Kalendermenschen von abgemeldet (Der Jahreskalender 2011) ================================================================================ Kapitel 11: Die letzte Chance ----------------------------- September konnte ein entnervtes Seufzen nicht zurückhalten. „In was für einen Schlamassel sind wir da rein geraten?“, fragte er mit leicht hysterisch klingender Stimme. „Da hab ich mal Glück bei der Verteilung der Wettermanipulationsmaschinen und dann geht alles den Bach runter!“ August ging nicht weiter auf seinen Kollegen ein, sondern widmete sich mehr dem Inhalt des Briefes: „Was hat Juli getan, um mit den Indios im Clinch zu liegen? Und wer ist dieser X?“ Oktober blieb indes nichts weiter übrig, als die beiden stirnrunzelnd zu beobachten. Innerlich verfluchte er sich dafür, dieses Jahr nicht wie sonst auf den Ablauf der Schichten vor ihm geachtet zu haben, aber ändern konnte er das jetzt auch nicht mehr. Trotzdem würde er versuchen, ein wenig Ordnung in die Sache zu bringen. „Wenn wir wüssten, wer X ist, dann würde er oder sie vermutlich nicht X genannt werden.“, begann er. „Und was Juli und die Indios angeht …“ September fiel ihm ins Wort, eine Eigenschaft des älteren Monats, die Oktober bei jedem ihrer Treffen erneut ärgerte. „Bitte keine langatmigen Erklärungen. Ich vermute, er hat bei einem seiner Abenteuer über die Stränge geschlagen?“ Oktober nickte bestätigend. Tatsächlich sah der Sachverhalt etwas anders aus, aber den Kern des Problems hatte September erfasst. „Dann sollten wir ihn als erstes retten, oder?“, schaltete sich August in diesem Moment ein. „Ich weiß zwar nicht, wie groß dieser Groll gegen Juli ist, aber er ist mit Sicherheit in der brenzlichsten Situation. Und“, fügte er noch hinzu. „Wer weiß, vielleicht hat dieser X ja auch etwas damit zu tun, was mit den Wettermaschinen ist.“ „Worauf warten wir dann noch?“, wollte September wissen. „Je schneller wir die Angelegenheit hinter uns bringen, desto schneller sollte alles wieder seinen geordneten Gang gehen.“ Sowohl August als auch September wandten sich zum Gehen. „Wartet“, stoppte Oktober sie mit einem grüblerischen Gesichtsausdruck. „Seid ihr sicher, dass wir das alleine schaffen?“ Stille senkte sich über den Raum. Die drei Monate sahen sich gegenseitig an, dann seufzten sie beinahe synchron. „Was sollen wir denn machen?“, äußerte sich September kopfschüttelnd. „Die Anderen können wir ja schlecht um Hilfe bitten, wir wissen ja nicht wo sie sind. Mal abgesehen von Juli.“ „Wir können schon …“, korrigierte Oktober. „Wir könnten beispielsweise November fragen, ob sie uns hilft.“ September sah ihn an, als hätte er vorgeschlagen, sich in eine Wanne voller Säure zu stürzen. „Wir können doch nicht … sie ist … weißt du nicht, was man über sie sagt?“ Oktober legte den Kopf schief. „Was denn?“, wollte er wissen. „Sie soll … ach, vermutlich sind die Gerüchte wieder einmal ein wenig zu übertrieben, aber … es reicht um einem Angst zu machen.“ Oktober schüttelte den Kopf. Eigentlich hätte er sich denken können, dass September eine Klatschtante war, aber dass er dem auch noch Glauben schenkte … Obwohl er eigentlich nicht ganz unrecht hatte. „Sie kann durchaus schwierig sein, aber ich kenne sie gut genug, um eventuelle Fettnäpfchen zu umgehen“, teilte er seinen Kollegen mit. „Und wir können jede Hilfe gebrauchen, die wir bekommen können.“ September war es augenscheinlich immer noch nicht recht, ihre Kollegin um Hilfe zu bitten, aber er nickte trotzdem. Oktober hielt sie noch einmal auf, bevor sie seinen Turm verlassen konnten. „Ich muss noch einmal kurz in die Küche. Wenn wir zu November gehen dann muss ich ihr etwas vom Kürbisbrot mitbringen.“ September kam nicht umhin zu bemerken, dass Oktobers Lächeln breiter wurde, als sie sich der massiven Mauer näherten, die das Anwesen umgab, in welchem November beheimatet war. Wenn er ehrlich war, konnte er seinen Kollegen nicht verstehen, immerhin liefen sie gerade in die Höhle des Löwen hinein … Aber Oktober kannte November vermutlich besser als er, weshalb er augenscheinlich auch weniger Angst hatte; und ja, er gab gerne zu, dass er sich eingeschüchtert fühlte. Das große Tor, welches sich in der Mauer befand, war verschlossen, doch Oktober führte sie zielsicher zu einem kleinen Mauerstück etwas abgelegen von diesem offensichtlichen Eingang. „Du kennst dich gut aus hier“, stellte September beeindruckt fest, als Oktober einen der vielen gleich aussehenden Steine der Mauer aus ebendieser zog und einen kleinen Hohlraum mitsamt einem Schlüssel freilegte. Das Grinsen auf Oktobers Gesicht mutete ein wenig kindisch an. „Als wir noch jünger waren, und die Monate untereinander noch komplett getrennt waren, haben wir hier immer Nachrichten füreinander versteckt“, erklärte er. „Wir kannten uns ja noch von den Prüfungen für die Wettermaschinen-Lizenz.“ Dass sie sich dort augenscheinlich gut verstanden haben mussten, ließ sich aus dieser Aussage ableiten. September wunderte sich einmal mehr über seinen Kollegen. Dieser führte sie, nachdem er den Stein wieder an seine vorgesehene Stelle gesetzt hatte, weiter an der Mauer entlang zu einer kleinen Tür. „Unser Schleichweg, als wir noch jung waren“, erklärte er und öffnete die Tür. „Damals gab es die Tür und den Schlüssel noch nicht, dafür aber einen kleinen Durchgang …“ Ein glückliches Lächeln legte sich auf Oktobers Gesicht. „Das waren noch Zeiten …“ „Können wir weitergehen?“, fragte August. Er fühlte sich augenscheinlich genauso unwohl wie September. „Natürlich“, antwortete Oktober. Sie überquerten einen kleinen Vorhof und kamen zu einer für den Rest des Anwesens unpassend schlichten, aber trotzdem nicht weniger wuchtig wirkenden Holzpforte an. Oktober klopfte. „November?“, rief er und September fragte sich unwillkürlich, ob er tatsächlich dachte, dass er in einem solch großen Haus tatsächlich gehört werden würde. „Ich bin’s, Oktober!“ Die Tür vor ihm öffnete sich mit einem Knarren. Vorsichtig folgten September und August, als Oktober fröhlich in ein cremefarbenes Foyer trat. „Entschuldige, dass ich nicht selbst an der Tür war, ich musste nur eben … oh.“ September starrte die junge Frau an, die nun am Fuße der breiten Treppe stand, welche in die höher gelegenen Geschosse führte. Sie war durchaus attraktiv, hätten ihre Mundwinkel, die am Anfang noch zu einem Lächeln geformt gewesen waren, eine plötzliche Wanderung nach unten begonnen. „Welch … überraschender Besuch.“ „Ich hätte sie nicht mitgebracht, wenn es nicht eine dringende Angelegenheit wäre“, versuchte Oktober die Anwesenheit seiner Kollegen zu erklären. „Es gibt scheinbar ein Problem mit einer Person, die sich X nennt und die eventuell etwas damit zu tun hat, dass unsere Mitmonate nicht zu erreichen sind und auch von den Wettermaschinen keine Spur zu finden ist …“ „Immer langsam!“, unterbrach November ihn. „Zuerst einmal: Hast du daran gedacht, mir meine Ausgabe von Poes Gesamtwerk wieder mitzubringen? Ich habe es in der letzten Zeit sehr vermisst, einfach darin zu lesen.“ Oktobers Miene hellte sich auf. „Nicht nur das, ich habe dir auch Kürbisbrot mitgebracht!“ Nachdem er November das Buch und die beiden Brotlaibe gereicht und sie diese auf einem kleinen Beistelltisch im Foyer abgelegt hatte, wandte sie sich an Oktober. „Hier geht es um irgendein Problem mit den Wettermaschinen, an dem vermutlich ein gewisser X Schuld trägt. Es gibt keinen Anhaltspunkt, warum X tut was er vielleicht tut, wer er ist wisst ihr auch nicht, und wo sich die anderen Monate aufhalten ist auch unklar. Ist das soweit richtig?“ Oktober nickte, während seine beiden Kollegen damit beschäftigt waren herauszufinden, wie November es schaffte, die Situation korrekt zusammenzufassen und sie dabei auf eine Art und Weise zu präsentieren, dass die Rolle, welche ihre Vorgängermonate darin spielten, einfach nur lächerlich klang. „Dann frage ich mich“, fuhr November fort. „warum ihr hier seid.“ „Dazu wollte ich gerade kommen“, sagte Oktober in entschuldigendem Tonfall. „Mai hat es irgendwie geschafft, uns eine Nachricht zukommen zu lassen, aus welcher zumindest hervorgeht, dass Juli sich bei den Indios befindet, die ihm allerdings nicht sehr wohl gesonnen sind. Und wer weiß, vielleicht weiß er mehr als wir. Außerdem …“ Er stockte. „Außerdem möchte ich dich an das letzte Mal erinnern, als wir einen Monat verloren haben. Möchtest du noch einmal durch die Tortur gehen, einen Ersatz im passenden Alter zu finden, der der Aufgabe gewachsen ist?“ „Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob wir damals die richtige Wahl getroffen haben“, murmelte November mit einem leichten Schaudern, ihr Blick ruhte auf September. Dieser hob abwehrend die Hände. „Was kann ich dafür, dass mein Vorgänger drei Mal durch die läppische Prüfung für die Wettermaschinen-Lizenz gefallen ist?“ „Gar nichts. Was aber nicht heißt, dass du ein Nachfolger ohne Makel bist.“ Bevor die Situation weiter eskalieren konnte, schaltete sich Oktober erneut ein. „Hilfst du uns, Juli zu retten?“ „Warum sollte ich?“, antwortete sie prompt. „Was interessieren mich die anderen Monate und ihre Probleme? Und was die dummen Maschinen angeht, die sind sowieso total altmodisch und unhandlich. Da bricht man sich bei der Bedienung eher einen Fingernagel ab, als dass was Ordentliches dabei herauskommt. Außerdem … ich brauche sowieso nur ein wenig Wind, und den kann ich auch ohne das passende Gerät erzeugen.“ Dass sie für die übermäßige Nutzung dieser Fähigkeit schon mehrfach abgemahnt worden war, ließ sie lieber unerwähnt. Sowieso hatte dieses unwichtige Detail auch niemanden zu interessieren. Die anderen drei Monate starrten sie sprachlos an, Oktober wirkte sogar ein wenig geknickt. Vielleicht war ihr Kommentar über ihre Mitmonate doch verletzender gewesen als sie gedacht hatte. November schenkte ihrem Vormonat ein freundliches Lächeln. „Aber das ist ja auch nicht weiter wichtig. “ „Bist du dir sicher?“, fragte Oktober. Er klang wirklich geknickt. „Stell dir vor, das hätte auf uns alle Auswirkungen, und wir würden – im schlimmsten Falle – alle unsere Anstellung verlieren, weil wir nicht geholfen haben. Und ich meine, es ist wirklich keine anstrengende Arbeit. Ich hatte Zeit, den Tauben lesen beizubringen … und ein Monat wirkliche Präsenzzeit ist ja auch nicht unbedingt viel.“ September sah Oktober perplex an. Appellierte er gerade tatsächlich an Novembers Bequemlichkeit, obwohl er sie zu etwas unbequemen bringen wollte? Doch scheinbar hatte Oktobers Strategie tatsächlich Erfolg, denn November sah nachdenklich aus. „Die Stellung ist wirklich gut“, sagte sie. „Und du meinst tatsächlich, dass die Sache solche Dimensionen annehmen könnte?“ Oktober nickte. November schwieg noch kurz, dann aber straffte sie ihre Schultern. „Wartet einen Moment, bitte. Eine Dame braucht immer ihre Notfalltasche bei sich.“ Mit diesen Worten verschwand sie in einem der vielen Zimmer, welche vom Foyer aus zu erreichen waren. September schaute August fragend an, dieser zuckte nur mit den Schultern. Plötzlich war, neben dem Geräusch von sich öffnenden und schließenden Schubladen, ein lautes Krachen zu vernehmen, welches sie alle zusammenzucken ließ. Alle Geräusche aus dem Zimmer, in welchem November verschwunden war, waren verstummt. „November?“, fragte Oktober vorsichtig. „ICH BRING IHN UM!“, zerschnitt Novembers Stimme die Luft. „Das nächste Mal wenn ich ihn sehe, reiße ich dem Giftzwerg seinen verdammten Kopf ab.“ „Von wem redet sie?“, flüsterte September. Oktober wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als November ins Foyer gestürmt kam. Aus ihren Augen sprach pure Mordlust, ihr Kleid war an zwei Stellen eingerissen, von einem der Ärmel schienen Rauchschwaden aufzusteigen und September war sich sicher, eine rot glühende Aura um sie herum wahrnehmen zu können. Das sah nicht gut aus. Ohne ein Wort zu sagen, stürmte sie an ihnen vorbei und rauschte die große Treppe hinauf. Eine Tür knallte, dann kehrte wieder Stille ein. „Ähm“, brachte September wortgewandt heraus. Die Gesichter seiner Kollegen drückten genau das aus, was er gerade dachte: Was zum Jahreszeitenwechsel war gerade passiert? „Ich fürchte, Dezember hat ihr wieder einmal eine seiner Spielereien dagelassen“, versuchte sich Oktober an einer Erklärung. „Die beiden … sind nicht gerade die besten Freunde, was vielleicht daran liegen mag, dass ihre erste Begegnung nicht unbedingt optimal verlaufen ist.“ In diesem Moment stürmte November die Treppe herunter, sie trug nun ein komfortabel aussehendes graues Kleid und trug eine Tasche derselben Farbe bei sich. Noch immer sah sie nicht ansatzweise so ruhig aus, wie am Anfang ihres Besuches, doch die bösartige Aura war verschwunden. „Kommt“, befahl sie schlicht, nachdem sie die Kürbisbrote, die Oktober ihr mitgebracht hatte, in ihrer Tasche hatte verschwinden lassen. „Ich muss mich dringend abreagieren.“ Dank der Landkarte, die Oktober bei sich hatte, war der Aufenthaltsort der Indios schnell ausfindig gemacht. Schon von weitem waren einzelne Rauchschwaden und Hütten zu sehen. August hätte sicher den korrekten Namen für diese inakzeptablen Behausungen gewusst, aber zur Rettung Julis trug dieses Wissen nicht bei. Dementsprechend konnte November getrost darauf verzichten. Ohne auf ihre Begleiter zu achten marschierte sie schnurstracks auf das kleine Dorf zu. September räusperte sich vernehmlich hinter ihr. „Was?“, keifte sie, und wirbelte bedrohlich – zumindest hoffte sie, dass es so wirkte – auf dem Absatz herum. Oh, wie sie das kaum wahrnehmbare Zittern und die vor Angst zuckenden Gesichtsmuskeln liebte… „Sollten wir uns nicht besser einen Plan zurechtlegen, anstatt einfach kopflos zu den Indios zu gehen?“, fragte er. „Warum denn?“, schoss sie prompt zurück. „Dann passt irgendwas an dem Plan nicht und Schwupps stehen wir da und haben keine Ahnung mehr, was wir machen sollen. Dann doch lieber alles ohne Vorbereitung auf sich zukommen lassen. Da kommen sowieso immer bessere Ergebnisse bei heraus.“ „Und wenn sie beschließen, dass wir als Julis Freunde, oder Bekannte … hör auf mich so anzustarren!“ „Seit wann sind die Männer solche ängstlichen Geschöpfe geworden?“, erkundigte sich November. „Wenn’s ein wenig haarig wird, na und? Mir soll’s recht sein, an mich als Frau wird sowieso als erstes kein Gedanke verschwendet. Und das gibt mir die Chance, mal wieder ordentlich auszuteilen.“ September lief es kalt den Rücken herunter. Was hatte Dezember sich dabei gedacht, diese Frau gegen sich aufzubringen? „Hätten wir das jetzt geklärt?“, fragte November. Sie ließ niemandem die Zeit zu antworten. „Gut.“ Unbeirrt setzte sie ihren Weg fort, weiter auf das kleine Dorf zu. „War sie schon immer so?“, flüsterte September Oktober zu. Er zuckte die Schultern. „Sie war schon immer etwas … eigen“, antwortete er. „Aber erst seit Dezember und sie sich so in den Haaren liegen …“ „Hört auf zu flüstern wie die Waschweiber und bewegt euch!“ „Die Gute ist leicht herrisch“, merkte August an. Die anderen beiden ließen die Aussage unkommentiert und beeilten sich lieber, wieder zu November aufzuschließen. Es dauerte nicht lange, bis sie von den ersten Einwohnern des Indio-Dorfes entdeckt wurden. Und es dauerte ebenfalls nicht lange, bis sie von einer Schar von Menschen umringt waren. Ein schon alter Mann trat auf sie zu, November blieb stehen. Die anderen Monate taten es ihr gleich. „Was wollt ihr?“, fragte der Mann. „Ich habe gehört, ihr habt einen Freund von uns zu Gast?“, fragte November. Sie wurde misstrauisch beäugt. „Einen … Freund?“, echote der Mann, der offensichtlich der Hauptredner war. „Cowboyhut, Abenteurer, ist euch vermutlich mal auf den Schlips getreten. Wurde von jemandem vorbeigebracht, der sich X nennt. Klingelt’s da?“ Die Miene des Mannes verfinsterte sich. „Vielleicht“, antwortete er ungenau. Seine Reaktion war jedoch schon eindeutig gewesen. „Wir hätten ihn gerne zurück“, stellte November eine klare Forderung. Oktober sah sich in diesem Moment gezwungen, einzugreifen. „Wir verstehen natürlich, dass ihr einen gewissen Groll gegen ihn hegt, aber …“ „Er hat etwas von unvorstellbarem Wert mit sich genommen!“, brauste ihr Gesprächspartner auf. „Einen gewissen Groll hegen …“ „Wie gesagt, wir verstehen, dass er euch ein Dorn im Auge ist, aber es ist äußerst wichtig, dass wir ihn jetzt mit uns nehmen. Und ich bin sicher, wenn ihr ihm Gnade gewährt, wird er euch mit Freuden wiedergeben, was er euch genommen hat.“ November sah zwar leicht säuerlich aus – vermutlich hatte sie auf eine ausgewachsene Handgreiflichkeit gehofft – schien aber von den rhetorischen Fähigkeiten von Oktober trotzdem sehr angetan zu sein. „Wie könnt ihr euch dem so sicher sein?“, wollte der alte Mann nun wissen. November lächelte. „Oh, ein kurzes Gespräch mit ihm, und er wird tun, was wir sagen. Was ist es denn, was er … mitgenommen hat?“ „Ein geweihtes Messer, welches schon seit Generationen weitergegeben wird. Seid ihr sicher, dass ihr es wiederbeschaffen könnt?“ Oktober sah ihn zuversichtlich an. „Wenn wir ihn kurz befragen dürfen bin ich sicher.“ Der Mann sah ihn noch einmal prüfend an, dann nickte er. „Ihr findet ihn auf dem Platz in der Dorfmitte.“ Sie setzten ihren Weg fort, begleitet von ein paar neugierigen Kindern und Jugendlichen. Und tatsächlich sahen sie Juli, als sie den Platz betraten. Bis auf die Tatsache, dass er vermutlich ein wenig zu viel Sonne getankt hatte und der Tatsache, dass er an einem Marterpfahl festgebunden war, schien es ihm gut zu gehen. „Einen wunderschönen guten Tag, Jones“, begrüßte November ihn, als sie kurz vor ihm standen. „Es sieht so aus, als ob sie dich gehen lassen würden, wenn du ihnen eine Kleinigkeit, die du ihnen gestohlen hast, wiedergibst.“ Juli musterte sie kurz. „Und warum sollte ich das tun?“, fragte er. September übernahm das Sprechen. „Weil irgendetwas im Gange ist und wir deine Hilfe brauchen, um Mai und die anderen Monate zu finden“, sagte er. „Der einfachste Weg ist, wenn du dieses … Messer, was du mitgenommen hast, wieder dem rechtmäßigen Besitzer gibst. Ich persönlich möchte diese Indios nicht gegen mich haben.“ „Außerdem“, setzte November zuckersüß nach. „Glaubst du, dass du hier lebend wegkommst, wenn du nicht kooperierst?“ Juli schien einen Moment seine Optionen abzuwägen. „In meinem linken Stiefel“, sagte er dann schlicht. August reagierte als Erster und fischte tatsächlich relativ schnell ein kleines, unscheinbar aussehendes Messer aus Julis Schuh. November rümpfte die Nase. „Und da hast du dich nicht vorher schon freigekauft?“, fragte sie. „Komischer Vogel.“ Juli warf ihr einen bösen Blick zu. Sie beachtete ihn nicht weiter, sondern marschierte mit dem Messer zurück in die Richtung, aus welcher sie gekommen waren. September ging davon aus, dass sie die Waffe dem alten Mann überreichen wollte. Oktober machte sich derweil daran, Juli von dem Marterpfahl zu befreien. Es dauerte nicht lange, bis diese Aufgabe erledigt und November zurückgekehrt war. Stumm bedeutete sie ihnen, ihr zu folgen und gemeinsam verließen sie das Dorf. Nach einer Weile blieb November stehen. „So, Jones, nachdem wir dich nun gerettet haben, darfst du uns erzählen, was du weißt.“ November traktierte den Boden unter ihrem Fuß mit gleichmäßigem Wippen ihres Fußes. „Aber zügig, wenn ich bitten darf, wir haben nicht ewig Zeit.“ Juli ließ sich auf den Boden fallen und sah sie herausfordernd an. „Danke, ich wäre auch ohne eure Hilfe zurechtgekommen.“ November stieß ein keckerndes Lachen aus, welches aus ihrem Mund absolut unnatürlich klang: „Ja, das habe ich gesehen.“ Julis Gesichtsausdruck wurde mürrischer. Keiner der anderen anwesenden drei Monate traute sich, irgendwie in die Situation einzugreifen. Schließlich seufzte Juli. „Wo fange ich am besten an?“ „Am Anfang, zumindest habe ich gehört, das Geschichten dort beginnen“, antwortete November unwirsch. August sah aus, als wollte er eine Anmerkung machen, beließ es aber dann bei einem Schulterzucken. „Also …“, setzte er an, und dann folgte eine bruchstückhafte Zusammenfassung des Problems der nicht funktionierenden Wettermaschinen, gefolgt davon, dass er und Mai allein unterwegs gewesen waren. „Dann hat X uns aufgelauert, mich den Indios überlassen und Mai verschleppt. Und dann seid ihr vorbeigekommen und habt mich gerettet.“ Juli streckte sich. „Mehr weiß ich auch nicht, ich habe nicht mit den anderen Monaten gesprochen, als ich Mai abgeholt habe.“ „Aber du weißt, wo sie sich aufhalten, oder?“, wollte Oktober wissen. Juli nickte. „Dann sollten wir keine Zeit verlieren und sie retten, dann bekommen wir die ganze Geschichte zu hören und sind mehr, die über die Lösung des Problems nachdenken können.“ Juli sah nicht gerade glücklich aus, doch November konnte seinem Gesicht ansehen, er wusste, dass man sich für einen Gefallen – und der war seine Rettung ohne wenn und aber gewesen – revanchieren musste. Er erhob sich, klopfte Staub von seiner Hose und rückte seinen Hut gerade. „Sie sind im Kesselsirrental. Wenn ihr mir also folgen würdet?“ „Ich glaube, ich werde deine Landkarten doch irgendwann zu schätzen wissen“, teilte September August mit, als sie den darauf eingezeichneten Pfaden über die unsichtbaren Felsen des Kesselsirrentals liefen. November vor ihnen schnaubte höhnisch, kommentierte das Gesagte aber nicht weiter. „Es ist nicht mehr weit“, teilte Juli ihnen mit. „Nur noch ein kleines Stückchen geradeaus, und dann links. Dann müssten wir direkt auf die Felsspalte stoßen, in der die anderen eingesperrt sind.“ Oktober war in diesem Moment sehr froh darüber, dass es Juli war, der den Aufenthaltsort ihrer Kollegen kannte. Ein Abenteurer wie er vergaß offenbar nicht oft die Wege, die er beschritt. Und tatsächlich waren bald Stimmen zu hören, die er eindeutig zuordnen konnte. „Ich sage doch, da ist noch keine Kante!“ Das klang eindeutig wie Januar. Gleich darauf antwortete eine gereizte Stimme, die Oktober Februar zuordnen konnte. „Gerade hast du noch gesagt, du hättest sie fast zu fassen bekommen! Viel öfter werde ich dich nicht mehr hochheben.“ Leises Kichern wehte zu ihnen herüber, dazu leises Getuschel, welches aber nicht zu verstehen war. Plötzlich stieß Oktober gegen den plötzlich stehengebliebenen Juli. Seine sowieso in Mitleidenschaft gezogene Nase signalisierte ihm, dass sie nicht glücklich über eine erneute Kollision mit etwas hartem war. „Warum bleibst du stehen?“, fragte er. Juli sah peinlich berührt aus. „Ich will nicht der Erste sein, der ankommt. Meine letzte Anwesenheit bei den anderen war vielleicht nicht ganz so … vorteilhaft.“ „Du hättest einfach nicht nur mit Mai abhauen sollen“, stellte September fest. „Und nicht ganz so vorteilhaft ist eindeutig eine ziemliche Untertreibung“, setzte August nach. Juli funkelte die beiden böse an. Dafür, dass die beiden Monate den Ruf hatten, sich nicht leiden zu können, gaben sie ein ziemlich gut funktionierendes Team ab. Wenn er sich denn anmaßen durfte, die beiden als Team zu bezeichnen. „Könnt ihr eure kleinen typisch männlichen Muskelspielchen bitte später weiterführen?“, wandte sich November an die drei. Peinlich berührt setzten sie ihren Weg fort. Letztendlich war es November, die zuerst einen Blick in die Felsspalte werfen konnte, in welcher fast ein halbes Jahr gefangen war. Juni schlug die Hände vors Gesicht, als er sie sah. „Haben wir eigentlich nur Pech?“, fragte er, und Oktober war sich sicher, dass er nicht gemerkt hatte, dass er seinen Gedanken laut ausgesprochen hatte. Novembers Miene verfinsterte sich. „Allein für diese Begrüßung sollte ich dich da unten verrotten lassen“, gab sie kühl zurück. „Aber da ich nun schon hier bin …“ „Hallo Tante November“, begrüßte April sie freundlich lächelnd. „Hast du uns was zu essen und zum Spielen mitgebracht?“ Oktober zog November geistesgegenwärtig vom Rand der Felsspalte zurück, andernfalls hätte sie sich vermutlich direkt hinunter und April an die Kehle gestürzt, und bedeutete September und August, das Seil, welches sie zur Rettung ihrer Kollegen mitgenommen hatten, in die Spalte herunterzulassen. „Immer schön einer nach dem Anderen!“, bat September. Ein kleiner Tumult schien am Boden des Felsspaltes zu entstehen, dann spannte sich das Seil mit einem Ruck. Da sich November wieder soweit beruhigt hatte, dass Oktober sie losgelassen hatte, konnten sie helfen, das Seil festzuhalten, während die einzelnen Monate des ersten Halbjahres aus ihrem Gefängnis heraufkletterten. Zuerst kamen die Damen – eine erleichtert aussehende Frau März folgte einer grinsenden April – danach folgten Juni, Februar und zu guter Letzt Januar. Letzterer sah glücklich in die Runde. „Danke für die Rettung“, sagte er. „Ohne euch hätten wir es vermutlich nicht geschafft.“ Die anderen Geretteten nickten zustimmend, obwohl Juni sich einen kurzen Kommentar über Juli und „eine frühere Möglichkeit zur Rettung“ nicht verkneifen konnte. „Was ist eigentlich genau passiert?“, fragte September. „Unser Wissen ist leider sehr begrenzt, was die Situation angeht.“ Und so begannen die Monate zu erzählen, was sich während ihrer Schichten zugetragen hatte. August, September und Oktober hörten genau zu, November betrachtete ihre Fingernägel, schien aber der Erzählung trotzdem zu folgen. Als Juni schließlich damit endete, wie Juli Mai gerettet, den Rest allerdings zurückgelassen und ihren fruchtlosen Versuchen, ihrem Gefängnis zu entkommen, überlassen hatte, waren alle Mienen der jüngeren Monate nachdenklich geworden. „Die Geschichte scheint größere Dimensionen zu haben als angenommen“, murmelte September. „Was ist nur los mit diesem Jahr?“ Niemand antwortete ihm. „Wie dem auch sei, ihr müsst hungrig sein“, wechselte Oktober in diesem Moment das Thema. „Sofern ihr mögt, ich hab ein wenig Kürbisbrot dabei.“ Seine alltägliche Speise wurde mit einer Begeisterung angenommen, die er nicht für möglich gehalten hatte. Während jeder von ihnen seine Brotscheibe verzehrte, herrschte wieder Stille. „Juli Jones, was war jetzt eigentlich der Plan, den Mai und du verfolgt haben?“, fragte Juni plötzlich. Alle Augen wandten sich zu Juli, der einen Seufzer ausstieß. „Ihr würdet es mir sowieso nicht glauben …“, verweigerte er mit einem Kopfschütteln eine Antwort. „Sei dir da nicht so sicher“, widersprach Oktober. „Nach all dem, was dieses Jahr scheinbar schon vorgefallen ist …“ Überraschend für alle Anwesende wurde die Aufmerksamkeit auf ein gurrendes Geschöpf gelenkt, welches auf Oktobers Schulter landete. Dieser stieß einen Laut der Freude aus. „Oh, das ist ja eine von meinen Tauben“, murmelte er glücklich. „Und einen Brief hat sie uns auch mitgebracht.“ Er reichte das Schriftstück an März weiter, fischte ein paar Kürbiskerne aus seiner Tasche und hielt sie der Taube zum Dank hin. Während diese die Mahlzeit dankbar annahm, entfaltete März das Blatt. „Es ist von X!“, brachte sie hervor. „Was steht drin?“, kam es fast gleichzeitig von den versammelten Monaten, ausgenommen April, die damit beschäftigt war, Oktober beim Füttern seiner Taube zu beobachten und November, die betont desinteressiert am Rande der Gruppe stand. März räusperte sich. Hallo Monate, welch unerwartete Wendung des Geschehens! Ich hätte nie gedacht, dass August sich von seinen Studien losreißen würde. Oder das die werte November ihr pompöses Heim verlassen würde, welches im Übrigen einen neuen Anstrich vertragen könnte, meine Liebe. Aber ich bin nicht böse, dass nicht alles nach Plan verlaufen ist, so bekommt alles noch eine gewisse Würze, nicht wahr? Wie dem auch sei. Da wir Junis Schicht hinter uns gelassen haben dürfte euch klar sein, dass der Frostapparat ausgedient hat und unwiederbringbar verloren ist. März hielt inne, das betretene Schweigen machte ihnen allen klar, dass die Situation für sie nicht gut aussah. Selbst April und November waren nun aufmerksam geworden. „Weiter“, forderte letztere knapp, aber energisch. Die Anmerkung über ihr Haus hatte ihr laut ihrem Gesichtsausdruck übel aufgestoßen. Außerdem stand ihr die Frage ins Gesicht geschrieben, warum X wusste, wie es in ihrem Haus aussah. Hatte sie ihn vielleicht schon einmal zu Besuch gehabt? Eigentlich konnte sie sich das nicht vorstellen, aber trotzdem … März seufzte, fuhr aber fort. Da ich jedoch großzügig bin, gebe ich euch noch eine letzte Chance, Herrn Mutter und damit die verbleibenden Wettermaschinen zu retten. Zumindest drei von euch müssten wissen, wo Dezember sich aufhält. Dort werdet ihr zum letzten Mal die Möglichkeit haben, euch zu beweisen. Mai und ich warten auf euch. X Schweigen legte sich über die Gruppe. Passend zum Ende des Jahres würde also ihre Frist auslaufen. „Wir dürfen nicht versagen, oder?“, fragte September leise in die Runde. „Sieht so aus“, antwortete Juli, dessen Hände zu Fäusten geballt waren. Es war offensichtlich, dass er sich um Mai sorgte, die scheinbar immer noch in den Händen von X war. „Wir sollten keine Zeit verlieren, wer weiß, was X für uns geplant hat.“ März sah in der Runde herum. „Wer von euch kennt den Weg zu Dezember?“, wollte sie wissen. „Ich denke doch mal, Januar und November wissen auf jeden Fall Bescheid, oder?“ „Ja“, antwortete November, die immer noch säuerlich dreinblickte. „Es ist zwar ein Wunder, dass ich freiwillig den Giftzwerg aufsuche, aber … scheinbar liegt euch allen viel an diesen Maschinen. Und ich habe da noch ein paar Hühner zu rupfen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)