sie angekommen waren. Immer war es auf dem Bett geschehen oder auf dem Sofa. Jedenfalls war es meist für beide Parteien bequem gewesen ... Ausnahme bildeten nur ihr Fummeln und Rumknutschen an Silvester vor anderthalb Jahren – und der heutige Tag. „Yuu?“ Uruhas fragender Tonfall ließ ihn aufhorchen. Er hob den Kopf und lächelte. Der Jüngere war sofort verwirrt. „Was ist denn los?“ „Animalische ... Vorkommnisse habe ich mir immer in der Dunkelheit vorgestellt, im Halbschatten ... dass ich nur teilweise sehen könnte, was geschieht. Es ist hell – und ich habe alles gesehen.“ Aoi drehte sich auf dem parkettierten Boden zu Uruha und sah ihm verträumt in die Augen. „Ich glaube, ich habe mich heute noch ein ganzes Stück mehr in dich verliebt“, gestand er leise und küsste seinen Partner sanft und vorsichtig. Uruhas Lippen brannten. „Ich habe auch eine neue Seite an dir kennengelernt – und ich liebe sie genauso wie alles andere an dir!“ Wieder küssten sie sich vorsichtig und zart. Der ältere Gitarrist betrachtete grinsend die Knutschflecke, die er an Uruhas Hals und seinem Schlüsselbein gebissen hatte. Eine zarte Berührung lenkte ihn ab. „Warum bist du vorhin so ausgerastet? Nicht Tora hat dich wütend gemacht, oder?“ Einen Moment lang herrschte Stille zwischen ihnen. „Du warst weg“, sagte Aoi leise und strich Uruha mit einem Finger hinters Ohrläppchen, wo der unbekannte Duft saß. „Das Parfum riecht anders als das, was du aufgetragen hast, bevor du gegangen bist ...“ „Stimmt, es ist das Parfum von dem Freund, bei dem ich war.“ „Wer ist dieser Freund?“ „Mein Schützling“, trotzte Uruha lachend. „Ich wusste bis heute auch nichts von Tora, also bleibt es erst mal mein Geheimnis.“ Aois Blick wurde weich, er rückte näher und legte seine Stirn an Uruhas. „Du willst aber nichts von ihm, obwohl du mit ihm Kaffeetrinken warst?“ „Natürlich nicht!“ Uruha lachte, weil ihm der Gedanke, mit Shou zusammen zu sein, zu absurd erschien. „Er ist absolut nicht mein Typ.“ Erleichtert entfuhr dem Dunkelhaarigen ein Seufzen. Ein tiefes und erleichtertes. „Ich wurde so ausfallend, weil ich ... na ja ...“ Aoi griff in seine Tasche, die schon vor Stunden auf dem Flur abgestellt wurde und nach Beachtung verlangte. Er zog eine schwarze Business-Mappe hervor. Uruha blinzelte, als der Ältere den langen Reißverschluss aufzog. Hinter ein schwarzes Gummi geklemmt, leuchtete ein weißes DIN A4-Blatt den Dunkelblonden an, das von ihm nur mit den Augen flüchtig gescannt wurde. Ein alter Kaufvertrag, unterschrieben von Aois Onkel. „Was ist das?“ „Das ist das Haus, das ich von meinem Onkel geerbt habe ... Meine Mutter hat mir die Unterlagen geschickt ... Im Grundbuch steht schon mein Name.“ „Du hast ein Haus?!“ „Hai. Es war so eine Schnapsidee von meinem Onkel Hizu. Er hat einen Leuchtturm gekauft – als Kapitalanlage – und als ich meiner Mutter erzählt hab, dass wir eine Eigentumswohnung suchen ... da ist ihr das gleich eingefallen.“ „L-leuchtturm ...?“ „Hai. Ich hab ihn mir vor einer Weile schon einmal angeschaut. Er ist in der Nähe des Hafens, an einem abgelegenen Strand, der übrigens gleich dazugehört. Inzwischen dürfte sich dort einiges getan haben, denn mein Onkel hat schon zu Lebzeiten angefangen, das Ding zu einem Haus umzubauen. Wir könnten doch erst mal dorthin und es uns angucken.“ „I-ich glaub, ich muss das mal auf mich wirken lassen.“ „Hai. Als meine Mutter mir das Blatt geschickt hat, mit einem Zettel dran, auf dem stand 'Wäre das nichts für euch Zwei?', da hab ich Herzklopfen bekommen. Weißt du warum?“ „Iie.“ „Weil ich da erst begriffen habe, was für einen riesigen Schritt wir gemeinsam machen wollen, weil mir da erst bewusst wurde, dass ich das noch nie für einen anderen Menschen getan habe - Und weil ich in diesem Moment genau wusste: Es ist richtig.“ Uruha musste leicht lächeln, während er Aoi so zuhörte. Das klang alles so umwerfend süß. Auch sein Herz fing wie wild an zu klopfen, denn auch ihm dämmerte langsam, was es eigentlich bedeutete zusammenzuziehen. Aoi sprach nach einer kurzen Pause weiter. „Ich hatte den ganzen Tag dieses Gefühl im Bauch und als ich gesehen habe, wie Tora dich küsst ... da habe ich einen Moment lang Angst bekommen, dass du das nicht so empfinden könntest wie ich ... dass dir das nicht so wichtig ist wie mir.“ „Das ist Unsinn ... Gerade jetzt in diesem Moment habe ich dieses Gefühl auch. Ich fühle mich gut bei dem Gedanken mit dir zusammenzuwohnen. Ich fühle mich besser als ich je geglaubt hätte. Ich schau mir gerne diesen Leuchtturm an ... und lass mich überraschen ... Und ich verzeih dir deine brodelnde Eifersucht, die mir eigentlich sogar ein bisschen schmeichelt. Du kannst mir vertrauen, Aoi, das darfst du nie vergessen.“ Uruhas Strahlen ließ Aoi aktiv werden. Er hob sich Uruha auf die Arme – Uruha quietschte – und trug ihn ins Schlafzimmer, setzte ihn auf dem Bett ab. „Ich weiß gar nicht, wie ich mein Verhalten wieder gut machen soll ...“ „Sei wie immer – und manchmal so wild wie vorhin!“ Aoi lief rot an und versteckte sich hinter der Bettkante. „Wenn du mich beißt, zuckt es überall in mir. Ich glaube, gelegentlich könnte ich mir das gefallen lassen.“ Von dieser Aussage animiert, traute sich der dunkelhaarige Gitarrist wieder hervor und biss seinem blonden Kollegen sanft ins Ohrläppchen. „Eins hab ich noch vergessen“, sagte Uruha streng. „Entschuldige dich bei Tora!“ „Ja“, kam die kleinlaute Antwort. „Am Montag in der Arbeit.“ „Morgen früh nach dem Aufstehen!“ „Menno ...“ „Mitternachtssnack?“, giggelte Uruha versöhnt und sprang nackt wie er war wieder aus dem Bett und tapste in die Küche, wo er sich fast in den Kühlschrank beugte und nach einem Soja-Joghurt-Becher mit Erdbeergeschmack angelte, ehe sich zwei Hände an seine Taille legten und ihn zurück zum offenen Raum drehten. „Was ist denn?“, fragte er unschuldig und blinzelte auffällig. „Ist dir nicht nach etwas Süßem?“ Aois Blick wurde verschwörerisch dunkel. „Du hast ja gar keine Ahnung, wie groß mein Appetit wirklich ist ...“ ~~~~~ »Ich habe ihn geküsst. Er war im Club und ... ich weiß nicht, was mit mir los ist. Hilf mir bitte.« Es war Samstag Morgen und Shou lag mit offenen Augen im Bett. Aus den versprochenen Minuten waren Stunden geworden. Bis um vier Uhr morgens waren sie dort in dem Flur stehen geblieben und hatten sich geküsst. Ein Seufzen entkam ihm. Seine Lippen prickelten und sein Herz schlug schneller, wenn er an Toras Küsse dachte. Und ihr gemeinsames Lachen, wenn ihre Zähne vor Übermut aneinander gestoßen waren. Seine Angst vor Liebe zu Männern war wie weggeblasen. Seine Zuneigung zu Tora hatte sich gewandelt. Er erinnerte sich gern an seine Zeit mit Tora, nah bei ihm, seine Hände, seine Lippen. Diese leuchtenden Augen. Sein Herz so schnell schlagend unter seiner Hand. Und wie sich ein Knoten in ihm löste und er pure Glückseligkeit verspürte, war er im nächsten Moment schon wieder aufgeregt und euphorisch. Shou griff erneut nach seinem Handy und tippte eine neue Nachricht. »Bleib liegen, Uruha-san. Mir ist eine Idee gekommen. Vielen Dank für Alles! Shou.« Dann sprang er aus den Federn und riss seine Schranktür auf, fischte auf Zehenspitzen ein paar Klamotten aus dem obersten Fach und, als die Tür wieder zufiel, blieb sein Blick an seinem Spiegelbild hängen. Er hatte sich nicht einmal abgeschminkt, trug immer noch seine Klamotten von gestern. Irrte er sich oder waren seine Lippen angeschwollen? Er strich verwirrt mit dem Finger darüber. Dann reckte er den Hals und bemerkte ein paar Knutschflecke. Tiefrot gepunktet und leicht brennend - Die würden ihm mit Sicherheit ein paar Tage erhalten bleiben ... Tora war sehr leidenschaftlich gewesen. Shou konnte nur verlegen in sein eigenes Gesicht blinzeln. Ein paar Minuten starrte er sich an, komplettierte die Taxierung seines gesamten Körpers. War dies nun ein anderer Shou als noch vor fünfzehn Stunden? Irgendwie wollte er diese Sachen nicht mehr ausziehen. Sein Herz krachte auf und ab in seiner Brust, die aufgeregter an- und abschwoll, je mehr er sich die Bilder der vergangenen Nacht in Erinnerung rief. Uruhas Plan, ihm zu zeigen, wie Tora mit ihm umgehen würde, wenn Shou sich nur traute, war vollends aufgegangen. Als er gesehen hatte, wie der Größere nur auf sein Parfum reagiert hatte, war er sogar ein wenig eifersüchtig geworden. Das hatte ihn ja auch zu diesem Entschluss gebracht - Einfach mal probieren, nicht denken, machen. Und es hatte sich gelohnt. Er musste jetzt los. Er hatte noch eine Menge zu erledigen, auch wenn er nicht wusste, wo dieser Tag enden würde. Aber ein schlimmeres Chaos als am Tag zuvor konnte man doch gar nicht noch mal haben, oder? Was war das bitte für eine Achterbahn gewesen?! Nur widerwillig zog Shou sich um und entschminkte sein Gesicht, wusch es, aber sparte die Lippen aus, er wollte sich noch ein wenig von dem süßen Geschmack von Toras Mund bewahren. Seine Kleidung, sein Hals, seine Haare, alles roch nach dem Anderen. So hatte er sich das letzte Mal gefühlt, als er bei Tora übernachtet hatte und der Rhythmusgitarrist ihm Schlafsachen geliehen hatte. Shou hatte so gut geschlafen wie nie. Das war jetzt fast ein halbes Jahr her ... Unfassbar, wie viel Zeit er verplempert hatte ... Das wollte er unbedingt gleich alles wieder aufholen, vor allem hatte er eine Menge wieder gut zu machen. Er schnappte sich seinen Rucksack, Sonnenbrille auf, dann öffnete er die Wohnungstür und ... Hiroto stand vor ihm. „Ohayou ...“ „Nix, ohayou! Lass mich rein!“ Und Shou blieb nichts anderes übrig, der kleine Gitarrist schlüpfte an ihm vorbei und schon war er in der Wohnung. „Hiroto? Was ist denn ...?“ „Was fällt dir ein, Tora so zu behandeln!“ Shou war platt. Er wusste nun gar nichts mehr. „Reiß dich mal am Riemen, Mann! Wenn ein Mann schwul ist, dann ist er nicht gleich ein Monster!“ Offenbar hatte der Kleinere sich die ganze Nacht Gedanken gemacht und sich so in Rage gedacht, dass jetzt alles aus ihm herausplatzen wollte. „Shou“, sagte er wieder ruhiger, der Sänger ließ ihn reden. „Ich ... ich sag ja nicht, dass du mit Tora zusammenkommen sollst, aber bitte versuche wenigstens ... mit ihm umzugehen ... Du kannst doch nicht unsere Freundschaft aufs Spiel setzen, alles aufgeben, was dir lieb und teuer ist, und alles einfach hinschmeißen. Du brauchst eine Therapie!“ Das war die Holzhammermethode. Es polterte und Nao stand in der Tür, völlig außer Atem. „Shou, entschuldige. Ich hab noch versucht ihn aufzuhalten. Aber er war so in Fahrt und ... es tut mir Leid, bitte fühl dich davon nicht unter Druck gesetzt, das braucht alles Zeit und Geduld. Wir kriegen das wieder hin, dass du dich wohl in Toras Nähe fühlst. Ich verspreche es dir, du brauchst keine Angst zu haben.“ Das war die Wattemethode. Jemand klopfte seicht, fast stilvoll am Türrahmen. Saga. „Ohayou.“ Ohne weitere Worte checkte der Bassist sofort die Situation, ging auf Shou zu und hob sein Kinn ein Stück zur Seite, sah die verräterischen Flecken, und erschnüffelte Toras Geruch. Mischung aus Burberry und Hundesabber ... Unverkennbar. Dann grinste er, packte Hiroto und Nao am Kragen und schleifte sie zur Tür. „Abflug, Jungs! Alles in Butter!“ Klapp, die Tür fiel ins Schloss. Das war die Sagamethode ... Shou konnte nur verwirrt blinzeln. Was war denn das bitte gewesen?! Einer der Punkte, an dem er in den letzten Stunden gescheitert war, war der, seiner Band im Falle einer Partnerschaft mit Tora gestehen zu müssen, was es eben zu gestehen gab. – Na ja, zumindest dieser Punkt schien sich grad von selbst erledigt zu haben. Shou vertraute einfach mal Sagas Nase, die in den meisten Fällen ungetrübt die Wahrheit erschnüffelte. Dann plötzlich musste Shou einfach lächeln, breit lächeln, wie er es in den letzten Monaten nicht getan hatte. Er sah flüchtig den Spiegel neben seiner Tür, bevor er hinaus in die Stadt ging, um ein paar Dinge zu besorgen. - Was ihm diese Flüchtigkeit bescherte, war das gute Gefühl sich selbst wieder erkannt zu haben ... ~~~ Tora schlief noch tief und fest, sein Atem blies ruhig und geschmeidig durch glänzendes, braunes Hundefell. Er lag auf dem Rücken, nicht mehr dazu gekommen sich umzuziehen, war er einfach so ins Bett gefallen und eins zu eins liegen geblieben, wie der Rausch ihn hatte bleiben lassen. Seine Nackenstellung war ein wenig ungesund. Betty hatte sich halb auf seine Brust gelegt und eisern über Herrchen gewacht, na ja, mehr dafür gesorgt, dass Herrchen nicht fror. Doch so langsam war die Hündin das Warten auf Futter leid und so schaute sie verzweifelt von rechts nach links und wieder zurück, auf die vorbeifliegenden Vögel draußen und wieder zu Tora, der, dank Restliebeskummer, immer noch grunzte wie ein Eber und schlummerte wie Dornrose. Jetzt reichte es aber! Sie war ein Hund und Hunde haben nun einmal Hunger! Trotzig hob Betty die Pfote und pappte sie mitten in Toras Gesicht, hielt ihm damit ein Nasenloch zu. Keine Reaktion. Dann hob die Schäferhündin das zweite Vorderbein und drückte dem Gitarristen auch die andere Nasennüster ab. Keine Reaktion. Weil sie sich nicht mehr halten konnte, legte sie die Unterseite ihrer langen Schnauze auf Toras Mund auf. Immer noch keine Reaktion. Doch zunehmend wurde Tora unruhig. Er bekam keine Luft mehr. Dann schnellte eine freche Hundezunge heraus und leckte kurz über seine noch freie Nasenspitze. Das war zu viel! Tora schreckte auf. „Betty!“ Er atmete hastig, als wäre er fast ertrunken. Angesprochene sprang von ihm herunter und tänzelte munter und mit wedelndem Schwanz über das Bettdeck. Herrchen war wach! Ziel erreicht! Futter war näher! Entgeistert schaute Tora auf die Uhr, es war halb vier nachmittags! War er denn des Leibhaftigen!? Wie hatte er nur zwölf Stunden schlafen können!? Er hatte sich bestimmt ein Duzend Gehirnzellen weggeratzt! Etwas wackelig taumelte er zum Kühlschrank und holte Bettys Futter und dann einen kleinen Teller dazu. Die kleine Dame freute sich immer besonders über das Nassfutter und während sie so über das leckere Zeug herfiel, sinnierte Tora über das, was da gestern wohl passiert war. Hatte er sich das nur eingebildet oder hatte er Shou gestern wirklich bis ans Ende der Nacht geküsst, dass er nur mit wackeligen Beinen nach Hause taumeln konnte, so fertig und glückselig mit sich und der Welt und mit Shou an seiner Hand? Das alles konnte doch nur ein Traum gewesen sein. Das musste er sich ersponnen haben, ganz logisch. Er schreckte ganz unentspannt zusammen, als sein Handy klingelte, Betty schaute von ihrem Teller nicht einmal auf. ‚Kazamasa ruft an ...’ Sein Herz beschleunigte auf Shinkansentempo! Mit tattrigen Händen drückte er auf Annahme. „Moshi moshi?“ Einen Augenblick schwiegen beide. Tora starb bröckchenweise mit jeder Zehntelsekunde, die verging. „Hai ... Shou desu ...“, hauchte es am anderen Ende der Leitung. „Ich wollte nur fragen ... ob du nicht Lust hast, mit mir zum Eishockey-Spiel zu gehen? Nippon Paper Cranes gegen Nikko Ice Bucks. Ich hab Freikarten von Tamokatsu.“ „Eishockey ...“ „Hai ... als Entschuldigung ... dafür, dass ich dir gestern so wehgetan habe ...“ Mit einem Mal war selbst das unsichere Lächeln in Toras Gesicht verblichen. „Tora, ich hab darüber nachgedacht, dass du immer für mich da warst und mir immer zugehört hast, wenn ich reden wollte, wenn ich mal Probleme hatte. Ich ... ich will mich dafür revanchieren ... Ich will dir etwas zurückgeben.“ Ein Eishockey-Spiel? Tora war wie vor den Kopf geschlagen. Dann verstand er. Ohne Versprechen und ohne Konsequenzen ... das hatte Shou also damit gemeint. Es war alles wieder auf Anfang, alles auf Null. Und diese dumme Knutscherei hatte niemals offiziell stattgefunden. Das war es also, was Shou wollte. Er hatte sich also entschieden – für Freundschaft, gegen Liebe ... Nun zitterte Tora noch mehr als zu Anfang. „Ich dachte, wir könnten nach dem Spiel ein bisschen reden ... über dich und deine Situation und m-“ „Ich brauche niemanden zum Reden. Mir reicht ein bisschen Ablenkung, das weißt du doch, war doch schon immer so. Und darin bist du gut, damit warst du immer zur Stelle, Shou, du selbst bist und warst die beste Ablenkung für mich ... Du musst nichts wieder gutmachen, gar nichts. Eishockey klingt super. Wann holst du mich ab – oder soll ich?“ „Sei um Acht an der Shikaku U-Bahn-Station.“ „Okay, bis dann.“ „Hai, arigato.“ - Klack. Monotoner Ton. Ätzend monoton. Was um Himmels Willen war das denn jetzt wieder gewesen?! Tora hätte schreien können! Seine Fäuste zitterten rechts und links neben den angespannten Schenkeln. Betty winselte. Wie hatte er Shous Absichten nur so falsch verstehen können? Er dachte, er hätte ihn in der Tasche. Aber das würde wohl nie so einfach passieren. Nun wusste er überhaupt nicht mehr, woran er war. Sollte er es noch einmal versuchen? Oder sollte er es ihrer Freundschaft wegen einfach sein lassen? Für immer. Es brachte doch nichts, wenn es nicht das war, was Shou wollte. Tora konnte nicht mehr. Dieses Durcheinander und Hin und Her und Auf und Ab war nicht zu ertragen. Heute Abend nach dem Spiel würde er Shou um eine endgültige Entscheidung bitten und Konsequenz und Einhaltung derer verlangen. Alles andere machte sein Herz keinen Tag länger mit. Tora machte sich nicht besonders fein. Für ein Ice-Hockey-Spiel brauchte er das auch nicht. Er war um Acht an der Shikaku-Station. Niemand da. Was sollte das? Vor ihm hielt ein Zug und eine Menge Menschen stiegen aus, doch Shou konnte er nicht erkennen. Er wurde angetippt, drehte sich um. „Amano Shinji?“ Sofort wurde Tora schlecht. Shou musste etwas passiert sein, er musste zusammengebrochen sein! Was sollte sonst die Schaffnerin von ihm wollen, weshalb sollte sie sonst seinen Namen kennen?! „Hai.“ „Hier wurde etwas für Sie abgegeben.“ Sie drückte ihm einen Umschlag in die Hand und dann ging sie einfach weiter. Was? Doch ehe Tora fragen konnte, war sie verschwunden. Mein Gott, was sollte denn das alles?! Tora öffnete das Kuvert. Darin war ein Ticket und ein Fahrplan, ein kleiner Zettel. »Bitte fahre die angegebene Strecke, am Zielbahnhof wartet 1254 auf dich. Shou.« Das war Shous Handschrift, unverkennbar! Aber nun war er noch mehr verwirrt als eben. Er hatte keine Zeit darüber nachzudenken, denn er musste diesen Zug bekommen. Die Schaffnerin hatte einen Moment länger gewartet, das hatte er bemerkt. Sie war offensichtlich eingeweiht, denn sie grinste triumphierend, als sie abpfiff und die Türen sich automatisch schlossen. Tora folgte dem Plan, im guten Glauben, dass es tatsächlich Shou war, von dem diese verrückte Idee stammte. Er malte sich die wildesten Sachen aus und dachte jedoch auch immer noch darüber nach, dass sie doch einfach nur zu einem Eishockey-Spiel gingen und das nur in einer anderen Stadt stattfand. Er stieg aus. Dann bekam er einen neuen Umschlag. Darin stand, welchen Zug er als nächstes nehmen sollte. So fuhr er eine ganze Weile. Stieg insgesamt drei mal um und die Fahrt endete in Saitama ... ausgerechnet da ... Sein Herz machte einen Sprung, als er den Zielort der Bestimmung sah, doch da war ein großer, runder Kringel um die Buchstaben S, a, i, t, a, m und noch mal a. Und ab diesem Moment wusste Tora - heute Nacht war alles möglich. Nun stand er dort vor dem Bahnhof, bestellt und vergessen. Moment, war da nicht irgendwas mit ... 12 ... Neben ihm sprang ein Auto an. Ein Taxi. Mit der Nummer 1254. „Sind Sie Amano Shinji?“, fragte der koreanischstämmige Fahrer mit der Baskenmütze, als er langsam vor die Füße des Gitarristen und somit in dessen Blickfeld rollte. „Hai“, sagte Tora knapp. „Dann steigen Sie mal ein.“ Wieder einmal mit zitternden Fingern saß Tora alleine auf der Rückbank des VW. Bunte Stadtreklamen huschten an seinen Augen vorbei, spiegelten sich an den Scheiben des Autos. Sein Herz sprang in seiner Brust vor und zurück und sein Kopf spielte verrückt. Was hatte das alles zu bedeuten? Was lief da ab?! Hatten Aoi und Uruha etwas damit zu tun. Er verlor sich in seinen Spekulationen und vergaß dabei auf den Weg zu achten. „Wir sind am Ziel“, sagte der Halbkoreaner von vorne. Tora schreckte auf. „Was kriegen Sie?“ „Nichts ... ist schon erledigt. Haben Sie einen schönen Abend!“ Etwas zögerlich stieg Tora aus. Er bedankte sich noch mal höflich. Als er sich umdrehte, staunte er nicht schlecht. Bungalow an Bungalow und Ferienwohnung an Ferienwohnung, wie damals. Alles mit schönen Lämpchen beleuchtet. Er musste zur Nummer 16. Das wusste er. Nun konnte Tora nichts mehr denken, auch sagen hätte er nichts mehr können. Er sah von Weitem einen kleineren Lichtschein auf dem Dach der Nummer 16, sah, je näher er kam, einen Tisch und zwei Stühle, eine Kerze und einiges mehr. Kurz vor der Tür schaute er immer noch nach oben und dann tauchte Shou in seinem Sichtfeld auf. Das Kerzenlicht ließ seine Haare flimmern und sein Lächeln erhellte den Platz noch mehr. „Hallo!“, rief er hinunter. „Kommst du rauf?“ Tora konnte nicht antworten. Er war zu baff von dem umwerfenden Anblick des Sängers. Er nickte nur und kam dann in Trance ins Haus, die Dachluke hinauf und schon war er oben, stand dem Mann, den er liebte, gegenüber. „Du siehst ... gut aus ...“ Eine leichte Röte schlich sich auf die Gesichter der Männer. „Du auch“, lächelte Shou sanft. „Das halt ich für ein Gerücht ... Immerhin dachte ich, wir gehen zum Eishockey.“ „Ich gebe zu, dass das geflunkert war ... Aber ich hoffe, das hier gefällt dir doch ein bisschen.“ Shou hatte sich sichtlich Mühe gegeben. Alles war in angenehmem Windlichtschein getaucht, der Tisch nett gedeckt und Toras Lieblingskuchen stand frischgebacken darauf, der so gut roch, dass Tora schon von Weitem geahnt hatte, dass er auf ihn wartete. Es war ein bisschen kühl, aber die Luft roch zum ersten Mal in diesem Jahr so richtig nach Frühling. Aber Tora war trotzdem froh, eine dicke Jacke für das Eishockey-Spiel eingepackt zu haben. Auch wenn sich gerade ein nie gekanntes Fieber in ihm ausbreitete. Sollte er nun vorfreudig sein? Er wusste immer noch nicht, woran er war. Mit einem Mal fiel ihm auf, dass sie seit mehreren Sekunden nichts mehr gesagt oder getan hatten. Nun kam Shou mit schwebegleichen Schritten auf ihn zu und stellte sich direkt vor ihn. Seine Augen wanderten von Toras rechtem Auge zu seinem linken und wieder zurück. Beide Männer waren elektrisiert vor Aufregung. Dann hielt Shou es nicht mehr aus. Er musste leise lachen, ganz kurz. „Mein Gott, bin ich aufgeregt ... ich kann tatsächlich gar nichts sagen ...“ „Tatsächlich ...?“ „Hai, das hatte ich mir schon gedacht, deshalb habe ich ...“ Mit einer fließenden Bewegung griff Shou in seine Hosentasche und zog einen Zettel hervor. Das Papier knisterte ungeduldig, als es entfaltet wurde. Shou hatte ihm einen Brief geschrieben ... Tora war einfach fassungslos vor Rührung, damit hatte er nun nicht wirklich nicht gerechnet. Dass Shou diese Geste erwiderte, war einfach zu ... süß. Der Sänger räusperte sich, seine Hände zitterten, einmal tief einatmen, dann holte er Luft, um vorzulesen, was seit Stunden durch seinen Kopf marschierte, ein Wunsch, der laut ausgesprochen, fast in die Welt hinausgeschrieen sein wollte, um endlich erhört und erfüllt zu werden: An Amano Shinji Ich bin nervös. Nervös genug, vor dir zu stehen und vor mich hinzustammeln, als gäbe es eine schwere Prüfung zu bestreiten. Deshalb schrieb ich diese Zeilen, in der Hoffnung, dass nicht ein Wort dieses Briefes ungesagt, unerhört oder vergessen bleibt. Angst und Unsicherheit versperrten mir den Weg. Seit wir uns kennen, habe ich immer gewusst, dass du mir gefällst. Aber eingestanden hätte ich es mir um keinen Preis. Erst das Herzklopfen in meiner Brust, als ich deinen Brief Zeile um Zeile inhalierte, verriet mir, dass es mehr zu entdecken gab, als mein Verstand zu dieser Zeit zugelassen hätte. Viel mehr. Meine ‚Ungunst’ Männern gegenüber, die Männer lieben, hätte mich beinahe zu einem intoleranten, engstirnigen Menschen werden lassen. Aber so jemand bin ich nicht. Das weiß ich seit gestern. Ich bin jemand, der einfach geliebt werden möchte, der gut behandelt werden will und der Ehrlichkeit braucht, um vertrauen zu können. Ich habe verstanden, dass mein Herz von sich aus Panik hatte, weil es insgeheim ahnt, dass diese Liebe funktionieren kann. Du hast ja keine Ahnung, was dein Küssen mit mir macht. Ich werde eine Weile brauchen, eh ich die Dinge wagen kann, von denen du vielleicht träumst. Aber wenn du mir Zeit gibst, mich Stück für Stück zu trauen und mich an die Hand nimmst, dann ist für uns alles möglich. Es ist, wie es ist, du bist, wie du bist, ich bin, wie ich bin, und die Grenze zwischen uns ist in der letzten Nacht verschwunden. Ich bin ebenso Gefühl über Kopf verliebt wie ängstlich und kann nur hoffen, dass du mir irgendwie vergibst, dass mein Herz schon lange wusste, was mein Verstand erst jetzt begreifen kann. Shou Als der Sänger fertig gelesen hatte, zitterte seine Stimme sehr, er glühte und in Toras Mine sah es nicht anders aus. Das alles hätte der Dunkelblonde nie zusammenbekommen, ohne es auf Neunzig-Gramm-Papier gedruckt und mit seinem Herzblut unterschrieben zu haben. Der Kleinere blinzelte den Anderen heftig an und traute sich nun endlich den Satz zu sagen, seinen Wunsch zu äußern, der in seinem Innern brannte, insgeheim schon immer, und durch Toras Küsse tausendfach verstärkt: „Bitte liebe mich ... sei gut zu mir ... und ehrlich ...“ Eine Weile hallte Shous Stimme kaum hörbar durch die Nacht. Tora wollte nicht mehr warten, denn seine Lippen prickelten schon, seit er den Anderen auf dem Dach entdeckt hatte. Überwältigt von seiner Freude zog er den etwas Jüngeren an sich, um ihn vollkommen sanft und zart zu küssen. Ihm war es egal, dass Feriengäste oder andere Leute ihnen hätten zuschauen können. Das alles war nun nebensächlich. Die Welt selbst war Nebensache. Sie umarmten sich eine Weile im flackernden Licht der Kerzen in der Dunkelheit und Shou bekam eine Gänsehaut, als er hörte, wie der Gitarrist etwas in sein Ohr flüsterte: „In den letzten Monaten wurde jedes Wort von dir ... jeder Blickkontakt zu einem Strohhalm, an dem ich mich festhielt, weil ... ich in jeder Sekunde über dem Abgrund hing. Nun habe ich zum ersten Mal wieder festen Boden unter den Füßen und fühle mich gleichzeitig ... als würde ich ... schweben ...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)