A hard another life von Issura (Das Leben läuft manchmal nicht so, wie man es will.) ================================================================================ Kapitel 3: Schwarzer Stoff und verkohltes Holz ---------------------------------------------- Es war ein warmer Herbstmittag. Die Sonne stand im Zenit, wärmte die Erde mit ihren gleißenden Strahlen und ließ das Wasser, das mit grausamer Unaufhaltsamkeit über das Bachbett glitt, glitzern und funkeln. Die Tiere und Insekten, die sich auf den nahen Winter vorbereiten mussten, huschten durch das hohe Gras der Lichtung und gingen ihren alltäglichen Beschäftigungen nach. Eine leichte Brise glitt durch den Wald und wiegte die Grashalme hin und her, sodass ihr leises Rauschen sanft über die Wiese schallte. Doch dies alles nahm ich in diesem Moment gar nicht wahr. Selbst meine Schmerzen waren vergessen. Meine vor Schreck und Entsetzen geweiteten Augen blickten noch immer das Spiegelbild an und ich begann stark zu zweifeln, ob das überhaupt mein Gesicht war, das sich im Bach spiegelte. Es sah meinem wirklich ähnlich, doch es wies einige entschiedene Kontraste auf. Das, was mir sofort ins Auge sprang, war zum einen, dass die Pupillen seltsam und unmenschlich schmal waren. Außerdem hatte sich die Farbe meiner Iris stark verändert und leuchtete nun in einem satten Dunkelgrün. Und zum anderen ragten seltsame Dreiecke in der Farbe meines hellbraunen Haares aus meinem Kopf. Mein Mund klappte vor Erstaunen auf und entblößte zwei Reihen äußerst spitzer Zähne, als ich bemerkte, dass ich diese Dreiecke bewegen konnte. Mal nach links, mal nach rechts. Dann wieder steil nach oben und schließlich flach angelegt. Eine dunkle Vorahnung beschlich mich und ich hob die Hand, um an ihnen zu ziehen. Sie gingen nicht ab und ich zuckte angesichts des plötzlich aufkommenden Schmerzes zusammen. Somit gab euer lieber Sam bald wieder auf. Tatsächlich. Es waren Ohren. Kein Zweifel. Aber wie konnte das nur sein? Begierig darauf, herauszufinden, was noch alles anders war, untersuchte ich nun auch meinen restlichen Körper und entdeckte zwei weitere Veränderungen: Die Nägel an meinen Fingern waren um einiges härter, länger und spitzer, fast als wären sie Krallen. Und dann hatte sich auch noch mein Steißbein zu einem, nun ja, Katzenschwanz verlängert. Okay, jetzt reicht’s! Ich hatte nun genug gesehen! Angesichts all dieser erschreckenden Tatsachen stiegen mir die Tränen in die Augen. Ich stieß einen Schrei aus. Sekundenlang klang er über die Lichtung und schreckte alle Tiere auf, die sich in der Nähe befanden. Als ich nicht mehr konnte, krümmte ich mich zusammen und ließ nun endlich dem Schwall meiner Tränen freien Lauf. Es war schrecklich. Einfach nur schrecklich. Das Schrecklichste überhaupt. Oh entschuldigt! Ihr wisst ja noch gar nicht genau, in was für einer misslichen Lage ich mich befand! Obwohl es bestimmt schon einige von euch ahnen, rede ich jetzt einmal Klartext! Nun, Tatsache war, dass mich jemand – oder etwas – in ein Art Mischwesen aus Mensch und Katze verwandelt hatte. Obwohl es all meinem bisherigen Wissen widersprach, war es auf jeden Fall Magie gewesen, die mir dieses komische Aussehen gegeben hatte. Ich war mir auch ziemlich sicher, dass es kein Albtraum war. Nein, das war schlichtweg zu schrecklich, um aus meiner Fantasie zu entspringen. Es war die bittere Wahrheit. Nach Stunden, so schien es mir, hatte ich mich wieder ein klein wenig beruhigt und konnte endlich klar denken. Plötzlich fielen mir wieder die kürzlichen Ereignisse und meine Flucht ein. Ich ließ alles noch mal Revue passieren und erkannte, dass nun einiges einen Sinn hatte und logisch erklärbar war. Da war zum einen die Tatsache, dass mich diese Spielleute wie ein Tier eingesperrt und gefangen gehalten hatten. Sie mussten in mir gewiss irgendeine Art Tier oder magisches Wesen gesehen haben, das sie gut für ihre Shows verwenden konnten. „Hehe, da haben sie wohl die Rechnung ohne mich gemacht!“, murmelte ich und ließ durch ein Lächeln meine Zähne aufblitzen. Außerdem war es nun logisch, wieso ich im Dunkel überhaupt sehen konnte. Diese Augen mussten für die Fähigkeit zuständig gewesen sein. Und dann war da noch das deutlich verbesserte Hör- und Sehvermögen. Doch eine Frage schwirrte noch immer in meinem Kopf und blieb unbeantwortet: Wie bin ich nur zu den Spielleuten gekommen? Und wo war ich überhaupt? Was sollte ich tun? So sehr ich mir auch das Hirn vor Überlegungen zermarterte, mir fiel einfach keine plausible Erklärung ein. Enttäusch über diese Unwissenheit setzte ich mich nun endlich wieder gerade hin. Es half alles nichts. Das einzig Richtige war wohl, einfach weiter in dieselbe Richtung zu gehen. Da ich schon viel zu lange an diesem Ort verweilt hatte, beschloss ich, aufzubrechen. Der Schreck war überwunden und ich hatte mich endlich wieder einigermaßen gefasst. Voller Tatendrang stemmte ich die Hände auf den Boden und ... ein schmerzerfülltes Jaulen aus meiner Kehle zerriss die Luft. Meine rechte Hand war nicht wie erwartet auf dem Boden aufgekommen, sondern ich hatte sie mit voller Wucht auf den Schwanz geknallt. „Autsch, dummes Ding!“, schimpfte ich und schlug ihn zur Seite. Das fing ja schon einmal gut an! In dem Bewusstsein, dass sich so einiges an meinem Körper verändert hatte, stand ich nun etwas vorsichtiger auf. Dieses Mal gelang es, doch, als ich den Schwanz währenddessen nach links schwenkte, verlor ich kurz das Gleichgewicht, konnte mich aber noch im letzten Moment fangen und auf zwei Beinen aufrichten. Puh, wer hätte gedacht, dass Aufstehen so schwer sein konnte? Danach machte ich ein paar unsichere Schritte und verließ die Lichtung. „Ach, komm schon! Vorhin hattest du auch keine Probleme beim Laufen!“, sagte ich zu mir selbst und versuchte weiterhin angestrengt, wieder normal laufen zu können. Und siehe da. Es klappte. Schon recht bald fand ich heraus, wie ich mich bewegen musste und, wie ich den Schwanz zum Ausbalancieren nutzen konnte. Endlich setzte ich meine Reise fort, weiterhin darauf bedacht Gefahren, wie wilde Tiere, frühzeitig zu erkennen. Dabei halfen mir mein deutlich verbessertes Hör-, Seh- und Geruchsvermögen. Zwar kannte ich die meisten Gerüche nicht, doch wenigstens konnte ich durch den Rückenwind bemerkten, ob mich doch noch Spielleute verfolgten. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten kam ich schnell voran. Die Sonne ging unter und versank hinter meinem Rücken im Westen. Als die letzten rot-orangen Strahlen am Firmament leckten, beschloss ich, mir einen geeigneten Unterschlupft zu suchen, um dort die Nacht zu verbringen. Schnell wurde ich fündig und fand eine kleine leere Höhle unter einem der riesigen Bäume. Ich passte gerade noch rein und sie bot einen idealen Schutz. Das Einzige, das mich störte, waren der furchtbar eklige, modrige Geruch und die Tatsache, dass ich wieder im Dreck schlafen musste. Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um wählerisch zu sein! Also schluckte ich all meinen Ekel hinunter, kroch in die Höhle und suchte mir einen geeigneten und einigermaßen sauberen Platz, um mich dort hinzulegen. Die Erschöpfung übermannte mich und ich fiel in einen traumlosen Schlaf. Tiefes Knurren weckte mich. Höchst alarmiert über dieses Geräusch stand ich sofort auf und knallte mit dem Kopf an die niedrige Höhlendecke. Der Stoß war so heftig, dass ich wieder zurück auf meinen Hintern fiel. „Verdammt!“, war das Einzige, das durch meine zusammengepressten Lippen kam, während ich mir mit der einen Hand den Kopf und mit der anderen mein Hinterteil rieb. Plötzlich kam das Knurren wieder und endlich wusste ich auch, woher es kam: Es war nichts weiter als der nagende Hunger, der meinem Magen zu schaffen machte. Ich verzog das Gesicht, als ich daran dachte, dass ich schon seit geraumer Zeit nichts mehr gegessen hatte. Jetzt hieß es wohl, etwas Essbares zu finden. Voller Tatendrang und begleitet vom Knurren meines Magens schlüpfte ich aus meinem Unterschlupf und machte mich ran, die Umgebung abzusuchen. Erst jetzt, im frühen Morgenlicht, bemerkte ich, dass sich der Wald verändert hatte. Die Bäume standen nicht mehr so nah beieinander und das Unterholz war nun viel dichter. Zudem lichtete sich der Wald im Osten so sehr, dass man dahinter eine weite Grasebene erkennen konnte. Ich musste wohl fast das Ende des Waldes erreicht haben. Nach kurzer Zeit wurde ich fündig und stand vor einem Busch, an dessen Äste dicke, rote und saftige Beeren hingen. Ich kannte sie zwar nicht, doch für mich sahen sie essbar aus. Also pflückte ich eine Hand voll und stopfte sie mir auf einmal in den Mund. Sie schmeckten sowohl sauer als auch süß und enthielten sehr viel Flüssigkeit. „Hmmm“, brachte ich nur heraus und pflückte gleich noch eine Hand voll, stürzte mich quasi wie ein wildes Tier darauf. Dies machte ich so oft, bis ich satt und der Busch fast leer gepflückt war. Ich wischte mir den Beerensaft vom Mund, stand auf und wandte mich mit nun vollem Magen wieder gen Osten und setzte meinen Weg fort. Es dauerte nicht einmal eine Stunde, da erreichte ich endlich das Ende des Waldes. Vorsichtig versteckte ich mich hinter einem Baum und blickte auf die weite Ebene, die sich mir bot. Alles war überzogen mit saftigem, giftgrünem Gras, das nur vereinzelt von kleinen Baumgruppen durchbrochen wurde. An manchen Stellen sprossen sogar Blumen so dicht aus dem Boden, sodass es aussah, als hätte jemand einen riesigen bunten Teppich über das Land gelegt. Mein Blick wanderte nach Süden und ich konnte ein kleines Dorf von etwa dreißig Häusern erkennen, das von Feldern umringt war, auf denen Getreide und andere Nutzpflanzen wuchsen. „Aha, ein Bauerndorf also!“, murmelte ich und bemerkte, dass ein Haus stark abseits des Dorfes stand. Es hatte nur ein Stockwerk und ein Stall stand daneben. Dies musste wohl der Bauernhof eines reicheren Bauers sein, der nicht auf die Hilfe von anderen Dorfbewohnern angewiesen war. Eine Straße, die ein paar Meter vor meinem Standpunkt entlang lief, führte direkt zum Bauernhof und das dahinter liegende Dorf. Ich wollte schon aus dem Wald treten und auf die Häuser zulaufen, als mir plötzlich ein wichtiger Punkt in den Sinn kam: In meiner jetzigen Gestalt kann ich mich nicht einfach unter die Menschen wagen! Sie würden höchstwahrscheinlich in Panik ausbrechen und mich verjagen oder, schlimmer noch, mich wie die Spielleute einsperren und wie eine Attraktion ausstellen. Es musste also ein Plan her, wie ich mich unbemerkt unter Menschen aufhalten konnte. Enttäuscht und mit hängenden Ohren ließ ich mich auf den Hosenboden plumpsen, während ich fieberhaft nach einer Lösung suchte. Wie schon so oft verfluchte ich meine neue Gestalt und das Schlamassel, in dem ich nun steckte. Die Verzweiflung trieb mir die Tränen in die Augen. Wenn ich denjenigen fand, der mir dies angetan hatte, dann wird er teuer dafür büßen müssen! Ich wollte schon wütend aufknurren, als mich plötzlich eine Bewegung am Bauernhof innehalten ließ. Aufmerksam stellte ich die Ohren nach vorne und blickte in diese Richtung. Mein Schwanz zuckte, als ich eine Frau bemerkte, die zwischen den Häusern hervortrat. Sie trug ein langes Kleid und hatte einen Korb voller Wäsche, den sie nun abstellte und damit begann, sie auf einer Leine aufzuhängen. Plötzlich kam mir eine brillante Idee! Geduldig wartete ich, bis die Frau mit ihrer Arbeit fertig war und im Haus verschwand. Anschließend stand ich auf und eilte querfeldein zum Bauernhof, während ich penibel darauf achtete, dass mich keiner sah. Somit gelangte ich ohne Zwischenfälle an mein Ziel und kauerte mich am Rand des Grundstücks ins hohe Gras. Suchend schweifte mein Blick über die Kleidungsstücke und ich entdeckte, wonach ich suchte: Am Rand hing ein langer, schwarzer Umhang mit einer Kapuze und wehte munter im Wind. Dies war die perfekte Verkleidung! Vorsichtig horchte und schnüffelte ich in die Luft, um ganz sicher zu sein, dass niemand in der Nähe war, der mich sah und überrumpeln konnte. Als ich mir sicher war, dass die Luft rein war, sprang ich mit einem Riesensatz aus meinem Versteck, rannte zum Umhang und pflückte ihn von der Leine. Sofort machte ich wieder kehrt und rannte zu meinem Versteck zurück. Dort setzte ich mich wieder ins Gras und betrachtete meine Beute. Wie ich schon aus der Ferne erkannt hatte, war der Umhang schwarz, doch was ich jetzt erst sah, waren die verschnörkelten Muster, die mit dunkelrotem Faden eingewebt waren. Ich rümpfte die Nase. Dunkelrot war nicht gerade meine Farbe. Außerdem bestand das Kleidungsstück aus rauem Stoff von niederer Qualität. Nun ja, es ging ja wohl nicht anders. Nach kurzem Zögern stülpte ich mir den Umhang um. Er war etwas zu lang, aber immerhin noch besser als viel zu kurz. Mit dieser neuen Errungenschaft stand ich wieder auf und lief zur Straße. Dieses Mal wandte ich mich zum Dorf. Bevor ich aber einen Fuß auf den gekieselten Weg setzte, zog ich mir noch schnell die Kapuze über den Kopf, sodass nun auch meine Ohren verschwunden waren. Das einzig Sichtbare, das nicht menschlich war, waren nur noch die spitzen Reiszähne aus meinem Oberkiefer und meine Augen. Ich musste also den Kopf gesenkt halten oder die Kapuze tiefer ins Gesicht ziehen, wenn ich auf Menschen traf. Als alle Vorbereitungen getroffen waren, setzte ich meinen Weg fort und ging Richtung Dorf. Wieso ich dort hin ging, wollt ihr wissen? War das nicht offensichtlich? Okay, da ihr doch nicht so weise seid, wie ich angenommen hatte, werde ich es euch gerne erklären. Wie ihr hoffentlich noch wisst, haben mich die Spielleute einfach irgendwohin verschleppt. Da ich Tarir noch nie weiter als ein paar hundert Meter verlassen hatte, hatte ich somit keine Ahnung von der Struktur und des Aufbaus von Lyrius. Meine Erdkundekenntnisse waren also nicht gerade ... prächtig. Tja, somit hatte ich immer noch keinen blassen Schimmer, in welcher Richtung sich Tarir befand. Und genau das möchte ich nun herausfinden! In der Hoffnung, dass irgendjemand dieser Bauern wusste, wo die Hauptstadt lag, ging ich nach kurzer Zeit an den ersten Häusern vorbei. Doch es war seltsam still. Kein einziger Mensch zeigte sich auf der Straße, als hätten sie sich ängstlich in ihren Häusern verkrochen. Doch was jagte ihnen Furcht ein? Doch nicht etwa ich? Ich konnte es mir nicht erklären. Schließlich gelangte ich zum Dorfplatz und endlich traf ich auf menschliches Leben. Erleichtert beobachtete ich, wie ein älterer Herr mit grauem Haar und dichten Bart einen Karren entlud, auf dem sich ein halbes Dutzend Fässer befanden. Dieser Karren wurde von einem mageren braunen Pferd gezogen. Mich wunderte es, dass es diesen Wagen überhaupt ziehen konnte. Etwas unsicher schritt ich zum Mann, zog mir die Kapuze tiefer ins Gesicht und blieb vor ihm stehen. „Entschuldigt, werter Herr, könnt Ihr mir sagen, in welcher Richtung die Stadt Tarir liegt?“ Offensichtlich überrascht über diese plötzliche Gesellschaft, blickte der Mann von seinen Fässern auf und betrachtete mich eingehend. Lange Zeit sagte er nichts und ich hatte schon Angst, etwas Falsches gesagt zu haben, aber dann antwortete mein Gegenüber dann doch: „Tarir, sagst du? Das liegt südöstlich von hier!“ Seine Stimme war tief und rau, hatte aber dennoch einen sanften Unterton. Die Falten im Gesicht des Mannes strafften und vertieften sich bei der kleinsten Bewegung. Ich wollte mich schon bedanken, als der Alte fortfuhr: „Zu Fuß brauchst du noch einen ganzen Tag, aber ich könnte dich mitnehmen, wenn du willst. Ich bin nämlich auf dem Weg dort hin. Außerdem würdest du es dann in weniger als einem halben Tag schaffen.“ Ich zögerte. Das Angebot war wirklich verlockend, aber auch gefährlich, wenn ich meine Gestalt nicht preisgeben wollte. Aber was konnte mir ein alter, gebrechlicher Mann schon antun? Außerdem brauchten meine Füße dringend eine Auszeit. „Ich nehme das Angebot gerne an, wenn es Ihnen keine Umstände bereitet“, antwortete ich schließlich. Daraufhin lächelte der Alte und grub somit noch mehr Falten in sein Gesicht. Er wies mich an, schon mal auf dem Karren Platz zu nehmen, während er noch die letzten Fässer entlud. Ich stieg vorne auf die Sitzbank und setzte mich, während ich darauf achtete, mein Hinterteil nicht auf dem empfindlichen Schwanz zu platzieren. Wenig später kam der Alte und setzte sich neben mich. Er nahm die Zügel in die Hand und gab ein Kommando, woraufhin sich das Pferd in Bewegung setzte und in einen schwungvollen Trab fiel. Wir fuhren durch das immer noch stille Dorf und erreichten bald dessen Ende. „Ich heiße übrigens Gret und du kannst mich ruhig duzen“, sagte mein Sitznachbar schließlich, als wir das Dorf verließen. „Und meine Name ist Sam. Nochmals danke, dass du mich mitnimmst“, erwiderte ich, woraufhin Gret gutmütig lächelte. Ich war froh, dass ihn mein Erscheinungsbild nicht sonderlich stark verwunderte, sodass ich keine unangenehmen Fragen beantworten musste. Offensichtlich hatte er schon oft mit subtilen Gestalten zu tun. „Weißt du, weshalb es so still in diesem Dorf ist?“, führte ich das Gespräch vorsichtig weiter fort. Gret lächelte traurig und ließ wieder einen Faltenkranz um seine Augen entstehen. „Du musst wissen, Sam, in dieser Gegend wurden in letzter Zeit häufig Räuberbanden gesichtet. Sie ziehen umher und plündern jedes Dorf, auf das sie stoßen. Davor haben die Menschen natürlich Angst und verbarrikadieren sich in ihren Häusern. Es wundert mich, dass unser König noch nichts dagegen unternommen hat. Vielleicht ist er gerade sehr beschäftigt oder er hat noch nichts davon gehört. Nichtsdestotrotz müssen wir heutzutage überall auf der Hut sein.“ „Aber was ist mit dir? Hast du etwa keine Angst, dass dich die Räuber überfallen?“ Ich betrachtete ihn neugierig. „Ach, wer würde schon einen alten, harmlosen Mann angreifen? Schließlich gibt es bei mir eh nichts zu holen. Außerdem steckt in mir fiel mehr, als zu sein scheint“, erklärte Gret und trieb weiter sein Pferd an. Mich überraschten seine letzten Worte. Staunend betrachtete ich ihn und fragte mich, was er damit gemeint hatte. Doch ich ging nicht näher darauf ein und unterhielt mich mit ihm über andere Themen. Die Zeit floss schnell dahin und schon bald wurde es Nachmittag. Während der Unterhaltungen hatte ich vieles über Gret in Erfahrung gebracht. Er hatte vor vielen Jahren in einem Fischerdorf am Meer gelebt, das an der Grenze von Lyrius lag. Doch als seine Frau und seine Tochter eines Tages an einer mysteriösen Krankheit gestorben waren, hatte er beschlossen, im Land umherzuziehen, um nicht am Ort seiner größten Tragödie zu verweilen. Er hatte schon viel gesehen und erlebt und währenddessen kleine Lieferdienste und andere Arbeiten zum Geldverdienen übernommen. „Genau wie heute. Ich musste eine Lieferung Met von Tarir in das Dorf vorhin bringen. Und jetzt muss ich zurück, um die Belohnung abzuholen“, erklärte er mir. Ich gab herzlich wenige Informationen von mir preis, denn ich hatte Angst, dass er mir doch noch die Frage stellte, woher ich kam oder was ich hier machte. Ihr müsst wissen, dass ich ein ziemlich schlechter Lügner bin. Schon bald kam Tarir in Sicht und mein Herz machte beim Anblick meiner Heimatstadt einen glücklichen Satz. Endlich hatte ich mein Ziel erreicht. Allmählich kam mir auch die Umgebung bekannt vor, in der nun immer mehr Menschen in Sicht kamen. Sie liefen in den umliegenden Dörfern umher und einige strömten, wie wir, auf die Stadttore zu. Es sah aus, als würden Ameisen zurück zu ihrem Bau laufen. Nach einigen Metern konnte ich den breiten Meeresarm erkennen, an dem Tarir lag, und fernes Rauschen drang an meine Ohren, das durch die Kapuze leicht gedämpft klang. Die Stadt war auf einem großen Hügel erbaut worden, auf dessen höchsten Punkt die Burg von König Richard thronte. Darunter erstreckten sich stufenweise die verschiedensten Viertel: Angefangen mit dem Adelsviertel ging es über das Kaufmanns- und Geschäfteviertel über zum Armenviertel. Da mein Vater ja ein reicher Kaufmann war, wohnten wir also am Rande des Kaufmannsviertels, wo es schon in den Stadtbezirk des Adels überging. Somit waren wir weit weg von den stinkenden Armen. Als der Karren, auf dem Gret und ich saßen, das Stadttor passierte, war es schon später Nachmittag. Ich war wirklich erleichtert, dass wir es noch geschafft hatten, bevor die Wachen die Stadttore schlossen. Wir kamen zu einem Platz, in dessen Mitte zwei Soldatenreihen von je sechs Mann standen, die jeden Ankömmling ernst und durchdringend betrachteten. Gret fuhr an den Rand des Platzes und hielt dort sein Pferd an. „So, ich fürchte, hier trennen sich unsere Wege. Schließlich haben wir unser Ziel erreicht. Es war eine schöne Abwechslung, mit dir zu reisen, Sam. Vielleicht kreuzen sich unsere Wege ja noch einmal. Mich würde es auf jeden Fall freuen“, sagte Gret zu mir und lächelte mich an. Ich sprang von der Sitzbank auf den Boden neben dem Wagen und wandte mich noch ein letztes Mal zu dem alten Mann. „Vielen Dank, dass du mich mitgenommen hast. Ich würde mich erkenntlich zeigen, aber leider besitze ich nichts, das ich dir geben könnte“, waren meine Abschiedsworte. Eigentlich hätte ich mich verbeugen müssen, wie es die Etikette verlangte, aber da war mein Stolz doch dagegen. Komm, hast du schon einmal von einem reichen Mann gehört, der sich vor jemandem von niederer Klasse verbeugt hatte? Es schien Gret sogar nicht zu stören, dass ich es nicht tat, denn er lächelte noch einmal und sagte nur: „Ist nicht der Rede wert. Ich verlange keine Gegenleistung. Auf Wiedersehen, Sam.“ Anschließend trieb er das Pferd wieder an und fuhr davon. Ich konnte ihm nur noch ein „Auf Wiedersehen“ hinterher rufen und schon stand ich alleine in der Menschenmenge. Was für ein eigenartiger Mann das doch war. Ich zögerte nicht lange und machte mich nun weiter auf den Weg. Schnellen Schrittes verließ ich den Platz und lief auf der Hauptstraße in Richtung des Bezirkes, in dem mein Haus war. Ich konnte es kaum erwarten, wieder zu Hause zu sein. Was wohl mein Vater zu meiner langen Abwesenheit sagen würde? Hatte er schon damit begonnen, vor lauter Sorge die ganze Stadt nach mit zu durchsuchen? Oder war er stinksauer, weil ich so lange nicht aufgetaucht war? Schließlich wusste ich nur zu gut, was für ein hitziges Gemüt er manchmal besaß. Nun ja, ich konnte wirklich hoffen, dass meine erste Vermutung zutraf. Ich hatte keine Lust auf Ärger oder irgendwelche Strafen. Darüber, was mein Vater zu der absurden Gestalt seines Sohnes sagen würde, machte ich mir überhaupt keine Gedanken. Es erfreute mich, dass mir die Menschen, denen ich auf meinem Weg begegnete, keine komischen Blicke wegen meines Auftretens zuwarfen. Sie schienen mich gar nicht zu beachten und gingen einfach ihren eigenen Beschäftigungen nach. In ihren Augen konnte ich die verschiedensten Gefühle erkennen. Von Teilnahmslosigkeit über Gestresstheit bis zu Zorn und Angst war alles vertreten. Ohne groß darauf zu achten, ging ich einfach an ihnen vorbei, schließlich hatte ich gerade genug eigene Probleme. Als die Sonne fast vollständig untergegangen war, bog ich in die Seitenstraße ein, in der mein Haus lag. Augenblicklich umfing mich Stille, denn auf dieser Straße war es zu dieser Tageszeit menschenleer. Nur noch ein paar Schritte und ich war daheim. Ich konnte schon den Vorhof sehen. Hocherfreut ging ich um die Ecke und ... blieb plötzlich wie erstarrt stehen. Schreck und blankes Entsetzen durchfuhr meinen Körper und ließ mich auf die Knie fallen. „Nein ... nein ... nein. Das kann nicht sein!“, brachte ich nur heraus. Meine Stimme war nur ein leises, kaum hörbares Flüstern. Die Nacht war hereingebrochen und eine leichte Brise hob mir die Kapuze vom Kopf, doch dies kümmerte mich nicht im Geringsten. Im Gegenteil: Ich bemerkte es nicht einmal angesichts dessen, was sich vor mir erbot. Ich spürte überhaupt nichts, als mein Blick über die verbrannten und zertrümmerten Teile von dem glitt, was ich einmal mein Zuhause nannte. ~Schwarzer Stoff und verkohltes Holz-Ende~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)