Der Zirkusjunge von -ladylike- (Von Seiltänzern und schwarzen Haaren ...) ================================================================================ Überraschungspost ----------------- Samstagmorgen. Hölle, ich komme. Ehrlich gesagt würde ich mir gerade gerne die Decke wieder über den Kopf ziehen, mich in meiner kleinen Welt verkriechen und vergessen, dass meine Schwester mich heute dazu verdammen würde, zwei Stunden mit ihr in einer Zirkusvorstellung zu sitzen. Apropos Zirkus. Den veranstaltet die Kleine wahrscheinlich, wenn ich nicht innerhalb der nächsten fünf Minuten bei ihr auf der Matte stehe. „Daniel!!“ Na, was hab ich eben gesagt? Die zunehmende Lautstärke der Hand, die gegen meine Zimmertür klopft, beginnt mich bereits nach einigen Sekunden zu nerven. Und zwar massiv. Erbarmungslos blenden mich die Sonnenstrahlen, während ich, noch immer taumelig vor verschlafener Morgenmuffellaune, tapse. Der flauschige Teppich schmiegt sich an die nackten Sohlen meiner Füße und verstärkt mein Bedürfnis, wieder im Bett zu verschwinden. Das Klacken des Schlosses explodiert in meinen Ohren, während ich den Schlüssel umdrehe und die Tür öffne. „Na endlich! Mein Gott, Daniel, du musst dich beeilen! So wie ich dich kenne brauchst du eine halbe Ewigkeit im Bad und die Vorstellung beginnt in zwei Stunden.“ Zwei Stunden?! Heilige Scheiße! Na super, Jessi hatte Recht. Würde ich mich nicht innerhalb der nächsten fünf Minuten ins Bad begeben, hätte mein Aussehen heute schwer zu leiden – ohne Haarspray sah meine Frisur aus, als hätte ein verrückter Professor – hähem, mein Chemielehrer – seine Experimente auf meinen Kopf durchgeführt. Nicht besonders hübsch, wie man sich vorstellen kann. Unsanft schiebe ich meine kleine Schwester mit dem Arm beiseite und tapere ins Bad. Tür aus, Daniel rein, Tür zu – Abschließen nicht vergessen -, taps, taps, taps, Blick zum Spiegel – Nervenzusammenbruch. Okay, das ist übertrieben, aber was mich da vom Spiegel her hämisch angrinst, sieht absolut inakzeptabel aus. Es wäre untertrieben zu sagen, meine Haare ständen in alle Himmelsrichtungen ab. Ich persönlich glaube, sie stehen teilweise in Richtungen ab, die nicht einmal einen Namen haben. Klarer Fall: Ich. Muss. Duschen. Ganz dringend. Eine Viertelstunde später stehe ich vor dem Spiegel und versuche, meine Haarpracht – falls man dieses Chaos so bezeichnen kann – mit Hilfe von Haarspray, Föhn und Glätteisen in Form zu bringen. Ein Unterfangen, das bei mir Ewigkeiten dauern kann. An dieser Stelle beneide ich meine kleine Schwester. Ihre Strähnchen sitzen innerhalb von fünf Minuten perfekt und daran ist auch den ganzen Tag nicht zu ändern. Pah, Glätteisen! Die tippt sich mit dem Finger vor die Stirn, wenn ich ihr mit so was komme! Ernsthaft. „Da-ni-el!!!!! Jetzt mach hinne, wir müssen noch essen und du musst dir noch was anziehen und …“ „Ist ja gut, ich komme.“ Ungeschickt und noch immer etwas verschlafen schlinge ich mir ein Handtuch um die Hüften, schließe die Badezimmertür auf, schiebe Jessi schon zum zweiten Mal an diesem Tag beiseite und bleibe erst stehen, als ich vor meinem Kleiderschrank stehen geblieben bin, aus dem mir bereits die interessantesten Teile entgegengrinsen. Zum Beispiel der Pullover in rot-schwarz, oder diese wirklich verboten enge – zu meiner Verteidigung, sie ist beim Waschen eingelaufen – blaue Hose, die auf der Straße auffällt wie ein schwarzer Fleck auf weißer Wand. … Ach, und dann wäre da noch dieses Sweatshirt, das ich mir erst diese Woche zugelegt und noch nie getragen habe. Cleo hat zwar gesagt, mein ohnehin schon optisch auffallendes Ich würde dadurch nur noch unübersehbarer, aber ich mag’s. (Obwohl ich eigentlich nicht der Typ bin, der besonders gerne auffällt. Ganz im Gegenteil.) Schlussendlich trage ich besagtes Sweatshirt und eine schwarze Hose, die der Blauen allerdings vom Schnitt her sehr ähnlich ist … nur nicht ganz so eng. Sagen wir’s so: sie klemmt einem nicht – ähm – gewisse Dinge ein. Na ja, jedenfalls stehe ich nun voll bekleidet in der Küche und mustere irritier das Monsterfrühstück, das Jessi auf unseren Tisch gezaubert hat. „Äh, Jessi …“ Unsicher deute ich auf den Tisch. „Sollten wir uns nicht beeilen??“ „Was heißt hier wir? DU solltest dich beeilen. Immerhin hab ich mit einem Badaufenthalt von einer Stunde gerechnet … Da es je glücklicherweise nur eine halbe war, haben wir noch Zeit zum Essen. Würde der Herr sich bitte setzen?“ Seufzend setze ich mich an den Tisch und greife nach dem Kakaopulver, um es in meiner Tasse Milch zu versenken, die Jessi mir fürsorglich wie sie ist bereits eingegossen hat. „Das macht fett“, stellt meine kleine Schwester fest, während sie sich mir gegenüber hinsetzt und mir ihrem Messer auf mein Lieblingsgetränk. Typisch. Das ist so unglaublich typisch kleine Schwester. „Danke“ erwidere ich, „das aber auch.“ Mein Messer deutet auf das Glas Nutella vor ihrer Nase. „Ich weiß.“ Sie grinst hämisch und beginnt ihr Brot zu bestreichen. „Aber ich kann’s mir leisten.“ „Ha, ha. Sehr lustig. Ich lach mich tot.“ „Wäre nur zu schön. Dein Zimmer hätte ich schon ganz gern …“ Kleine Schwester. So süß und doch so mies. „Ja, schon klar. Sag mal, hast du schon in den Briefkasten geguckt?“ „Jap!“ Jessis Augen leuchten auf, als sie sich hinabbückt und schließlich mit einem dicken bunten Päckchen wieder auftaucht. Es ist rot, gesprenkelt mir grünen, gelben und blauen Punkten. So farbenfroh, dass er mich unvermittelt an Sommer erinnert. Die geschwungene Handschrift, ordentlich als ich sie in Erinnerung habe, löst eine kleine Explosion in meinem Innern aus. Eine kleine Freudenexplosion, wenn man es genau nahm. Wie lange ist der letzte Brief her? Einen Monat? Zwei? So ungeduldig, dass mir meine eigenen Finger im Weg sind, ziehe und zerre ich an dem Klebeband, bis es aufreißt und der Inhalt sich auf dem Boden verteilt. Zettel, ein Packen Fotos und zwei kleine Lederbändchen liegen dort auf den Fliesen. Ein Stück von einem anderen Leben, einem, von dem ich kaum etwas weiß. Post von meinem Vater. Endlich. Freudig setze ich mich auf den Boden und fühle mich auf einmal wie ein kleines Kind, vielleicht fünf Jahre alt, und greife nach dem Papier, auf dem feinsäuberlich die Namen Jessi und Daniel geschrieben worden sind. „Hallo, meine beiden Lieben zu Hause. Ihr glaubt gar nicht, wie ich mich freue, euch wieder schreiben zu können, nachdem meine letzte Safari die letzten drei Wochen eingenommen hat. Momentan befinde ich mich, wie ihr vielleicht wisst, in Afrika. Genauer gesagt in einer kleinen Stadt, in der es nicht viel mehr gibt als einen Supermarkt, eine Poststelle, ein billiges Hotel und ein paar Wohnhäuschen. Nichts für euch, das könnt ihr mir glauben. Ich vermisse Münster. Jede Sekunde, die ich hier sitze, vermisse ich meine Stadt, mein Haus und natürlich euch. Ich hoffe, euch beiden geht es gut und ihr passt schön auf Mama auf. Arbeitet sie immer noch so viel? Ist sie noch immer so gestresst von ihrem Chef? Sollte dem so sein, so sagt ihr bitte von mir, dass sie sich nicht überanstrengen darf, ja? Und, tut ihr mir den Gefallen, legt ihr ihren Brief von mir auf’s Kopfkissen, ja? Das wird sie sicherlich freuen. Übrigens wurden die beiden Lederbänder von afrikanischen Straßenkindern geflochten. Als ich an dem Stand vorbeikam, musste ich sie einfach mitnehmen. Ich dachte mir, dass diese wunderbaren Kunstwerkchen wunderbar an die Handgelenke meiner wunderbaren Kinder passen würden. Hoffentlich habt ihr Freude daran. Die Fotos, die diesem Päckchen beiliegen, stammen von den letzten Fototouren, die ich unternommen habe. Wenn ihr euch ein paar davon ins Wohnzimmer hängt, dann fühlt ihr euch garantiert, als wäret ihr selbst hier gewesen. Übrigens komme ich euch in einem Monat besuchen. Ich freue mich auf euch und wünsche euch noch eine schöne Zeit ohne mich. Genießt sie. Lieben Gruß, Papa PS: Daniel, übe schön weiter Englisch, ja? PPS: Und Jessi? Halt dich von der Keksdose fern!“ Ich hebe meinen Blick und schaue in die strahlenden Augen meiner kleinen Schwester, die meinen Blick nur kurz erwidert, bevor sie eines der beiden Lederbändchen an ihrem Handgelenk befestigt. Sie sind wirklich schön; sehr schön sogar. Kunstvoll geflochten und mit hübschen, ungewöhnlich angefertigten Mustern, von denen ich mich wundere, wie sie sich in ein einfaches Flechtmuster einbauen lassen. Meine Hand hingegen greift zuerst nach dem Fotopacken. Mein Faible für Papas Fotos zieht sich schon durch mein ganzes Leben. Bereits als kleines Kind habe ich sie mir unheimlich gern angesehen und versucht, die Geschichte hinter dem Bild zu entdecken, während Jessi die Fotos zwar schön findet, mit ihnen jedoch nicht so viel anfangen kann. Das erste Kunstwerk zeigt einen alten Baum. Einen einzelnen Baum in trockener Umgebung, mit verschlungenem Stamm und knorrigen Ästen. Auf dem nächsten ist ein Bachlauf zu sehen, wild und schön, in einer Landschaft, wie man sie in Deutschland unter keinen Umständen finden könnte. Ewig hätte ich so weitermachen können, doch eine entsetzte Jessi reißt mich ungestüm aus meinen Gedanken. „Scheiße, Daniel! Die Vorstellung! Wir müssen los!!“ Ohne weiter zu warten, springt meine kleine Schwester auf, jagt zur Tür und beginnt hektisch damit, sich die Schnürsenkel zuzubinden. Eine Minute später schlägt die Hautür zu und ich folge Jessi, die bereits einige Meter voraus rennt. „Beeil und, Daniel!! Wenn du schnell läufst, trainierst du dir vielleicht sogar den ganzen Kakao wieder ab!“ „Ha, ha!“, schreie ich, während ich meine Füße dazu ansporne, schneller zu werden, um den Bus noch zu erreichen, der uns hoffentlich zu dieser schrecklichen Zirkusvorstellung bringen wird. _______________________________________________ würde mich sehr über rückmeldung freuen ... *grins* Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)