Was du zu sehen glaubtest von SarahJW ================================================================================ Kapitel 3: 3 Maireed: Ein Buch mit sieben Siegeln ------------------------------------------------- Zwischen den Quartieren und der Zentrale fuhr stündlich und bis 20 Uhr Abends ein Pendelbus, den ich abends stets verpasste und morgens mied. Zu dem Zeitpunkt, zu dem ich aus dem Haus musste, waren viele Kadetten auf dem Weg zu ihrem Training und ich begegnete allzu oft dem ein oder anderen meiner Patienten, was den meisten sehr unangenehm, einigen weniger Genierten eine willkommene Gelegenheit, ein Gratistherapiegespräch abzugreifen, war. Im Sommer machte es mir in der Regel auch nichts aus, zu Fuß zu gehen, und auch an diesem kühlen, aber klaren Spätwintermorgen war mir der Spaziergang eine willkommene Quelle der Ruhe vor dem Sturm eines weiteren Arbeitstages. Jedoch ahnte ich auch, als ich - eingemummt in einen dicken dunkelgrünen Daunenmantel, komplett mit Schal, Handschuhen und einer warmen Synthetikfellmütze - der kalten Luft trotzte und den Fußweg zu meinem Büro in der Zentrale antrat, dass ich auch heute Abend den alltäglichen festen Vorsatz, zumindest den letzten Pendelbus zurück zu den Quartieren noch zu erwischen, nicht in die Tat umsetzen würde und somit wieder der Rückweg mich erneut zu Fuß durch die nächtliche Kälte und- schlimmer noch- Dunkelheit führen würde. Es sei denn, ich bekam, wie am gestrigen Abend, das unerwartete und erfreuliche Angebot einer Mitfahrgelegenheit geboten, jedoch war die Wahrscheinlichkeit gering, war doch die gestrige Gelegenheit überhaupt die erste solche seit Dienstantritt gewesen. Andererseits war ich auch nicht vollends betrübt darüber, denn allein beim Gedanken an die gestrige Fahrt stieg mir mein Morgenkaffee die Speiseröhre hinauf und ich musste ihn entschlossen wieder runterschlucken. Bemerkenswert war vor allem die Gelassenheit gewesen, mit der mein Chauffeur gestern noch in der Lage gewesen war, Smalltalk zu halten, während ich mich mit meinen Fingern schutzsuchend tief in das Sitzfutter seines Beifahrersitzes krallen musste. Zu mehr als: „Maireed. Das ist ein seltener Name. Irisch?“ „G-g-gälisch.“ „Ah. Gefällt mir. Hat er irgendeine Bedeutung?“ „K-k-keine Aaaahnung.“ (Das „A“ fiel in eine Linkskurve) „Geht es Ihnen gut?“ Er sah mich besorgt an. „Schauen Sie auf die Straße!!“ „Hey, keine Sorge. Ich weiß was ich tue. Wir sind ja auch schon da.“ waren wir aber ohnehin nicht gekommen, da Fireball für eine Strecke, für die jeder weniger verhaltensgestörte Verkehrsteilnehmer ungefähr sieben bis zehn Minuten gebraucht hätte, etwa zwei benötigt hatte. Ich fragte mich, ob ich auch nur die geringste Vorstellung davon hatte, welche nervliche Belastung es gewesen sein musste, zu den Star Sheriffs zu gehören. Mir ging das Hinterteil ja bereits auf Grundeis, wenn der Kerl auf einer vollkommen freien, überschaubaren, asphaltierten Strecke Gas gab. Dieselbe Situation auf einer unbefestigten Wüstenstraße mit einem halben Dutzend Outridern im Nacken, die auf mich schossen - undenkbar! Vielleicht musste ich versuchen, diesen weiteren Blickwinkel auch in die Begutachtung von Colt mit einzubeziehen, vorausgesetzt, dieser war denn überhaupt bereit, sich noch einmal bei mir blicken zu lassen. Ich erreichte mein Büro mit einer eiskalten Nase und knapp fünf Minuten Verspätung zu meinem ersten Termin. Die Sekretärin, welche die gesamte Medizinische Station, zu der ich gehörte, verwaltete, teilte mir nach einem Morgengruß mit, dass mein Termin bereits in meinem Zimmer wartete. Ich hasste das, konnte ihr jedoch keinen Vorwurf machen, da sie ohnehin schon vollkommen überfordert war, also bedankte ich mich, nahm Mütze, Schal und Handschuhe ab, strich mir die Haare einigermaßen in Form und betrat dann mein Zimmer, mit einem: „Entschuldigen Sie, ich bin auf dem Weg kurz aufgehalten worden“ auf den Lippen. Dann stockte ich, als ich meinen 9-Uhr-Termin erkannte, der bereits auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch saß und sich mir nun mit einem sarkastischen kleinen Lächeln halb zuwandte und erklärte: „Und ich hab schon gedacht, Sie hätten mich aufgegeben, Dok.“ „Colt!“, entfuhr es mir überrascht und etwas unüberlegt. „Na, bitte. Geht doch!“, antwortete er, stand nun auf und wartete, mit einer erneut unerwarteten Geste von Höflichkeit, bis ich meinen Mantel aufgehängt und schließlich hinter meinem Schreibtisch Platz genommen hatte, bevor er sich wiederum hinsetzte und mein etwas unangemessenes, erstauntes Schweigen kommentierte: „Ich freu mich auch, Sie wieder zu sehen.“ „Oh, natürlich. Ich bin sogar sehr erfreut, Sie wieder zu sehen, nur hatte ich ehrlich gesagt nicht damit gerechnet“, erläuterte ich wahrheitsgemäß und verfluchte mich gleichzeitig, es so formuliert zu haben. Zum einen signalisierte es nicht gerade Vertrauen, zum zweiten gab ich so Preis, dass ich mich nicht auf ein weiteres Gespräch mit ihm vorbereitet hatte. „Nun, ich gebe zu, wir hatten heute keinen Termin, aber ich bin heute morgen direkt als Erstes zu Ihrer reizenden Vorzimmerdame gegangen und habe sie gebeten, einen neuen Termin mit mir zu vereinbaren und die Gute empfahl mir dann, gleich hier zu bleiben, da Ihr eigentlicher 9-Uhr-Termin wohl kurzfristig grippebedingt abgesagt hat“, führte er gut gelaunt aus. Er war überhaupt nicht wieder zu erkennen, stellte ich fest. Abgesehen von seinem einleitenden Kommentar, der einen gewissen Sarkasmus nicht entbehrte, war er heute Morgen auffallend manierlich, freundlich und aufgeschlossen. Zu gerne hätte ich ihn gefragt, was seinen plötzlichen Sinneswandel ausgelöst hatte, aber ich hatte nicht vor, den Status quo durch irgendetwas zu gefährden, deshalb lächelte ich - und es war in meiner Erleichterung sogar ein ehrliches Lächeln - und nickte: „Gut. Das war eine ausgezeichnete Idee. Dann, ähm, nun ja… Lassen Sie mich doch…“ Ich beugte mich schon halb runter zu meinem Aktenschrank, um seine Akte wieder hervor zu holen, als mir einfiel, was ich heute auf dem Weg zur Arbeit noch über den weiteren Blickwinkel gedacht hatte und entschied, die Akte im Schrank zu lassen. Ich sah ihn an und diesmal wich er meinem Blick nicht aus, sondern schaute mich lediglich mit leicht schräger Kopfhaltung in Erwartung der Dinge, die da kommen mochten, ebenfalls aufmerksam an. „Möchten Sie mir etwas erzählen?“, fragte ich und war vielleicht ebenso überrascht, wie er, über mein plötzliches Abweichen vom Protokoll. Er sah mich für eine Sekunde konsterniert an, räusperte sich dann aber und erklärte: „Ja. Das kann ich machen. Gibt es etwas Bestimmtes, was Sie… äh… hören wollen?“ „Schießen Sie einfach los“, regte ich an und er musste offenbar unwillkürlich schmunzeln. „Ja, das dürfte ich können“, bemerkte er mit einem kaum merklichen Augenzwinkern. Dann räusperte er sich erneut, lehnte sich zurück, schaute an mir vorbei aus dem Fenster und machte ein nachdenkliches Gesicht: „Ich könnte Ihnen was über diesen Zwischenfall in dem Kasino erzählen. Aber um ehrlich zu sein, habe ich die Geschichte bei diversen Anhörungen und Verhören in der letzten Zeit so oft erzählen müssen, dass ich da im Moment keine große Lust drauf habe. Reden wir lieber über… Fluggleiter.“ „Fluggleiter?“ Ich sah ihn stirnrunzelnd an. „Verstehen Sie was von Fluggleitern?“, fragte er und warf mir einen unverschämten Blick zu. „Um ehrlich zu sein, nein“, gab ich zu. „Aha. Ich verstehe eine Menge davon. Aber wissen Sie, wovon ich nichts verstehe? Von irgendwelchen psychologischen Gesprächen!“ Er zuckte ratlos mit den Schultern. „Also geben Sie mir doch bitte einen Hinweis, was ich tun soll. Das macht es sicher einfacher.“ Ich musste lächeln. „Entschuldigen Sie. Das war vielleicht eine etwas zu offene Einleitung. Wie wäre es, wenn Sie mir einfach etwas über sich erzählen? Wer Sie sind, was Sie machen, wo Sie herkommen…“ „Okay.“ Er nickte, wenngleich ich meinte, eine Spur von Widerwillen in seinen Augen sehen zu können. „Wer ich bin, das hatten wir gestern geklärt. Ich bin im vergangenen Jahr zum Kapitän der „Marshall Platinum“ ernannt worden, einem Übungsschiff für Kadetten des Kavallerieoberkommandos, seit knapp einem Monat bin ich vorläufig vom Dienst suspendiert. Ich bin in Tulsa geboren und dort in der Gegend aufgewachsen, bis ich knapp achtzehn war.“ „Wie alt sind Sie jetzt?“, fragte ich und unterdrückte ein Seufzen. Eine ähnlich spärliche Beantwortung meiner Frage hatte ich befürchtet. Die Tatsache, dass er hier war bedeutete zwar, dass er bereit war, guten Willen zu zeigen, jedoch tat er sich ganz offensichtlich immens schwer, Dinge von sich zu offenbaren. „Ich bin vierundzwanzig“, antwortete er. Für einen Moment war ich verblüfft. Er wirkte so reif und welterfahren und war ganze zwei Jahre jünger als ich. „Das ist jung für einen Kapitän eines Schiffs“, stellte ich anerkennend fest, um mein Erstaunen zu überspielen „Saber war 22 als man ihn zum Kapitän über Ramrod machte. Fireball ist jetzt 23 und Befehlshaber über eine komplette Unterabteilung.“ Er lachte kurz leise auf. „So gesehen bin ich ein Spätzünder.“ „Die meisten Kadetten, die jetzt hier anfangen werden mit 24 gerade mal den Offiziersstatus erreicht haben“, protestierte ich. „Die Zeiten ändern sich.“ Sein Lächeln war undurchschaubar. „Sie meinen, als Sie zum Kavallerieoberkommando gestoßen sind, machte der Krieg eine schnellere Ausbildung notwendig?“ „Ausbildung ist gut. Ich hab den ganzen Militärakademiemist gar nicht erst mitgemacht. Bin zu dem Job gekommen, wie die Jungfrau zum Kinde, quasi.“ Etwas an seinem Tonfall hinterließ bei mir den Eindruck, dass ihn das Thema bedrückte. Ich erinnerte mich, in seiner Personalakte gelesen zu haben, dass er in der Tat kein Kadett des Kavallerieoberkommandos war und mehr oder weniger zufällig einen Platz in der Besatzung des Friedenswächters ergattert hatte. Für mich war das unvorstellbar. Ich kannte das Kavallerieoberkommando als rigide, streng bürokratische Einheit. Einem Zivillisten einen derart verantwortungsvollen Posten zu geben erschien in der Tat nach aktuellen Standards wenig nachvollziehbar. „Aus heutiger Sicht, hätten Sie das Angebot, was man Ihnen damals unterbreitet hat, lieber abgelehnt?“, forschte ich weiter. „Auf dem Friedenswächter mit zu fliegen? Machen Sie Scherze? Keinesfalls“, wehrte er heftig ab. „Das war das Beste, was mir je passiert ist.“ „Haben Sie nie auch nur einen Moment gehabt, in dem Sie es bereut haben?“, fragte ich und ermahnte mich, trotz aller Zweifel zu einem neutralen Tonfall. „Niemals“, erklärte er im Brustton der Überzeugung. „Aber Sie sind doch mehrfach und einige Male sogar ernsthaft verletzt worden“, merkte ich an. „Das gehört dazu. Man kann sich nicht waschen, ohne sich dabei nass zu machen“, tat er meinen Einwurf ab. „Und die nervliche Belastung? Niemals sicher sein zu können, immer auf den nächsten Angriff warten zu müssen, ständig sein eigenes Leben und das Leben seiner Freunde in Gefahr zu sehen?“ Mittlerweile war ich weit vom Protokoll eines psychologischen Gesprächs abgewichen, aber ich wollte und konnte nicht glauben, was er mir da klar zu machen versuchte: Dass dieser grausame Krieg, den wir damals alle auf die ein oder andere Art miterleben mussten, spurlos an ihm vorbeigegangen war. „Hören Sie, Dok.“ Er seufzte und rückte seinen Stuhl näher an meinem Schreibtisch. Dann legte er die Hände darauf ab und imitierte so die Art wie ich ihm gegenüber saß. „Sie machen hier ganz schön ein Fass auf, mit Ihrem strengen Kostüm, ihrem straffen Haardutt.“ Er deutete mit seiner Hand an seinem Hinterkopf die Rundung eines Haarknotens an. „Und Ihrer Oberlehrerinnenbrille auf der Nase. Glauben Sie mir, mich beeindruckt das alles nicht. Den Kadetten hier mögen Sie ja damit die berufserfahrene Dame von Welt vorgaukeln. Aber Sie sind keine dreißig. Wenn Sie überhaupt 25 sind.“ „26!“, schoss ich unüberlegt dazwischen und zuckte zusammen. Wie konnte ich mich von ihm nur so derart aus der Reserve locken lassen. „Gut, meinetwegen. Aber das heißt doch nur, dass Sie noch an der Uni über Ihren Büchern gehangen haben, während ich und meine Jungs… und Mädel… Ihnen hübsch den Rücken freigehalten habe, indem wir jeden verdammten Phantomfurz, der sich der Stadt nähern wolle frühzeitig aus den Wolken geholt haben. Im Großen und Ganzen verdanken Sie es also quasi mir, dass Sie jetzt hier sitzen. Also erzählen Sie mir nichts über nervliche Belastungen und den anderen Quatsch. Sie können mir über den Krieg nichts beibringen, Dok.“ Er schloss seinen Monolog mit demselben sarkastischen Lächeln, mit dem er mir schon zu Anfang unseres heutigen Gesprächs begegnet war und es gab mir das ungute Gefühl, dass ich schon wieder den falschen Weg eingeschlagen und damit seine Bereitschaft zur Mitarbeit verspielt hatte. „Ich wollte Ihnen natürlich nicht zu nahe treten“, erklärte ich hohl. Er seufzte. „So läuft das hier nicht zwischen uns, Dok. Und ich will ganz ehrlich mit Ihnen sein, ich nehme Sie und diese niedliche Unterhaltung in diesem geschmäcklerisch eingerichteten Büro - das ist nicht wirklich ein Kandinsky-Druck an der Wand, oder?“ Er deutete auf den blauen Reiter hinter sich und für einen Moment war ich beeindruckt von seinem Kunstverständnis. „Verzeihung, aber…“ Er rang sichtlich nach Worten. „Ich nehme das alles nicht ernst. Ich… glaube Ihnen ja, dass Sie die besten Absichten haben, aber ich sehe nicht, wie Sie mir helfen sollten… wie Sie einen Begriff von meiner Welt bekommen sollten. Mein Leben steht nicht zwischen Deckel und Rücken einer Aktenkladde!“ „Aber deshalb reden wir doch“, versuchte ich, ihn zu überzeugen, „Zeigen Sie mir Ihr Leben! Erklären Sie mir Ihre Welt und vielleicht kann ich Ihnen dann helfen!“ „Und wer sagt überhaupt, dass ich Hilfe brauche?“ Er hatte beim letzten Wort schon wieder die Stimme erhoben und sah mich nun gereizt an. „Sie haben es doch gerade selber gesagt! Und Ihre Freunde…“, begann ich und biss mir dann auf die Zunge. „Ach, stimmt ja.“ Nun erhob er sich wieder von seinem Stuhl, eine Geste die nur deutlich zeigte, dass er mittlerweile zu geladen war, um still sitzen zu können. „Matchbox hatte ja gestern noch ein kleines Rendez-vous mit Ihnen! Ich weiß überhaupt nicht, was die alle haben!“ „Fireball macht sich Sorgen um Sie“, offenbarte ich, nun, da klar war, dass er ohnehin schon wusste, dass sein Kamerad mit mir gesprochen hatte. „Ja, aber warum? Mit mir ist alles in bester Ordnung. Ich habe in einer kleinen Rangelei ein bisschen die Selbstkontrolle verloren. Na und? Ich bin ein Kerl! Schon mal was von Testosteron gehört?“ Mittlerweile tigerte er regelrecht auf und ab durch mein kleines Büro und vermittelte den immensen Eindruck eines eingesperrten Raubtiers. „Und der gekaperte und geschrottete Kurzstreckenflieger? War das auch Testosteron?“, fragte ich und hatte mittlerweile völlig vergessen, dass wir in einer Therapeuten-Patienten Situation waren. Dieser Mann war so undurchdringlich, dass es mich schier in die Verzweiflung trieb. „Das hat doch alles keinen Sinn!“, blockte er ab, „Ich denke, das war’s dann wirklich. Sie müssen sich keine Sorgen machen, dass ich hier noch mal unangemeldet auftauche. Oder angemeldet.“ Damit wandte er sich der Tür zu. „Moment mal!“, hielt ich ihn mit scharfem Tonfall zurück und stand nun ebenfalls entschlossen auf. „Sie können hier nicht reinspazieren, wie es Ihnen passt, mich respektlos behandeln, mit kryptischen Andeutungen über ihr Leben um sich werfen und dann wieder völlig ratlos stehen lassen! Ich bin vielleicht noch nicht alt und erfahren. Schön. Ich war nicht an der Front oder habe den Krieg hautnah miterlebt. Schön. Ich bin nicht und war nie ein Star Sheriff. Schön. Aber ich bin Psychologin und Jahrgangsbeste meines Fachbereichs. Und ich weiß, dass Sie mit etwas hinterm Berg halten. Und nicht nur mein Berufsethos, sondern auch mein Ehrgeiz gebietet es mir, herauszufinden, was es ist! Also wagen Sie nicht, mir jetzt wieder die Tür ins Gesicht zu werfen!“ Ich war während meiner wütenden Ansprache auf Ihn zugetreten und stand nun, so bedrohlich ich eben konnte angesichts der Tatsache, dass er mich um ungefähr eine halbe Kopfhöhe überragte, vor ihm. Er sah mich erst fassungslos, dann irritiert und schließlich schon fast amüsiert an. „Was ist so komisch?“, schnappte ich und das Protokoll war mir nun so was von egal. „Die „Marshall Platinum“ soll morgen eine Simulation machen. Ich bin zwar suspendiert, aber wenn ich bei Saber ein bisschen auf die Tränendrüse drücke, lässt er mich sicher an Bord gehen. Dann sind Sie herzlich eingeladen, Dok. Es ist nicht so ganz mit der Realität eines Angriffs gleichzusetzen, aber vielleicht gibt es ein kleines bisschen Einblicke in meine Welt“, erklärte er mit einer bemerkenswerten Gelassenheit. „Wie stellen Sie sich das nun wieder vor? Ich habe morgen Termine!“, versuchte ich, trotzig zu klingen, aber meine Wut verrauchte angesichts des offensichtlichen Mangels an Eindruck, den ich auf ihn machte. „War nur ein Angebot. Morgen um sieben Uhr früh, Hangar drei.“ Damit drehte er sich betont langsam von mir weg und ging zur Tür, vor der er noch einmal kurz stehen blieb und mir über die Schultern sein überhebliches kleines Lächeln zuwarf: „Ma’m.“ Ich blieb noch einen Augenblick entgeistert mitten in meinem Büro stehen und sah diesem Buch mit sieben Siegeln nach, dann wankte ich langsam zurück zum Schreibtisch und warf einen Blick auf meinen elektronischen Terminplaner. Bis zum nächsten Termin hatte ich noch zwanzig Minuten. Zeit genug für zwei Telefonate. Als erstes rief ich die Stationssekretärin an und bat sie, meine morgigen Vormittagstermine abzusagen. Dann wählte ich die Nummer desjenigen, der dieses unglücksselige Gutachten in Auftrag gegeben hatte. Ich wurde von dessen Sekretärin wiederum angenommen und nach kurzer Zeit durchgestellt. „Guten Morgen, Dr. O’Donnel. Was kann ich für Sie tun?“, hörte ich die höfliche, bescheidene Stimme des Mannes, der sich unter dem Namen Saber Rider zur lebenden Legende gemacht hatte. „Guten Morgen, Sir“, antwortete ich pflichtbewusst. In seiner Rolle als Auftraggeber des Gutachtens war ihm gegenüber eine gewisse Förmlichkeit erforderlich, streng genommen waren aber alle drei Star Sheriffs, denen ich bisher begegnet war, aus militärischer Sicht selbstverständlich ranghöher als ich. „Ich rufe an, um mit Ihnen über… das Gutachten zu reden“, formulierte ich umständlich, allerdings hatte ich ein schlechtes Gefühl dabei, zu sagen, ich wollte über „Colt“ reden, ganz zu Schweigen von „Mr. Wilcox“. „Ah, ich sehe. Ich hätte Sie auch noch angerufen im Verlaufe der nächsten Tage. Ich habe natürlich Ihren Bericht gelesen.“ Er ließ das zunächst einmal so im Raum stehen. „Aha?“ „Nun… ich will Ihre Arbeit in keinster Weise kritisieren, Dr. O’Donnel, nur… dieser Bericht…“ Ich hörte in der Leitung, wie er mit Papier raschelte und offenbar eine gedruckte Version des Dokuments hervorholte. „Ich muss ehrlich sagen „Er zeigte sich in der Lage, sich reflexiv und einsichtig zu den ausschlaggebenden Ereignissen zu äußern“… „kritische Äußerungen seitens des Patienten über die Beziehung zu seiner eigenen Identität“ … das klingt nicht nach dem Mann, den ich Ihnen zur Begutachtung geschickt habe.“ Ich begann, nervös auf meinem Stuhl herumzurutschen und war froh, dass er mich dabei nicht sehen konnte. „Sehen Sie, Dr. O’Donnel, ich hatte ein wenig befürchtet, dass Colt es Ihnen nicht gerade leicht machen würde. Und wenn ich das so lese, dann habe ich entweder ihn oder Sie unterschätzt, was mir in beiden Fällen aufrichtig leid täte.“ Er blieb die ganze Zeit über perfekt formgewandt, was noch zusätzlich getragen wurde durch den dezenten schottischen Akzent seiner ansonsten einwandfreien Aussprache. Jedoch war mir nicht entgangen, dass seine letzte Äußerung mich unter Zugzwang setzte, da ich nun wohl oder übel zugeben musste, ein wenig geflunkert zu haben, wenn ich ihn nicht dazu bringen wollte, sich ungerechtfertigterweise bei mir zu entschuldigen. Er war selbst im Gespräch ein subtiler, wenngleich auch gnadenloser Taktiker. „Sir, ich muss zugeben, den Bericht vielleicht etwas zu euphorisch verfasst zu haben“, versuchte ich mir so harmlos wie möglich die erzwungene Blöße zu geben. „Das erste Gespräch oder vielmehr die ersten Gespräche sind nicht gänzlich zu meiner Zufriedenheit verlaufen.“ „Heißt das, es haben schon zwei Gespräche stattgefunden?“, fragte er mit einem leichten Anflug von Erstaunen in der Stimme und ich überlegte kurz, ob die Tatsache, dass er mein Geständnis ignoriert hatte seiner galanten Art oder seiner Überraschung über das bereits stattgefundene zweite Gespräch zu verschulden war. „Ja, er war heute Morgen hier“, bestätigte ich und konnte nun auch noch meinen weiteren Trumpf aufspielen. „Und wir haben bereits einen weiteren Termin vereinbart.“ „Das ist bemerkenswert“, urteilte er nach einem Moment des Schweigens und die Anerkennung in seinem Ton war deutlich zu hören. „Und das ist auch hauptsächlich der Grund, warum ich anrufe. Er hat sich im Verlaufe unseres heutigen Gesprächs ein wenig unmütig über das Therapiesetting geäußert“, begann ich, wurde jedoch von meinem Gesprächspartner unterbrochen: „Darf ich Sie bitten, sich mir gegenüber etwas weniger euphorisch, wie Sie es so schön formulierten, auszudrücken?“ Mir stieg die Schamesröte ins Gesicht. Er hatte also doch genau auf meine Formulierung geachtet. „Nun, um bei der Wahrheit zu bleiben hat er mir gesagt, er könne mich und mein ‚geschmäcklerisch’ eingerichtetes Büro nicht ernst nehmen“, gab ich zu. Einen Augenblick lang, war es still in der Leitung und als mein Gesprächspartner sich wieder meldete, war ihm deutlich das amüsierte Lächeln anzuhören: „Ich verstehe. Und was haben Sie vor?“ „Ich würde ihn gerne auf eine Simulation mit der „Marshall Platinum“ begleiten“, sagte ich nun frei heraus. „Colt ist vom Dienst vorläufig suspendiert“, kam die Antwort, die ich befürchtet hatte. „Das weiß ich, aber ich denke, es könnte wirklich einen großen Schritt in die richtige Richtung bewirken, wenn ich ihn in seinem gewohnten Umfeld beobachten kann“, argumentierte ich unbeirrt weiter. Ein tiefes Seufzen erklang am anderen Ende der Leitung, gefolgt von einem weiteren, diesmal längeren Schweigen. „Hören Sie, Dr. O’Donnel. Soweit ich das von hier aus beurteilen kann, wird das Verfahren in spätestens zwei Wochen wieder aufgerollt. Da ich annehme, dass man mir dieses Mal - und das mit Recht - Befangenheit vorwerfen wird, sind Sie streng genommen die Einzige, die diesen Hornochsen vor dem Gefängnis bewahren kann. Und ich möchte betonen, dass es aller Voraussicht nach bei der aktuellen Liste an Anklagepunkten nicht bei einer zehnmonatigen Haftstrafe bleiben wird. Ich bitte Sie inständig, tun Sie, was nötig ist.“ Ich erkannte den Tonfall, in dem auch schon Fireball gestern über die Angelegenheit gesprochen hatte. „Der Junge steht sich selbst im Weg. Und das sage ich nicht als sein Vorgesetzter, sondern als sein Freund.“ „Ich werde tun, was ich kann“, versprach ich. „Ich erteile Ihnen und Colt die Erlaubnis, morgen an Bord der „Marshall Platinum“ gehen zu dürfen“, setzte er etwas förmlicher hinterher. „Danke, Sir.“ Ich spürte Erleichterung und gleichzeitig eine gewisse, möglicherweise unangemessene Vorfreude auf den morgigen Tag. Nachdem ich mich verabschiedet und aufgelegt hatte, war es Zeit sich meinen anderen Patienten zu widmen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)