Narziss und Goldmund - wieder vereint von namenlos (Ein Alternativende zum Roman "Narziss und Goldmund" von Hermann Hesse) ================================================================================ Alternatives Ende ----------------- „Ich will noch einmal fort“, brach dieser Wunsch ganz plötzlich, ohne dass es vorhersehbar gewesen wäre, aus Goldmund hervor, der nun schon einige Zeit im Kloster Mariabonn verbracht hatte. Die erste Zeit war er so entzückt, als wolle er nie wieder gehen. Narziss hatte ihn vor dem Tode bewahrt und noch mehr – er hatte ihn angestellt als Künstler des Klosters und ihm eine Werkstatt richten lassen. Die Ankunft war gefeiert worden mit köstlichen Speisen und teurem Wein, dass sich Goldmund nicht entsinnen hatte können jemals so etwas Gutes gegessen zu haben. Doch diese Freude ward langsam wieder zur Gewohnheit. Es hatte für Goldmunds Verhältnisse lange gedauert. Sonst war er oft eines Dorfes, einer Frau, einer Arbeit oder Beschäftigung binnen wenigen Tagen müde und er reiste weiter, denn er brauchte seine Freiheit. Das Kloster und dessen unmittelbare Umgebung war ein Gebiet mit dem Goldmund von der Größe her in weniger als zwei Tagen abschließen konnte und weiterziehen wollte. Dafür war er also lange geblieben, doch der Drang nach Freiheit, nach Abenteuer, schönen Frauen, der Reiz des Ungewissen, die Unsicherheit etwas zu essen und ein Lager zum Schlafen zu finden, das zerrte an ihm und wollte ihn wieder fortlocken, weg von hier! „Nein, ich muss noch einmal fort!“, besserte sich Goldmund selber mit Nachdruck aus, als sei dieses eine Wort von hoher Bedeutung. Abt Johannes, der für den Freund doch noch immer Narziss war und nie jemand anderer sein konnte, sah ihn etwas betrübt an, obwohl in seinem Gesicht durch das Fasten und sein asketisches Leben zumindest in Goldmunds Augen immer ein wenig Traurigkeit lag – wie konnte er mit solchem Leben auch ewig glücklich sein? „Wohin musst du gehen?“, fragte Narziss langsam – er wusste, dass sein alter Freund nicht von einer Tagesreise sprach und auch nicht von einer Woche. Er spürte, dass es länger dauern würde, wenn sein Freund ihn nun wieder verließe. „Ich muss mit meinem Leben, meinem früheren Leben, all den Erinnerungen, allen Mädchen und Frauen, die ich bisweilen sehr enttäuscht habe, mit allem muss ich abschließen, um hier ein neues Leben zu beginnen.“ „Nein, das musst du nicht“, widersprach Narziss, als sei es ein sachliches Thema, wo es nur eine richtige Antwort gab. „Du musst nicht damit abschließen, das hast du längst getan, indem du mir Abende lang gebeichtet hast und Buße getan hast für deine Vergehen.“ „Nun ja, dann zieht es mich einfach so wieder fort.“ Zufrieden nickte Narziss, nicht wegen des Fortgehens, sondern, weil sein Freund so schnell Einsicht zeigte. „Ich bitte dich nicht zu gehen“, sprach Narziss das Offensichtliche aus. „Ich weiß“, murmelte deshalb auch schnell der andere, „was meinst du, wieso ich dich sonst aufsuche? Ich kann es nicht übers Herz bringen einfach so wegzulaufen, wo du mir doch so viel gegeben hast, dass ich es nie zurückzahlen kann.“ „Du brauchst nicht zu übertreiben oder zu schmeicheln, nur weil ich nun Abt bin und du ohne meine Hilfe ein Landstreicher wärst.“ „Ein toter Landstreicher, ganz nebenbei. Außerdem hast du mich früher unterrichtet, ohne dich könnte ich kein Wort Griechisch oder Latein, und du hast mich voll Hingabe gepflegt, als ich krank mit Fieber im Bett lag. Du hast mir auch die Augen geöffnet, dass aus mir kein guter Mönch würde und ich dazu bestimmt sei in die weite Welt hinauszuziehen.“ „Doch als Mönch wärst du nie all diesen Gefahren ausgesetzt gewesen und hättest ein angenehmes Leben gehabt.“ „Du weißt genau, dass das nicht stimmt, du weißt, dass ich nie wie du leben könnte. Du bist immer noch so theoretisch und redest jetzt davon, was wäre, wenn vor Jahren mein Leben einen anderen Lauf genommen hätte.“ Goldmund lächelte über seine eigenen Worte. „Weißt du, dass du dich nicht verändert hast? Außer dass du ein angesehener, erfolgreicher Mann geworden bist?“ „Das ist mir bewusst.“ „Aber Narziss, so gern ich dich auch habe, ich muss einfach noch einmal weg, nur ein einziges Mal noch will ich ins Leben eintauchen und aus dem Vollen schöpfen und dann komme ich wieder, wenn ich meine, dass es genug ist.“ „Es wird nie genug sein. Und wer weiß, was dir passiert. Es kann so viel geschehen und am Ende wirst du vielleicht nicht mehr zurückkommen.“ „Du denkst zu viel voraus, das tust du andauernd. Ich denke nicht nach, ich tue es einfach.“ „Genau deshalb denke ich ja für dich voraus.“ Goldmund schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht bleiben!“ „Ich bitte dich“, wiederholte der andere, ruhig, nicht flehend oder gar forsch. „Du bist wie der verlorene Sohn und du bist nach langem Weg und vielen Qualen und Hindernissen wieder zu mir zurückgekehrt und ich habe mich gefreut wie nie zuvor. Und jetzt willst du schon wieder gehen, mich verlassen und in Unsicherheit zurücklassen.“ „Mühe dich nicht! Ich bin nicht umzustimmen!“ „Dann muss ich dich wohl ziehen lassen. Du bist hier nicht mein Gefangener, du bist nicht einmal ein Mönch, das heißt mehr als sanft bitten kann ich dich auch nicht, da kann ich noch so viel Abt sein.“ Goldmund versuchte seinen Gesprächspartner zu verlassen, versuchte sich umzudrehen und ein paar Schritte wegzugehen und die restlichen Schritte wären dann leicht – die ersten waren es jedoch überhaupt nicht. Er war es gewohnt, dass ihn die Frauen zurückhielten. Die, die er ganz lieb gewonnen hatte, denen sagte er, er würde nun weiterziehen. Alle beharrten sie darauf, dass er blieb, zerrten ihn an sich in fester Umarmung, weinten, klagten, flehten und wenn sie dann einsahen, dass es keinen Zweck hatte, so verfluchten ihn manche, andere weinten, manche reagierten ganz seltsam, andere wandten sich sofort von ihm ab und fanden sich noch vor seinen Augen mit seinem Fortgehen ab. Noch nie hatte eine ihn nur gebeten zu bleiben und wollte nicht energisch ihren Willen durchsetzen und noch nie hatte er eine so lieb gewonnen, so viel Zeit verbracht wie mit Narziss. Mit Narziss war es anders. Der würde nicht flehen und sich an ihn werfen, der würde ihm zum Abschied gerade einmal die Hand reichen und mit dieser leichten Traurigkeit im Gesicht akzeptieren, dass sein geliebter Freund, über dessen Wiedersehen er sich so gefreut hatte, schon wieder von ihm ginge. Den konnte man nicht einfach so verlassen und doch hatte er sich fest vorgenommen genau das zu tun. Kurz drehte er sich wieder um und im Augenblick, in dem er das tat, bereute er es. Jetzt wüsste Narziss sicher, dass er auch selber seine Zweifel hatte, ob es richtig sei zu gehen – ach, wahrscheinlich wusste er es auch so, er kann sich doch immer so gut in andere Menschen hineinversetzen und hatte ihm mehr über sich erzählt, als er damals von sich selber gewusst hatte. Goldmund sah wieder diese traurigen Augen, dieses schmale Gesicht. „Gibst du mir ein Pferd für die Reise, mein Freund?“, warf er als Ausrede für sein Umdrehen hin und kam sich mit der Bitte ausnutzend vor. Denn Narziss würde bejahen und das tat er auch. „Ich werde Erich schicken dir das beste Pferd im Stall zu geben, auf dass du deine Reise ohne Probleme führen kannst.“ Goldmund schluckte und sah betrübt weg. „Hast du denn ihn nicht über dein Vorhaben aufgeklärt? Nein – ich dachte es mir an deinem Blick. Willst du dich noch von ihm verabschieden? – er ist immerhin dein Schüler. Aber wenn du nicht willst, dann will ich jemand anderen schicken und selber schweigen und ihn alleine den Verlust bemerken lassen." Narziss wartete auf eine Antwort und war gewillt auch länger zu warten. „Erich ist mir egal. Aber du hast recht. Er bewundert mich als Lehrer und ihn zu verlassen würde ihm nicht gut tun. Doch eigentlich wollte ich es nur dir erzählen, mich nur von dir verabschieden.“ „Ich kann ihm auch Trost spenden, wenn du es ihm doch nicht sagen willst. Ich sehe doch es widerstrebt dir mit noch jemandem darüber zu reden. Erich und ich, wir könnten einander trösten, wenn du auf Reisen bist.“ „Ja, ja vielleicht ist es das Beste, wenn du es ihm sagst. Ich kann es nicht.“ „Ich werde jemand anderen ein Pferd für dich aus dem Stall holen lassen und nichts über dein Vorhaben preisgeben.“ Goldmund wollte es nicht so enden lassen, er wollte das Ende, den Abschied noch etwas verzögern: „Wenn es dir nichts ausmacht kannst du mich ja noch bis zum Stall führen. Das Pferd satteln, das kann ich schon selber.“ „Wenn du es so willst…“, stimmte Narziss zu und an des anderen Seite schritt er gemächlich nach draußen und dort spazierten sie weiter langsam nebeneinander her. Goldmund war ergriffen von der Umgebung, weil es ihm erst jetzt bewusst geworden war, dass er mit Narziss auch das Kloster, die Räume, den Kreuzgang, den Garten mit seinem alten Kastanienbaum, unter dem schon viele Generationen an Schülern Schatten gesucht hatten, die Statuen, vor allem die der Maria, dann noch Geruch und Stille der Kirche und die Sicherheit in Sachen Verpflegung und Unterkunft – wobei diese lebenswichtigen Dinge ganz am Ende der Prioritätsliste standen. Ganz oben stand Narziss. Beim Stall angekommen durfte Goldmund sich ein Pferd aussuchen und er ließ sich Zeit beim Wählen und plauderte beiläufig mit dem anderen. Goldmund war sich selber nicht ganz bewusst in welchem Ausmaß er seinen Abschied herauszögerte. Doch schließlich entschied er sich und nahm das Pferd, das ihn von Farbe und Körperbau am meisten an Bleß, sein früheres Lieblingspferd erinnerte. Der Rest ging schnell und ehe er sich versah, war er auch schon bereit für die Reise, aber seelisch noch nicht. „Willst du noch etwas mitnehmen? Gewand, Verpflegung oder etwas Geld?“ „Nein, daran hänge ich nicht.“ Die Betonung ließ Narziss vermuten, dass es doch etwas gab, woran sein Freund hing und ohne darüber nachzudenken – am Ende ritt Goldmund in der ersten Stille gleich hinfort ohne ihn noch einmal direkt anzusehen und eine letzte Verabschiedung zu sprechen – fragte er: „Hängst du also an etwas anderem? Soll ich dir deinen Rosenkranz bringen oder auch etwas anderes?“ „Woran ich hänge, das bist du. Sonst hält mich hier nichts – oder zumindest nicht so sehr wie du.“ „Das weiß ich.“ „Aber ich kann dich nicht mitnehmen, ich muss das allein machen.“ „Keine Sorge, darauf habe ich nicht gehofft. Ich kann ja auch nicht von mir aus mit dir kommen. Vergiss nicht, dass ich dieses Kloster leite! Für dich mag ich noch Narziss sein, für alle anderen bin ich Abt Johannes.“ „So meinte ich es ja auch gar nicht.“ „Nun denn. Willst du dich noch verabschieden von etwas? Von der Marienstatue oder doch vom Kastanienbaum?“ Goldmund lächelte sanft darüber, wie gut der Freund ihn doch kannte. „Nein, ich will mich nur noch von dir verabschieden.“ Er strich kurz über den Hals des Pferdes, als wolle er ihm sagen, dass er still sein und geduldig warten solle, nur ganz kurz, sie würden gleich hinfortreiten – Goldmund wollte nur noch diese vorläufig für lange Zeit letzte Begegnung mit einer würdigen Verabschiedung abschließen. „Ich werde immer an dich denken, Narziss.“ „Und ich werde jeden Tag, den du nicht hier bist, für dich beten.“ „Danke, mein Freund“, erwiderte Goldmund ein Lächeln, das zeigen sollte, wie angetan er davon war zu wissen, dass Narziss für ihn beten werde. Er atmete tief, aber auch etwas schwer ein. „Dann ist es wohl so weit“, sagte er in Ermangelung anderer Worte. „Du klingst so betrübt. Wenn es dich traurig macht von hier fortzugehen, dann bleib doch. Es macht dir keiner einen Vorwurf, ganz im Gegenteil. Ich würde mich freuen und dein Schüler wäre, wenn er wüsste, du wolltest weggehen, auch erleichtert und freute sich deines Bleibens.“ „Ja, der Abschied macht mich traurig, weil ich dich eben lieb gewonnen habe.“ Goldmund wollte sagen, dass es trotzdem nötig sei und er gehen müsse, doch er konnte die nötige Überzeugung nicht in seine Stimme legen. Stattdessen gestand er von der Emotionalität des Abschiedes überwältigt: „Ach, Narziss, es tut mir so weh dich zu verlassen! Du weißt ja gar nicht, wie sehr ich dich lieb habe! Wenn du mich nur auch so lieb hättest! Ich könnte deinem Flehen nicht standhalten und ließe mich erweichen. Aber du flehst nicht, du weinst nicht über den Abschied, du suchst nicht meine Umarmung, du hast mich einfach nicht so lieb, dass du das könntest. Oder nein, das ist nicht wahr. Es ist dein normales Benehmen, dein Charakter, der dir solches verbietet. Ich rede schon Unsinn, aber ich kann das ja. Du könntest nie so ausbrechen in Emotionen, du könntest nie etwas Falsches sagen. Ich … oh, Lieber, vergiss, was ich gesagt habe und lass mich einfach ziehen. Wenn ich versuche mein Gerede zu retten mit noch mehr Worten, dann geht es schief. Es geht immer schief, ich finde nie die passenden Worte. Denn, weißt du, die Liebe kennt keine Worte und genau daran scheitert es, weil du ein Mensch der Wörter bist und ich nur in Taten das Richtige tun kann. Ich habe schon viel zu lange geredet, wieso rede ich weiter? Sag mir, dass ich aufhören soll!“ „Nun denn, hör auf, mein Lieber. Du musst dich nicht so aufregen, aber wenn es nötig ist, dass du dies ausdrückst, dann war es das Richtige.“ „Du redest so klug, eben, weil es mit Worten funktioniert.“ „Dafür hast du andere Vorzüge. Du machst dich zu sehr selber nieder. Zwar warf mir mancher vor hochmütig, ja gar eitel, überheblich und eingebildet zu sein, aber ich finde es gut so und ich meine, du könntest mehr Selbstbewusstsein vertragen. Du musst stolz auf dich sein, so, wie du bist, mein lieber Goldmund.“ „Du sagst das nur so, auch wenn du es nicht weißt, aber es ist so. Du glaubst es ja auch nicht wirklich!“, wehrte Goldmund sich trotzig. Narziss legte eine Hand auf des anderen Schulter, was dieser als äußerst ungewohnt empfand. Er war von seinem Freund keinen Körperkontakt gewohnt. Für Goldmunds Verhältnisse war es freilich nichts, aber von Narziss, da erschien es ihm die liebevollste Geste, die dieser im Moment tun hätte können. „Ich habe seit ich mich erinnern kann täglich mehrmals zu Gott gebetet und seit ich im Kloster bin, fühlt es sich an, als wäre dies meine wichtigste Beschäftigung. Ich bat um Antworten auf die großen Fragen des Lebens, während du durch die Welt getapst bist und danach gesucht hast, nach dem, was die innere Leere füllt, den Hunger und Durst nach Wissen stillt, die unbeantworteten Fragen beantwortet. Keiner von uns bekam wirklich, was wir wollten. Aber ich kann nicht sagen, dass ich unglücklich bin.“ Narziss suchte einen ernsten Blick, der den Freund dazu bewegte jedes folgende Wort in sein Herz aufzunehmen. „Goldmund, erst durch deine Augen sah ich diese große, weite Welt mit ihren Gefahren, die anderen Menschen. Ich sah das Leben, den Tod, wie ich dies selbst im Kloster mit den theoretischen Schriften der Bücherei nie erfahren hätte können. Und erst durch dich, durch deine aus scheinbar nebensächlich aneinander gereihten Wörtern bestehende Beichte, die mehr aus Blicken und Bewegungen, Gefühlsregungen und Gesichtsausdrücken bestand, lernte ich, was es heißt zu fühlen, zu lieben – wie entzückt man über eine Frau sein kann, was eine einzige Berührung vermag oder ein zärtlicher Kuss. Es sagt mehr als tausend Worte. Doch ich kann nur die Worte sprechen. In diesem Sinne bist du also reicher als ich. Ich habe sehr viel von dir gelernt und mitgenommen. Ich hoffe, ich konnte dir auch etwas geben und wenn es auch nur ein paar schöne Gedanken und Erinnerungen waren und ein paar Kleinigkeiten wie Griechisch oder Latein.“ „Schmeichelst du mir nur? Aber nein, das wärst nicht du. Also muss es wahr sein, was du sprichst. Doch es klingt so falsch, es kann gar nicht sein!“ „Doch, es ist so. Ich habe nur zu sehr geschwiegen über mich, das weißt du. Um dich zu gewinnen jedoch, muss ich über meinen eigenen Schatten springen und nicht nur Narziss, sondern auch ein bisschen Goldmund sein, auch wenn es schwer ist. Für niemand anderen hätte ich dies getan und somit – ich sehe es in deinem Gesicht – ist auch dir schon klar geworden, dass du nun endlich merkst, wie wichtig auch du, mein lieber Freund, mir bist.“ Goldmund war gerührt und fast war er den Tränen zugeneigt. „Ist es denn wirklich wahr, Narziss? Du musst dich sehr überwinden, ich weiß, und ich sollte nicht noch mehr herauswagen wollen, wo es dir jetzt schon wie Erpressung erscheinen muss, weil ich fort will und du es nicht willst … aber, sag, ist es wirklich wahr, dass du mich auch lieb hast – zumindest ein bisschen?“ „Beantworte dir deine Frage selbst! Hätte ich denn so viel Zeit mir dir verbracht, wäre ich dein Freund gewesen und über Jahre der getrennten Wege hinweg geblieben, wenn es nicht so wäre?“ „Nein, ich will mir meine Frage nicht selber beantworten. Dazu müsste ich denken und das tue ich nicht. Widerstrebt es dir so mir zu antworten? Ich muss böse klingen, zu böse. Verzeih mir, ich sollte mir keinen solchen Ton herauswagen! Du musst auch nicht antworten, wenn du nicht willst.“ „Ich will es aber dirzuliebe tun.“ Narziss ließ sanft seine Hand an der Schulter des anderen auf seine Schulter herab gleiten. „Und somit sage ich eigentlich schon, wie sehr ich dich lieb habe. Aber wenn du es willst, will ich es noch einmal sagen, noch deutlicher und immerzu. Ich habe dich lieb, Goldmund, ich habe dich von allen Menschen am allerliebsten. Nicht, wie ich die anderen Menschen mag, weil sie klug und gebildet sind, weil sie Gelehrte sind oder große Denker, dich habe ich aus anderen Gründen lieb, eben, weil du anders bist, weil du genau das nicht bist. Es mag viele Menschen wie dich da draußen geben, doch du bist mein genaues Gegenteil und es ist nur natürlich, dass man als Mensch die Vollkommenheit sucht. Mit dir bin ich vollkommen, durch deine Augen kann ich all das sehen, was mir durch meinen selbst gewählten Lebensweg verwehrt bleibt zu sehen. Ich habe dich lieb wie niemand anderen und es würde mir sehr schmerzen, wenn du gehst, aber eben weil ich dich so lieb habe, würde ich es hinnehmen.“ Diese Worte berührten Goldmund tief in seinem Herzen und am liebsten wäre er dem Freund um den Hals gefallen und hätte all seine Gefühle über den anderen geschüttet. Doch er wusste, dass er damit Narziss zu viel zumuten würde und so versuchte auch er etwas Narziss zu werden, wie Narziss für seinen Freund etwas Goldmund geworden war und er versuchte mit Worten, aber vor allem mit Hand und Fuß das auszudrücken, was er normalerweise mit einer innigen Umarmung ausgedrückt hätte. „Ich freue mich so, mein Freund und zwar noch mehr, als ich mit Worten sagen kann. Aber ich versuche es, denn ich schätze es so, dass du auch ein bisschen versuchst Goldmund zu sein für mich, dass ich dich besser verstehe. Dass du mir gesagt hast, dass du mich lieb hast und alles, was du sonst noch gesagt hast, was ich nie sagen könnte, bitte, denk dir, ich würde es auch sagen. Dass wir verschieden sind, weiß ich und du wirst schon Recht haben, dass darin die Faszination liegt, die uns aneinander bindet. Gemeinsam sind wir vollkommen! Ja, das sind wir!“, rief er plötzlich voll Enthusiasmus aus. „Was bin ich nur für ein Dummkopf, dass ich dich verlassen will? Wieso hast du mir das nicht gesagt? Und wieso hast du mir bis jetzt nie gestanden, wie lieb du mich hast? Aber ja, du bist Narziss, du sagst das nicht, ich weiß. Ebenso gut könntest du mir hundert solcher Fragen stellen, aber du fragst ja nicht, du denkst vorher nach und weißt dann, was die Antwort ist und dann fragst du nicht mehr. Ich hab dich so lieb, Narziss, ich könnte dich umarmen und nicht mehr loslassen!“ Dieser verzog verzückt den Mund zu einem Lächeln, wenngleich es auch nur schmal war. Aber ihn über beide Wangen voll Glück lächeln zu sehen, das konnte man von Narziss nicht erwarten. Langsam bewegte er seine Arme auseinander und schüchtern hielt er sie seltsam anmutend abgewinkelt vom Körper. So ward Goldmund noch nie zu einer Umarmung eingeladen worden, aber er nahm sie dennoch an, schlang seine Arme nicht allzu fordernd um den anderen und ehe sich seine Finger hinter des andere Rücken trafen, spürte er noch den festen Stoff von dessen Kutte. Narziss hatte ganz scheu die Hände an des anderen Rücken gelegt und fühlte sich zwar nicht unbedingt am wohlsten, aber doch so glücklich, weil sein Freund es war und weil dieses Glück überwog, gefiel es ihm auch. Außerdem konnte Goldmund einem anderen genau das geben, was dieser mochte und vertrug. Deshalb begehrten ihn die Frauen auch so sehr und er sie. In der Befürchtung Goldmund hätte die vorher leichtsinnig gesprochenen Worte vielleicht ernst gemeint, war es auch Narziss, der die Umarmung beendete, indem er die Arme lockerte und dem anderen so überdeutlich mitteilte, er solle loslassen. Zwar hätte Goldmund kein so deutliches Zeichen gebraucht, aber er beließ es dabei nicht zu reden, da sonst alles zerstört werden würde. Er konnte sowieso viel besser ohne Worte reden und so ging er einen Schritt von Narziss weg, um ihm wieder Privatsphäre zu geben und als er dessen scheues Lächeln sah, da lächelte er überglücklich zurück und hätte so weitermachen können, hätte dann nach einiger Zeit mit einem Lächeln des anderen Hand ergreifen und sich dann mit diesem im Gras niederlassen können. Doch Narziss zog es vor zu reden: „Ich freue mich dich so glücklich zu sehen. Vor kurzem sah ich in deinem Gesicht noch Trauer und dein Geist verriet mir, wie gespalten du über den Abschied dachtest – wenn du denn nachgedacht hättest.“ „Vielleicht sollte ich das einmal probieren, das Denken. Du hast gerade in dieser kurzen Zeit so viel für mich getan, hast dich überwunden und bist ein bisschen Goldmund geworden, damit ich dich verstehen und lieb haben kann. Das ist nur ein weiterer Grund dich zu bewundern. Ich könnte nie in meinem Leben so viel Narziss sein, wie du gerade für mich kurz Goldmund geworden bist. Aber wenn du willst, werde ich es für dich versuchen.“ „Was wird nun aus deiner Reise?“ „Du weißt doch selbst schon, dass ich sie nicht antreten werde – oder zumindest keine lange Reise. Einen Tag einmal herumstreunen, ins Dorf gehen und vielleicht dort auch einmal über Nacht bleiben oder länger, zwei Tage vielleicht oder drei. Aber immer nur werde ich einen Abstecher machen, einen Ausflug, und dann werde ich ganz sicher wiederkommen. Ich werde dich nie verlassen, ich könnte das nicht. Du vervollständigst mich. Wie also könnte ich dich dann verlassen? Ich trennte mich von dem Wichtigsten meines Lebens.“ Narziss erstrahlte in Freude. „Doch sei mir nicht bös, mein Freund, wenn ich ein schlechter Narziss bin und nicht denken kann und dir nie so viel zurückgeben kann, wie du mir gibst.“ „Hättest du gedacht, dann wäre dir auch bewusst geworden, wie wenig du eigentlich gehen willst. Nur dein spontanes Wesen, das war das Einzige, was du befragt hast und das befahl dir immer dasselbe: in die Welt hinausgehen. Indem du deinem inneren Goldmund widersprochen hast und beschlossen hast vorläufig doch in Mariabonn zu bleiben, hast du eine Entscheidung getroffen, die Goldmund nie getan hätte. Du warst in dieser Entscheidung so viel Narziss, dass ich mich schämen müsste nie genug Goldmund dafür im Gegenzug sein zu können.“ „Das musst du auch nicht. Du gefällst mir als Narziss sowieso am besten.“ „Und du mir als Goldmund." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)