Come To Life von Medusa ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1 -------------------- Es war das Grün-Blau ihrer Augen, welches sich in dem feinen Glas des Fensters spiegelte, während die zarten, weißen Flocken vom Himmel fielen und die Kälte mit sich brachten. Jene Kälte, die alles unter sich begrub und in langen Schlaf versetzte. Eine Kälte, wie sie schon lange den grazilen Körper eingenommen hatte. Ein Windstoß ließ die beiden Flügel des Fensters aufschlagen, das weiße Holz an dem blassen Gesicht vorbeiziehen. Die kühle Luft ergriff Besitz von dem kleinen Raum, wirbelte die dunklen Haare umher. Doch die weichen Gesichtszüge blieben unberührt. Selbst als die weiße Tür im Hintergrund geöffnet wurde und ein unangenehmes Knarren von sich gab, als würde sie sich vor der plötzlichen Kälte im Raum sträuben. “Eline, bitte. Du musst in einigen Minuten das Haus verlassen”, die ältere Dame war im Türrahmen stehen geblieben und blickte auf den schmalen Rücken. Auf eine wahrzunehmende Reaktion bezüglich ihrer Worte wartete sie aber vergebens und somit schloss sie die schwere Holztür wieder. Als wäre nichts vorgefallen, griffen die filigranen Finger nach den beiden Fensterflügeln und sperrten die unangenehme Kälte wieder aus. Es war seit Minuten die erste Bewegung, ausgenommen vom Heben und Senken ihres Brustkorbes - der Beweis, dass sie atmete; sie lebte. Es war keine Regung ihrer Gesichtszüge, ein Lächeln auf ihren Lippen oder gar eine Empfindung in den großen Augen, die von ihrer Lebendigkeit zeugten. Es waren lediglich handelnde Bewegung, ruhige Worte, die ihre Stimme mit Emotionslosigkeit strafte und ihre deutlich spürbare Anwesenheit, wenn sie einen Raum betrat. Blicke wandten sich ihr zu, Gespräche verstummten und auf der anderen Seite begann das Gerede; jenes Gerede von Menschen, die ihrem eigenen Leben nichts interessantes mehr abgewinnen konnten. Die sich über jeden Fehler anderer freuten, um ihre eigenen in den Hintergrund treten zu lassen. Sie wandte sich von dem großen Fenster ab und griff nach einem roten Mantel, der auf einem Sessel in der Ecke gelegen hatte. Auch wenn der Februar sich dem Ende neigte, so wollte der Winter einfach nicht gehen. Seit Wochen fiel der Schnee und tauchte die Natur in sein reines Weiß, das Wasser war zu Eis erstarrt und der Winter hatte der Welt eine gewisse Stille verliehen, nachdem die Weihnachtslieder verstummt waren. Weihnachten. Die Erinnerung an dieses Fest rief weder das Gefühl von Freude, noch Gedanken an Beisammensein und eine besinnliche Zeit in ihr hervor. Es war ein furchtbares Weihnachtsfest gewesen, überschattet von jenen Geschehnissen, die sie nur wenige Tage zuvor heimgesucht hatten. Jedes Licht an dem Weihnachtsbaum hatte sie verflucht, jede Kugel die an den grünen Ästen hing. Es hatte sich so falsch angefühlt. Der Anblick war lediglich eine Folter gewesen, aber vielleicht sollte das ein Teil ihrer Strafe sein. Sie verließ den kleinen Raum, griff nach der schwarzen, großen Handtasche, die bereits auf einer Kommode im Flur stand und verließ, ohne ein Wort des Abschiedes, das Haus. Sie würden wissen, dass sie gegangen war, auch wenn sie es nicht gewollt hatte. Alles in ihr sträubte sich dagegen, dass sie einen normalen Alltag wiederfand. Es durfte nicht so weitergehen, wie vor diesem Moment. Die hellen Schneeflocken verfingen sich in den dunklen, vollen Haaren. Ihre hinterlassenen Fußspuren in dem weichen, weißen Teppich lösten ein unbehagliches Gefühl in ihr aus. Sie waren wie eine Stumme Anklage für ihr Handeln; dass sie ging. Dieser Gang würde ein stückweit Normalität zurückbringen, die sie nicht wollte. Normalität hatte für sie die Züge von etwas furchtbarem angenommen. Dieses Wort in ihren Ohren war wie ein Schlag ins Gesicht; eine Strafe dafür, dass sie es tat. Über ihre Lippen brachte sie es schon lange nicht mehr. Sie wusste nicht, warum es für sie überhaupt noch existierte. Die Blicke einiger Passanten wandten sich für einen Augenblick um. Sie wusste, dass der ein oder andere ihr bekannt sein müsste, doch ihre Gedanken verweigerten es ihr, diese Gesichter einer Person zuzuordnen. Niemand wagte es auch nur ein Wort des Grußes an sie zu richten. Statt dessen waren da nur diese Blicke; Neugier, Besorgnis, Unsicherheit. Ohne ihnen weiter Beachtung zu schenken, ging sie weiter. Der Weg kam ihr so unendlich lang und unbekannt vor, dabei war sie ihn vor einigen Wochen noch fast jeden Tag gegangen. Doch jetzt schien sie alles mit anderen Augen zu sehen. Die Farben des großen Schildes, welches zu dem Süßigkeitenladen an der Ecke gehörte, hatte seine Fröhlichkeit für sie verloren. Die hohen, eng einander gereihten, Häuser schienen sie mit ihrer grauen Fassade zu erdrücken. Der Gehweg war wie ein schmaler Streifen der ins Nichts führte. Irgendwann erschienen die Umrisse des alten Gebäudes in einiger Entfernung. Sie war für einen Augenblick stehen geblieben und hatte das Bild betrachtet, welches sich ihr bot. Die lange Allee von kahlen Bäumen, der vom Schnee bedeckte Boden und das alte, vertraute Gemäuer. Unsicherheit und Widerstand begleitete jeden weiteren Schritt, den sie tat und ihr Ziel schien sich immer weiter von ihr zu entfernen. Doch als sie endlich die wenigen Stufen erreichte, die sie hineinführen sollten, blieb sie stehen und wollte auf dem Absatz wieder kehrt machen. Ihre Füße schienen jedoch am Boden festgefroren und entließen sie nicht einfach. Alles fühlte sich wie eine Strafe an. Wie hatte sie herkommen können? Dieser Ort symbolisierte das, was sie nicht zurückhaben wollte, weil es ihr so falsch erschien. Normalität konnte nicht zurückkehren, denn sie würde sie nie wieder empfinden können. Sie wusste nicht, wie lange sie einfach nur vor dem großen Eingang gestanden und gegen diese Tür gesehen hatte. Sie konnte nicht einmal sagen, woran sie dachte oder was sie empfand. Sie stand einfach nur da, bis eine Stimme sie aus der Leere herausriss. “Eline! Liebes, ich dachte schon, ich würde dich hier nie wieder sehen”, die Angesprochene blickte direkt in die blauen Augen ihrer besten Freundin Aliena. Sie wusste nicht genau, woher sie plötzlich gekommen war, aber der vertraute Anblick der blonden, jungen Frau löste in ihr ein beklemmendes Gefühl aus. Für einige Sekunden erwiderte sie nichts. Sah einfach nur in dieses vertraute Gesicht - Normalität. Niemand würde ihr so viel davon wiedergeben können, wie Aliena. Kein anderer Mensch würde noch versuchen in ihrem Gesicht zu lesen. Bald würde aber auch sie aufgeben. Sie hatten sich seit diesem Tag nicht mehr gesehen; nicht einmal telefoniert hatten sie. Lediglich ihre Karte hatte sie erhalten. Irgendwann - sie wusste nicht genau wann, aber irgendwann bestimmt - würde auch Aliena erkennen, dass sie nichts mehr in ihrem Gesicht sehen konnte, außer die weichen, schönen Gesichtszüge. “Ich wollte nicht zurückkehren”, ihre Stimme war ruhig. Die Worte klangen aus ihrem Mund wie eine unbedeutsame Feststellung, während ihrer besten Freundin die Besorgnis ins Gesicht geschrieben stand. Sie konnte es sehen. Sie konnte jede Regung in Alienas Gesicht erkennen und zuordnen. Sie wusste, was sie dachte und wie sie fühlte. Vielleicht kannte sie ihre beste Freundin nun besser, als sie sich selbst kannte. Dieser Gedanke löste Unbehagen in ihr aus, doch sie konnte nichts dagegen tun. Auch das etwas unsichere Lächeln der Blonden änderte nichts an ihren Empfindungen. “Lass uns rein gehen, es ist kalt hier draußen. Ich habe auch noch einige Unterlagen für dich, aus den letzten Wochen”, Aliena legte eine Hand an die Schulter ihrer Freundin und brachte sie mit etwas Nachdruck dazu, endlich die wenigen Stufen zu erklimmen und das alte Gemäuer zu betreten. Der erste Eindruck der bekannten Umgebung schien sie beinahe zu erschlagen. Sie wollte umdrehen; raus. Dort war keine Luft zum Atmen. Die ganzen Wochen hatte sie gegen den Tag angesehen, an dem sie wieder herkommen musste. Sie hatte alles abbrechen wollen; hinschmeißen und vergessen. Ihre Wünsche, ihre Träume - ihnen schien ein Teil zu fehlen. Sie konnte sie nicht mehr verwirklichen. Sie waren unvollständig und würden es für immer bleiben. Was brachte es also noch, wenn sie sie weiter träumte? Wenn sie weiter daran arbeitete, dass sie ihnen näher kam? Sie sah hinter sich. Die große Eingangstür war noch nicht wieder vollständig zugefallen und verstärkte das Gefühl, dass sie hier hinaus musste. Doch plötzlich versperrte Aliena ihr die Sicht auf den Ausgang und schob sie etwas weiter vorwärts, als wollte sie ihr ohne Worte die Idee des Weglaufens ausreden. “Aliena, ich gehöre hier nicht mehr her”, nach drei Schritten war sie wieder stehen geblieben, sobald die Blonde ihre Hand von ihrer Schulter genommen hatte. Sie war bereits einen Schritt weiter gewesen und musste sich wieder zu ihrer Freundin umdrehen. “Natürlich gehörst du hierher, Eline. Wir wollten immer hierher. Wir haben so viel dafür getan”, sie musterte die Dunkelhaarige etwas besorgt. Normalerweise hatte sie Eline nicht so ansehen wollen, aber ihre Worte ließen ihr gar keine andere Option. “Aber ich kann das nicht so einfach”, die grün-blauen Augen hielten ihrem Blick stand. Nichts war in ihnen zu lesen. Sie schienen ihren starken Ausdruck verloren zu haben und wirkten teilnahmslos. “Nichts wird einfach sein. Aber du kannst auch nicht einfach alles hinschmeißen. Eline, bitte... Wir haben heute nur eine Vorlesung”, Aliena versuchte ihre Stimme so klingen zu lassen, als würde sie kein wirkliches Widerwort dulden, doch sie scheiterte kläglich. Es war einfach nicht ihre Art und die Situation ihrer besten Freundin nahm sie selbst viel zu sehr mit. Am liebsten hätte sie nachgegeben und wäre gleich mit ihr gegangen, doch das konnte sie nicht tun. Sie hatte sich vorgenommen, dass sie Eline davon überzeugen würde, dass es weitergehen musste. Dass sie selbst leichte Zweifel daran hatte, schob sie dabei einfach ganz weit weg. Ein Seufzen trat über die vollen Lippen der Dunkelhaarigen und sie setzte sich langsam wieder in Bewegung. Für den Moment hatte sie sich dem Wunsch ihrer besten Freundin gebeugt. Doch ob sie morgen wiederkam stand auf einem ganz anderen Blatt, denn noch immer lösten die Eindrücke in der großen Universität Unwohlsein in ihr aus. Als sie mit Aliena den Hörsaal betrat entging es ihr nicht, dass einige Gespräche in den ersten Reihen verstummten und man zu ihnen sah. Doch die Hand der Blonden berührte demonstrativ ihren Rücken und deutete ihr somit, dass sie weitergehen sollte. Eline versuchte die Blicke und das Getuschel zu ignorieren. Sie hatte ihr Kinn etwas angehoben, ihre Gesichtszüge wirkten unnahbar und versteinert, als sie auf ihren üblichen Platz in der fünften Reihe zuging und sich setzte, ehe Aliena neben ihr platz nahm. Während der Vorlesung schwiegen sie - beide. Aliena versuchte angestrengt dem zu folgen, was der Professor dort vorne erzählte und legte für keine Minute ihren Kugelschreiber ab. Nur manchmal warf sie einen etwas besorgten Blick zu ihrer Linken, versuchte jedoch es zu unterdrücken. Eline hatte ihren Block auf den kleinen Tisch vor sich gelegt. Ihr Stift lag auf dem weißem Papier - unberührt. Jede Faser ihres Körpers sträubte sich dagegen, ihn wieder in die Hand zu nehmen. Sie folgte auch nicht dem, was der Professor erzählte. Mit allem anderen füllte sie ihre Gedanken; versuchte sie sich abzulenken. Sie wollte nicht zuhören und verstehen. Kein einziges Wort wollte sie auf dieses Blatt Papier schreiben. Sie konnte es einfach nicht. Zu groß war das Widerstreben ihrer Gefühle. Sie schrieen ihr dieses eine Wort förmlich entgegen: Normalität. Sie klappte den Block wieder zu, nachdem sie die Tortur endlich überstanden hatte und packte ihre Sachen wieder ein. Aliena reichte ihr noch die gesammelten Unterlagen der letzten Wochen, ehe sie gemeinsam den Hörsaal und auch die Universität verließen. Normalität. “Soll ich dich nach Hause fahren?”, die Blonde war draußen stehen geblieben und musterte ihre beste Freundin für einen Moment. Sie hatte es vermieden, die Geschehnisse an diesem Tag anzusprechen, doch ob es geholfen hatte wusste sie nicht. Es schien kein Herankommen an Eline zu geben. “Nein. Ich laufe lieber”, die Brünette nahm ihre Tasche über die Schulter und wandte sich zum Gehen. Sie hielt es nicht mehr an diesem Ort aus. “Eline”, die Angesprochene wandte sich noch einmal um und blickte Aliena an, “wirst du morgen wiederkommen?” In ihrem Gesicht sah man die Zweifel und die Besorgnis. Wenn die Dunkelhaarige am morgigen Tag nicht wiederkam bestand die Gefahr, dass sie es wirklich nie wieder tat. Sie konnte Eline nicht zwingen, auch wenn sie es gerne getan hätte. In diesem Moment blieb ihr nur die Hoffnung auf ein Nicken, vielleicht sogar ein Lächeln. Die Brünette blickte sie aber nur einige Sekunden schweigend an und haderte mit sich selbst. Sie hätte die Frage gerne bejaht, einfach nur, damit dieser besorgte Ausdruck von dem sonst so fröhlichen Gesicht verschwand, doch es wäre eine Lüge gewesen. “Ich weiß es nicht”, sagte sie somit und wandte sich dann ab. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)