Vanilla von Schnueffelnase (Matt x Tai) ================================================================================ Kapitel 1: Wolken ----------------- Damals, als ich ganz frisch in Taichi verliebt war, war es gerade Herbst. Ich ging oft in den Park und legte mich einfach auf die Wiese zwischen den Bäumen. Dann zog ich meinen Schal aus und meine Jacke, schloss die Augen und ließ den Wind über mein Gesicht und meinen Hals wehen und stellte mir vor, es wären Taichis Hände, die mich zärtlich berührten. Ich schloss die Augen und träumte. Träumte von einem Jungen, von dem ich dachte, dass er nie mir gehören würde. Tai, Tai, dachte ich, immer wieder und öffnete nach einer Weile des mich selbst Vergessens die Augen. Es war Herbst, wie ich sagte und die Wolken zogen in den ersten schnellen Winden über den Himmel dahin. Sie sahen aus wie Tai. Damals, wie auch heute. Wenn ich heute im Park liege, denke ich an damals, an diese Zeit vor etwa einem Jahr und betrachte die Wolkenformen mit einem Lächeln. Sie sehen immer noch so aus wie Tai, doch dieses Mal ist alles anders, denn Tai gehört jetzt zu mir. Es war wieder einer dieser Tage, an denen ich es kaum erwarten konnte, meinen Freund – so nenne ich ihn jetzt gern in Gedanken – zu sehen. Tai hatte nie viel Geld, weil er alles schneller ausgab, als er es wieder einnehmen konnte und so hatte er einen Job in einem kleinen Café übernommen. Manchmal besuchte ich dieses Café und ließ mich von ihm bedienen. Es gab dort leckere Sachen. Eis, Kuchen und Sorbets. Am liebsten mochte ich das Vanillesorbet und manchmal, wenn Tai gerade zu einem Spaß aufgelegt war, malte er mir ein Herz, einen Smiley oder ein anderes lustiges oder herzzerrührendes Zeichen in die Leckerei hinein. Einmal waren seine Zeichnungen gar so obszön, dass ich rot anlief und den Abend kaum erwarten konnte. Doch so gut das Geldverdienen auch war, es raubte doch einiges an Zeit, denn neben der Schule und der ganzen Lernerei auch noch arbeiten zu gehen, verlangte einen nicht unerheblichen Teil des Tages. Normalerweise traf ich mich an diesen Tagen mit meiner Band. Wir waren auch jetzt noch zusammen und probten regelmäßig. Doch gerade jetzt hatten ausschließlich alle Urlaub und waren mit Familie oder Freunden übers ganze Land verteilt. Deshalb hatte ich viel Zeit, auch viel für mich selbst und da Tai und ich beide einen Urlaub ins Auge gefasst hatten, arbeitete er mehr als je zuvor und deshalb sah ich in diesen Tagen manchmal mehr Wolken, als Tai. Doch ich wollte mich nicht daran stören, denn wir liebten uns. "Hallo Matt." Es war Abend und Tai war gerade nach Hause gekommen. Ich sage "nach Hause", obwohl es gar nicht mein zu Hause war, denn ich war bei Tai und hatte auf ihn gewartet. Er lebte nach wie vor mit seiner Mutter und seiner Schwester, Kari, in der Wohnung, die er auch schon damals bewohnte, als er, als kleiner Pimpf, zum ersten Mal auf Agumon traf. Agumon, Gabumon .. wir hatten sie schon lange nicht mehr gesehen, aber eine andere Generation sah nun nach dem Rechten und als wir das letzte Mal Kontakt zu unseren Digipartnern aufgenommen hatten, war alles in bester Ordnung und so würde es nach wie vor noch sein. Es störte mich nicht, dass diese Abenteuer nun seit langem vorüber waren. Damals war ich Feuer und Flamme, auch wenn ich es manchmal nicht hatte zugeben wollen, auch mit 14, als Davis und der Rest der Bande gerade auf dem Vormarsch waren, hatte ich noch meine liebe Freude an der Digiwelt und sicher wäre ich ihr auch jetzt nicht abgeneigt, doch hatte das reale Leben uns inzwischen in seinen Bann gezogen und da ich mich sehr wohl fühlte, vermisste ich nichts. "Was für ein Andrang." fuhr er fort. "Tut mir leid, dass ich eine halbe Stunde zu spät bin." Er schüttelte den Kopf. "Aber es war einfach nichts zu machen. Wir hatten eine Gruppe alberner Mädchen, die Yoshi unbedingt verführen wollten und ständig was neues bestellten." Yoshi war ein Kollege von ihm. "Hat ewig gedauert, bis Yoshi sie rauskomplementiert hatte." Er grinste. "Aber sicher kommen sie morgen wieder. Naja, mich soll's nicht stören, es ist ja mein Geld. Gewissermaßen. Zumindest werd' ich den Job behalten können, solange der Laden immer voll ist und da dürfen ruhig mal ein paar Weiber Yoshi süß finden – oder mich." fügte er schelmisch grinsend hinzu und betrachtete mich dabei von der Seite. "Willst du mich eifersüchtig machen?" fragte ich lachend und strahlte ihn an. "Naja." erwiderte er. "Ich sage ja nur, was Sache ist." Besitzergreifend ging ich auf ihn zu und nahm ihn in meine Arme. Ich wollte ihn gerade küssen, als ein Geräusch uns auseinanderfahren ließ. Es war der Schlüssel, der sich im Schloss drehte und das Kommen von Tais Mutter ankündigte. Tais Mutter .. Tai .. ich. Ich glaube, dass Kari davon wusste. Von Tai und mir und dass wir ein Paar waren. T.K. jedenfalls wusste es und er war mit ihr zusammen, glaubte ich. Aber eigentlich hatten wir niemandem von uns erzählt, außer T.K. eben, der uns in einer etwas unmissverständlichen Lage überraschte, als er eines Tages eher als geplant aus der Schule kam. Ich weiß nicht, warum wir es niemandem erzählten. Sicher aus Angst auf der einen Seite, denn wir wussten nicht, ob uns andere Menschen unser Glück gönnen würden, wenn sie von unserer Liebe erführen und vielleicht aus Nervenkitzel auf der anderen Seite. So eine heimliche Liebschaft hatte schon etwas unheimlich spannendes und es war fast wie ein Spiel, sich verstecken zu müssen, Andeutungen zu machen und nur selbst zu wissen, was damit gemeint war, während alle anderen im Dunkeln tappten. Außer T.K. Wir beteten, dass er sich niemals verplappern würde. Ich glaube, für meine Eltern wäre es das Ende gewesen und damit auch für Tai und mich. "Ich hab euch Ramen mitgebracht." sagte Taichis Mutter, als sie aus dem Regen ins Trockene trat. "Ihr seid doch sicher hungrig, nicht wahr? Besonders du, mein Schatz." Damit meinte sie Tai. "Es ist so nett von dir, Matt, dass du extra auf den Jungen gewartet hast. An deiner Stelle wäre ich längst nach Hause gegangen und hätte mir den Bauch vollgeschlagen, aber du hast gewartet. Das ist wohl wahre Freundschaft." Sie tat uns den Gefallen, Wasser zu kochen und die beiden Tütennudeln hineinzuwerfen, als bereits blubbernde Blasen in den beiden Töpfen zu sehen waren. Sicher auch aus der Meinung heraus, dass Tai und ich in Küchendingen völlig unfähig waren – und das, obwohl ihr Sohn inzwischen arbeitete und andere mit seinen kulinarischen Künsten verwöhnte. Aber Mütter sind wohl so. "So Jungs." sagte sie, wie auf Kommando. "Ich werd' den Fernseher in Beschlag nehmen und jammere nicht wieder, Kari." Kari war gerade ins Zimmer getreten und machte Anstalten, verhandeln zu wollen. "Diese Kochsendung ist wirklich wichtig und sie sorgt dafür, dass ihr am Wochenende immer was besonderes bekommt." Dagegen konnte man wirklich nichts einwenden. Tais Mutter kochte ausgezeichnet. Fantastisch sogar. Manchmal hatte ich das Vergnügen, bei den Yagamis zum Mittagessen eingeladen zu sein und jedes Mal freute ich mich schon Tage zuvor darauf. Doch wenn man, wie Kari, daran gewöhnt war, ständig etwas so Gutes zu bekommen, sah man sicher irgendwann nicht mehr das Besondere daran und so kam es, dass sie gerne nörgelte, wenn ihre Mutter den Fernseher in Beschlag nahm, um sich – wie sie es nannte – lebenspraktisch weiterzubilden. Doch diesmal zog sie sich schnell zurück. Vermutlich, weil das Handy klingelte. Sicher war es T.K. Weil Tai und ich den Sendungen, die seine Mutter so sehr schätzte, nichts abgewinnen konnten und außerdem ungestört sein wollten, zogen wir uns in sein Zimmer zurück und verdrückten unser Abendessen dort. Das war nichts ungewöhnliches, denn wir hatten das auch früher schon getan und so war die gesamte Familie Yagami bereits daran gewöhnt, dass wir oft stundenlang in seinem Zimmer hockten. "Du solltest hier übernachten." sagte Tai, als er seine letzte Nudel aus der Schale geschlürft hatte. "Wie wäre es, hm? Eine Pyjama-Party ohne Pyjama. Was sagst du dazu?" Er grinste. "Ich sage." erwiderte ich. "Dass das der erste und letzte Pyjama wäre, den ich in deinem Hause nicht hätte tragen dürfen." Er lachte. "Wahrscheinlich." sagte er. "Wahrscheinlich." Erschöpft ließ er sich rücklings auf sein Bett fallen. "Brauchst du eine Einladung?" fragte er nach einigen Sekunden, den Blick gen Decke gerichtet. "Oder kommst du auch so zu mir?" Ich lächelte und setzte mich an seine Seite. Wir schauten uns an, dann küssten wir uns. "Ich würde gern mal wieder, hm .." setzte Tai an. "Du weißt schon. Noch näher bei dir sein." Das letzte Mal war eine Ewigkeit her und manchmal konnte ich mir gar nicht erklären, warum sich so selten Situationen ergaben, in denen wir tatsächlich ungestört waren. Vor einigen Wochen hatte wir tatsächlich eine Art Pyjama-Party veranstaltet, aber wir hatten es unseren Eltern und unserem Ansehen zuliebe einen Spieleabend genannt, denn Pyjama-Partys waren was für Mädchen. Wir hatten an dem Abend auch tatsächlich lange am PC gezockt, doch mitten in der Nacht überkam es uns und da meine Eltern mit den Yagamis unterwegs waren, waren wir ungestört. Seitdem hatte das nicht wieder geklappt. Doch heute schien das Glück uns hold, denn alle, die uns hätten stören können, waren so in ihre eigenen Beschäftigungen versunken, dass wir uns sicher wähnten und unsere Zweisamkeit endlich einmal wieder in vollen Zügen genießen konnten. "Ich liebe dich, Matt." murmelte Tai, als der Abend bereits in die Nacht übergegangen und Tais Mutter vor dem Fernseher eingeschlafen war. Manchmal passierte ihr das. Wir standen vor der Tür und küssten uns, dann machte ich mich auf den Weg nach Hause. Der Himmel war klar, Sterne waren zu sehen, was selten war, hier, in der Stadt und nur vereinzelt hingen hier und da einzelne Wolken, die den Mantel aus Sternen und Dunkelheit bedeckten. Wolken, die aussahen wie Tai und mich die letzten Stunden noch einmal in Gedanken durchleben ließen. Ich konnte mich glücklich schätzen, den Jungen für mich zu besitzen, den ich liebte, denn wie viele Menschen konnten das schon von sich behaupten? So kam ich zu dem Schluss, dass alles prima war, in diesem Moment, glaubte ich .... Kapitel 2: Ernüchterung ----------------------- Das Drama begann an einem Samstag, der an sich recht friedlich begonnen hatte. Die Sonne hatte in mein Fenster geschienen, als ich erwachte und das im Herbst! Alle Anzeichen also für einen schönen Tag. Doch die Sonne verdunkelte sich, als der Nachmittag eintraf und mit ihm mein Vater, den ich schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. "Yamato" begann er, was seltsam war, denn normalerweise nannte er mich bei meinem Kurznamen, den auch meine Freunde benutzten und da wir, nachdem ich vor einiger Zeit beschlossen hatte, mit T.K. zusammen bei meiner Mutter zu leben, trotz allem nie eine große Distanz zueinander aufgebaut hatten, mutete es recht seltsam an, dass er plötzlich meinen vollen Namen benutzte. "Du bist jetzt 16, mein Sohn" fuhr er fort "und wirst in den nächsten Jahren die Schule verlassen. Deine Mutter und ich wissen, dass es dir auf deiner jetzigen Schule gefällt, aber wenn wir ehrlich sind, kann man nicht behaupten, dass sie zu den besten gehört." "Auch nicht zu den schlechtesten." warf meine Mutter beschwichtigend ein. "Ja, auch nicht zu den schlechtesten." griff mein Vater die Worte auf. "Aber wir wollen mehr für dich. Wir wollen, dass du nach der Schule auf eine anständige Universität gehst und später Erfolg im Berufsleben hast, deshalb haben wir beschlossen, dich auf eine andere Schule und aufs Internat zu schicken. Es ist alles schon geregelt. Du kannst fast sofort anfangen, in einer Woche geht es los." Es fällt mir schwer, zu beschreiben, wie groß meine Fassungslosigkeit in diesem Moment war. Es fühlte sich an, als hätte man mir direkt mit der Faust in den Magen geschlagen. Noch vor ein paar Minuten hatte ich mich zu den glücklichsten Menschen auf diesem Planeten gezählt und nun machte sich eine Woge der Ernüchterung breit. Ich starrte meinen Vater an und meine Mutter und dann begannen die Gedanken. Warum, dachte ich, wollen sie mich auf eine neue Schule schicken? Davon war doch nie die Rede! Überhaupt hatte ich nie das Gefühl, dass meine Schule schlecht wäre oder nicht so gut und nie hat jemand etwas gesagt. Habe ich etwas falsch gemacht oder war ich einfach zu dumm und habe die Anzeichen nicht mitbekommen? Bin ich so verliebt in Tai, dass ich andere Dinge um mich herum nicht mehr mitbekomme und, um Himmels willen, Tai! Hatten meine Eltern am Ende doch etwas mitbekommen und wollten mich von ihm trennen? Ich wollte etwas sagen, doch nichts kam und bevor meine Eltern meine Starre als schweigende Zustimmung deuten konnten, versuchte ich doch noch, etwas herauszupressen. "Ne-ei-n" sagte ich oder so etwas ähnliches, auf jeden Fall gelang es mir nicht, meinen Standpunkt zu verdeutlichen und die Meinung, die ich zu der Sache hatte. Ich dachte nur an Tai. Von ihm getrennt zu sein, erschien mir unvorstellbar und noch unvorstellbarer die Tatsache, ihm beizubringen, dass ich für die nächsten Jahre aus seiner Nähe entschwinden würde und dann .. wurde ich ohnmächtig, richtig ohnmächtig. Ich kippte einfach um! Das nächste, was ich mitbekam, war, dass meine Mutter meinen Namen rief und mir scheinbar panisch Luft zuzufächeln versuchte. Mein Vater hingegen stand schon am Telefonapparat und sprach mit einem befreundeten Arzt. Ich war nur umgekippt, aber er hatte sich bereits erkundigt, ob es nicht besser wäre, den Notdienst zu alarmieren. Doch nun, da meine Augen wieder geöffnet waren, hörte ich nur, wie er ein "Hat sich erledigt." murmelte und den Hörer langsam zurück auf die Gabel legte. Dann hockten beide neben mir und sahen mich an. "Was war los, Matt?" fragte mein Vater. "Du bist doch sonst nicht so schwächlich." "Bist du krank, Schatz?" warf meine Mutter ängstlich ein. Ich verneinte und versuchte, mich aufzurichten. Es gelang! "Ich glaube, ich war nur sehr überrascht." antwortete ich und dann dachte ich daran, was geschehen war. Die neue Schule! "Warum wollt ihr mich auf eine neue Schule schicken?" fragte ich. "Die Gründe haben wir doch schon genannt." antwortete mein Vater. "Hm ...." sagte ich und versuchte, Argumente zu finden, um den drohenden Wechsel abzuwenden. "Also, ich fühle mich eigentlich sehr wohl auf meiner Schule." "Du wirst dich auf der neuen Schule auch wohl fühlen." sagte mein Vater. "Aber dort muss ich mich erst neu einleben und ich kenne niemanden. Keinen Lehrer, keine Klassenkameraden, niemanden und meine AG's und die Band müsste ich dann auch aufgeben." "Das sind für mich keine Dinge, die eine Hürde darstellen." "Für mich aber schon." erwiderte ich trotzig. "Sprich nicht so mit mir, Matt. Du weißt, dass wir nur das Beste für dich wollen und .." "Wenn ich aber weiß, dass das nicht das Beste ist?" unterbrach ich ihn. Ich war gereizt und reagierte dementsprechend, denn ich sah mich schon jetzt in der Verliererposition und wenn man dermaßen in die Ecke gedrängt wird, kann man manchmal nur noch wahllos zubeißen, mit Worten oder Taten und da ich nicht auf meinen Vater loszugehen gedachte, wählte ich wenigstens einen zornigen Ton für meine Stimme. "Woher sollst du das wissen, in deinem Alter? Wenn ich damals die Chance gehabt hätte .." "Jaja, jetzt kommt das wieder." unterbrach ich ihn erneut. "Die verpassten Chancen. Das halten doch alle Eltern ihren Kindern vor, oder? Aber was ist mit meinen Chancen? Meine Band, ich will Musiker werden, verdammt." "Musiker, pah!" schnaubte mein Vater. "Glaubst du, damit kannst du etwas erreichen? Musiker! Wenn es wenigstens Klassische Musik wäre, aber dein Rock-Gejaule oder was auch immer das sein soll, ist doch erbärmlich!" Wir stritten noch eine ganze Weile weiter und die Wahl unserer Worte wurde immer heftiger. Ich fühlte mich unverstanden und mein Vater verstand nicht, warum ich nicht begreifen wollte. Meine Mutter hingegen schwieg nur vor sich hin und sagte die ganze Zeit über kein einziges Wort. Ich wusste nicht, ob sie insgeheim zu mir hielt oder meinem Vater oder ob sie einfach nur nicht zwischen die Fronten geraten wollte. Wir stritten über meine Band, über meine Schule, meine Leistungen, die eigentlich nicht schlecht waren, meine Freizeit, meine Freunde und sogar meine Klamotten, was auch immer es daran auszusetzen gab, denn meistens trug ich meine Schuluniform. Die angeblich zu schlampig war, aber in Wahrheit gingen meinem Vater wohl einfach langsam die Kritikpunkte aus. So ging es hin und her und am Ende stritten wir über das unvermeidliche Thema, nämlich über Tai. "Und was ist mit Tai?" schrie ich. "Tai?" fragte mein Vater. "Was soll mit ihm sein? Er bleibt hier und du kannst ihn alle paar Wochen sehen. Ist ja nicht so, dass du ununterbrochen im Internat bleiben sollst. Zu den Ferien kommt fast jeder Schüler nach Hause." "Und was ist, wenn ich ihn mehr als dreimal im Jahr sehen will?" "Nun hab dich nicht so, wozu gibt es heutzutage E-Mails?" "Das ist nicht das Gleiche! Ich will richtig bei ihm sein!" "Richtig bei ihm sein? Sag mal, bist du in ihn verliebt, oder was?" Da hatten wir es! Mein Vater hatte direkt ins Schwarze getroffen und ich war nicht in der Lage, angemessen und vor allem ruhig zu reagieren. "Und wenn schon!" spie ich giftig hervor und sprang vom Sofa. Ich schnappte meine Jacke und verließ die Wohnung, denn ich wollte nur noch weg. Im Umdrehen sah ich noch einmal die Gesichter meiner Eltern. Sie waren beide verzerrt. Meine Mutter starrte mich nur mit großen Augen an und mein Vater hatte den Mund geöffnet und war knallrot angelaufen. Sie fassungslos, er noch mehr verärgert, wie hatte es nur soweit kommen können? Als die Tür zufiel, verlor ich sie aus den Augen. Schrecklich, dachte ich, aber ich ging nicht zurück, sondern rannte einfach los. Kapitel 3: Wolken II -------------------- Ich wusste nicht, wie lange ich bereits gerannt war, als ich plötzlich innehielt. Auf jeden Fall war ich nicht mehr in der Gegend, in der ich wohnte, sondern ein gutes Stück weit weg. Verfolgt haben werden sie mich ja nicht, dachte ich, deshalb beruhigte ich meinen Gang und schlenderte nun, meinen Gedanken nachhängend, so vor mich hin. Sicher hatte ich einige Blicke auf mich gezogen, denn trotz aller Bevölkerungsdichte passierte es selten, dass jemand in meinem Alter einfach heulend auf die Straße rennt und sich laut schluchzend seinen Weg durch die Menschenmassen bahnt. Peinlich war es mir trotzdem nicht, aber ich glaube, dass es daran lag, dass ich einfach keine Kraft hatte, um mich auch noch wegen dieser Sache aufzuregen. Nach einer Weile setzte ich mich unter die lichter werdende Krone eines Baumes und schaute den rot-goldenen Blättern beim Fallen zu. Ich wusste nicht einmal, in welchem Park ich mich befand, aber er war gut und er beruhigte meine Seele, für den Moment. Recht leer war er auch, was mir gefiel, denn so hatte ich einen Moment für mich allein. Nichts ist anstrengender, als sich schlecht zu fühlen, der Öffentlichkeit aber ein fröhliches Gesicht zeigen zu müssen. Nicht nur zehrt es an den Kräften, man hat auch noch das Gefühl, sich selbst zu verraten. Während ich so dasaß, dachte ich über Tai nach. Er war jetzt gerade auf Arbeit und ahnte nichts von den Dingen, die geschehen waren. Nicht, dass wir auseinandergerissen werden sollten und auch nicht, dass unser Geheimnis nun anscheinend aufgedeckt war. Ich war doch echt ein Esel. Sicher wäre jeder andere in meiner Situation cooler geblieben und hätte die Worte einfach an sich abprallen lassen. Aber nein! Ich musste mich ja unbedingt reinsteigern und mich mitreißen lassen. Mit meinem Vater zu streiten war keine angenehme Sache, denn immer setzte er am Ende seinen Willen durch und man selbst musste sich beugen. Das hatte ich schon als kleiner Junge erfahren, auch wenn die Streits der Vergangenheit nicht so essenziell wirkten wie der vor etwa einer Stunde. Puh, dachte ich, seufzte und ergab mich meinem Dilemma. Sicher gab es keinen Ausweg, sicher war ich verdammt, denn nicht einmal meine Mutter hatte meinem Vater widersprochen, sondern wirkte eher angetan von der Vorstellung, mich auf einer angeblich besseren Schule zu wissen. Während ich, von den Bildern geplagt, die meine Vorstellung mir auferlegte, halb dämmernd vor mich hin döste, fing es plötzlich an zu regnen. Auch das noch! Aber vielleicht war es gar nicht so schlecht, denn sonst hätte ich sicher noch Stunden hier gesessen, ohne etwas zu erreichen, mal abgesehen davon, dass ich mich immer weiter fertigmachte. Da ich nicht so recht wusste, was ich tun sollte und auf keinen Fall nach Hause wollte, entschied ich, Tai einen Besuch abzustatten. Sicher würde er sich freuen und lächeln und ein Lächeln konnte ich jetzt dringend brauchen. Schon ein, zwei Sekunden, nachdem ich diesen Gedanken gefasst hatte, merkte ich, dass ich richtig lag, denn bereits der Gedanke an Tais fröhliches Gesicht, trieb mir selbst ein kleines Lächeln auf die Lippen, obwohl mir immer noch nach Heulen zumute war. Da ich nach wie vor nicht wusste, wo ich mich befand, holte ich mein Handy aus der Hosentasche und schaltete das GPS-Programm ein. Glück für mich, dass dieser Schnickschnack inzwischen fast zum Standard gehörte, auch wenn ich selbst es fast nie benutzte. Fünf Minuten später wusste ich, dass es bis zu Tais Café zu Fuß etwas mehr als eine halbe Stunde dauern würde. Na gut, dachte ich, und machte mich auf den Weg. Als ich die Tür zu Tais Café öffnete, verriet ich mich nun doch selbst, denn ich lächelte, obwohl ich eigentlich nur normal hatte gucken wollen. Beim Eintreten hatte ich gesehen, wie ein brauner Haarschopf gerade in der Küche verschwand und deshalb musste ich mich von einem von Tais Kollegen an einen freien Tisch führen lassen, aber das war auch nicht so schlimm, denn früher oder später würde mein Freund mich schon entdecken. Wie immer studierte ich die Karte und wie immer entschied ich mich für ein Vanillesorbet. Tai musste gesehen haben, dass es für mich bestimmt war, denn als es ankam, sah ich, dass es mit vielen kleinen Zuckerherzchen verziert war. Eigentlich fast zu süß für Tai, aber ich fand es trotzdem rührend und so kamen mir einmal mehr die Tränen. Um nicht zu zeigen, dass ich heulte, senkte ich meinen Kopf und versuchte, es zu verstecken. Mit mäßigen Erfolg, wie mir schien, denn wenig später hörte ich zwei mir vertraute Stimmen, die eindeutig etwas bemerkt hatten. "Hey, Tai,." sagte die eine Stimme. "Ich glaube, das Essen, das du deinem Freund gebracht hast, ist schlecht." "Wieso?" fragte die andere. "Naja, weil er heult." "Hä?" Das war Tai und er war überrascht. "Übernimm mal, Yoshi." Ich hatte nicht nach oben geschaut, spürte aber, dass Tai plötzlich neben mir stand und mich eindringlich ansah. Er sagte erst nichts, öffnete dann aber wohl doch seinen Mund und versuchte, in Erfahrung zu bringen, was mich bewegte. "Hey Matt, sag mal, hast du ein Problem? Irgendwie sieht es nicht so aus, als ob es am Essen liegt." Ohne mich vorher zu warnen, nahm er mir den Löffel aus der Hand, steckte ihn ins Sorbet und probierte einen Happen. "Nein, durchaus nicht, das ist perfekt." Dann schaute er in den Spiegel. "Ah, an mir kann es auch nicht liegen, auch perfekt." Er grinste. "Also, raus mit der Sprache. So schlimm wird es doch nicht sein, oder?" Da schaute ich auf. "Oh." sagte er. "Ähm, weißt du was? Es ist wohl am Besten, wenn wir mal kurz unter vier Augen reden." Weil ich weder genug Willenskraft hatte, um mich zu bewegen, um zuzustimmen oder zu widersprechen, ließ ich mich einfach von ihm an der Hand nehmen und mit sich ziehen. Wir gingen am Rand des Cafés entlang zur Küche und von dort aus über den Hinterausgang nach draußen. "So." sagte Tai und legte seine alberne Küchenmütze ab. "Nun mal raus mit der Sprache." Erwartungsvoll sah er mich an. Ich wusste erst nicht, wie ich es ihm erzählen sollte oder ob ich es überhaupt erzählen sollte. Für einen irren Moment lang dachte ich sogar daran, einfach abzuhauen und ihm gar nichts zu erzählen. Aber was hätte das für einen Sinn gehabt? Es war eigentlich gar nicht schwer, ich müsste nur schildern, was zu Hause vorgefallen war und dann würde Tai und mir sicher etwas einfallen, aber ich brachte kein Wort heraus. Minutenlang verharrten wir, ohne dass sich etwas tat und weil Tai wohl bemerkt hatte, dass es nichts brachte, mich weiter zum Reden zu ermutigen, stand er einfach an die Hauswand gelehnt da und starrte abwechselnd auf mich und die Regenfäden, die den Boden jenseits unserer kleinen Überdachung in ein Schlammfeld verwandelten. Ich hatte immer noch nichts gesagt, als mein Blick nach oben ging und ich in die Wolken starrte, die in grauen Massen über uns herzogen. Irgendwann, als ich einmal im Park lag, hatte ich gedacht, dass Wolken doch interessant sind, weil jeder etwas anderes darin sieht und ich hatte gedacht, dass manche Wolken wie der Spiegel meiner Seele sind. Denn als ich noch nicht mit Tai zusammen war, sah ich sein Gesicht entfernt von mir, dann, als wir zueinander gefunden hatte, entdeckte ich immer öfter uns beide in den Wolken. Und jetzt, in diesem Moment, als ich hier stand und nicht wusste, was ich sagen sollte, sah ich eine Formation, die ein verwischtes Abbild unserer Einheit zeigte. Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein, aber es schien, als hätte der Himmel mir einen Hinweis gegeben und da wusste ich, dass mir gar nichts anderes übrigblieb, als mit der Sprache rauszurücken. Kapitel 4: Druck ---------------- Es war bereits Abend, als ich die Wohnung wieder betrat. Zu meiner Überraschung saßen Mutter und Vater beim Tee und das in einer Einheit, in der ich die beiden schon lange nicht mehr erlebt hatte. Auch T.K. musste dagewesen sein, denn ich sah seine Schultasche in der Ecke des Flures liegen, in die er sie immer warf, wenn er nur kurz kam, um dann sogleich wieder zu Kari zu verschwinden. Unglaublich! Man sollte meinen, dass die beiden nur noch drei Tage zu leben hatten, so erpicht waren sie darauf, sich so oft wie möglich zu sehen. Aber gerade ich sollte mich eigentlich nicht beschweren, mir ging es mit Tai ja ebenso und nur mein Alter und meine scheinbare Überlegenheit meinem kleinen, unerfahreneren Bruder gegenüber ließen mich sein Verhalten manchmal belächeln, ohne mein eigenes zu bedenken. Die beiden schauten auf, als sie mich sahen, Mutter und Vater und es schien mir, als betrachteten sie mein Gesicht eindringlicher, als sonst; vermutlich, um meine Gedanken zu erraten. 'Hat er sich beruhigt?' meinte ich aus dem Blick meiner Mutter zu lesen und 'Hat er endlich ein Einsehen?' kam es mir aus den Zügen meines Vaters entgegen. Doch ob ich recht hatte, mit meiner eigenen Interpretation ihrer Gedanken, sollte ich erst später erfahren, denn zunächst hängte ich nur meine Jacke an den Kleiderhaken und ging wortlos auf Toilette, einerseits, weil ich musste und andererseits, um noch etwas Zeit zu gewinnen. Ich hatte mit Tai geredet. Viele und lange. Er war natürlich, wie ich, geschockt und zunächst hatte er wie paralysiert gewirkt, doch schneller als ich hatte er sich wieder aufgerappelt und dann hatten wir bei Tee und Keksen gemeinsam nach einer Lösung gesucht. Yoshi, sein Kollege, hatte uns dazu Rückendeckung gegeben, indem er noch fleißiger arbeitete, während wir unser Problem zu lösen versuchten. "Ich hab schon lange bemerkt, dass zwischen euch was ist." hatte er gesagt. "Denn du benimmst dich einfach zu weibisch, Tai, du Fußball-Ass, wenn Matt in den Laden kommt. Diese Verzierungen auf seinen Desserts. Die Weiber würden dir die Bude dafür einrennen. Man, man, man." Dann hatte er noch einmal gelacht, uns versichert, dass er der Chefin wegen der einen Stunde oder wie lange auch immer wir brauchten nichts sagen würde und war schließlich gegangen, um sich den Gästen und der Küche zuzuwenden. Und dann, ja dann hatten Tai und ich gegrübelt und am Ende waren wir zu dem Schluss gekommen, dass es keine andere Möglichkeit gab, als standhaft zu bleiben und meine Eltern davon zu überzeugen, mich die Schule nicht wechseln zu lassen. "Du musst deinen Eltern Druck machen, Matt!" hatte Tai gesagt. "Irgendwie. Ich weiß zwar auch nicht so genau, wie, aber dir wird schon was einfallen, bist doch ein cleveres Kerlchen." Und als ich ihn ausdruckslos anstarrte, antwortete er: "Naja, musst ja nicht gleich mit Selbstmord drohen oder so, aber irgendwas .. es muss doch irgendwas geben, auf das deine Eltern an dir nicht verzichten können. Mir jedenfalls fallen jede Menge Dinge ein." Das war so typisch Tai. Ich weiß gar nicht, ob er früher schon so gewesen war oder ob es sich erst in den letzten Jahren entwickelt hatte, aber egal, wie kompliziert eine Situation gerade war, er hatte sicher einen Witz parat. Egal in welcher Situation! Manchmal zog er sogar vor seinem Papier in der Schule Grimassen, wenn er bei einer Aufgabe nicht recht weiter wusste und da die Oberschule für ihn ganz gut lief, schien die Methode durchaus erfolgreich zu sein. Während ich so auf dem Klo saß und das Gespräch noch einmal Revue passieren ließ, dachte ich gleichzeitig darüber nach, wie ich das andere Gespräch, das mir noch bevorstand, am besten beginnen sollte. Zurückhaltend, aggressiv? Hoffentlich würde mein Vater mir nicht wieder über den Mund fahren. Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, als ich die Klospülung betätigt, mir die Hände gewaschen und, von schier unermesslicher Langsamkeit geplagt, aus meinen Badslippern in die normalen Hausschuhe zurückgekrochen war, stand ich wieder vor meinen Eltern. Sie starrten mich einfach nur an und da tat ich es! "Ich liebe Tai!" schrie ich "Und deshalb will ich die Schule nicht wechseln!" Oh Gott, Matt, du Vollbirne, dachte ich im nächsten Moment. "Was?" mein Vater war aufgesprungen und sah meine Mutter an. "Ich fasse es nicht, jetzt liebt er den doch und du hast gesagt, er wäre normal! Du hast gesagt, er wäre normal und dass das vorhin sicher ein Missverständnis war." "Oh, mein Junge." sagte meine Mutter und sah an meinem Vater vorbei zu mir. "Das hätte ich nun doch nicht erwartet." "Das ist doch wohl die Höhe." warf mein Vater ein. "Sag das nicht so sanft! Du siehst doch, dass der Junge höchstwahrscheinlich einen an der Waffel hat. Nun impliziere nicht noch, dass wir sein Verhalten gutheißen. Sag sofort, dass du dir einen ganz üblen Scherz erlaubt hast." Er war bereits ein wenig rot im Gesicht. "Das ist kein Scherz." sagte ich und blieb standhaft, auch wenn mein Inneres gerade Saltos schlug. "Das kann nur ein Scherz sein. Mein Sohn tut solche Dinge nicht. Mein Sohn ist ein Dickschädel, der uns Lügen auftischt, weil er an seiner dummen Schule bleiben will!" So ausfallend hatte ich ihn lange nicht mehr erlebt. "Mein Sohn ist ein verdammter, ungehorsamer Bengel, der die Mühen seiner Eltern mit Füßen tritt und sich keinen müden Yen darum schert, was aus ihm einmal werden soll. Soll ich zum Gespött meiner Firma werden?" Er ging auf mich zu und wollte mich packen und schütteln, doch ich ging einen Schritt zurück und noch bevor er erneut auf mich zugehen wollte, hatten sich vier etwas kleinere Hände um seine Arme gelegt. Die einen gehörten meiner Mutter, die meinen Vater zu beruhigen versuchte, die anderen gehörten T.K., der soeben hereingekommen war. "Was ist denn hier los? fragte er, offensichtlich verwirrt, denn aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er höchstens die Hälfte des Gespräches mitbekommen. "Ich wollte eigentlich nur herkommen, um die Kinokarten zu holen, die ich vergessen hatte und dann finde ich hier ein Familiendrama?" "Frag doch deinen Bruder, was los ist." sagt mein Vater, der nun zurückgetreten war und gerade seine Krawatte zurechtrückte. "Ich habe." sagte ich und räusperte mich. "Ihnen gesagt, dass Tai und ich, also .." "Ah." machte T.K. verständnisvoll. "Ja, ich verstehe." "Wie, du verstehst?" fragte mein Vater. "Bist du jetzt auch noch so? Sind nun etwa meine beiden Söhne Idioten? Ist Kari oder wie deine dumme Freundin auch immer heißt, am Ende auch noch ein Mann?" "Moment." warf T.K. ein. "Ich habe nichts getan, um deinen Zorn zu erwecken." Wie konnte er nur so ruhig bleiben, fragte ich mich. "Ich würde weder Matt noch mich als Idioten bezeichnen und bevor du darauf kommst, auch nicht unsere Mutter. Kari ist meine Freundin und ich liebe sie und, nein, sie ist kein Mann, sie ist eine Frau, zumindest soweit ich das beurteilen kann und Matt liebt Tai und er ist sein Freund und wenn du das bisher nicht bemerkt hast, dann weil du blind warst oder nicht interessiert. Wann warst du das letzte Mal bei uns? Das ist doch Monate her und bisher war alles prima und kaum bist du einmal wieder da, überrennst du uns alle mit Entscheidungen, die du im Alleingang getroffen hast. Ich habe gehört, dass du neulich schon einmal hier warst und auf Mutter eingeredet hast und ihr diese Idee mit dem Schulwechsel in den Kopf gesetzt hast." fügte er hinzu, bevor Vater etwas erwidern konnte. "Du hast ihr doch gar keine Chance gelassen, sondern bestimmt und irgendwann hat sie zugestimmt, weil sie keine Ahnung hatte, dass Matt auf keinen Fall von hier wegziehen würde. Ich habe dir nichts davon erzählt." sagte er, an mich gewandt. "Weil ich dachte, das hat noch Zeit. Ich wusste ja nicht, wie schnell unser Vater handelt und wollte dich nicht beunruhigen, du wirktest so glücklich in letzter Zeit und Tai ebenso." "Ah." sagte ich. "Ist einer also ein Idiot, der sich und einen anderen Menschen glücklich macht und soviel Freude ausstrahlt, dass der Rest der Umgebung gleich mit profitiert?" sagte er und sah Vater dabei direkt in die Augen. "Oder ist es nicht idiotisch, Glück zu zerstören, wo es gerade erst am Erblühen ist? Du denkst antiquiert, Vater und damit bist du hier der einzige Idiot. Kein Wunder, dass Mutter dich damals verlassen hat." Das hatte gesessen! Die Worte und die saftige Ohrfeige, die T.K. sich nach seiner Rede eingefangen hatte. Unglaublich, wie der Junge sich entwickelt hatte. Doch nicht mehr so kindlich, wie ich dachte oder lag es an den Liebesdramen, in die Kari ihn neuerdings immer schleppte? "Ah, ist das deine Antwort?" fragte T.K. "Dann werde ich jetzt mal gehen, meine Meinung kennt ihr." Noch bevor jemand ihn aufhalten konnte, war er in sein Zimmer geschlüpft, hatte die Karten geholt und war aus der Wohnungstür auf den Flur hinaus verschwunden. Ich war mir sicher, dass er heulte, denn der Schlag war richtig derb und schon bei seinen letzten Worten hatte er die Tränen nur mühsam zurückhalten können. Soweit kannte ich meinen Bruder. Doch sicher würde Kari ihn gleich trösten und ich, ich würde mich später aufs Beste bei ihm bedanken. T.K. war manchmal echt wie ein Wunder. Kam einfach aus dem Nichts und glättete die Wogen, auch wenn es diesmal nur teilweise gelungen war. Ich jedenfalls fühlte mich beruhigt. Meine Mutter war anscheinend gar nicht so versessen darauf, mich auf die neue Schule zu schicken und T.K. Stand hinter mir, Kari anscheinend auch und wenn sie es wusste, wusste Tais Mutter sicher auch schon Bescheid, sie redeten doch ständig über alles miteinander. "Du wirst nie etwas erreichen." sagte mein Vater, als T.K. entschwunden war. "Du bist armselig und peinlich, ein Perverser noch dazu. Ich wollte dir eine glorreiche Zukunft bieten, aber du hast sie mit Füßen getreten. Ich gebe dir jetzt noch eine letzte Chance. Sag, dass du es dir anders überlegt hast und dass du meinem Weg folgen wirst. Du wirst sehen, dass es der beste ist. Wenn du das nicht tust, wirst du elendig versinken und irgendwo in der Gosse landen und dann wirst du ja sehen, was deine angebliche Liebe dir gebracht hat. Was sagst du?" Erwartungsvoll hielt er mir seine Hand hin, doch ich schlug nicht ein. Er wartete noch eine Weile, doch als ich mich nicht rührte, sondern nur wortlos und trotzig in sein Gesicht starrte, zog er die Hand zurück und drehte sich um. "Das war die falsche Entscheidung, mein Sohn. Du hast uns allen Schande gemacht und du" sagt er, über meine Schulter hinweg an Mutter gewandt. "Hast zugelassen, dass es soweit kam. Du bist eine lausige Ehefrau und Mutter." Nun drehte er sich um. "Erwartet nicht, dass ich noch einmal komme. Ich werde euch nicht mehr besuchen, euch nicht mehr helfen und nicht mehr von euch reden. Ab jetzt seid ihr Abschaum für mich." Im Gehen drehte er seinen Kopf nach links und sah auf ein Bild, dass Tai und mich gemeinsam als Besucher bei einem Baseball-Spiel zeigte. Wir hatten viele solche Bilder, auf denen Freunde und Familie abgebildet waren, im Flur hängen. Er wischte nur einmal mit der Hand darüber und dann ließ er es krachend zu Boden fallen, sodass das Glas splitterte. Dann trat er drauf und schob es mit dem Fuß im von T.K.s und meine nassen Schuhsohlen noch etwas feuchten Flurboden hin und her. Während der ganzen Prozedur sagten meine Mutter und ich nichts. Wir ließen ihn einfach gewähren und als er endlich gegangen war, schloss meine Mutter die Tür und sah mich wortlos an. Ich sah Liebe in ihren Augen und den Willen, für mich da zu sein, egal, wie ich mich entwickelte. Erleichtert atmeten wir auf und ich glaube, der Gedanke, durch meine Ehrlichkeit nun noch ein Stück weiter verbunden zu sein und das gemeinsame Aufatmen, als Vater endlich gegangen war, hatten uns noch ein Stück weiter zusammengebracht. Schweigend nahm ich sie in die Arme und wir fingen beide an zu weinen, wer weiß, zum wievielten Mal an diesem Tage. Kapitel 5: Wolken III --------------------- Einige Wochen nachdem der Vorfall sich ereignet hatte, gingen Tai und ich zu zweit spazieren und neben uns schlenderten T.K. und Kari gemütlich vor sich hin. Wir hatten alle frei an diesem Nachmittag und genossen einen der letzten warmen Oktobertage. "Schon unglaublich, was so alles passieren kann." sagte T.K. Es war der Samstag vor genau vier Wochen gewesen, als Vater uns überraschte oder ich den Rest, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man die Geschehnisse betrachtete. "Jaja." sagte Kari. "Aber ich bin froh, dass es so gekommen ist, nun könnt ihr beiden endlich ein richtiges Paar sein und braucht diese Geheimniskrämerei nicht mehr." Natürlich hatte auch Tais Mutter davon gewusst. Als ich am darauffolgenden Sonntag zu ihr gegangen und Tai und ich ihr von uns erzählt hatten, hatte sie nur gelacht und gesagt, sie hätte längst alles mitbekommen und sich einen kleinen Spaß daraus gemacht, uns manchmal ins Schwitzen zu bringen, wenn sie völlig unvermittelt an die Tür klopfte und uns Saft oder ähnliches anbieten wollte. "Ihr wart dann so niedlich" hatte sie gesagt "und habt versucht, euch normal zu benehmen, das war so auffällig Jungs. Und macht euch bloß keine Sorgen" hatte sie hinzugefügt und gelacht. "T.K. und Kari werden schon für Nachwuchs sorgen und bei der momentanen finanziellen Lage in dieser Familie kann ich mir sowieso nicht all zu viele Enkel leisten und nun geht und genießt eure Freiheit." Alle beglückwünschten uns, auch unsere anderen Freunde und zum Glück hatte auch niemand angewidert reagiert. Niemand außer meinem Vater. Er hatte nur noch einmal geschrieben, aber das war nun auch schon wieder zwei Wochen her. In seinem Brief hatte er ausdrücklich erwähnt, dass er alle Verbindungen zu uns abbrechen und eine neue Familie gründen würde, die er mit festerer Hand zu regieren gedachte, damit so etwas nicht wieder vorkommen würde und überhaupt, fand er, würde das alles nur an unserer Mutter liegen. Sicher, sagte er, hatte ich diese seltsamen Anwandlungen von ihr, denn er war ein vernünftiger Mensch. Als ich nach diesem Brief an die Kinder dachte, die er vielleicht noch zeugen würde, taten sie mir leid. T.K. wohl auch, denn nur eine Stunde nachdem wir den Brief gemeinsam gelesen hatten, war er in mein Zimmer gehuscht und wir hatten uns geschworen, unseren Vater insgeheim im Auge zu behalten und ein bisschen auf die Halbgeschwister Acht zu geben, die wir vielleicht noch bekommen sollten. Früher dachte ich, dass jede Geschichte ein Happy End haben müsste und dass am Ende alle zufrieden und glücklich sein müssten. So, dachte ich, wäre die Realität, doch inzwischen habe ich mehr als einmal einsehen müssen, dass die Realität manchmal nicht viel mit den Geschichten gemeinsam hat, die ich früher so gern gelesen habe. Mein Vater hasste mich und ich musste damit leben. Wenn ich mir früher, als ich noch bei ihm lebte, vorgestellt hätte, dass es einmal soweit kommen sollte, hätte ich diese Gedanken als unrealistische Wahnvorstellungen irgendeines Spinners abgetan, denn obwohl mein Vater schon damals manchmal hart war, hätte ich doch nie gedacht, dass er mich einmal hassen könnte. Glücklich, hatte ich früher gedacht, ist der, dessen Leben perfekt ist, doch welches Leben ist schon perfekt und birgt ein scheinbar perfektes Leben wirklich soviel Glück? Inzwischen habe ich gelernt, dass dem wohl nicht so ist. Glücklich, so denke ich, ist der, der im Leben durch Höhen und Tiefen gehen kann und dabei nicht das Gute im eigenen Leben aus den Augen verliert. Glücklich ist der, der die kleinen Dinge im Leben sieht und frohen Mutes durch die Sonnen- und Regentage des Lebens spaziert. Glücklich ist der, der Menschen um sich hat, die ihn lieben und die er selbst lieben kann und die stärker sind, als die, die diesem Menschen Hass entgegen bringen. Diesem Menschen. Mir! Tai, T.K., Kari, meine Mutter, Tais Mutter, unsere Freunde, vor allem aber Tai, sie geben mir soviel, dass es mir nicht wirklich an etwas fehlt und sie sind der Anker, der mich festhält, wenn die Sturmfluten des Lebens mich mit sich zu reißen versuchen. Sie sind die Gesichter in den Wolken, die mich auch dann anlächeln, wenn es zu regnen beginnt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)