Venia Legendi Eudaimonía von KaethchenvHeilbronn (Die Erlaubnis zu lehren wie man glücklich ist) ================================================================================ Kapitel 150: ------------- Es ist das Klacken von Geschirr, unten in der Küche, das seine Ohren als erstes diesen Morgen erreicht, bevor dies sein Grinsen tut. Seufzend dreht sich Alexander auf den Rücken und streckt sich. Der Abend gestern – beziehungsweise die Nacht – ist, ohne näher ins Detail zu gehen, atemberaubend gewesen. Heinrich ist atemberaubend gewesen. Ein Blick hinüber zur anderen Seite des Bettes sagt ihm, dass der Jüngere schon auf ist. Dem Wecker nach hat Heinrich noch eine Dreiviertelstunde, bevor er los muss. Alexander hat um nichts in der Welt vor es zu verpassen, seinem Liebsten zwanzig Minuten davon beim Frühstück noch Gesellschaft zu leisten. Er steht auf, trabt hinüber ins Bad, wo er den schlichten, goldenen Ring von seinem Finger streift und neben dem Waschbecken ablegt. Unwillkürlich muss er schmunzeln. Dreizehn Jahre sind sie jetzt mittlerweile verheiratet. Kaum zu glauben. Kaum zu glauben, dass er so spät begriffen hat, wie schön dieses Gefühl sein kann. Es war bei der Hochzeit von Michael und Juliane. Ein wunderschöner Tag, Heinrichs Mutter machte trotz Babybauch im Brautkleid eine umwerfende Figur… Nach dem offiziellen Teil waren sie draußen im Garten des Gemeindehauses, Heinrich bei seiner Mutter oder…bei Ulrike? Alexander weiß es nicht mehr, jedenfalls stand er da alleine und beobachtete die anderen Gäste, die sich am Buffet bedienten oder schon die Tanzfläche – eine paradiesische Grünfläche im Schatten der Bäume – unsicher machten, als Jonas, der natürlich seinen alten Schulfreund und dessen Frau getaut hatte, sich zu ihm gesellte. „Na? Hab ich unserer Wette von damals Genüge getan?“ Alexander musste lachen. „Ja, das hast du.“, antwortete er, „Der Gottesdienst war herrlich, das hast du richtig gut gemacht. Micha wird es auf keinen Fall bereuen, dich dafür engagiert zu haben.“ Mit einem Grinsen ergänzte er. „Mich hat’s auch gefreut, dass das geklappt hat, nachdem du unserer Clique schon in der Schule ja förmlich angedroht hast, uns alle mal zu trauen.“ „Ja, letztendlich wurde ja doch nach was daraus. Bei Michas erster Hochzeit hat das ja leider nicht geklappt, da seine Frau unbedingt einen katholischen Priester haben wollte…“, erinnerte sich Jonas. Alexander grinste ihn schief an. „In Anbetracht des Eheverlaufs war es vielleicht gar nicht so schlecht, dass du es nicht warst, der die beiden getraut hat…“ Jonas seufzte. „Da hast du Recht“, meinte er, bevor wieder ein Grinsen auf seine Lippen zurückkehrte. „Aber bei dir muss ich meine Drohung ja noch wahrmachen.“ Der Größere musste erneut lachen. „Jonas, ich bin immer noch schwul. Daran hat sich in den letzten zwanzig Jahren nichts geändert.“ „Aber am Kirchengesetz.“ Alexander sah ihn erstaunt an. Jonas blickte fassungslos zurück. „Ja, hast du dich da nicht informiert?“ „Ich…ich hatte nie eine feste Beziehung, wieso sollte ich da an Ehe denken?“ „Ja, entschuldige, schon gut.“, lenkte der Pfarrer ein. „Aber dass es eine eingetragene Lebenspartnerschaft für Homosexuelle gibt, weißt du?“ „Ja, das hab ich natürlich mitbekommen.“ „Genau, und so etwas ist jetzt auch in einigen Landeskirchen in Deutschland möglich. Zum Beispiel hier in Berlin. Nennt sich „Segnung gleichgeschlechtlicher Paare“.“ „Aha, also keine kirchliche Trauung.“, entgegnete Alexander. „Nicht offiziell, aber wenn der Pfarrer bereit dazu ist und ihm nicht die Hände gebunden sind, kann er diese „Segnung gleichgeschlechtlicher Paare“ ein wenig aufpeppen, sodass es schon ganz nah an eine kirchliche Trauung herankommt.“ Alexander nickte und vergrub seine Hände in den Anzugshosentaschen. Jonas zwinkerte ihm zu. „Ich wusste, es wird schwer mit dir, aber glaub mir, irgendwann stehst auch du bei mir vor dem Traualtar.“, meinte er, bevor er seinen Blick zur Seite schweifen ließ. Als sein alter Schulfreund diesem folgte, landete er bei Heinrich, der auf ihn zukam, grinsend, strahlend, und ein unglaubliches Bild in seinem Anzug abgebend. „Na?“, fing der Kleine an, „Willst du mich nicht zum Tanzen auffordern?“ Alexander erwiderte das Lächeln mit einem liebevollen Schmunzeln und streckte seinem Freund eine Hand entgegen. „Heinrich, darf ich um diesen Tanz bitten?“ „Selbstverständlich.“, kam es vom Schwarzhaarigen zurück und so begaben sie sich Hand in Hand hinüber zu den anderen Paaren. Alexander nahm gar nicht wahr, dass der ein oder andere sie verdutzt ansah, denn seine ganzen Sinne waren auf Heinrich gerichtet, der mit ihm zur seichten Musik übers Gras schwebte, eine Hand an seiner Brust, wo er auch nach kurzem seinen Kopf ablegte. Der Moment war so unbeschreiblich traumhaft, dass dem Größeren, obwohl er gleichzeitig so vieles sagen wollte, die Worte fehlten. Ein paar Takte benötigte er, um sich zu sortieren, dann kam er sich vor, wie einer, der endlich das Tageslicht erblickt hatte. „Heinrich, ich…“, brachte er schließlich heraus. Heinrich sah fragend zu ihm auf. Alexander begann ein paar Mal, scheiterte aber daran, zu erklären, was gerade in ihm vorging, weshalb er schließlich einfach seinem Impuls folgte. Und plötzlich hatte er sogar eine Idee. „Komm mit.“, bat er und zog Heinrich mit sich. „Was? Aber…“ „Wir sind kurz weg.“, warf er noch dem Bräutigam zu, bevor sie das Gelände verließen. Es ist dem Schwarzhaarigen nicht zu verübeln, dass er eine Erklärung forderte und ob Alexanders Lachen, das er nur als Antwort bekam, noch verwirrter und ungeduldiger wurde, aber er konnte ihn durch zahlreiche Küsse ruhigstellen, die sie auf der Fahrt austauschten, und schließlich hielt die U-Bahn auch schon „Unter den Linden“ und Alexander zog seinen Freund nach draußen. Plötzlich war Heinrich still. – Alexander nimmt an, er hat es ab diesem Zeitpunkt geahnt. – Sie gingen aufs Brandenburger Tor zu. Genau dort, wo der Kleinere ihm das erste Mal seine Liebe gestanden hat, blieb der Größere stehen und nahm seinen Heinrich an den Händen. „Du…du hättest ein Schloss verdient.“, begann er, sah grinsend an den Himmel. „Oder eine Fliegerstaffel.“ Liebevoll lächelnd blickte er wieder in Heinrichs verwirrtes Gesicht. „Wenigstens tausend Luftballons.“, meinte er, bevor er den Kopf schüttelte und sich selbst zur Besinnung rief. „Aber ich will nicht noch länger warten. Ich hab viel zu lange gewartet, Heinrich, das tut mir Leid, nur…nur wird es mir jetzt erst klar.“ „A-Alex, was? Was wird dir klar?“ Alexander legte ihm sanft einen Finger auf die Lippen. „Das hier passiert nur einmal in deinem Leben“, begann er, „Deshalb hätte ich mir eigentlich wirklich was Besonderes einfallen lassen müssen, aber…ich hätte mich sowieso niemals entscheiden können, darum…darum stell dir einfach vor, was du willst, ein Feuerwerk, tausend Rosen, alles…alles, was du willst, solange du nur mit den richtigen Worten antwortest.“ Als sein Freund schließlich vor ihm auf die Knie ging, riss Heinrich die Augen auf. Den Klang der folgenden Worte hat er heute noch im Ohr. „Heinrich Kleist, willst du mich heiraten?“ Der Schwarzhaarige starrte ihn daraufhin an, hielt sich eine Hand vor den Mund, fing an zu zittern, zu stottern, bevor er schließlich Alexander in die Arme fiel und ihn mit einem „Ja! Ja, ich will! Ja!“ zum glücklichsten Mann auf dieser Welt machte. Ihre Hochzeit war wunderschön und unbeschreiblich, ein Ereignis, an das Alexander sich immer wieder gerne zurückerinnert. Heinrichs Anzug, den ihm Lena geschneidert hatte, ist nicht zu übertreffen gewesen und hat seinen Liebsten mit dem seidigen weißen Stoff und den Frackenden, die in herrliche Schwanenfedern zuliefen, zum König – oder zur Königin? – des Abends gemacht. Als sie schließlich allein waren, auf ihrem Zimmer in der malerischen Altstadt mit Burg, die sich Heinrich gewünscht hatte, und der Trubel verflogen, brach Alexander in den Armen seines nun Ehemanns in Tränen aus, so glücklich war er, dabei hatte er seit seiner Kindheit nicht mehr geweint… Schmunzelnd betrachtet sich Alexander im Spiegel, als er sich die leicht ergrauten Haare trockenreibt, den Ehering auch wieder am Finger. Sein Spiegelbild bringt ihn ins Hier und Jetzt zurück, aber dank Heinrich weiß er damit umzugehen. Welche Angst er schon mit Dreißig vor dem Altwerden gehabt hat… Sein Liebster hat es tatsächlich geschafft ihm diese zu nehmen. Wer hätte auch ahnen können, wie ernst es der Kleinere meinte, als er ihm beim ersten grauen Haar verkündet hat, dass ihn das nun noch attraktiver mache… Trotzdem ist Alexander ganz froh, dass er schon bald nach der Hochzeit zu Tim in seinen alten Verein ist und wieder mit dem Schwimmen angefangen hat. Sonst würde er sicherlich keine so gute Figur mehr machen und auch nicht mehr so fit sein, immerhin ist er mittlerweile schon zweiundfünfzig. Seufzend wendet er sich vom Spiegel ab und zieht sich schließlich an, um hinunter in die Küche zu gehen, wo Heinrich über der Zeitung und bei einer heißen Tasse Kakao am Tisch sitzt und nun grinsend zu ihm aufschaut. „Oh, guten Morgen! Auch schon wach?“ „Morgen, mein Schatz.“, haucht Alexander zusammen mit einem Kuss gegen die Wange des Schwarzhaarigen, wobei er ihm mit dem Daumen den Kieferknochen entlang und übers Kinn streicht, dort wo Heinrichs Gesicht seit einiger Zeit schon ein Bart ziert, der ihm, wie der Größere immer wieder feststellen muss, ganz vortrefflich steht. Es macht ihn erwachsener. Auch wenn der Kleine mit vierunddreißig so langsam erwachsen sein sollte… „Ich hab dir Kaffee gemacht, müsste noch heiß sein.“ „Danke.“ Noch einen Kuss drückt er Heinrich auf den Mund, bevor er sich eine Tasse einschenkt und damit gegenüber am Tisch Platz nimmt. „Oh“, fällt es Alexander da auf, als er die schwarzen Stecker in den Ohren des Schwarzhaarigen bemerkt. „Du trägst deine Ohrringe?“ „Wieso nicht?“ „Du weißt doch, dass Wilhelm das nicht so gern sieht, wenn du die an der Uni…“ Heinrich streckt ihm die Zunge raus. „Hast du dich jemals dran gehalten, was dein Bruder von dir verlangt hat?“ Da muss Alexander grinsen. „Nein, da hast du Recht.“ Schmunzelnd wenden sie sich wieder ihrem Brot beziehungsweise Kaffee zu. Nach einer Weile seufzt Heinrich auf. „Gott, ich wollt bis morgen ja noch das Geschenk für Gabi kaufen…“ „Oh, stimmt, sie hat ja diese Woche Geburtstag, nicht?“ Der Kleinere sieht seinen Ehemann augenrollend an. „Schön, dass du dir wenigstens meinen Geburtstag merken kannst, wenn schon nicht den deiner Nichte…“ Alexander grinst ihn verlegen an. „Was…wolltest du denn besorgen?“ Heinrich winkt ab. „So ein Comicbuch da…sie liest doch immer noch diese Mangas, in denen die Kerle übereinander herfallen und dergleichen.“ Der Ältere muss leise lachen. „Tja, und das mit mittlerweile fünfundzwanzig Jahren.“ „Sechsundzwanzig wird sie.“, verbessert ihn sein Ehemann. „Naja, das eine Jahr.“, entgegnet Alexander und wendet sich seiner Kaffeetasse zu, bevor ihm wieder einfällt, wieso sie gestern beim Frühstück schon über die Familie geredet haben. „Wo wir grade beim Nachwuchs sind“, fängt er an, „Hast du nun eigentlich mit Leos Lehrerin gesprochen?“ Heinrich nickt sofort. „Ja, ich war gestern nach der Uni bei ihr.“ Erstaunt sieht der Ältere seinen Ehemann an. „Tatsächlich?“ Der Kleinere setzt genau den Blick auf, mit dem er ihn schon vor ein paar Jahren bedacht hat, als er nicht ganz glauben konnte, dass Alexander seine Aufregung nicht verstand, wenn die Grundschullehrerin seinem kleinen Bruder nicht erklären will, wie Sex zwischen zwei Männern abläuft. Damals saßen sie beim Abendessen, als Heinrich berichtete, was ihm Leo anvertraut hatte. Mit einem „Ich glaub, ich werd der Dame morgenfrüh mal einen Besuch abstatten.“ schloss der Jüngere seinen hitzigen Bericht ab. „Wieso?“, entgegnete Alexander erstaunt, „Weil sie den Kindern in der vierten Klasse nicht erklärt, wie Schwule Sex haben?“ Genau an dieser Stelle sah Heinrich seinen Ehemann mit eben diesem Blick an. „Verteidigst du die Frau gerade?“ Alexander griff nach seiner Hand, was schon so viel wie ein Eingeständnis war. „Heinrich, das sind kleine Kinder– “ „Die grade im Unterricht lernen, wie Mann und Frau Sex haben, ja. Ist das denn – wenn man es so nennen will – weniger anstößig als der Sex zwischen Männern?“ „Nein, natürlich nicht.“, versuchte ihn Alexander zu besänftigen, „Aber wenn…wenn sie wissen, dass diese Möglichkeit besteht…“ „Wie?!“ Heinrich entzog ihm die Hand. „Alex, also bitte, von dir hätt ich ein bisschen mehr Verstand erwartet.“ Völlig baff blickte der Ältere seinen Ehemann an, doch der redete unbeirrt weiter. „Die Jungs, die da in der vierten Klasse sitzen und hören, dass sie entweder einmal eine Frau oder einen Mann lieben können, die treffen ihre Auswahl nicht nach dieser Unterrichtsstunde! Die sind schwul, oder sie sind es nicht! Und wenn sie es nicht sind, werden sie dadurch, dass sie wissen, dass es so was aber grundsätzlich gibt, nicht etwa schwul, sondern möglicherweise, wenn wir Glück haben, toleranter.“ „Du…“ Alexander lächelte ihn an. „Du hast ja Recht.“ Am nächsten Morgen hat Heinrich seine Drohung tatsächlich wahrgemacht: Frühmorgens klopfte er an der Tür zum Lehrerzimmer an und wartete, bis ihm geöffnet wurde. Ein junger Lehrer erschien an der Tür. „Guten Morgen, ich will zu Frau Dannauer.“ „Ein Elterngespräch?“ „Ja.“, antwortete er. Alles andere hätte zu viele Erklärungen gekostet. „Kleinen Moment, ich schau, ob sie da ist.“ „Danke.“ Der Mann sah sich im Zimmer um, bevor er an einen der hintersten Tische ging, wo er anscheinend die Frau erblickt hatte. Frau Dannauer hatte einen blonden Bob als Haarschnitt und ihre ebenfalls akkurate Kleidung erinnerte etwas an Caroline. Heinrich seufzte. Jetzt war ihm alles klar. „Guten Morgen.“, grüßte ihn die Frau, als sie die Tür zum Lehrerzimmer hinter sich schloss, „Waren wir verabredet?“ „Nein, ich bin wegen Leopold Haas hier.“ „Oh.“ Sie blickte ihn erstaunt an, konnte ihn anscheinend nicht richtig einordnen, denn obwohl er alt genug wäre, Leos Vater zu sein, sieht er ja viel jünger aus, als er ist. Gut möglich, dass sie Michael auch schon bei einem Elternabend zu Gesicht bekommen hatte. „Gehen wir doch ins Elternsprechzimmer.“, schlug sie vor und führte ihn den Gang entlang in einen der Räume, in dem sie an einem der Tische Platz nahm. Heinrich wollte sich nicht setzen, er blieb ihr gegenüber stehen. „Sie sind…?“, fing sie an. „Ich bin der Onkel“ – für seinen kleinen Bruder waren er und Alex schon von klein auf immer seine Onkel gewesen – „Ich bin der Onkel, von dem Leo erzählt hat. Sie wissen schon, der, der mit seinem Mann auf unerklärliche Weise Liebe macht.“ Er konnte ein gehässiges Lächeln nicht verbergen, als die Frau blass wurde. „Hören Sie“, fing er an, „Ich will hier nicht irgendeinen Schwulenverein vertreten oder Sie wegen Diskriminierung verklagen, aber ich bin der Meinung, dass Sie den Kindern solche Fragen beantworten sollten. Und ich bin mir sicher, Sie wussten die Antwort auf die von Leo.“ Dannauer hatte sich mittlerweile wieder gefasst, was ihr entschlossener Gesichtsausdruck bewies, als sie aufsprang. „Welche Fragen ich meinen Schülern reinen Gewissens beantworten kann, das ist ganz allein meine Sache.“ „Reinen Gewissens?!“, wiederholte Heinrich ungläubig, „Das hört sich ja so an, als sei Homosexualität ein Verbrechen!“ „Jedenfalls ist es nichts für Grundschulkinder.“ „So.“, entgegnete Heinrich übertrieben erstaunt, „Über Sex aufgeklärt zu werden, ist nichts für Grundschulkinder? Wieso steht es dann auf dem Lehrplan?“ „D-das ist doch etwas vollkommen anderes!“ „Achja?! Was ist der Unterschied zwischen Sex und Sex?!?“ „D-das…!“ „Na los, erklären Sie’s mir! Was ist der Unterschied zwischen dem Sex, den Sie mit Ihrem Mann haben, und dem Sex, den ich mit meinem hab?!“ „Es ist nicht normal!“ Heinrich schnaubte. „Dann erklären Sie das so bitte Leo. Erklären Sie ihm, dass es nicht normal ist, dass zwei Menschen sich lieben. Erklären Sie ihm, dass er auch einmal nicht normal sein wird, sollte er sich in einen Mann verlieben. Dass er nicht normal ist, wenn er lieber Mozart hört, als die Musik aus den Charts. Dass er nicht normal ist, wenn er kein Fleisch isst, wenn er Angst vor Vögeln hat, wenn er sich mit anderen nachts auf Friedhöfen trifft, um Gedichte von Annette Droste-Hülshoff zu lesen.“ Frau Dannauer schwieg ihn an. Sie biss sich auf die Unterlippe. „Gehen Sie bitte.“, kam es schließlich von ihr. Heinrich warf ihr noch einen verächtlichen Blick zu, dann vergrub er die Hände in seinen Hosentaschen und verließ den Raum. Gelohnt hat es sich aber: Leo berichtete ihm bald, dass ihre Lehrerin sich doch noch dazu durchgerungen habe, ihnen auch zu erklären, wie zwei Männer miteinander Liebe machen. Dieses Mal ging es um ein ähnliches Problem: „Alex, es ist wichtig, wenn über Verhütung und Geschlechtskrankheiten gesprochen wird, dabei auch das besondere Risiko für Homosexuelle zu erwähnen. Ich denke, in der achten Klasse sollte so was schon möglich sein.“ „Das stimmt.“ „Deshalb kann ich da doch nicht einfach schweigen. Die Biolehrerin war auch ganz kooperativ und hat versprochen, ihr Versäumnis in der nächsten Stunde nachzuholen.“ Schmunzelnd wirft Alexander seinem Ehemann einen anerkennenden Blick zu. Es ist jedes Mal wieder wundervoll zu sehen, wie Heinrich sich um seinen kleinen Bruder kümmert und dabei noch so konsequent zu dem steht, wer er ist. Das ist nicht immer so gewesen. „Willst du heute gar keine Zeitung lesen?“, fragt ihn der Schwarzhaarige auf einmal. „Naja, nicht wenn du noch da bist. Da unterhalt ich mich lieber mit dir, mein Schatz.“, antwortet der Ältere liebevoll lächelnd. „Hm, es würde aber was Interessantes drinstehen.“, gibt Heinrich zwinkernd zu bedenken. „Tatsächlich?“ Nun muss Alexander grinsen. „Dann zeig mal her.“ Sofort schiebt ihm sein Ehemann das Morgenblatt hinüber, die Kulturseite aufgeschlagen, sodass der Größere gleich Heinrich auf dem Foto erkennt, der mit seinem neuen Buch in der Hand neben Goethe am Tisch sitzt. „Wow, so ein großes Foto und so viel Text?“ Positiv überrascht starrt Alexander die Seite an. „Das wichtigste hab ich markiert.“, wirft der Kleinere ein, ein Grinsen wie ein Honigkuchenpferd auf den Lippen. „Moment“ Der Ältere räuspert sich, bevor er das Brillenetui von der Fensterbank nimmt und seine Lesebrille hervorholt, was Heinrichs Grinsen noch breiter werden lässt. – Nicht, weil es ihn amüsiert; davon hat er Alexander mittlerweile überzeugen können, dass er mit dem Teil auf der Nase nicht scheiße aussieht; sondern wohl aus dem unerklärlichen Grund, da ihm sein Ehemann mit Brille tatsächlich gefällt. „Oh“, entweicht es Alexander, als er den angestrichenen Abschnitt schließlich gelesen hat, „Oh! Goethe lobt dein Buch?! In den höchsten Tönen und vollkommen ernst gemeint?!?“ Kichernd nimmt ihm Heinrich die Zeitung wieder ab. „Ja, ich bin auch höchst erstaunt. Und, wenn ich ehrlich bin, auch ein bisschen wahnsinnig stolz.“ „Das darfst du sein.“, lacht der Ältere. „Ihm gefällt deine ‚Penthesilea‘ also tatsächlich.“ Heinrich streckt ihm die Zunge raus. „Oder er will einfach nur den Fehler vom letzten Mal nicht noch einmal machen.“ Bei der Erinnerung an damals muss Alexander herzlich lachen. Ja…das war für Goethe wahrlich ein Fiasko gewesen… Inspiriert vom Seminar bei Professor Eichendorff und Pfeiffer über Magnetismus und Schlafwandeln hat Heinrich vor einigen Jahren nämlich ein Werk angefangen, das von einem einfachen Mädchen handelt, welches durch eine Vision im Traum glaubt, im Ritter, der bei ihrem Vater in der Schmiede Halt macht, ihren Schicksalspartner gefunden zu haben. Vollkommen unterwürfig und fast schon lebensmüde folgt sie ihrem Ritter, der gar nicht weiß, wie er sie loswerden soll, auf langen Märschen zur Burg und sogar in den Kampf. Erst am Ende wird auch dem Ritter durch einen Traum klar, dass das Mädchen für ihn bestimmt und eigentlich die uneheliche Tochter des Kaisers ist. Der Spuk endet damit, dass der Kaiser sie als legitime Tochter anerkennt und mit dem Ritter vermählt. ‚Das Käthchen von Heilbronn‘ hatte Heinrich das Mädchen und das kleine Geschichtchen genannt und ging damit zu Goethe, der ihn regelrecht ausgelacht hat. Ein kitschiges Kindermärchen sei das. Was solle er damit? Seinen Verlag lächerlich machen? – Kommentare, die er wenige Wochen später zutiefst bereuen sollte. Denn in seiner Verzweiflung hat sich der Schwarzhaarige nach einem Theaterabend von Iffland zu einem Umtrunk überreden lassen und ihm dabei sein Leid über den bösen Goethe und sein doch eigentlich ganz wunderbares Werk geklagt. „Hmm…“ Schmunzelnd schlug Iffland die Beine übereinander und lehnte sich ein wenig näher zum Kleineren, während er nicht aufhörte, ihm sanft durch die Haare zu fahren. „Ich kann mir vorstellen, dass es sich auch gut auf der Bühne machen würde…“ Fast hoffnungsvoll blickte Heinrich zum Intendanten auf. „Ja? Meinst du?“ Ifflands Grinsen wurde breiter. „Ja, jetzt wo ich genauer darüber nachdenke, bin ich sogar davon überzeugt. Meinst du, ich darf dein Manuskript mal haben und in ein Drehbuch umwandeln?“ „Das…das würdest du tun?“ „Es würde mich geradezu reizen, Süßer. Ich liebe Happy Ends.“ Freudig sah Heinrich zum Größeren auf. „Aww, danke!“, rief er begeistert und fiel Iffland um den Hals. Lachend schob ihn der Ältere ein wenig von sich. „Halt, halt, mein Schnuckelchen, immer mit der Ruhe.“, meinte er, „Ich habe natürlich Bedingungen.“ „Oh“ Abwartend blickte ihn Heinrich an. „Die wichtigste: Aus dem Mädchen machen wir einen Jungen.“ „Ui. Wie nennen wir ihn aber dann?“ Ifflands Grinsen war geradezu diabolisch. „Johann ‚Hänschen‘ von Heilbronn. Und der Ritter wird Friedrich heißen.“ Heinrichs Augen begannen zu funkeln. „Das war aber nicht gerade die feine Art von dir und Iffland gewesen…“, lacht Alexander. „Tja, Goethe hatte es aber nicht anders verdient.“, entgegnet Heinrich. „Und Schiller hat es sehr gefallen.“ Amüsiert kann der Ältere nur zustimmen. „So“ Seufzend steht der Kleinere auf. „Ich muss dann, sonst komm ich noch später als die eingeplanten fünf Minuten im Hörsaal an…“ „Oh, das wollen wir ja nicht.“, meint Alexander grinsend und erwidert den Kuss, den er von seinem Ehemann bekommt, zärtlich. „Kommst du heute auch noch hin?“, fragt ihn Heinrich. „Ja, ich treff mich heute Nachmittag mit Professor Rettenbach. Wir sehen zusammen den Probedruck unseres Katalogs durch, um ihn dann hoffentlich bald in Druck zu geben.“ Grinsend drückt ihm der Schwarzhaarige noch einen Kuss auf die Wange. „Wunderbar. Ich freu mich schon darauf, wenn du einen mitbringst. Die Fotos aus Südamerika sind ja traumhaft geworden, auch wenn du meistens nur Gesteinsarten fotografiert hast.“ „Tja“, entgegnet Alexander schmunzelnd. „Rettenbach hätte sich als Geologe wohl auch etwas beschwert, wenn ich ihm schon anbiete, ihn mit meinem landeskundlichen Wissen bei seinem Forschungsprojekt zu unterstützen, und am Ende nur Fotos von meinem nackten Ehemann unterm Wasserfall abliefere…“ „Och, vielleicht findet sich ja irgendwann ein Anthropologe, der was damit anfangen könnte…“ Lachend gibt ihm Alexander einen Klapps auf den Hintern. „Komm, sieh zu, dass du fort kommst.“ „Nicht so frech, mein Großer.“, murmelt Heinrich und fasst seinen Ehemann an der Wange, um ihm einen neckenden Kuss zu geben, den er damit beendet, dass er ihm sanft in die Unterlippe beißt. „Bis heute Nachmittag.“, verabschiedet er sich daraufhin und winkt dem Älteren noch einmal zu, bevor er die Küche verlässt. Alexander schaut ihm grinsend nach. Als Heinrich in seinen schwarzen Kleinwagen steigt, muss er heute dabei seltsamerweise an seinen Vater denken. Das Auto erinnert ihn immer daran, dass es gar nicht so selbstverständlich ist, wie gut er sich mit diesem Mann mittlerweile wieder versteht. Naja, ‚gut‘ wäre hier zu viel gesagt, aber immerhin können sie ohne laut zu werden miteinander telefonieren, wenn den Alten mal wieder die Reue packt. Als er damals aus dem Gefängnis entlassen wurde, war es Heinrich und seiner Mutter, wenn sie ehrlich waren, schon etwas mulmig zumute. Vor allem, da Juliane je gerade mit Leo schwanger war, der beste Beweis für ihr Glück, das sie nun mit einem anderen Mann gefunden hatte. Aber es ist nichts passiert, Michael hat ihn, auch wenn es ihn einiges an Überwindung gekostet hat, sogar ins Haus gelassen, damit er sich mit seiner Ex-Frau aussprechen kann. Dieses Gespräch verlief damals noch nicht ganz ohne hitzige Worte und einen Eingriff Michaels, aber immerhin verließ Joachim Kleist das Haus wieder freiwillig. In den folgenden Jahren hat er dann aber überraschende Fortschritte gemacht, mittlerweile ist er mit seiner Therapeutin liiert und kommt regelmäßig in Ullis Café. Heinrich hat er hiermit überrascht, mit dem Auto. „Mein Sohn, du bist jetzt selbstständig, du verdienst dein eigenes Geld, es wird Zeit, das letzte Geld von deinem Sparbuch, das ich dir zu deiner Einschulung angelegt hab, in etwas Sinnvolles zu investieren.“ Und das ist dieses schnuckelige, praktische Autolein gewesen, das Heinrich ganz vortrefflich gefällt und ihn jeden Morgen ganz bequem zur Uni bringt, seinem Arbeitsplatz. Dass es dazu kommt, hätte er vor einigen Jahren noch selbst nicht geglaubt, aber durch die häufigere Konfrontation mit der Öffentlichkeit als Autor und die Nachhilfestunden, die er Gabi und seinem kleinen Bruder in Mathe und Physik gegeben hat, hat er bemerkt, dass es gar nicht so schlimm ist, vor anderen zu reden, wenn man denn Ahnung von etwas hat, und wie gern er anderen etwas beibringt. Eines Tages saß er dann bei Familie Humboldt beim Abendessen, zuvor hatte er Gabi gerade noch bei der Vorbereitung auf ihre Physikarbeit geholfen, da sprach ihn Wilhelm an: „Professor Eggebrecht geht in Rente und gibt seinen Lehrstuhl auf.“ „Hm?“ Ein wenig verwirrt blickte ihn der Schwarzhaarige an, denn gerade eben hatten sie doch noch über Gabis Arbeit gesprochen. „Frau Eichendorff wird zukünftig also die Beauftragte für Physik an meiner Universität sein.“, redete Wilhelm weiter. „Sie bräuchte aber bald wieder einen Kollegen.“ Spätestens als ihn da Caroline schmunzelnd anblickte, wurde es Heinrich unheimlich. „Kannst du dir denn vorstellen, Professor an meiner Universität zu werden, Heinrich?“ Von da an folgte eins aufs andere: Nach seinem Master machte er sich gleich an seine Promotion, etwas von dem er vor wenigen Jahren nur hatte träumen können, aber jetzt merkte er, dass das gar kein unerreichbarer Traum war, sondern auch er das konnte. Es ist zwar höllisch viel Arbeit gewesen – auch die darauffolgende Habilitationsschrift und sämtliche Prüfungen waren nicht leichter – aber am Ende hat er es geschafft und sich auch gar nicht soo ungeschickt bei seiner ersten wirklichen Vorlesung angestellt, die er gehalten hat, auch wenn er Nächte davor gar nicht richtig schlafen konnte vor Aufregung und Alexander so seine liebe Müh mit ihm hatte… Mittlerweile kann er selbst nur über sich schmunzelnd, wenn er zurückdenkt, so gern hat er seinen Job. Studenten quälen und Alexander es mit den Verehrerinnen ein wenig heimzahlen macht das Ganze sogar noch spannender… Fröhlich verlässt er sein Auto, das er auf dem Professorenparkplatz abgestellt hat, und macht sich auf den Weg ins Gebäude. Auf der Treppe läuft ihm Professor Pfeiffer über den Weg, der ihm ein offenes Lächeln schenkt und ihm selbstsicher in die Augen blickt. Vor wenigen Jahren auch noch keine Selbstverständlichkeit. „Morgen, Heinrich. Mal wieder spät dran?“ „Besser spät als nie, Philipp. Grüße an Tim, ich ruf heute Nachmittag wegem Wochenende mal an.“ Der Ältere nickt ihm im Vorbeigehen noch grinsend zu, bevor sich ihre Wege wieder trennen. Exakt sechs Minuten später als nach Semesterplan betritt Heinrich den Hörsaal mit einem fröhlichen „Guten Morgen“ und schaut ein paar Sekunden schmunzelnd in die schläfrige Runde, bevor er mit seiner Vorlesung beginnt, die nur kurz durch ein Kleppern unterbrochen wird, als jemand in den hinteren Reihen wohl seinen Stift fallenlässt und ihn so doch tatsächlich etwas aus dem Konzept bringt. Fünf Minuten vor Schluss entlässt Heinrich seinen Kurs. Er packt seine Sachen zusammen und hofft, dass nicht wieder eine der Studentinnen auf die Idee kommt, sich auf irgendeine Weise an ihn ranzumachen. Heute hat er keine Lust dazu, da er noch einiges im Büro zu erledigen hat, bevor er am Nachmittag dann bei Alex vorbeischauen wird. Als er jedoch aufsieht, weil er bemerkt, wie jemand zu ihm tritt, blickt er nicht in das Gesicht einer Studentin, sondern in das eines jungen Mannes mit dunklen Haaren und recht großen abstehenden Ohren, der in Hemd und dunkler Hose äußerst herausgeputzt aussehen würde, wäre er nicht so dünn. Mit großen dunklen Augen schaut er Heinrich an, einen Moment wohl sprachlos und peinlich berührt. „Ich…“, beginnt er endlich leise, „Ich möchte mich für vorhin entschuldigen.“ Fragend muss ihn der Ältere anstarren. „Entschuldigen?“ „Ja, ich…es ist meine Schuld. Ich hab nicht aufgepasst und den Stift fallen lassen…“ „Oh, das.“, lacht Heinrich und sein Gesichtsausdruck wird sanfter. „Da muss ich mich entschuldigen, falls ich vorhin den Eindruck erweckt habe, als hätte mich das groß geärgert. Das ist doch kein Problem.“ Sein Gegenüber nickt leicht. Er scheint zu zögern. „Darf ich…“ Erst jetzt bemerkt Heinrich, dass das, was er da so verkrampft im Arm hält, sein ‚Michael Kohlhaas‘ ist. „Darf ich Sie um ein Autogramm bitten, Herr Kleist? Ich studiere eigentlich Jura, besuche dieses Semester aber Ihre Vorlesung, weil Sie ein so bewundernswerter Mensch sind. Ich schreibe selbst, wissen Sie – zwar nur für mich, aber…Sie sind ein großes Vorbild.“ „Oh, da bringst du mich aber in Verlegenheit.“, lacht der Ältere und will schon nach dem Buch greifen, da überlegt er es sich aber noch einmal anders. „Weißt du was?“, meint er, „Bei der Gelegenheit könnte ich dich als Entschuldigung für dieses kleine Missverständnis zwischen uns auf einen Kaffee oder ein Eis einladen. Was meinst du?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)