Ein Brief an meinen Bruder von KhAosArt ================================================================================ Kapitel 1: Ein Brief an meinen Bruder ------------------------------------- Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie aufgeregt ich war, als ich mich dazu entschlossen hatte, dich aufzusuchen und endlich kennen zu lernen. Ich hatte Angst davor, dass du möglicherweise keinen Kontakt zu mir haben willst und mich sofort wieder wegschickst. Unsere Mutter hatte dich kurz nach unserer Geburt zur Adoption freigegeben und mich bei sich behalten – ich hatte damals riesige Angst, du wärst deshalb sauer auf mich und würdest nichts mit mir zu tun haben wollen. Doch dem war zum Glück nicht so. Damals stand ich nervös mit zitternden Händen vor deiner Tür und klingelte. Ich erinnere mich noch genau daran, es war ein schöner, sonniger Julitag. Es war ein Dienstagnachmittag, eigentlich wie jeder andere auch und trotzdem etwas ganz besonderes. Du öffnetest die Haustür und sahst mich aus deinen grünen Augen, die du wahrscheinlich wie ich von unserer Mutter geerbt hast, fragend an. Nachdem ich dir durch die ganze Aufregung stotternd erklärt hatte, wer ich bin, sah ich, wie die Verwunderung in deinen Augen der Freude, ich zu sehen wich. Du nahmst mich in deine Arme und hieltst mich fest, ich war erleichtert und froh, dass meine Ängste offenbar grundlos gewesen waren. Lange Zeit standen wir eng umschlungen vor deiner Haustür, bis du mich schließlich ins Haus batest. Wir lachten viel, erzählten uns aus unseren Leben, was uns widerfahren war, von unseren Träumen und Ängsten, wir verstanden uns auf Anhieb, so, als ob wir nie voneinander getrennt gewesen wären. Am nächsten Tag telefonierte ich mit unserer Mutter, die zu dieser Zeit im Ausland arbeitete und erzählte ihr von unserem Treffen und wie wunderbar wir uns verstanden. Sie freute sich für mich, nein, für uns beide. Außerdem äußerte sie den Wunsch, dich ebenfalls zu treffen. Sie wollte sich dafür entschuldigen, dass sie dich damals zur Adoption freigegeben hat, es hatte ihr unglaublich weh getan und sie bereut diesen Schritt bis heute. Sie hoffte nicht, du würdest ihr verzeihen, nein, das wäre ihrer Meinung nach zu viel von dir verlangt gewesen. Doch sie wünschte sich, du würdest ihr eine Chance geben, dir zu beweisen, dass sie dich trotz allem Anschein, sie hätte dich nicht geliebt, dennoch genau so geliebt hat wie mich und sich daran auch über die Jahre hinweg nie etwas geändert hat. Du stimmtest diesem Treffen zu, hast dich gefreut, die kennen zu lernen und ihr die Fragen zu stellen, die dir schon lange auf der Seele brannten. Es waren doch nur noch zwei Monate, bis sie auf Urlaub nach Hause gekommen wäre und ihr euch endlich getroffen hättet. Wer weiß, vielleicht wäre dann alles gut geworden, vielleicht wären wir dann wieder eine glückliche Familie geworden, so wie ich sie mir immer gewünscht hatte – und du ebenfalls, wie du mir erzähltest. Doch zu dem Treffen ist es leider nie gekommen. Während einer Routineuntersuchung erfuhrst du, du seist an Darmkrebs erkrankt – im Endstadium. Dein Arzt meinte, man könne nichts mehr für dich tun, außer dir Medikamente geben, die deinen Tod hinauszögern. Doch du vertrugst diese Medikamente nicht und hast sie deshalb abgesetzt. Als ich von alledem erfuhr, fing ich an, verzweifelt in sämtlicher mir zur Verfügung stehender Fachliteratur und im Internet zu recherchieren und bei diversen Spezialisten anzufragen, ob es nicht doch noch eine Möglichkeit gibt, dein Leben zu retten. Ich wollte nicht wahr haben, dass ich dich, meinen Zwillingsbruder, den ich so lange hatte entbehren und vermissen müssen, nun auf so grausame Art und Weise wieder verlieren sollte. Nach etlichen schlaflosen Nächten und endlosen Diskussionen mit mehreren Fachärzten musste ich mir aber leider eingestehen, dass es für dich tatsächlich keine Rettung mehr geben sollte. Eines Tages besuchte ich dich wieder im Krankenhaus, so wie ich es jeden Tag tat. Du warst schon ziemlich geschwächt und gezeichnet durch den Krebs, außerdem hattest du trotz der Medikamente, die du bekamst, sehr starke Schmerzen. Ich glaube, für einen Menschen, der nicht selbst von einer solchen Situation betroffen ist, ist es schwer, sich vorzustellen, wie weh es tut, einen Menschen den man liebt, in einer solchen Erkrankung zu begleiten und mit ansehen zu müssen, wie er daran zugrunde geht. Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten bei deinem Anblick und dem Gedanken, dass es bald soweit sein würde. Es drückte mir die Kehle zu. Du wolltest mich in den Arm nehmen, doch du warst zu schwach. Ich bemerkte, wie viel Kraft es dich kostete, als du mit mir sprachst. Du wolltest mir Mut machen, meintest, alles würde gut werden und sie würden schon noch etwas finden, um dein Leben retten zu können und bis dahin würdest du eben durchhalten. Ich bewunderte dich für deinen Lebensmut und wünschte mir aus tiefstem Herzen, du würdest Recht behalten. Kaum kam ich an diesem Abend in meiner Wohnung an, klingelte auch schon das Telefon. Die Klinik, in der du lagst, war dran. Ich hörte nur noch, wie der Arzt am anderem Ende der Leitung mir mitteilte, du seist soeben verstorben. Alles andere, das danach noch folgte, nahm ich gar nicht mehr wahr. Ich sank neben dem Telefon zusammen, alles um mich herum wurde schwarz und ich fühlte mich, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weg gezogen und ich wäre in ein schwarzes Loch gefallen, welches kein Ende hat, ich wünschte mir, ich würde endlich unten aufschlagen. Dann hätte ich es wenigstens hinter mir, dann wäre alles endlich vorbei. Mein Bewusstsein wurde überströmt mit sämtlichen Reizen, wurde total überreizt von allem möglichen – bloß nicht von dem, was sich um mich herum abspielte. Ich glaube, ich wollte es nicht glauben, nicht wahr haben, dass ich dich nun endgültig verloren hatte und dieses Mal gab es keine Chance auf ein Treffen zwischen dir und mir, keinen Ort, den ich hätte aufsuchen können, um dich wieder zu sehen, ich würde nun nie wieder mit dir reden können, nie wieder mit dir lachen, nie wieder mit dir weinen. Es war einfach vorbei und es gab keine Chance mehr, es wieder rückgängig zu machen, dich wieder zurück zu holen. Immer wieder beherrschte eine einzige Frage meine Gedanken, damals wie heute: Warum sterben die Besten nur immer viel zu jung? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)