Come To Life von Medusa ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1 -------------------- Es war das Grün-Blau ihrer Augen, welches sich in dem feinen Glas des Fensters spiegelte, während die zarten, weißen Flocken vom Himmel fielen und die Kälte mit sich brachten. Jene Kälte, die alles unter sich begrub und in langen Schlaf versetzte. Eine Kälte, wie sie schon lange den grazilen Körper eingenommen hatte. Ein Windstoß ließ die beiden Flügel des Fensters aufschlagen, das weiße Holz an dem blassen Gesicht vorbeiziehen. Die kühle Luft ergriff Besitz von dem kleinen Raum, wirbelte die dunklen Haare umher. Doch die weichen Gesichtszüge blieben unberührt. Selbst als die weiße Tür im Hintergrund geöffnet wurde und ein unangenehmes Knarren von sich gab, als würde sie sich vor der plötzlichen Kälte im Raum sträuben. “Eline, bitte. Du musst in einigen Minuten das Haus verlassen”, die ältere Dame war im Türrahmen stehen geblieben und blickte auf den schmalen Rücken. Auf eine wahrzunehmende Reaktion bezüglich ihrer Worte wartete sie aber vergebens und somit schloss sie die schwere Holztür wieder. Als wäre nichts vorgefallen, griffen die filigranen Finger nach den beiden Fensterflügeln und sperrten die unangenehme Kälte wieder aus. Es war seit Minuten die erste Bewegung, ausgenommen vom Heben und Senken ihres Brustkorbes - der Beweis, dass sie atmete; sie lebte. Es war keine Regung ihrer Gesichtszüge, ein Lächeln auf ihren Lippen oder gar eine Empfindung in den großen Augen, die von ihrer Lebendigkeit zeugten. Es waren lediglich handelnde Bewegung, ruhige Worte, die ihre Stimme mit Emotionslosigkeit strafte und ihre deutlich spürbare Anwesenheit, wenn sie einen Raum betrat. Blicke wandten sich ihr zu, Gespräche verstummten und auf der anderen Seite begann das Gerede; jenes Gerede von Menschen, die ihrem eigenen Leben nichts interessantes mehr abgewinnen konnten. Die sich über jeden Fehler anderer freuten, um ihre eigenen in den Hintergrund treten zu lassen. Sie wandte sich von dem großen Fenster ab und griff nach einem roten Mantel, der auf einem Sessel in der Ecke gelegen hatte. Auch wenn der Februar sich dem Ende neigte, so wollte der Winter einfach nicht gehen. Seit Wochen fiel der Schnee und tauchte die Natur in sein reines Weiß, das Wasser war zu Eis erstarrt und der Winter hatte der Welt eine gewisse Stille verliehen, nachdem die Weihnachtslieder verstummt waren. Weihnachten. Die Erinnerung an dieses Fest rief weder das Gefühl von Freude, noch Gedanken an Beisammensein und eine besinnliche Zeit in ihr hervor. Es war ein furchtbares Weihnachtsfest gewesen, überschattet von jenen Geschehnissen, die sie nur wenige Tage zuvor heimgesucht hatten. Jedes Licht an dem Weihnachtsbaum hatte sie verflucht, jede Kugel die an den grünen Ästen hing. Es hatte sich so falsch angefühlt. Der Anblick war lediglich eine Folter gewesen, aber vielleicht sollte das ein Teil ihrer Strafe sein. Sie verließ den kleinen Raum, griff nach der schwarzen, großen Handtasche, die bereits auf einer Kommode im Flur stand und verließ, ohne ein Wort des Abschiedes, das Haus. Sie würden wissen, dass sie gegangen war, auch wenn sie es nicht gewollt hatte. Alles in ihr sträubte sich dagegen, dass sie einen normalen Alltag wiederfand. Es durfte nicht so weitergehen, wie vor diesem Moment. Die hellen Schneeflocken verfingen sich in den dunklen, vollen Haaren. Ihre hinterlassenen Fußspuren in dem weichen, weißen Teppich lösten ein unbehagliches Gefühl in ihr aus. Sie waren wie eine Stumme Anklage für ihr Handeln; dass sie ging. Dieser Gang würde ein stückweit Normalität zurückbringen, die sie nicht wollte. Normalität hatte für sie die Züge von etwas furchtbarem angenommen. Dieses Wort in ihren Ohren war wie ein Schlag ins Gesicht; eine Strafe dafür, dass sie es tat. Über ihre Lippen brachte sie es schon lange nicht mehr. Sie wusste nicht, warum es für sie überhaupt noch existierte. Die Blicke einiger Passanten wandten sich für einen Augenblick um. Sie wusste, dass der ein oder andere ihr bekannt sein müsste, doch ihre Gedanken verweigerten es ihr, diese Gesichter einer Person zuzuordnen. Niemand wagte es auch nur ein Wort des Grußes an sie zu richten. Statt dessen waren da nur diese Blicke; Neugier, Besorgnis, Unsicherheit. Ohne ihnen weiter Beachtung zu schenken, ging sie weiter. Der Weg kam ihr so unendlich lang und unbekannt vor, dabei war sie ihn vor einigen Wochen noch fast jeden Tag gegangen. Doch jetzt schien sie alles mit anderen Augen zu sehen. Die Farben des großen Schildes, welches zu dem Süßigkeitenladen an der Ecke gehörte, hatte seine Fröhlichkeit für sie verloren. Die hohen, eng einander gereihten, Häuser schienen sie mit ihrer grauen Fassade zu erdrücken. Der Gehweg war wie ein schmaler Streifen der ins Nichts führte. Irgendwann erschienen die Umrisse des alten Gebäudes in einiger Entfernung. Sie war für einen Augenblick stehen geblieben und hatte das Bild betrachtet, welches sich ihr bot. Die lange Allee von kahlen Bäumen, der vom Schnee bedeckte Boden und das alte, vertraute Gemäuer. Unsicherheit und Widerstand begleitete jeden weiteren Schritt, den sie tat und ihr Ziel schien sich immer weiter von ihr zu entfernen. Doch als sie endlich die wenigen Stufen erreichte, die sie hineinführen sollten, blieb sie stehen und wollte auf dem Absatz wieder kehrt machen. Ihre Füße schienen jedoch am Boden festgefroren und entließen sie nicht einfach. Alles fühlte sich wie eine Strafe an. Wie hatte sie herkommen können? Dieser Ort symbolisierte das, was sie nicht zurückhaben wollte, weil es ihr so falsch erschien. Normalität konnte nicht zurückkehren, denn sie würde sie nie wieder empfinden können. Sie wusste nicht, wie lange sie einfach nur vor dem großen Eingang gestanden und gegen diese Tür gesehen hatte. Sie konnte nicht einmal sagen, woran sie dachte oder was sie empfand. Sie stand einfach nur da, bis eine Stimme sie aus der Leere herausriss. “Eline! Liebes, ich dachte schon, ich würde dich hier nie wieder sehen”, die Angesprochene blickte direkt in die blauen Augen ihrer besten Freundin Aliena. Sie wusste nicht genau, woher sie plötzlich gekommen war, aber der vertraute Anblick der blonden, jungen Frau löste in ihr ein beklemmendes Gefühl aus. Für einige Sekunden erwiderte sie nichts. Sah einfach nur in dieses vertraute Gesicht - Normalität. Niemand würde ihr so viel davon wiedergeben können, wie Aliena. Kein anderer Mensch würde noch versuchen in ihrem Gesicht zu lesen. Bald würde aber auch sie aufgeben. Sie hatten sich seit diesem Tag nicht mehr gesehen; nicht einmal telefoniert hatten sie. Lediglich ihre Karte hatte sie erhalten. Irgendwann - sie wusste nicht genau wann, aber irgendwann bestimmt - würde auch Aliena erkennen, dass sie nichts mehr in ihrem Gesicht sehen konnte, außer die weichen, schönen Gesichtszüge. “Ich wollte nicht zurückkehren”, ihre Stimme war ruhig. Die Worte klangen aus ihrem Mund wie eine unbedeutsame Feststellung, während ihrer besten Freundin die Besorgnis ins Gesicht geschrieben stand. Sie konnte es sehen. Sie konnte jede Regung in Alienas Gesicht erkennen und zuordnen. Sie wusste, was sie dachte und wie sie fühlte. Vielleicht kannte sie ihre beste Freundin nun besser, als sie sich selbst kannte. Dieser Gedanke löste Unbehagen in ihr aus, doch sie konnte nichts dagegen tun. Auch das etwas unsichere Lächeln der Blonden änderte nichts an ihren Empfindungen. “Lass uns rein gehen, es ist kalt hier draußen. Ich habe auch noch einige Unterlagen für dich, aus den letzten Wochen”, Aliena legte eine Hand an die Schulter ihrer Freundin und brachte sie mit etwas Nachdruck dazu, endlich die wenigen Stufen zu erklimmen und das alte Gemäuer zu betreten. Der erste Eindruck der bekannten Umgebung schien sie beinahe zu erschlagen. Sie wollte umdrehen; raus. Dort war keine Luft zum Atmen. Die ganzen Wochen hatte sie gegen den Tag angesehen, an dem sie wieder herkommen musste. Sie hatte alles abbrechen wollen; hinschmeißen und vergessen. Ihre Wünsche, ihre Träume - ihnen schien ein Teil zu fehlen. Sie konnte sie nicht mehr verwirklichen. Sie waren unvollständig und würden es für immer bleiben. Was brachte es also noch, wenn sie sie weiter träumte? Wenn sie weiter daran arbeitete, dass sie ihnen näher kam? Sie sah hinter sich. Die große Eingangstür war noch nicht wieder vollständig zugefallen und verstärkte das Gefühl, dass sie hier hinaus musste. Doch plötzlich versperrte Aliena ihr die Sicht auf den Ausgang und schob sie etwas weiter vorwärts, als wollte sie ihr ohne Worte die Idee des Weglaufens ausreden. “Aliena, ich gehöre hier nicht mehr her”, nach drei Schritten war sie wieder stehen geblieben, sobald die Blonde ihre Hand von ihrer Schulter genommen hatte. Sie war bereits einen Schritt weiter gewesen und musste sich wieder zu ihrer Freundin umdrehen. “Natürlich gehörst du hierher, Eline. Wir wollten immer hierher. Wir haben so viel dafür getan”, sie musterte die Dunkelhaarige etwas besorgt. Normalerweise hatte sie Eline nicht so ansehen wollen, aber ihre Worte ließen ihr gar keine andere Option. “Aber ich kann das nicht so einfach”, die grün-blauen Augen hielten ihrem Blick stand. Nichts war in ihnen zu lesen. Sie schienen ihren starken Ausdruck verloren zu haben und wirkten teilnahmslos. “Nichts wird einfach sein. Aber du kannst auch nicht einfach alles hinschmeißen. Eline, bitte... Wir haben heute nur eine Vorlesung”, Aliena versuchte ihre Stimme so klingen zu lassen, als würde sie kein wirkliches Widerwort dulden, doch sie scheiterte kläglich. Es war einfach nicht ihre Art und die Situation ihrer besten Freundin nahm sie selbst viel zu sehr mit. Am liebsten hätte sie nachgegeben und wäre gleich mit ihr gegangen, doch das konnte sie nicht tun. Sie hatte sich vorgenommen, dass sie Eline davon überzeugen würde, dass es weitergehen musste. Dass sie selbst leichte Zweifel daran hatte, schob sie dabei einfach ganz weit weg. Ein Seufzen trat über die vollen Lippen der Dunkelhaarigen und sie setzte sich langsam wieder in Bewegung. Für den Moment hatte sie sich dem Wunsch ihrer besten Freundin gebeugt. Doch ob sie morgen wiederkam stand auf einem ganz anderen Blatt, denn noch immer lösten die Eindrücke in der großen Universität Unwohlsein in ihr aus. Als sie mit Aliena den Hörsaal betrat entging es ihr nicht, dass einige Gespräche in den ersten Reihen verstummten und man zu ihnen sah. Doch die Hand der Blonden berührte demonstrativ ihren Rücken und deutete ihr somit, dass sie weitergehen sollte. Eline versuchte die Blicke und das Getuschel zu ignorieren. Sie hatte ihr Kinn etwas angehoben, ihre Gesichtszüge wirkten unnahbar und versteinert, als sie auf ihren üblichen Platz in der fünften Reihe zuging und sich setzte, ehe Aliena neben ihr platz nahm. Während der Vorlesung schwiegen sie - beide. Aliena versuchte angestrengt dem zu folgen, was der Professor dort vorne erzählte und legte für keine Minute ihren Kugelschreiber ab. Nur manchmal warf sie einen etwas besorgten Blick zu ihrer Linken, versuchte jedoch es zu unterdrücken. Eline hatte ihren Block auf den kleinen Tisch vor sich gelegt. Ihr Stift lag auf dem weißem Papier - unberührt. Jede Faser ihres Körpers sträubte sich dagegen, ihn wieder in die Hand zu nehmen. Sie folgte auch nicht dem, was der Professor erzählte. Mit allem anderen füllte sie ihre Gedanken; versuchte sie sich abzulenken. Sie wollte nicht zuhören und verstehen. Kein einziges Wort wollte sie auf dieses Blatt Papier schreiben. Sie konnte es einfach nicht. Zu groß war das Widerstreben ihrer Gefühle. Sie schrieen ihr dieses eine Wort förmlich entgegen: Normalität. Sie klappte den Block wieder zu, nachdem sie die Tortur endlich überstanden hatte und packte ihre Sachen wieder ein. Aliena reichte ihr noch die gesammelten Unterlagen der letzten Wochen, ehe sie gemeinsam den Hörsaal und auch die Universität verließen. Normalität. “Soll ich dich nach Hause fahren?”, die Blonde war draußen stehen geblieben und musterte ihre beste Freundin für einen Moment. Sie hatte es vermieden, die Geschehnisse an diesem Tag anzusprechen, doch ob es geholfen hatte wusste sie nicht. Es schien kein Herankommen an Eline zu geben. “Nein. Ich laufe lieber”, die Brünette nahm ihre Tasche über die Schulter und wandte sich zum Gehen. Sie hielt es nicht mehr an diesem Ort aus. “Eline”, die Angesprochene wandte sich noch einmal um und blickte Aliena an, “wirst du morgen wiederkommen?” In ihrem Gesicht sah man die Zweifel und die Besorgnis. Wenn die Dunkelhaarige am morgigen Tag nicht wiederkam bestand die Gefahr, dass sie es wirklich nie wieder tat. Sie konnte Eline nicht zwingen, auch wenn sie es gerne getan hätte. In diesem Moment blieb ihr nur die Hoffnung auf ein Nicken, vielleicht sogar ein Lächeln. Die Brünette blickte sie aber nur einige Sekunden schweigend an und haderte mit sich selbst. Sie hätte die Frage gerne bejaht, einfach nur, damit dieser besorgte Ausdruck von dem sonst so fröhlichen Gesicht verschwand, doch es wäre eine Lüge gewesen. “Ich weiß es nicht”, sagte sie somit und wandte sich dann ab. Kapitel 2: Kapitel 2 -------------------- Der Weg nach Hause erschien ihr lang. Noch nie war er ihr so endlos vorgekommen, bis sie das ruhig und einladend wirkende Haus in Saint Andrews erreichte. Auch wenn sie nicht hatte gehen wollen, nun blieb sie inmitten des kleinen Gartentores stehen und sah den schmalen Weg hinauf, der bis zur Haustür führte. Ihre hellen Augen blickten zu dem Fenster, dessen weiße Vorhänge sich leicht zu bewegen schienen. Durch den milchigen Stoff erkannte sie die Silhouette einer Gestalt und Eline wandte den Blick sofort wieder ab. Sie hasste es, wenn ihre Mutter das tat. Sie war kein kleines Mädchen mehr, auf das eine Mutter am Fenster wartete, ob es auch pünktlich aus der Schule kam. Die Dunkelhaarige machte wieder einen Schritt zurück und schloss das Gartentor. Die zarten Finger hatten unter den Nägeln bereits eine leicht bläuliche Färbung angenommen. Ihre Handschuhe hatte sie in all ihrem Sträuben gegen den Alltag Zuhause vergessen. Ihr Körper hätte ihr die Wärme der vier Wände gedankt, doch ihr Herz wollte noch nicht wieder dort hinein. Es schien gegen sie selbst zu spielen; jede Handlung, die normal für sie gewesen wäre, schien es umgehen zu wollen. Mit einem Seufzen fügte Eline sich diesem Gefühl. Es hatte keinen Sinn diesen Kampf gegen sich selbst fortzuführen; sie konnte nur verlieren - ihr Körper oder ihre Seele - für diesen Augenblick entschied sie sich für die Niederlage ihres Körpers. Er würde die winterliche Kälte noch für eine Weile hinnehmen müssen, auch wenn sie selbst nicht wusste, wohin es sie eigentlich trieb. Der verschneite Weg führte sie in die Innenstadt von Saint Andrews. Die Angebote der Geschäfte hatten an diesem Tag nicht allzu viele Menschen aus ihren warmen Häusern gelockt. Das Wetter schien störend oder unter dem Weihnachtsbaum hatten - was ihr allerdings unmöglich erschien - ausnahmsweise einmal die richtigen Geschenke gelegen. Menschen waren aber doch eigentlich nie mit dem zufrieden, was sie letztlich bekamen. Eline schob es also doch wieder auf das Winterwetter, welches langsam lästig wurde. Die Brünette blieb vor einem kleinen Café stehen. Durch die große Fensterfront konnte sie einige Menschen beobachten, die genüsslich ihren warmen Kaffee oder Tee tranken, sich unterhielten oder eine Zeitung lasen. Ihr Blick fiel auf ein verliebtes Pärchen, das an einem Tisch saß und sich anlächelte. Für einige Sekunden betrachtete sie die Szenerie, wandte dann jedoch abrupt den Blick ab. Sie wollte so etwas nicht sehen. Sie wirkten so glücklich und zufrieden mit sich und ihrem Leben. Es war ein Anblick, den die Dunkelhaarige in den letzten Wochen für keine Sekunde hatte ertragen können und auch jetzt hatte sich nichts gebessert. Es war nicht erträglicher geworden. Alles, was sie ihr gesagt hatten, war eine Lüge gewesen. Der Schmerz ließ nicht nach, sie spürte ihn nur nicht mehr so deutlich, weil sie ihn Tag und Nacht an ihrer Seite hatte. Dennoch war der Anblick von Glück, Liebe und Zufriedenheit nicht erträglicher. Eline wusste, warum sie die letzten Wochen kaum einen Schritt aus dem Haus gemacht hatte. So etwas hatte sie sich selbst ersparen wollen. Es war auch ihr eigener Wunsch gewesen, dass Aliena in all den Tagen nicht bei ihr gewesen war. Die Dunkelhaarige hatte es ihr ausdrücklich mitgeteilt und sich strickt geweigert ihre Meinung zu ändern. Die ersten Wochen hatte sie sowieso mit niemandem gesprochen und sich in Schweigen gehüllt. Was brachte reden denn schon? Es änderte doch nichts an alldem, was geschehen war. Aliena hatte sich, wenn auch nur sehr widerwillig, geschlagen gegeben. Es war aber wohl eher ihre Angst, dass Eline die Freundschaft beendete, die sie hatte ausharren lassen, bis die Brünette von allein wieder in der Universität erschien. Sie war ihrer blonden Freundin dankbar gewesen, dass sie ihr Verhalten, nach anfänglichen Schwierigkeiten, einfach hingenommen hatte. Sie setzte ihren Weg langsam fort und vergrub die zierlichen Hände in den Manteltaschen. Eline hatte kein Ziel vor Augen. Sie hatte auch keine Lust in irgendwelche Geschäft zu gehen und sich ein wenig umzusehen. Lediglich hier und dort warf sie einen Blick durch die Schaufenster, betrachtete für einen Augenblick ihr Spiegelbild. War sie wirklich vor die Tür gegangen? Sie hatte sich geschworen, dass dieser Moment nicht einfach wiederkommen würde und nun war er da - einfach so. Sie hatte es nicht geplant, sie hatte es sich nicht vorgenommen; es war einfach passiert. Normalität. Ein weißer Aushang an einer Tür zog plötzlich ihre Aufmerksamkeit auf sich. Eline wandte sich von dem Schaufenster ab und ging einige Schritte weiter, ehe sie das weiße laminierte Papier einen Moment betrachtete, ohne dass die schwarz aufgedruckten Buchstaben einen Sinn für sie ergaben. Erst nach einigen Sekunden ergaben die Buchstaben Worte, die Worte einen Sinn, der bis zu ihr durchdrang. Sie musste über sich selbst den Kopf schütteln und ein etwas spöttisches Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Was dachte sie sich nur? Für einen Augenblick war ihr die Idee gekommen, dass dieser Aushang vielleicht ihr Weg sein könnte der Normalität zu entfliehen. Der Club, vor dem sie gerade stand und der zu dieser Zeit geschlossen war, suchte eine Aushilfe für die Nächte in den nächsten Wochen. Was für eine absurde Idee. Eline kam aus einem guten Hause; nie hatte sie einen Job neben der Schule oder dem Studium nötig gehabt. Sie war immer froh darüber gewesen, auch wenn sie vor anderen nicht damit prahlte. Sie hatte auch das Glück, dass ihre Eltern in Saint Andrews lebten und sie sich keine eigene Wohnung finanzieren musste. Die meisten Einwohner der schottischen Stadt waren Studenten der University of St. Andrews. Ein Grund, warum sie sich vorstellen konnte, dass der Club sicherlich gut lief. Der Besitzer würde es nicht schwer haben eine Aushilfsbedienung zu finden, was sollte also sie... - Genau in diesem Augenblick wurde die Tür vor ihr geöffnet und viel zu warme Luft schlug der Dunkelhaarigen entgegen. Der Geruch von Alkohol und Zigarettenqualm schien noch unterschwellig in ihr zu liegen und Eline kam nicht umher ihre Nase ein wenig zu rümpfen und ihre Augen ein wenig zusammen zu kneifen. Für jemanden wie sie, der um solche Orte eher einen Bogen machte, war dieser Geruch beißend und nur allzu deutlich. “Wenn du dich so anstellst, kannst du hier aber nicht arbeiten”, stellte der junge Mann vor ihr amüsiert fest und seine Augen musterten sie einen Moment, bevor er an der Zigarette zog, die er in seiner rechten Hand hielt und mit der linken Schulter an dem Türrahmen lehnte. Der Blick Elines schien ihn nur noch mehr zu unterhalten. Ihre dunklen Augenbrauen hatten sich gehoben und die großen Augen blickten ihn ziemlich verständnislos und empört an, während der zierliche Körper sich vor ihm aufbaute - soweit das eben möglich war. “Ich hatte nie vor für Sie zu arbeiten”, stieß sie dann hervor und bemerkte selbst ihren spitzen Unterton. Sie konnte schon immer leicht aus ihrer Haut fahren, war sehr temperamentvoll und manchmal etwas voreilig. Oft hatte sie sich mit spontanen Ideen in recht verzwickte Situationen gebracht. Doch nun hatte sie niemanden mehr, der ihr dort hinaus helfen würde. Sie wäre auf sich allein gestellt. Eline glaubte nicht, dass einer der Besucher des Clubs sie kannte - sie und ihre Geschichte. Niemand würde ihr diese besorgten Blicke zuwerfen, sie ansehen und über das Geschehene reden, ihr zaghafte Fragen stellen, als würde sie jeden Augenblick zusammen brechen. All das waren Dinge, vor denen sie fliehen konnte, wenn sie diesen unbedachten Schritt machte, den sie eigentlich schon ausgeschlagen hatte. “Ach, nun sei nicht gleich beleidigt. Wir haben doch eben telefoniert. Ich zeig dir alles”, er schmiss seine Zigarette vor seine Füße in den Schnee und trat sie aus, bevor er Eline einfach an sich vorbei in den düsteren Club schob. Er war bestimmt Mitte dreißig, wenn sie richtig schätzte. Vielleicht machte der leichte Bart ihn auch nur etwas älter. Sie war schlecht in so etwas. Seine dunkelblonden Haare waren etwas länger und er hatte sie im Nacken zusammen gebunden. Er trug eine schwarze Jeans und ein weißes Hemd, dessen obere Knöpfe er nicht geschlossen hatte. In ihren Augen machte er den Eindruck, als würde er sich furchtbar gut aussehend und wichtig vorgekommen. Eline hegte eine gewisse Abneigung gegen solche Menschen, doch sie schwieg für den Moment. Sie würde immerhin jederzeit gehen können und ihn nie wieder sehen. Sie hatte ja nicht vor ernsthaft zu bleiben und den Job anzunehmen; hatte es auch nie mit einem Wort behauptet. “Mein Name ist übrigens Samuel. Deiner war..?”, er führte sie durch den großen Raum, der recht verwinkelt schien. Die Nischen boten Möglichkeit für Rückzugsplätze und weiter hinten entdeckte sie sogar eine kleine Tanzfläche. Sie kannte diesen Club nicht und konnte sich auch nicht daran erinnern je von ihm gehört zu haben. Er wirkte düster; die Einrichtung war vorwiegend aus dunklem Holz und die Beleuchtung nur indirekt und sehr spärlich. Für sie schien es wie ein Wunder, wenn hier nicht ein Kellner nach dem anderen auf der Nase lag, weil er irgendein Stuhlbein oder etwas anderes übersah. Seit langem war es das erste Mal, dass ihr so nichtige Dinge durch den Kopf gingen und sie tat sich schwer damit, sich endlich auf Samuels Worte zu konzentrieren. “Eline”, antwortete sie somit nur knapp und folgte ihm bis zu der langen Theke. Als wäre es etwas alltägliches, schwang sie sich auf einen der Barhocker und ließ ihre Augen über die ganzen Utensilien gleiten, die man für irgendwelche Cocktails brauchte. Sie wäre dort hoffnungslos verloren. Sie verstand überhaupt nichts davon. Langsam wurde ihr bewusst, dass sie die anscheinende Verwechslung deutlich machen sollte. “Du müsstest nicht viel machen. Wir haben einen Barkeeper für die Cocktails und noch drei Kellnerinnen. Aber an manchen Abenden sind die kleinen Arbeiten hinter der Theke einfach das, was alles aufhält und für die uns jemand fehlt. Gläser abspülen, einfache Getränke an der Theke rüber reichen und vielleicht hier und dort mal etwas zu einem Tisch bringen”, Samuel hatte sich ebenfalls auf einen der Hocker gesetzt und lehnte sich über die Theke, um nach zwei Gläsern und einer Flasche mit Cola zu greifen, deren Inhalt er in die Gläser füllte. Eines schob er zu ihr hinüber und musterte die junge Frau einen Moment, während er auf eine Reaktion von ihr wartete. “Es ist so viel los, dass drei Kellnerinnen nicht reichen?”, sie überblickte die Fläche unten noch einmal, doch dann bemerkte sie, dass Samuel in eine Ecke deutete, in der sie nun die Treppe bemerkte, die wohl noch ein weiteres Stockwerk auftat. Nun verstand sie auch, warum ‘kleine Arbeiten hinter der Theke’ störend sein konnten. “Habt ihr jeden Tag geöffnet? Wie lange müsste ich immer arbeiten?” Das war die absolut falsche Antwort. Sie hatte doch sagen wollen, dass es eine Verwechslung war und sie gar nicht als Kellnerin arbeiten wollte. Sie studierte Geschichte. Wie sollte sie denn da noch folgen, wenn sie sich in einer Bar die Nacht um die Ohren schlug? Sie riskierte gerade ihr Studium. Sie war verrückt geworden. “Wir haben sonntags und montags geschlossen. Ansonsten würde deine Schicht in der Hauptzeit liegen, so von zweiundzwanzig bis vier oder fünf Uhr morgens”, für einen Clubbesitzer waren das normale Arbeitszeiten, für Eline war das entweder Schlafenszeit oder sie lernte die halbe Nacht vor einer Klausur. Gut, vor ein Uhr ging sie eigentlich nie ins Bett, aber dann saß sie in ihrem Zimmer und arbeitete nicht - und das auch noch drei oder vier Stunden länger. Ihre Vorlesungen lagen, bis auf montags, immer auf dem späten Vormittag oder sogar erst Nachmittag. Möglich wäre es. Verrückt. “Ist alles in Ordnung? Oder kannst du es mit etwas anderem nicht vereinbaren?”, er bemerkte ihre Bedenken und ihr Zögern. Sie selbst wusste genau, was für einen Fehler sie gerade beging, doch es war wie eine rettende Flucht vor der Normalität, vor der sie sich fürchtete und die sie nicht wollte. Bevor Eline allerdings antworten konnte, trat eine junge Frau aus einer Tür hinter der Theke und blieb stehen, als sie die andere sah. “Soll sie die Neue sein?”, ihre blauen Augen musterten Eline für kurze Zeit und ihre Haltung war alles andere als offen. Sie schien vor der möglichen Kollegin nicht angetan zu sein und machte dies sehr deutlich. “Die männliche Kundschaft wird sich sicher etwas anderes gewünscht haben.” “Wenn sie nur so leichte Beute hier gewohnt sind, wahrscheinlich”, erwiderte Eline nur mit einem charmanten Lächeln und ihre Antwort kam für die andere offensichtlich sehr überraschend. Sie hingegen widmete sich ihrem Colaglas und nippte daran, während ihre Augen die Schwarzhaarige nicht aus ihrem Blick entließ. Samuel hatte sich ein Lachen verkneifen wollen, doch es misslang ihm. “Die Antwort war sehr gut. Schlagfertigkeit ist wichtig. Du darfst den Besuchern nur nicht das Gefühl geben, du willst sie beleidigen.” “Sam! Du kannst sie nicht einstellen”, die junge Frau hatte eine tolle Figur, war groß und schlank. Doch Eline störte etwas. Es war etwas, was in ihren Gesichtszügen lag, doch sie konnte es nicht definieren. “Ich finde die Kleine zauberhaft, Belle. Sei nett, fahr deine Krallen etwas ein und freu dich auf eure Zusammenarbeit”, Samuel leerte sein Glas und stellte es mit einem Grinsen ab. Eline sah zu ihm hinüber, bemerkte, in was für eine Lage sie sich gerade brachte. Belle schien hingegen darauf zu warten, dass sie Samuel absagte und somit schluckte die Dunkelhaarige ihre Worte doch hinunter und sah mit einem Lächeln zu ihrer neuen ‘Kollegin’. Sie war wirklich verrückt geworden. Kapitel 3: Kapitel 3 -------------------- Samuel zeigte seiner neuen Aushilfe noch den ganzen Club. Die Dunkelhaarige musste zugeben, dass er bisher erstaunlich nett war. Wäre er ihr auf offener Straße über den Weg gelaufen, hätte er höchstens einen skeptischen Blick der hellen Augen geerntet. Wirklich vertrauenswürdig wirkte er jedenfalls im ersten Moment nicht. Doch er war freundlich und schien sich köstlich über Belles Widerstand zu amüsieren. Diese hatte jedenfalls nichts besseres zu tun, als ihm bei jeder Gelegenheit entgegen zu schmettern, dass sie kündigen würde, wenn er Eline einstellte. “Belle, langsam reicht es. Du drohst mir bei jeder Gelegenheit mit einer Kündigung. Bei unserer letzten Aushilfe wolltest du dich sogar vom Balkon stürzen, wenn ich sie einstelle”, Samuel warf seiner Kellnerin einen ernsten Blick zu und Eline stellte fest, dass die junge Frau einen sehr anstrengenden Charakter haben musste. Sollte sie diesen Job nach einem Abend bereits wieder hinschmeißen, dann würde es eindeutig an der Schwarzhaarigen liegen. “Nimmst du mich nicht ernst? Du weißt genau, dass ich mir nicht erst einmal das Leben nehmen wollte”, der französische Akzent von Belle hauchte den Worten noch etwas mehr Dramatik ein, als nötig war. Samuel schienen ihre Worte jedenfalls nicht zu beeindrucken. Er hob nur skeptisch eine Augenbraue und musterte seine Angestellte. “Genau das ist wahrscheinlich dein Problem. Du willst dir ständig das Leben nehmen und stehst noch immer hier.” Eline verkniff sich ein Lachen, doch ihre Mundwinkel hoben sich deutlich zu einem unterdrückten Grinsen. Sie hoffte nur, dass Samuel nicht irgendwann mit ihr so umsprang, denn dann würde er sich recht schnell die nächste Aushilfe suchen können. Bisher amüsierte sie die Situation zwischen ihrem Chef und Belle aber eher und somit schwieg sie und ließ die Szenerie auf sich wirken. Allein die beiden waren es sicher wert dem Club mal einen Besuch abzustatten. “Lass dich nicht von ihren Drohungen abschrecken. Sie tut es sowieso nicht”, Samuel hatte sich etwas zu ihr hinunter gebeugt und es recht leise ausgesprochen. Erst dann räusperte sich und sprach wieder lauter. “Also, könntest du vielleicht heute Abend vorbei kommen? Dann kann ich mir anschauen, ob du hier auch zurecht kommst.” “Natürlich. Wie spät denn?”, die Dunkelhaarige wich dem Blick von Belle aus und schenkte Samuel ein freundliches Lächeln. Beim Anblick der Kellnerin würde sie wohl auch am Abend noch ein Lachen unterdrücken müssen. Hoffentlich endete das Ganze nicht in einem Fiasko. “Es reicht, wenn du gegen 22 Uhr da bist. Es sollen ja nur ein paar Stunden zur Probe sein. Du musst auch nicht die ganze Nacht bleiben”, er reichte Eline noch eine kleine Visitenkarte mit der Nummer des Clubs und seiner Handynummer, ehe sie sich voneinander verabschiedeten und die Brünette ihren - voraussichtlich - neuen Arbeitsplatz verließ. Im Freien schlug ihr die winterliche Kälte sofort wieder ins Gesicht und machte ihr die Jahreszeit bewusst. Und mit der Kälte schienen auch ihre Erinnerungen zurückzukehren; ihre Gedanken an die Geschehnisse kurz vor Weihnachten. Für einen Moment hatte sie ihre Sorgen tatsächlich vergessen. Es war das erste Mal seit Wochen gewesen, dass sie einfach gelächelt und sich amüsiert hatte. Diese bewusste Feststellung war ein Schlag ins Gesicht. Es war erschreckend; es war, als hätte sie sich die eigenen Finger verbrannt - an sich selbst, an ihrem Verhalten, an ihrer kurzen unbewussten Unbeschwertheit. Den Nachmittag verbrachte die Brünette alleine in ihrem Zimmer. Sie ging ihrer Mutter aus dem Weg. Seit diesem Tag hatte sie sich von ihrer Familie abgewandt. Niemanden wollte sie an sich heranlassen. Ihr Vater lebte in Amerika, zusammen mit einer neuen Frau. In den ersten Jahren hatte sie ihn noch einige Male besucht, doch sie konnte weder der neuen Heimat, noch der neuen Frau ihres Vaters etwas abgewinnen. Irgendwann hatten sie sich auf wöchentliche Telefonate geeinigt, doch seit diesem Tag lehnte Eline auch diese ab. Sie wollte mit niemanden sprechen. Keiner würde sie verstehen oder konnte etwas an dem ändern, was geschehen war. An diesem Tag, kurz vor Weihnachten, da hatte sie ihren Vater nach Monaten einmal wieder gesehen. Doch sie hatte an diesem Tag nichts empfunden; wie in Trance war er an ihr vorbei gezogen. Sie hatte niemandem bei solch einem Anlass wiedersehen wollen. Nicht einmal geweint hatte sie. Erst spät in der Nacht, als sie alleine in ihrem Bett gelegen hatte, waren die Tränen wieder gekommen. Nun saß sie alleine an ihrem Schreibtisch, hatte einige ihrer Studienunterlagen vor sich ausgebreitet. Sie versuchte den Sinn der Worte zu begreifen, doch ihr Blick schweifte immer wieder zu den umgedrehten Bilderrahmen. Sie wollte keine der Fotografien jemals wieder ansehen, doch ihr Innersten sträubte sich dagegen sie wegzuwerfen. Es war dieser innere Zwiespalt, der sie seit diesem Tag begleitete und quälte. Sie konnte es sich selbst nicht recht machen, egal was sie tat oder nicht tat. Jeder Gedanke, jede Entscheidung und jeder Moment brachte einen gewissen Schmerz mit sich. Eline glaubte nicht mehr daran, dass es jemals vorbei ging. Es würde bleiben, für den Rest ihres Lebens, wie eine Strafe. Vielleicht konnte sie lernen damit umzugehen. Die Zeit verging quälend langsam und es war wie eine Erlösung, als der Zeiger der Uhr endlich auf die Acht sprang. Die Unterlagen hatten einfach nur vor ihr gelegen, doch ihr Kopf war voller anderer Gedanken gewesen. Sie hatte versucht die schmerzlichen beiseite zu schieben, hatte über den Abend nachgedacht, ihre neue Arbeit. Es war wie eine Erlösung, als es an der Zeit war sich fertig zu machen. Eline wusste nicht genau, wann sie sich das letzte Mal wirklich darüber Gedanken gemacht hatte, was sie anziehen sollte. Ihre Schminkutensilien waren in den letzten Wochen unberührt geblieben. Heute jedoch sollte es anders werden. Sie griff nach einer schwarzen Leggins, dem kurzen violetten Kleid, dessen Pailletten am Ausschnitt auffällig schimmerten. Die Dunkelhaarige schlüpfte in die schwarzen High Heels und zog eine elegante Kurzjacke in selbiger Farbe über. Ihr Make-Up war dezent, betonte jedoch ihre Augen. Der letzte Blick in den Spiegel wirkte prüfend und ihr Herz schlug für den Augenblick etwas schneller. Es war verrückt, was sie dort tat. Dennoch fand der Haustürschlüssel den Weg in ihre Tasche und sie legte ihrer Mutter einen Zettel hin, dass sie bei Aliena sei. Nun blieb zu hoffen, dass sie nicht die Dreistigkeit besaß einen Kontrollanruf bei ihrer besten Freundin zu wagen, wenn sie nach Hause kam. Eline machte sich auf den Weg zu dem Club und traf sogar eine halbe Stunde zu früh ein. Die Luft, die ihr entgegen schlug, schien nur noch aus dem Geruch von Alkohol, Zigaretten und Schweiß zu bestehen, gemischt mit dem kaum wahrnehmbaren Duft von unzähligen Parfums. Sie betete, dass sie sich daran gewöhnen und ihn bald nicht mehr riechen würde. Etwas zögernd machte sie einen Schritt vorwärts und schloss die Tür hinter sich, ehe sie Samuel auch schon entdeckte, der ihr deutete nach hinten zu gehen. Die zierliche Gestalt huschte an den vielen Besuchern vorbei, ohne sie wirklich zu beachten und verschwand durch die kleine Tür hinter der Theke. Belle, die gerade mit einem Besucher flirtete, begrüßte sie nicht einmal. Eline legte die Handtasche und ihre schwarze Jacke ab, verstaute beides in einem kleinen Spint, als auch schon Samuel den kleinen Raum betrat und ihr eine schwarze Schürze hinhielt. “Ich bin wirklich froh, dass du heute da bist”, seine Worte klangen ehrlich und Eline nahm ihm das schwarze Stück Stoff ab, band es sich um den schlanken Körper, während der Dunkelblonde fortfuhr. “Lass dich bitte nicht von Belles Art irgendwie einschüchtern oder beeinflussen. Wenn sie zu weit gehen sollte, dann sag mir Bescheid. Und du musst keinen der Gäste an dich heranlassen. Das hast du nicht nötig und das ist auch nicht dein Job hier. Sollte einer zu weit gehen, weil Belle das bei sich gerne einmal durchgehen lässt, dann kannst du umgehend zu mir kommen. Oder du holst Alex, er ist meist irgendwo im Eingangsbereich.” Die Dunkelhaarige nickte und erinnerte sich an den recht großen und stämmigen Mann, den sie vorhin aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte. Sicher war dies der besagte Alex, zumindest hatte er den Eindruck von Sicherheit vermittelt, wenn auch auf eine recht fragwürdige Art und Weise. Sie persönlich fühlte sich wohl nur sicher, weil sie hoffte, dass er auf andere so bedrohlich wirkte, wie auf sie selbst. “Ich hoffe, dass ich der Aufgabe wirklich gewachsen bin. Ich habe so einen Job vorher nie gemacht”, sie verfluchte sich in diesem Moment für ihre Entscheidung. Wie hatte sie sich auf so etwas einlassen können? Sie musste von allen guten Geistern verlassen sein. Eline hatte keine Vorstellung von dem, was auf sie zukommen würde. Sie wusste lediglich, dass dort draußen viele betrunkene Menschen und eine unsympathische Kellnerin auf sie wartete. Fraglich war, wem sie zuerst zum Opfer fiel, dank ihrer eigenen Dummheit sich darauf einzulassen. “Keine Panik. Wenn ich nicht der Meinung wäre, dass du den Abend hier überstehst, dann hätte ich dir diese Chance gar nicht gegeben”, Samuel legte aufmunternd eine Hand auf ihre Schulter und nickte bestätigend. “Und nun raus mit dir. Belle kann wirklich etwas Hilfe gebrauchen, auch wenn sie das nie zugeben würde.” Eline versuchte tapfer zu lächeln, doch sie hatte das Gefühl, dass es ihr ziemlich misslang. Trotzdem wagte sie den Schritt hinter die Theke und begegnete sofort dem kalten Blick von Belle, die sie gedanklich just in diesem Moment sicher in Stücke riss. “Ich hatte gehofft, dass dich das nächste Auto erwischt, bevor du hier auftauchen kannst.” “Unwahrscheinlich. Ich hege keine Selbstmordgedanken, wie die deinen, die mich dazu verleiten könnten mich davor zu werfen”, Eline sah die andere unberührt an und griff nach einem der benutzten Gläser, das sie dann in das Spülbecken tauchte und sauber machte. Dass Samuel hinter ihnen stand und über ihre Worte grinste, bemerkte die junge Frau gar nicht. “Werd nicht gleich frech. Du hast hier überhaupt nichts zu melden. Du arbeitest hier gerade einmal zur Probe, also sei vorsichtig”, die blauen Augen der Französin blitzten gefährlich und das Bierglas, welches sie gerade befüllte, kam recht unsanft vor dem Gast auf der Theke zum Stehen. Keine Sekunde hatte Belle ihren Blick von Eline abgewandt, die seelenruhig einige Gläser spülte. Sie spürte den Blick der Älteren auf sich ruhen und wandte sich mit einem fragenden Blick an diese. “Was siehst du mich so an? Erwarte bitte nicht, dass ich jetzt unsinnige Diskussionen mit dir beginne. Ich weiß, wann es sinnvoller ist einfach den Mund zu halten.” Belle sah sie einige Sekunden an und schien nach Worten zu suchen, entschied sich dann aber doch diesbezüglich zu schweigen und wandte sich einem neuen Gast zu, der an die Theke gekommen war. Eline schenkte ihr keine weitere Aufmerksamkeit mehr und lächelte lediglich zufrieden, während sie weiter die gebrauchten Gläser spülte. Wenn Belle den restlichen Abend schwieg, dann würde es vielleicht doch recht angenehm werden. Die Neue blieb von den meisten Gästen recht unbeachtet. Etwas, was Eline keineswegs störte. Zwischendurch tauschte sie einige Worte mit Jules aus, dem Barkeeper. Er zeigte ihr, wie sie einige einfache Drinks mixen konnte, wenn er einmal Hilfe brauchte. Er war nett und sah wirklich gut aus. Sie konnte sich vorstellen, dass einige Frauen bei ihm Schlange standen. Der Abend verlief ruhig und dennoch war es anstrengend für die Brünette. Die Hitze, die vielen verschiedenen Gerüche, die stickige Luft - es zerrte ziemlich an ihrer Ausdauer. Aber was hatte sie erwartet, verbrachte sie ihre Zeit doch sonst in einem ruhigen Hörsaal und heuchelte Interesse an den Worten ihrer Professoren? Dies hier war etwas ganz anderes, zumal Eline normalerweise nicht der Mensch war, den man ständig in Clubs oder auf Partys antraf - auch vor besagtem Tag nicht, der alles veränderte. Die grün-blauen Augen beobachteten Belle, wie sie von einem Tisch weiter hinten im Raum zurückkehrte. Auf dem Weg zur Theke fing sie an junger Mann ab, der schon ziemlich viel getrunken zu haben schien. Gespannt wartete die Dunkelhaarige ab, was geschehen würde. Überrascht und etwas pikiert musste sie mit ansehen, wie Belle sich zu einem leidenschaftlichen Kuss hinreißen ließ. Ihr schlanker, großer Körper presste sich an den Blonden und Eline wandte ihren Blick ab. Sie wusste nicht, was an der Französin auf die Männer anziehend wirkte. In ihren Augen war sie nichts weiter, als eine leicht zu habende Frau, wie es bisher schien. “Daran solltest du dich gewöhnen. Belle führt keine festen Beziehungen”, stellte Jules amüsiert klar, als er bemerkte, wie seine mögliche neue Kollegin schnell auf das Glas sah, welches sie gerade mit Sekt befüllte und über die Theke reichte. “Denkst du, dass ihr bewusst ist, dass sie sich damit später keinen Gefallen tut?”, Eline griff seufzend nach einem Glas, in das sie sich kühles Wasser geschenkt hatte. Ihr war unerträglich heiß und ihre Beine fühlten sich an, als wären sie aus Blei. Sie lehnte sich mit dem Rücken an das Spülbecken und wollte gerade zum Trinken ansetzen, als eine Männerstimme sie davon abhielt. “Deine Rückansicht ist ja wirklich nett anzuschauen, aber meinen Durst stillt das eher weniger.” Hatte er nicht eine Minute warten können? Ihre Kehle fühlte sich an, als bestünde sie nur noch aus Staub. Einige Menschen hatten einfach kein Benehmen und etwas gereizt stellte sie das Glas auf ihre Arbeitsfläche, ehe sie sich umdrehte und versuchte freundlich zu lächeln. Doch jegliches Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht, als sie ihren Gegenüber ansah; lediglich ihre Augen weiteten sich etwas. Wer auch immer er war und so lächerlich es für sie selbst erschien, er hatte ihr soeben die Sprache verschlagen und erstickte ihre Frage nach seinem Wunsch im Keim. Ihr Blick galt nur noch den dunkelbraunen Augen, die sie amüsiert musterten und deren Tiefe sie auf eine gewisse Art erschütterte. Wie konnte jemand solche Augen haben? Und wenn sie ehrlich war, dann waren es nicht nur seine Augen. Jeder seiner Gesichtszüge schien perfekt, umrahmt von den dunkelbraunen Haaren, die ihm fast bis auf die Schultern reichten. Er schwieg, schien darauf zu warten, dass irgendein Ton ihre Lippen verließ. Doch Eline wurde erst wieder bewusst, wie dümmlich sie sich gerade benahm, als Jules ihr ein gefülltes Cocktailglas in die Hand drückte, zusammen mit den Worten: “Für Dorian.” Zögernd stellte die Brünette das Glas vor sich auf den Tresen; Worte fand sie jedoch trotzdem nicht. Sie kam sich so lächerlich vor, doch ihr Körper wollte einfach nicht das tun, was er tun sollte. Es war ihr so furchtbar peinlich. “Du solltest eine Pause machen”, waren seine Worte, als er den Cocktail nahm und kurz lächelte, ehe er sich abwandte und sie nur noch sah, wie er zu der Treppe ging, die in den oberen Bereich des Clubs führte. “Eline...würdest du bitte Luft holen?”, neckte Jules sie und hielt ihr einen Eiswürfel an die Stirn, dessen Kälte sie erschrocken einatmen ließ und aus ihrer Starre löste. Noch immer etwas ungläubig blickte sie den Barkeeper an, der ihr weiterhin das gefrorene Wasser an die Stirn hielt und mit der anderen Hand einige Getränke zusammen mischte. “Sein Name ist Dorian”, sagte er dann, ohne dass sie ihn danach fragen musste. Dass der Eiswürfel an ihrer warm Stirn langsam schmolz und Wassertropfen den Weg über ihr Gesicht fanden, schien er entweder nicht zu bemerken oder zu ignorieren. “Aha”, war jedoch alles, was die Dunkelhaarige dazu sagen konnte und strich sich die dunklen Haare zurück, die an ihrem verschwitzten Hals klebten. Ihr war unerträglich heiß und in ihren Gedanken wiederholte sie immer wieder seinen Namen. Dorian. Dorian. Dorian. Kapitel 4: Kapitel 4 -------------------- Mittlerweile war es kurz nach zwei Uhr. Eline fragte sich, was Belle alles in sich hinein geschüttet hatte, denn nur Wasser war es definitiv nicht gewesen. Ihre Laune war schon fast unerträglich gut, auch wenn sie davon kaum etwas zu spüren bekam. Das ständig alberne Gelächter der Französin und ihre peinlichen Flirtversuche im angetrunkenen Zustand waren Qual genug für die Brünette. Einige Menschen schienen einfach keine Selbstachtung zu haben, statt dessen wäre Eline am liebsten vor Fremdscham im Boden versunken. Stur sah Eline in das Spülbecken oder nach links, wo Jules im unglaublichen Tempo einen Cocktail nach dem anderen mixte. Den Blick nach rechts vermied sie, bevor sie noch auf die Idee kam Belle klar zu machen, wie furchtbar sie sich gerade verhielt. Der Barkeeper schien solche Verhaltensweisen bereits zu kennen und machte sich einen Spaß daraus, ebenso wie einige der Clubbesucher. Für manche schien Belles offene Art wohl auch der Grund für einen Abend in St. Andrews zu sein. “Du solltest dich daran gewöhnen”, Jules reichte ihr ein großes Cocktailglas, doch Eline verstand nicht sofort und sah ihn nur fragend an, “für dich. Keine Sorge, absolut alkoholfrei.” Die Dunkelhaarige zögerte einen Moment. Sie war sich nicht sicher, ob sie dem Barkeeper schon soweit vertrauen konnte, doch sie konnte sich kaum vorstellen, dass er sie anlügen und ihr Alkohol untermischen würde. Bisher verstand sie sich mit ihm wirklich gut und ohne seine Hilfe hätte sie die bisherigen vier Stunden sicherlich nicht so gut überstanden. Nicht nur, dass er ihr einige angetrunkene und aufdringliche Kerle vom Hals gehalten hatte, ohne ihn hätte sie auch kaum jemandem zum Reden gehabt, denn Belle und sie sprachen kein Wort miteinander. Die Französin warf ihr höchstens tödliche Blicke zu oder grinste zufrieden, wenn sie Eline einen Haufen neuer Gläser zum Spülen hinstellen konnte. “Denkst du, dass ich den Job bekomme?”, letztlich nahm sie den alkoholfreien Cocktail mit einem dankbaren Lächeln an. So viel Wasser, wie in den letzten Stunden, hatte sie in ihrem ganzen Leben wohl noch nie an einem Tag getrunken und langsam schmeckte es nicht mehr. Der fruchtige Geschmack war eine angenehme Abwechslung und ließ sie für einen Moment vergessen, wie unangenehm das Gefühl der klebenden Kleidung auf ihrer Haut war. “Wieso solltest du nicht? Ich denke, dass Samuel ganz froh sein wird, wenn er einen etwas ruhigeren Pol hinter der Theke hat. Du hast sicher schon mitbekommen, dass auch er nicht unbedingt immer mit Belles Art zurecht kommt”, Jules schien überzeugt, dass er Eline bald als neue Kollegin neben sich stehen haben würde. Auch für den jungen Mann war es eine angenehme Abwechslung, denn er konnte nicht behaupten, dass die Französin unbedingt seine beste Freundin war. Er ertrug ihre Art während der Arbeitszeit und war froh, wenn endlich der Feierabend kam und er bis zum nächsten Abend seine Ruhe hatte. Glücklicherweise hatte er nicht immer mit der Schwarzhaarigen Dienst. “Es ist mir aufgefallen, ja. Aber wenn es so schwierig mit ihr ist und ihm ihre Art auch nicht wirklich zusagt, warum sucht er sich nicht eine neue Bedienung?”, Eline nutzte die ruhigen Minuten und nippte an ihrem Cocktail, während Belle gerade einige Tische abräumte und Bestellungen aufnahm. Somit war es eine gute Möglichkeit ungestört mit Jules zu sprechen. “Nun ja, so schwierig Belle auch sein mag, sie ist ein Grund für einige Männer herzukommen. Vor allem macht sie ihre Arbeit nicht schlecht. Sie ist sehr offen, wenn auch auf eine recht spezielle Art, und quält die Gäste ja nicht mit ihrem Seelenleid. Das muss lediglich das Team ertragen”, er grinste und wandte sich einem Gast zu, der gerade an die Theke gekommen war. Eline schwieg zu dem Thema und widmete sich wieder dem Spülbecken. Ihre Finger fühlten sich mittlerweile ganz aufgeweicht an und der Geruch des Spülmittels wurde unangenehm. Jetzt wusste sie, warum sie sich Zuhause immer grundsätzlich vor dem Abwaschen drückte und die Erfindung namens Spülmaschine liebte. Dennoch war die Arbeit im Club eine gelungene Ablenkung für die Brünette. Sie beobachtete die Gäste, unterhielt sich mit einigen, wenn der Alkoholpegel noch angemessen war und verstand sich mit Samuel und Jules bisher wirklich gut, auch wenn sie ihren vermeintlichen Chef bisher noch nicht wieder gesehen hatte. Die kurze Ruhe rief ihr das Bild des fremden Mannes wieder ins Gedächtnis und Eline presste die Lippen aufeinander, hielt für einen Augenblick den Atem an. Schon den ganzen Abend schien sie dieses Augenpaar zu verfolgen. Dieses Braun, diese Tiefe... - sie konnte es noch immer nicht fassen, dass sein Blick sie so aus dem Konzept gebracht hatte. Allein bei dem Gedanken schien ihr Herz für den Moment etwas schneller zu schlagen und unbewusst stellte sie das saubere Glas etwas härter ab, als sie geplant hatte. Jules fragenden Blick ignorierte sie allerdings; am Ende würde er ihr nur Fragen stellen und die ehrliche Antwort wäre ihr unangenehm, im lügen war sie allerdings nicht unbedingt die Beste, wenn es um solche Dinge ging. Sie war etwas frustriert, dass sie ihn die letzten Stunden nicht mehr gesehen hatte. Er konnte sich doch nicht wirklich so lange mit diesem einen Cocktail begnügen. Aber wahrscheinlich rannte Belle bei jeder Gelegenheit zu seinem Tisch und fragte, ob es neue Bestellungen gab. Eline konnte sich nicht vorstellen, dass ihr solch ein Mann entgangen war, wenn Jules sogar schon seinen Namen kannte und wusste, was er bestellen wollte. “Ist er öfter hier?”, der Gedanke war unverschämterweise laut über ihre Lippen gekommen und im selbigen Moment bereute sie die Worte schon, denn Jules Grinsen verleitete sie dazu ihm den Rest ihres Cocktails ins Gesicht zu schütten. Er sollte sie nicht so ansehen! Es war doch einfach nur eine Frage gewesen; eine verdammt dumme Frage, wie sie sich selbst eingestehen musste. Wie sah das denn aus? “Wen meinst du?”, der Barkeeper versuchte das Grinsen zu unterdrücken und sie fragend und unwissend anzusehen. Ob er selbst wusste, dass es ihm absolut misslang? Eline war sich nicht sicher, aber sie würde ihn darauf aufmerksam machen. “Du weißt ganz genau, wen ich meine”, sie stieß ihm ihren Ellenbogen leicht in die Seite und schürzte etwas nachdenklich die Lippen, “ich dachte ja immer, ich sei eine schlechte Lügnerin, aber du bist eindeutig miserabel.” Jules fand die Reaktion der Studentin amüsant und gab somit nach, als er ungeniert grinste. “Hey, nicht gleich frech werden. Ich kann dir nicht viel über ihn erzählen. Er kommt öfter vorbei, ich hab mich vor einigen Wochen kurz mit ihm unterhalten, daher weiß ich auch, wie er heißt. Da hört mein Wissen allerdings auch schon fast auf”, gestand der Barkeeper und schenkte sich selbst ein Glas Wasser ein. “Fast. Du hast eben fast gesagt. Also, was weißt du noch?”, so leicht gab sie sich nicht geschlagen, wenn sie sich sowieso schon mit der dummen Frage lächerlich gemacht hatte. Was machte da eine zweite Frage schon noch aus? Sie wollte etwas über den jungen Mann wissen und Jules war momentan ihre einzige Möglichkeit. Wer wusste schon, wann sie ihn wiedersah und selbst wenn es noch in der Nacht sein würde, am Ende bekam sie sowieso wieder kein Wort hinaus. Am besten sie verschwand, wenn er an die Bar kam, um sich nicht wieder lächerlich zu machen. “Er ist 25 Jahre alt und kommt gebürtig aus England, mehr kann ich dir wirklich nicht sagen. Ach, wie dir vorhin sicherlich aufgefallen ist, sein Lieblingscocktail ist der Swimming Pool”, er lächelte sie einen Moment an und schien noch etwas sagen zu wollen, als einige Gäste kamen und etwas bestellen wollten. Wahrscheinlich hing Belle wieder an den Lippen von irgendeinem Kerl und vergaß die Bestellungen aufzunehmen. Eline traute der Französin einiges zu, wenn sie ehrlich war. Die bisherigen Stunden hatten ihr Bild von der jungen Frau keineswegs verbessert. “Eline. Was für eine Überraschung dich hier zu treffen”, die Männerstimme riss die Brünette aus ihren Gedanken. Ihre Augen weiteten sich schockiert und für einen Moment hatte sie das Gefühl, dass ihr jemand den Boden unter den Füßen wegzog. Ihre Knie wurden weich und sie drohte wegzusacken, hielt sich jedoch am Rand der Theke fest. Fassungslos sah sie in das harte Männergesicht vor sich; wünschte sich, dass sie umgehend aus diesem Albtraum aufwachte und irgendein unbekannter Gast vor ihr stand. Der Magen der Dunkelhaarigen zog sich unweigerlich zusammen und sie bereute es den fruchtigen Cocktail getrunken zu haben, der sie nun quälte. “Was willst du hier?”, kam es endlich, wenn auch mit ungewohnt dünner Stimme, über ihre Lippen, die sie kurz darauf fest aufeinander presste. Sie hatte gehofft und gebetet, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Nun wurde ihr bewusst, warum sie kaum einen Schritt vor die Tür gewagt hatte. Diese Konfrontation hatte sie sich ersparen wollen. Egal wie lange es her war, sie konnte seinen Anblick nicht ertragen. “Du siehst nicht sehr erfreut aus mich zu sehen”, das Grinsen in dem Gesicht des Mannes wirkte alles andere als amüsiert. Es zeigte viel mehr sein Vergnügen über die Erschrockenheit der jungen Frau. Ihm schien ihre Reaktion sehr zuzusagen und somit nahm er auf dem Barhocker platz und lehnte sich etwas über die Theke, während er Eline keine Sekunde aus seinem Blick entließ. “Verschwinde, bevor ich mich vergesse”, das Glas, welches sie hatte abspülen wollen, fand auf unsanfte Art den Weg in das Wasserbecken, während die hellen Augen ihren Gegenüber wütend anfunkelten. Auch Jules war der plötzliche Stimmungswechsel deutlich aufgefallen und etwas besorgt beobachtete er die Situation zwischen den beiden, wollte sich jedoch nicht sofort einmischen. “Mit dem Benehmen wirst du hier aber nicht lange arbeiten. Ich wusste überhaupt nicht, dass du so etwas nötig hast. Hast du das Studium in den Sand gesetzt, weil dich mein Freispruch so aus der Bahn geworfen hat?”, er schien diesen Moment in vollen Zügen zu genießen. Jede Regung in Elines Gesicht entlockte ihm ein Grinsen, welches sie ihm gerne austreiben würde. Doch die Brünette brachte kaum ein Wort über ihre Lippen; hatte das Glas mittlerweile so fest umfasst, dass die Gelenke ihrer Finger weiß hervortraten. “Halt den Mund”, war lediglich ihre schwache Antwort, bei der sie nicht einmal das Zittern ihrer Unterlippe verbergen konnte. Hätte sie gekonnt wäre sie in diesem Augenblick einfach davon gelaufen. Sie ertrug seinen Anblick nicht. Er widerte sie an; löste nur Wut, Hass und Ekel in der jungen Frau aus, die sich ihm gegenüber so hilflos fühlte. Nie hatte Eline sich so schwach, wie in den Momenten, in denen sie ihn sehen musste. Sein Freispruch hatte jegliche Hoffnung zerstört, dass es aufhören würde. Tief in ihrem Inneren hatte sie gewusst, dass sie ihm nicht ewig entkommen konnte. “Schwache Antwort, Kleines. Und nun schenk mir einen Wodka ein”, er war mehr als zufrieden mit sich und machte auch keinen Hehl daraus. Es widerte sie an, dass sie genau das tat, was er wollte. Er hatte auf solch eine Reaktion von ihr gewartet. Mit zitternden Finger griff die Dunkelhaarige nach einem sauberen Glas und hatte Mühe die durchsichtige Flüssigkeit nicht daneben zu schütten. Sie hatte ihren Körper kaum noch unter Kontrolle. Jemand schien ihr die Luft zum Atmen abzuschnüren; wie ein schwerer Stein drückte es auf ihre Lunge. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen und sie fröstelte; ihre Finger waren eiskalt, als sie das Glas vor dem Mann abstellte. Bevor sie ihre schmalen Finger wegziehen konnte, umfasste er es und berührte sie. Als hätte er sie schmerzhaft angefasst hätte, zog sie erschrocken ihre Hand zurück und hielt sich die Finger, während sie ihn keine Sekunde aus den Augen ließ. “Du wirkst fast so, als hätten dich die letzten Monate ernsthaft mitgenommen”, stellte er amüsiert fest und trank zufrieden einen Schluck von seinem Wodka. “Armes, kleines... -“ Er kam nicht weiter. Eine Hand hatte sich auf seine Schulter gelegt und er hatte seinen Blick von Eline abgewandt, als er den Kopf umdrehte. “Dorian, dich sieht man also auch noch mal.” “Natürlich. Und wie ich leider sehen muss weißt du noch immer nicht, wie man sich jungen Damen gegenüber verhält”, seine Gesichtszüge wirkten ernst. Eline versuchte einen Blick in die braunen Augen zu erhaschen, während sie noch immer die Finger ihrer rechten Hand umfasste, doch der Dunkelhaarige sah lediglich auf den jungen Mann hinab, der an der Bar saß. “Ich hatte nicht den Eindruck, dass ich sie irgendwie unsittlich berührt habe oder beleidigend war”, ihre Hoffnung, dass er sich einschüchtern ließ, verflog sofort wieder. Dennoch hatte die Tatsache, dass die beiden sich zu kennen schienen, einen bitteren Beigeschmack für die Studentin. “Braxton, ich warne dich genau dieses eine Mal: Lass die Finger von ihr, in jeglicher Hinsicht”, Dorian nahm dem anderen das Wodkaglas aus der Hand, reichte es einem der Freunde seines Gegenübers, den er dann auch ansah, “verschwindet an euren Tisch.” Seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu und sein Blick unterstrich das Ganze. Die Situation war angespannt; spürbar für alle Anwesenden. Auch Jules beobachtete das Spektakel recht skeptisch und vergaß dabei völlig die Cocktails weiter zu mixen, die bestellt wurden. Die Reaktionen der Männer, die beide nicht das erste Mal im Club waren, waren ungewöhnlich. Vor allem dem Gespräch zwischen Braxton und Eline konnte er nicht folgen. “Ist ja gut, keine Panik. Ich werde dein neues Opfer schon nicht kaputt machen, bevor du an der Reihe warst, Dorian”, Braxton grinste amüsiert und stand auf, während er seinem Kumpel das Wodkaglas abnahm und sich zurück zu seinem Tisch bewegte. Ihre Stimme fand die Brünette dennoch nicht wieder. Vielmehr hatte sie noch immer das Gefühl, dass ihre Beine jeden Augenblick nachgaben und der Blick aus den dunkelbraunen Augen verbesserten es nicht. Nicht einmal ein ‘Danke’ brachte sie über ihre trockenen Lippen. Ohne ein weiteres Wort blickte Dorian erwartungsvoll zu Jules, der wie in Trance den Cocktail über den Tresen schob, den er gerade endlich in das Glas gefüllt hatte. Es war nicht einmal ein Swimming Pool, aber das war dem Barkeeper gerade wohl entgangen. Dorian nahm es einfach hin und verschwand wieder in den oberen Bereich des Clubs. “Opfer?”, kam es dann atemlos über Elines Lippen. Sie wusste nicht, wie lange sie nicht geatmet hatte. “Was soll das heißen?”, unsicher blickte sie zu Jules hinüber, der nur mit den Schultern zuckte. Kapitel 5: Kapitel 5 -------------------- Kurz nach der Konfrontation mit Braxton war Samuel hinter die Theke gekommen. Eline war sich nicht sicher, ob er etwas mitbekommen hatte oder es einfach Zufall war. Jedoch war es ihr auch nicht wichtig, denn sowohl ihre Nerven, als auch ihre Beine, waren dem Clubbesitzer unglaublich dankbar, als er sie erlöste. “Ich werde mich morgen mit Jules zusammen setzen, damit er mir ein wenig von dem Abend berichtet und dann werde ich mich bei dir melden, wenn du den Job noch möchtest”, er nahm ihr die schwarze Schürze hab, die sie bereits in den Händen hielt. In seinen Augen hatte die Brünette sich für den ersten Abend recht gut geschlagen und immerhin hatte sie Belle standgehalten, auch wenn diese in den letzten Minuten verschwunden schien. Samuel ersparte sich selbst lieber die Frage, wo sie war. “Natürlich, ich würde ihn gerne machen”, Eline schenkte Jules ein kurzes Lächeln, gab Samuel dann zum Abschied die Hand und verschwand in dem kleinen Raum hinter der Theke, um ihre Sachen zu holen. Sie war froh, dass Belle in diesem Augenblick nicht dabei war, sie hätte sich sicher über die positive Entscheidung geärgert. Nach der Begegnung mit Braxton war Eline sich jedoch nicht sicher, ob sie der Französin noch standhalten konnte. Ihre Finger zitterten leicht, als sie die wenigen Knöpfe der schwarzen Kurzjacke schloss und ihre Handtasche nahm. Sie blickte für einen Moment in den kleinen Spiegel, der an der Wand hing und fuhr sich durch die etwas zerzausten und feuchten Haare. Noch immer war ihr unerträglich warm, auch wenn ihre Hände sich eiskalt anfühlten und auch in ihrem Innere eine unangenehme Kälte herrschte, hatte sie doch noch immer die Worte und den Blick von Braxton vor ihren Augen. Auf vieles hatte sie sich an diesem Abend eingestellt, doch diese mögliche Begegnung war ihr für keine Sekunde in den Sinn gekommen. Sie hatte den jungen Mann aus ihren Gedanken, ihren Erinnerungen und ihrem Leben zu streichen versucht - ein Braxton ließ sich jedoch nicht einfach verbannen. Seufzend wandte sie den Blick von ihrem Spiegelbild ab, hatte sie doch sowieso nicht richtig hingesehen und verließ den Angestelltenraum. Jules schien darauf gewartet zu haben und legte eine Hand auf ihre Schulter, als sie vor ihm stand, ehe er sie anlächelte. “Wir sehen uns wieder, bestimmt.” “Ich hoffe es”, erwiderte sie, auch wenn ihr Lächeln matt und etwas gequält wirkte. Sie war dem Barkeeper dankbar für die Worte, für seine Unterstützung an ihrem ersten Abend. Ohne ihn wäre sie verloren gewesen, in einer Welt die ihr völlig fremd war. Doch es war genau das, was die Dunkelhaarige anzog; das Ungewisse, die Ablenkung, das Neue. Es vertrieb den Alltag - die Normalität. Es verwischte ihre Erinnerung, ließ die trüben Gedanken in weiter Ferne verschwinden; in einem dichten, undurchsichtigen Nebel, vor dem sie stehenblieb und nicht weiter ging, wie vor einer Wand. Irgendwann, wenn der Morgen kam, dann würde der Nebel seine Schwaden auflösen und ihr Blick auf ihre Erinnerungen und Gedanken würden wieder klarer werden...doch erst am Morgen - am Morgen. Samuel war nicht mehr zu sehen, ebenso wie Belle noch nicht wieder hinter der Theke war, was Eline einen kurzen Abschied ermöglichte. Noch nie war ihr die kalte, nächtliche Winterluft so angenehm vorgekommen, wie in dem Moment, in dem sie vor die Tür des Clubs trat. Sie streifte ihre warmen, geröteten Wangen und ließ einen Schauer durch ihren Körper fahren, als die Kälte ihren verschwitzten Nacken hinunter kroch. Dennoch atmete sie die frische Luft tief ein und schloss kurz die Augen, um den Geruch von Alkohol und Zigaretten zu verbannen. Der Weg nach Hause schien unendlich. Ihre Füße gingen nur widerwillig durch die Kälte, die sich mittlerweile eher wie tausend kleine Flammen anfühlte, die sie quälten. Es war unangenehm und oft hatte sie einfach stehen bleiben wollen, doch der Gedanke an ein weiches und warmes Bett ließen sie das unangenehme Gefühl für einen Moment vergessen, auch wenn ihre Beine sich dennoch wie purer Blei anfühlten, der sich kaum bewegen ließ. Eline wusste nicht, wann sie das letzte Mal so froh gewesen war die Haustür aufzuschließen. Die warme Luft, die ihr entgegen strömte, war verlockend und trotzdem hätte sie die Tür gerne wieder geschlossen, ohne dass Haus zu betreten. Mit der Wärme war auch der vertraute Duft zu ihr durchgedrungen, der zu diesem Haus gehörte. Er war ihr in den letzten Wochen nicht bewusst gewesen, hatte sie ihr Zuhause doch nie verlassen. Ihr Magen verkrampfte sich und ihre schlanken Finger umfassten die Türklinke etwas fester, die sie noch immer hielt. Umdrehen. Fliehen. Weglaufen. All diese Worte schrie ihr Herz ihr förmlich entgegen und widerwillig schüttelte sie den dunklen Haarschopf, in der Hoffnung sie vertreiben zu können. Sie zwang sich zu diesem einen Schritt, der sie den Flur betreten und die Tür schließen ließ, ehe sie sich erschöpft dagegen lehnte. Sie war Zuhause - ein Gedanke, den sie schnell wieder beiseite schob. In diesem Augenblick war es einfach, zerrte die Müdigkeit und Erschöpfung doch an ihrem Körper. Sie hatte noch duschen wollen; ungeachtet dessen, dass sie ihre Mutter vielleicht geweckt hätte. Der Weg ins Bad schien jedoch unüberwindbar für ihre Füße und Beine, war es schon eine Anstrengung die schwarzen Pumps abzustreifen und die letzten Schritte in ihr Zimmer zu gehen. Mit einem Seufzen ließ sie sich auf ihr Bett fallen und endlich dieses zerrende Gefühl von Müdigkeit die Kontrolle über ihren Körper übernehmen, ohne dass noch ein Gedanke über den Abend in ihr Bewusstsein dringen konnte. Sie hasste den Morgen. Er war grausam, kam viel zu schnell und ließ sich leider nicht wieder vertreiben. Bevor sie die Augen öffnen konnte, wurde ihr das unangenehme Dröhnen in ihrem Kopf bewusst, welches ihr ein leises Murren entlockte. Unweigerlich folgte der Geruch von Alkohol und Zigaretten, der wieder in ihre Nase stieg. Sie konnte ihn nicht einmal zuordnen, denn nur langsam kamen die Bilder der letzten Nacht wieder. Widerwillig setzte die Brünette sich auf und versuchte die wilde Mähne mit ihren Finger etwas zu bändigen. Für einige Sekunden saß sie einfach nur dort und sah aus dem Fenster, welches ihr direkt gegenüber war. Sie wollte aufstehen, doch ihre Beine verweigerten jegliche Bewegung. Ihr ganzer Körper schien sich quer zu stellen und forderte seine Ruhe ein, von dem sie ihm letzte Nacht zu wenig gegeben hatte. Widerwillig kroch Eline dennoch aus dem Bett und suchte einige Klamotten aus ihrem Kleiderschrank, ehe sie ins Badezimmer schlurfte. Sie schmiss ihre frischen Sachen auf den Deckel einer kleinen Truhe, in der ihre Mutter alles mögliche aufbewahrte. Glücklicherweise war diese bereits bei der Arbeit, somit musste Eline ihr nichts erklären und diese Situation wäre definitiv eingetreten, wie die Brünette feststellte, als sie in den Spiegel sah. Die dunklen Haare völlig zerzaust und behaftet mit dem Geruch von Alkohol und Qualm, das Make-Up vom Abend zog dunkle Spuren unter ihren Augen und sie hatte ihre Sachen nicht einmal mehr ausgezogen, wie ihr bewusst wurde, als die Pailletten des Kleides im Badezimmerlicht schimmerten. Die warme Dusche schien ihren geschundenen Körper etwas milder zu stimmen, zumindest fühlte sie sich danach etwas besser und fand sogar den Antrieb ein frisches Make-Up aufzutragen, welches letzte Spuren aus ihrem Gesicht verschwinden ließ. Nur ihre Beine straften sie mit leichtem Muskelkater, doch ein Job in einem Club war eben kein sitzendes Studentenleben im Hörsaal; sie hätte es wissen müssen. Eline war dabei sich ihren morgendlichen Tee zu machen, als es plötzlich an der Tür klingelte. Hatte ihre Mutter etwas bestellt? Der Postbote? Aliena? Kein anderer kam der Dunkelhaarigen in den Sinn, als sie die schwere Haustür öffnete. Der Anblick, dem sie sich dann gegenüber fand, erstickte ihr ‘Guten Morgen’ jedoch und ihre Augen weiteten sich überrascht. Sie sah einzig und allein diesen riesigen Strauß weißer Rosen, der ihre volle Aufmerksamkeit auf sich zog. Erst eine unbekannte Stimme holte sie zurück in die Realität. “Eline Dónaill? Es wäre wirklich freundlich, wenn Sie mir den Strauß abnehmen würden.” Die Studentin nahm nur zögerlich den großen Strauß auf ihren Arm, während sie den Boten fragend ansah; wartend auf eine Erklärung, die er sicher für sie haben würde. Von wem war dieser Strauß? War er wirklich für sie? Nicht vielleicht für ihre Mutter? Niemand hatte ihr jemals so viele Blumen geschenkt, vor allem keine weißen Rosen. Der Bote schien ihren fragenden Blick zu verstehen. “Ich kann Ihnen keinen Namen nennen. Ich habe lediglich den Auftrag bekommen diesen Blumenstrauß bei Ihnen abzugeben. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.” Und dann war er auch schon wieder in seinem Auto verschwunden; ließ eine völlig überforderte Eline zurück, die irritiert die Haustür schloss und den großen Blumenstrauß auf den Küchentisch legte. Ihre Gedanken rasten. Von wem waren sie? Warum weiße Rosen? Was sollte sie davon halten? Sie wusste auf all das keine Antwort, während sie geistesabwesend eine große Vase suchte, die sie mit Wasser befüllte und in die sie dann die Blumen stellte. Erst in diesem Moment fiel ein kleiner Zettel auf den Küchentisch, nach dem Eline sofort griff. Sie ließ sich auf den Stuhl sinken und faltete das Stück Papier auseinander. Die grün-blauen Augen flogen über das eine Wort, das in schöner, gedruckter Schrift darauf stand: Unschuld. Immer wieder wiederholte sie dieses Wort in ihrem Kopf. Versuchte ihm etwas zuzuordnen - eine Person, ein Ereignis - irgendetwas. Doch keine Antwort fand sich in ihrem Kopf wieder, die ihr in irgendeiner Form logisch erschien. Es gab niemanden, der ihr solch einen Blumenstrauß schenken würde. Sie hatte nur noch Aliena. Seufzend lehnte sie den Zettel aufgeklappt an die Vase, sodass sie das Wort immer wieder lesen konnte. Nachdenklich erhob sich die Brünette und nahm ihren Tee von der Arbeitsfläche, ehe sie sich wieder setzte und ihr Blick erneut über die Buchstaben flog; über dieses Wort, welches für sie keinen Sinn machte. Es beunruhigte sie, wenn sie ehrlich zu sich selbst war. Wollte Braxton sie damit verunsichern? Braxton - die Erinnerung an den Abend wurde wieder präsent und sofort schlossen ihre Finger sich fester um die warme Tasse. Der letzte Tag, an dem sie eine weiße Rose in ihren Händen gehalten hatte, war ein Abschied gewesen. Ein schmerzhafter Abschied, der sie verfolgte und nicht losließ. Ein Abschied, der noch nicht vorüber war - nicht für sie. Und dennoch...Braxton konnte nicht von der weißen Rose wissen. An diesem Tag hatte sie nicht die Bedeutung ‘Unschuld’ getragen. Der zufällige Blick auf die Uhr machte Eline bewusst, dass sie ihre Sachen packen und gehen musste. Auch wenn der Gedanke an die ehemals alltägliche Situation zur Universität zu gehen sie quälte, so wollte sie Aliena nicht enttäuschen. Es hatte die Blonde Überwindung gekostet die Entscheidung ihrer besten Freundin zu respektieren und ihr den Abstand zu geben, den sie wollte und brauchte. Aliena war das Einzige, was ihr geblieben war; das Einzige, was sie aus ihrem alten Leben noch an ihrer Seite ertragen konnte. Sie wollte ihre Freundschaft nicht aufs Spiel setzen und somit erhob sie sich von dem Küchenstuhl und suchte ihre Unterlagen zusammen. Bevor sie das Haus verließ, warf sie noch einen Blick auf ihr Handy, doch Samuel hatte sich bisher nicht gemeldet. Was erwartete sie denn auch? Die anderen hatten noch weiter gearbeitet, nachdem sie gegangen war und schliefen sicherlich noch. Vor dem Abend konnte sie wohl mit keiner Antwort rechnen und somit ließ sie das Mobiltelefon in ihre Tasche gleiten, ehe sie das Haus verließ. Der Weg zur Universität schien ihr nicht mehr so schwer zu fallen, wie am Tag zuvor, doch der Grund dafür war nicht angenehm. Ihre Gedanken fanden keine Zeit ihr das Widerstreben deutlich zu machen, denn immer wieder sah die Brünette sich um. Sie fühlte sich unwohl, beobachtet. Ihr Körper war angespannt und sie hatte die Trageriemen ihrer Tasche fest umschlossen. Der Abend hatte ihr in Erinnerung gerufen, dass Braxton noch immer dort war. Sie hatte ihn lediglich aus ihrer kleinen Welt verbannen können, solange sie in ihrem Zimmer gesessen hatte. Nun aber war er wieder da; so bewusst und präsent, dass Eline es nicht einfach beiseite schieben konnte, so gern sie es auch getan hätte. Seine Worte waren deutlich gewesen. Sein Blick hatte ihr deutlich gezeigt, dass es für ihn noch nicht vorbei war. Was war, wenn er sie verfolgte? Wenn die Rosen wirklich von ihm waren? Der Gedanke ließ Eline noch einmal zurückblicken, ob nicht vielleicht jemand dort war, doch sie sah kein Gesicht, dass sie beunruhigen müsste. Sie musste es sich einbilden, zumindest versuchte sie ihre Anspannung mit diesem Gedanken etwas zu mildern. Die Dunkelhaarige war erleichtert, als sie Aliena am Eingang der Universität sah. Sie musste auf sie gewartet haben, obwohl für keinen sicher gewesen war, dass Eline wirklich kommen würde - sie selbst hatte sogar daran gezweifelt. Auch die Blonde schien überrascht, doch die Freude überwog. “Guten Morgen, Liebes.” Sie gab der Brünetten einen Kuss auf die Wange, ehe sie lächelte. “Ich hatte wirklich Zweifel daran, dass du kommen würdest. Du siehst müde aus. Ist alles in Ordnung?” Eline musste ein wenig lächeln; immerhin war ihre beste Freundin ehrlich. “Ich habe nicht besonders gut geschlafen, sonst nichts. Lass uns hinein gehen, es ist kalt und ich muss sitzen. Meine Beine fühlen sich heute so schwer an.” Den genauen Grund dafür verschwieg Eline vorerst, in der Hoffnung, dass Aliena nicht weiter nachfragen würde. “Hast du gestern Sport gemacht?”, fragte die Blonde jedoch amüsiert, auch wenn sie sich das nicht vorstellen konnte. Ihre beste Freundin war nicht der sportliche Typ, allerdings hatte sie es auch nicht nötig, wie Aliena immer wieder feststellen musste. Die Freundinnen betraten den großen Hörsaal, der bisher kaum gefüllt war. Die meisten kamen erst kurz vor Beginn. Eline war froh darüber, denn somit ruhten nur wenige Blicke auf ihr, als sie den Raum betrat. Ihre Gedanken hingen noch immer den Geschehnissen der vergangenen Nacht und des Morgens nach. Sie wusste nicht, ob sie Aliena wenigstens von den Rosen erzählen sollte. Unsicher entschied sie sich dann aber doch dafür. “Ich habe heute einen Strauß weißer Rosen bekommen”, ihre Augen sahen prüfend zu der Blonden, als sie sich auf ihre Plätze setzten. “Oh! Das ist doch toll. Von wem denn?”, Aliena ahnte nicht, welche Bedenken in ihrer Freundin die Freude überwogen. Erst als sie ihren Mantel ausgezogen und den Blick wieder auf die Brünette gerichtet hatte, sah sie es ihr an. “Was ist los? Erzähl mir alles.” “Ich weiß nicht, wer sie mir geschickt hat”, gestand die Dunkelhaarige dann, “es gibt niemanden der Grund hätte mir solch einen Rosenstrauß zu schicken.” “War keine Nachricht dabei? Eine Karte? Ein Brief? Irgendetwas?”, die blauen Augen blickten sie prüfend an, doch das Kopfschütteln Elines entlockte Aliena bereits ein frustriertes Seufzen. “Das ist merkwürdig.” Von dem Zettel wollte sie momentan nicht erzählen. Ihre beste Freundin würde ebenso wenig damit etwas anfangen können, wie sie selbst. Letztlich würde sie sich vielleicht nur noch mehr Sorgen machen, als Eline selbst. Das wollte die Brünette vermeiden. Sie würde Aliena mehr erzählen, wenn sie sich selbst einen Reim darauf machen konnte. “Vielleicht hat sich nur jemand einen Spaß erlaubt”, versuchte sie weiteren Überlegungen zu entgehen und klappte den Tisch vor sich hinunter, erstarrte jedoch in diesem Moment. Verstört sah sie auf das Holz vor sich, auf dem in der oberen Ecke ein Wort geschrieben stand: Opfer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)