Venia Legendi Eudaimonía von KaethchenvHeilbronn (Die Erlaubnis zu lehren wie man glücklich ist) ================================================================================ Kapitel 9: ----------- Es ist eine helle Holztür, vor der Alexander stehen bleibt. Die zweite rechts. Er ist sich wirklich nicht sicher, ob es das Richtige ist, was er gerade tut. Er wird gleich im Zimmer des Jungen stehen, der ihm nachts in seinen Träumen auf unanständigste Weise erscheint. Im Zimmer des Jungen, dessen Vater anscheinend ein homophober Ex-Leutnant ist. Alexander fasst sich prüfend an die Tasche, die er umhängen hat. Es sind doch nur Berlinfotos, die er ihm zeigen will… Er gibt sich einen Ruck und klopft an. „Herein!“, kommt es von innen, fast militärisch. Vorsichtig öffnet er. „Heinrich?“ „O-oh, Herr Professor Humboldt!“ Heinrich kann sich nicht zwischen Unbehagen und Freude entscheiden. „Kommen Sie doch rein. Es…es ist zwar etwas unordentlich, aber…“ Alexander schaut sich im Zimmer um. Der Ordner liegt aufgeschlagen auf dem Boden und einige Blätter und Stifte daneben, auf dem Schreibtisch ist der Laptop geöffnet. Der Hintergrundbildschirm zeigt das Brandenburger Tor. „Also, ich wär froh, wenn’s bei mir zuhause so aussehen würde.“, meint er mit einem Grinsen. Das bringt Heinrich sichtlich in Verlegenheit. Er zupft an den Ärmeln seines blauen Shirts. Leider kein V-Ausschnitt, aber an der Hüfte etwas kürzer, als das violette. „Ähm…nehmen Sie doch Platz, ich – ist halt nur ein Stuhl da…“ Alexander öffnet seinen Mund und weiß schon da, dass er einen riesigen Fehler begehen wird. „Wenn wir zusammen in die Bilder schauen möchten, wär’s doch am Besten, wir setzten uns auf dein Bett, oder nicht?“ Nein, natürlich nicht. Aber das kommt davon, wenn das obere Hirn nicht mehr die vollkommene Kontrolle über den Körper hat. „Ja, das…das ist eine gute Idee.“, stimmt Heinrich auch noch zu. Aber was hätte er anderes sagen sollen? Also setzen sie sich zusammen aufs ordentlich gemachte Bett. Alexander ermahnt sich dazu, abstand von Heinrich zu halten – und sich nicht auf die Decke zu werfen, um Heinrichs wohligen Geruch in sich einzusaugen. Als Alexander jedoch das Fotoalbum aus seiner Tasche holt, rutscht der Junge etwas näher. „Mann, bin ich aufgeregt!“, gibt er mit einem Grinsen von sich. „Ich konnte heute Nacht fast nicht schlafen.“ Oh, ich auch nicht. Das behält Alexander aber lieber für sich und schlägt die erste Seite auf. Es ist ein kleiner Junge mit dem Berliner Fernsehturm im Hintergrund zu sehen. Heinrich sieht entzückt zu seinem Professor auf. „Sind das…Sind das Sie?!?“ „Ja, peinlich nicht?“ „Nein, Sie sind richtig süß! – Äh-ähm, auf dem Bild…da…“ Alexander findet es einfach nur überwältigend, wie rot der Junge wird. Am Liebsten würde er ihm sagen, wie süß er gerade aussieht, aber das sollte er lieber lassen. „Weißt du denn, wie der Platz heißt, auf dem ich da steh?“, fragt er stattdessen. Heinrich ist ihm sichtlich dankbar über die neutrale Frage. „Ja, natürlich! Das ist der Alexander-Platz, nicht?“ „Richtig. Und jetzt darfst du dreimal raten, wieso meine Eltern unbedingt dieses Bild machen mussten.“ „Oh!“ Der Junge sieht wieder zu ihm auf. „Sie…Ihr Vorname ist Alexander?!“ „Genau.“ Die blauen Augen leuchten. „Das ist ein schöner Name.“ Alexander bringt ein „Danke“ heraus, während er schnell weiterblättert. Es sind noch einige Fotos aus seiner Kindheit im Album eingeklebt. Sie schauen sich nur die an, auf denen auch etwas von Berlin zu sehen ist, und Heinrich ist durchweg begeistert. Besonders über die neueren Fotos ist er erstaunt, auf denen hin und wieder auch das Nachtleben Berlins zu sehen ist. „Ich hab dir ja gesagt, dass Berlin viele Gesichter hat.“ „Ja, ich erinnere mich. Welches Gesicht gefällt Ihnen denn am Besten?“ „Hm“ Alexander muss ernsthaft überlegen. „Vielleicht…“, beginnt er. „Vielleicht die soziale Seite, die Toleranz. Alle möglichen Kulturen und Menschengruppen können in Berlin zusammen leben und werden von der großen Mehrheit auch toleriert.“ Heinrich sieht ihn an, sein Gesichtsausdruck wirkt verträumt. „Berlin ist toll.“, sagt er, und Alexander will ihn wieder einmal gerne küssen. Es ist mittlerweile Zwanzig vor Acht, als Alexander das Fotoalbum schließt und Heinrich alle Gesichter Berlins zumindest in der Theorie kennengelernt hat. Es ist Heinrichs Übermütigkeit zuzuschreiben, dass sich ihre Hände beim Umblättern ein paar Mal in den Weg gekommen waren. Wenn es nach Alexander ginge, hätte er die kleinen, zarten Hände einfach ergreifen und gar nicht mehr loslassen wollen. „Vielleicht schaff ich’s mal, nach meinem Studium, nach Berlin zu kommen.“, meint Heinrich und rutscht ein wenig weiter nach hinten auf seinem Bett, um sich an die Wand zu lehnen. „Bestimmt.“, macht ihm Alexander Mut. Er kann nicht anders und lässt sich ebenfalls nach hinten sinken, fährt mit seinen Fingern fast unbewusst über die weiche Bettdecke. „Ich beneide Sie, Herr Professor Humboldt.“ Alexander lacht leise. „Wieso das denn?“ „Weil Sie einfach mal am Wochenende nach Berlin können. Mein Vater würde mir das niemals erlauben.“ Es geht nicht mehr. Alexander legt dem Jungen eine Hand auf die Schulter. Die nächste Grenze futsch. „Aber du bist doch erwachsen, Heinrich.“ „Aber ich wohne noch hier und bin finanziell von ihm abhängig.“ Alexander weiß nicht mehr, was er darauf sagen soll. Seine Hand fährt kleine Kreise auf Heinrichs Schulter. Beruhigend, vielleicht für ihn. Alexander hingegen macht diese Berührung schier verrückt. Er hätte es lassen sollen. Jetzt will ihm seine Hand nicht mehr gehorchen. Er sollte gehen, es ist schon spät. Er will aber nicht. Heinrich soll ihn rausschmeißen. „Wann…wann gibt’s denn Abendessen?“ „Um Acht.“, antwortet der Junge. Er zieht seine Beine an den Körper. „Da kommt Vater zurück.“ Alexander nickt. „Dann sollte ich langsam gehen.“ Seine Hand kommt auf dem schmächtigen Oberarm zum Ruhen. „Mo-moment, warten Sie kurz!“, erwidert Heinrich da und springt plötzlich auf. Er stolpert fast über seinen Ordner und bückt sich, um die unterste Schublade an seinem Schrank aufzuziehen. Dabei rutscht ihm das Shirt höher, und Alexander bewundert die nackte blasse Haut. Doch beim zweiten Hinsehen setzt er sich auf. „Heinrich.“ „Hm?“ Der Junge dreht sich kniend zu ihm um. „Ich such nur einen Zeitungsartikel über Berlin, den ich– “ „Komm bitte her.“ Eingeschüchtert hält der Student inne, bevor er sich schließlich erhebt und vor seinem Professor stehenbleibt. „Was…?“ „Setz dich zu mir. Ich will was schauen.“ Der Junge ist sichtlich verwirrt, als er wieder auf seinem Bett Platz nimmt. „Drehst du dich bitte um? Ich will deinen Rücken sehen.“ Die blauen Augen weiten sich entsetzt. Doch bevor Heinrich aufspringen kann, hat ihn Alexander am Shirt gepackt und zieht es nach oben. „N-Nein! Lassen Sie das…! Ah! Nicht!“ Der Junge sträubt sich mit aller Kraft, aber Alexander packt ihn an den Handgelenken, und schließlich verstummt er. Stumme Tränen laufen ihm die Wangen hinab, während sein Professor mit Entsetzen die vielen blauen Flecken an Rücken, Bauch und Brust zählt. „Er…! Dieser…! Dein Vater schlägt dich…!“ Heftig schüttelt Heinrich den Kopf. „Nein, er…Ich bin doch Schuld…ich bin…ich bin nicht brav…“ Völlig fertig schiebt Alexander das Shirt noch etwas höher, um der Schorfspur auf dem linken Schulterblatt zu folgen. „Dieser verdammte…!“ Er greift wieder nach Heinrichs Armen. „Hat er auch…?“ „Nein!“ Alexander schiebt die blauen Ärmel hinauf und entdeckt zahlreiche Kratzer an Handgelenk und Unterarm. „Du…du tust dir…?!“ Heinrich weint nur, und Alexander hätte gerne mitgeweint. Plötzlich schallt ein lautes „Bin wieder da!“, durchs Haus, und Heinrich springt entsetzt auf. „Oh, mein Gott, wenn Vater…!“ Schnell zieht er sein Shirt wieder zurecht und wischt sich mit den Ärmeln hektisch über die Augen, um sie zu trocknen. „Bitte…könnten Sie von meinem Bett aufstehen, ich weiß nicht, wie er– Und sagen Sie bloß nichts zu ihm! Bitte! Er wird mich umbringen, wenn Sie was sagen!“ „Aber, Heinrich– !“ „Bitte!“ Alexander kann es nicht fassen, dass der Junge doch tatsächlich nichts gegen seinen Vater unternehmen will. „Heinrich.“, versucht er es etwas ruhiger und steht wie gewünscht vom Bett auf. „Das kann doch nicht so weitergehen, du musst doch– “ Plötzlich klopft es hart an die Zimmertür. „Bitte.“, flüstert Heinrich, so unheimlich verzweifelt, und wischt sich noch einmal schnell über die Augen, bevor er mit einem überzeugendem „Herein!“ antwortet. „Essen, mein Sohn – Oh, Sie sind noch da?“ „Ja.“, gibt Alexander trocken von sich. Er kann gar nicht beschreiben, welche Schmerzen er diesem Mann gerne zufügen würde. „Aber ich bin auch schon so gut wie weg.“ Er dreht sich zu Heinrich herum und bringt noch ein echtes, aber enttäuschtes Lächeln zustande. „Bis Morgen..“ „Bis…Morgen“ „Guten Abend, Herr Kleist.“ Und damit verlässt er Heinrichs Zimmer. Als er unten zur Haustür hinausgeht, weiß er, dass er diese Nacht wohl noch weniger schlafen wird. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)