Weiß von Bibbsch (Es ist kalt.) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Weiß Nur für einen kurzen Moment öffnet Dean die Augen, dann wird er geblendet von dem grellen Weiß um ihn. Er weiß nur, dass er liegt, er erkennt es daran, dass die Schneeflocken, die auf sein Gesicht fallen, von oben kommen, also muss er unten sein. Oder? Er schließt wieder die Augen und versucht sich zu erinnern, was passiert ist. Seine Gedanken bleiben weiß. Kein Bild. Kein Ton. Nichts. Er weiß auch nicht, wo er ist, das einzige, was er in dem kurzen Moment gesehen hat, als er die Augen geöffnet hatte, war eine endlos gleißende Landschaft von Schnee. Er spürt auch seine Beine nicht, seine Arme nicht, er weiß nicht, ob es von der Kälte kommt oder andere Ursachen hat. Und er spürt ein Brennen in seinem Brustkorb, seinen Lungen, als hätte sie jemand angezündet. Dean würde lachen über diese seltsame Tatsache. Lungen wie Feuer und Lippen wie Schnee. Seine Kehle ist trocken und auch sie brennt, und Dean versucht, mit seiner Zunge ein paar Schneeflocken einzufangen. Sein Kopf fühlt sich unendlich schwer an, und er würde ihn gern heben und erneut die Augen öffnen, um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Aber. Es geht nicht. Als Dean mit der Zunge über seine Lippen fährt, um noch mehr Schnee zu fangen, schmeckt er gefrorenes Blut. Er weiß nicht, woher es kommt. Aus seiner Nase? Von seiner Stirn, oder einer Schnittwunde irgendwo auf der Wange? Es ist kalt. Dean gleitet immer wieder in die Bewusstlosigkeit, oder vielleicht bildet er sich das auch nur ein; er weiß nie ganz, wann er wach ist oder nicht. Irgendwann, vielleicht Augenblicke, vielleicht Stunden später, hört er Schritte. Glaubt, dass es Schritte sind. Glaubt sich zu erinnern, dass Schritte auf frisch gefallenem Schnee sich so anhören. Knirschend, irgendwie dumpf. Als hätte er Watte in den Ohren. Die Schritte sind schnell, und sie verstummen irgendwo neben seinem Kopf, Dean glaubt auf Höhe seiner Schultern. Dann ein gedämpftes Geräusch, als würde man einen Sack in den Schnee fallen lassen. Dean spürt etwas an seinen Schultern, an seinem Bauch. Etwas. Kann es nicht einordnen. Dann ist da etwas Warmes, Sanftes auf seinen Wangen. Fingerspitzen? Engelsflügel? Und schließlich, unverkennbar eine Stimme. „Dean?“ Die Stimme klingt rau, eingefroren durch den kalten Wind, den Dean plötzlich über seine Ohren blasen spürt. “Sam“, will Dean sagen, und seine Zunge stößt gegen seine Zähne bei dem Versuch, aber Dean öffnet den Mund nicht und kein Laut kommt von seinen Lippen. Das Wort hängt irgendwo in Deans Rachen und kommt nicht weiter. Resigniert. Dean will die Augen öffnen, aber die Erinnerung an das gleißende Weiß schreckt ihn ab. Es fühlt sich an, als würde er erblinden, wenn er noch einen Blick wagen würde. Sam sagt jetzt immer wieder seinen Namen, und auch andere Dinge, viele aneinandergereihte Worte, ein schier endloser Strom. Dean versucht zu folgen, aber er kann nicht. Zu viel. Es braucht eine Weile, bis Dean bemerkt, dass Sam seine Wangen in beiden Händen hält und reibt. Deans Wangen fangen an zu kribbeln, und nach einer Weile spürt er, wie Blut durch sie fließt. Wohlig atmet er ein, und ignoriert dabei, wie sehr seine Lungen brennen. “Sam.“ Das Wort kämpft sich erneut seine Kehle hoch, überholt das erste und – bleibt hängen an Deans Gaumen. Steckt nun dort wie ein nasses Tuch und nimmt Dean für einen Moment den Atem. Sam redet immer noch auf ihn ein. Oder. Nein. Als der Name „Castiel“ fällt, bemüht sich Dean mit aller Macht, sich auf die Worte seines Bruders zu konzentrieren. „Du Mistkerl, worauf wartest du denn noch?“, hört Dean, und, „Hier gibt es weit und breit keine Hilfe!“ und dann noch ein paar Flüche, die Dean sicher stolz gemacht hätten, weil er sie selbst damals dem kleinen Sammy beigebracht hat. Plötzlich erinnert sich Dean an das Weihnachtsfest, an dem Sam und er einen Werwolf gejagt haben. Wie lange ist das her? Oder war es vielleicht gerade erst vor Tagen? Oder Stunden? Dean sieht sich neben seinem Bruder auf der Lauer liegen, wie sie warten auf einen verängstigten, neu geborenen Werwolf, der sich in den Wald geflüchtet hat. Der Hunger wird ihn in die Stadt zurücktreiben, das wissen sie, und deswegen liegen sie im Schnee auf der Lauer und beobachten jede kleinste Bewegung am Waldrand. Ist der Werwolf je aufgetaucht? Dean kann sich nicht mehr erinnern. Seine Gedanken werden unterbrochen, als Dean spürt, dass Sam nun angefangen hat, seine Hände warmzureiben. Ein Stechen, das von jeder Fingerwurzel bis zur Spitze fährt. Und immer noch verflucht sein Bruder Castiel und fleht und schreit, und Dean meint, Tränen zu hören, aber das ist Unsinn. Tränen kann man nicht hören. Oder? Und Blut fließt in seine Finger, die Sam stetig reibt, schmerzhaft durch seine Arme, wie kleine Stromschläge. Es fühlt sich an, als würde Deans Kopf in den Boden gedrückt. Immer mehr Blut fließt in seine Hände, die nun beinahe schon brennen wie seine Lungen, und immer weniger Blut erreicht seinen Kopf, seine Gedanken, seinen Verstand. Ist das eine Decke, die da auf ihm liegt? Wie ist sie...? Wann...? Langsam, unendlich langsam, fällt Dean. Nicht in eine unendliche Schwärze. Ins unendliche Weiß. Tiefer, tiefer. Beinahe ist er schon ganz auf dem Grund angelangt. Aber dann hört er es: Flügelflattern. Sam verstummt. Dean lächelt. Dann ist alles weiß. 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