Damien der Löwe von Bibbsch ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Wer Damien zum ersten Mal sieht, glaubt es nicht. Seine blasse Haut, seine dünnen Lippen, nicht mehr als eine helle Linie in seinem hübschen Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der schlanken Nase, seine wilden, blonden Haare, die wie Zotteln ungestraft über seine Augen hängen, ein ausdrucksstarkes Chaos von Strähnen, die, jede in ihre Richtung, ein wenig der Schwerkraft zu trotzen scheinen. Nichts verrät ihn. Es ist nicht wie mit dem Mann aus dem großen Haus, dessen rotblonde Lockenmähne, die breiten Schultern und die vernarbten, rauen Hände ihn sofort enttarnen. Der Mann im Bus sieht aber auf den zweiten Blick nur aus wie der ängstliche Löwe aus dem Zauberer von Oz. Denn trotz seines markanten Äußeren hat er diese schüchternen, hellen Augen und dieses zurückhaltende, stille Lächeln auf den Lippen. Damien ist nicht so, oh nein, er ist ganz anders. Das genaue Gegenteil. Man mag es ihm nicht ansehen, aber in ihm steckt ein Löwe. Stolz und wild, das ist sein Herz. Und niemand bewundert ihn mehr dafür als ich. Denn niemand kann mehr Bewunderung aufbringen als ein kleiner Bruder es kann. Ich erinnere mich kaum noch an den Tag, an dem er mir zum ersten Mal das Leben gerettet hat. Damien sagt, das ist nicht so schlimm, solange ich mich nur an die vielen anderen Male erinnere. In solchen Momenten lacht er immer, sein freies, klingendes Löwenlachen. Aber ich würde mich gern erinnern, weil es gleichzeitig auch der Tag ist, an dem von allem nichts mehr übrig geblieben ist außer ihm und mir. Ich würde gern wissen, wie er gerannt ist, als wäre er um sein Leben gerannt, als die Sirenen ertönt sind, und dabei doch um mein Leben gerannt ist. Ich würde gern wissen, wie er mich an sich gedrückt hat, mein kleines, verwirrtes Gesicht in seine Halsbeuge gepresst, und wie er gestolpert ist und gefallen und wie seine einzige Sorge war, er könnte mich verletzt haben, wie er am Bein geblutet hat und es nicht einmal gemerkt hat. Ich würde gerne wissen, wie er sich hektisch umgeblickt hat, weil er nicht gewusst hat, wo er ist und wo alle anderen sind, und wie er gerannt ist und gerannt ohne Luft zu bekommen, und nicht aufgehört hat zu rennen, bis er an der Mauer angekommen ist, und wie er über die Mauer geklettert ist, mit nur einer Hand, weil er mit der anderen mich gehalten hat, und wie er auf der anderen Seite der Mauer die Luke aufgerissen hat und die Treppen zum Keller heruntergestolpert ist, die Arme schützend um mich gelegt. Ich würde gerne wissen, wie er schwer atmend auf Säcken und Kisten gelegen ist, wie er nach meinem Herzschlag gehorcht hat, wie er von oben gehört hat, was geklungen hat wie Donnergrollen und wie er mir immer wieder leise versprochen hat, dass alles bald vorbei wäre. Woran ich mich noch erinnere, ist die Dunkelheit und Damiens leise Versprechungen. Das ist alles. Aber auch wenn ich mich nicht erinnere, weiß ich, dass Damien ein Held ist. Ich weiß, dass er schneller rennen kann als jeder andere. Ich weiß, dass er weiter schwimmen kann als alle. Ich weiß, dass er stark ist und geschickt und klug, und dass er schon vor den ersten Anzeichen spürt, wenn Gefahr droht. Ich weiß das alles, weil ich es gesehen habe. Viele Male. Jedes Mal, wenn er mir das Leben gerettet hat. Und er musste das oft tun. Ich weiß, dass er sich in einer weiten, leeren Landschaft scharf umrissen vom Himmel abhebt, seinen Hals stolz geschwungen, seinen Blick geschärft und klar, seine Konturen von der Sonne bestrahlt. Es ist mir nichts mehr geblieben außer ihm; aber das macht nichts. Wir werden schon zurecht kommen. Damien ist ja ein Löwe. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)