Er sieht dich. von Red-Blooded_Angel (Ein trauriges Märchen) ================================================================================ Kapitel 1: Grenzenlos --------------------- „Du hast sie doch nicht mehr alle auf der Latte! Es reicht! Verschwinde endlich!“, fuhr sie den blonden jungen Mann wütend an. Dieser kratzte sich am Hinterkopf und atmete heftig. „Mir reicht es auch!“, rief er in nicht minder wütendem Tonfall. „Glaubst du etwa, es macht mir Spaß, dauernd hier aufzukreuzen und mir die Beine in den Bauch zu stehen, bis Madame sich bequemt, aus dem Haus zu kommen, um mit mir zu reden? Falls du es noch nicht mitbekommen hast, ich tue das, damit du endlich kapierst, wo du hingehörst! Nämlich zu mir, und zu niemandem sonst! Nicht zu Itachi, nicht zu diesem widerlichen Arschloch, mit dem du trotz der ganzen Scheiße, die er dir angetan hat, befreundet bist, und auch nicht zu meinem Mr. Perfekt-Ich-mache-nie-etwas-falsch-und-bin-ja-so-selbstlos-Ex-Besten-Freund. Verdammt, was willst du von diesem halben Hemd?! Was hat er, was ich nicht habe?“ Er funkelte sie an. In seiner Wut hatte er sie versehentlich ein wenig fest am Arm gepackt. Wenig beeindruckt von seinen Worten, die sie schon viel zu oft gehört hatte, riss sie sich los und sagte schnippisch: „ Ja, wo fange ich denn da am besten an...Ach, genau. Zum Beispiel ist er im Gegensatz zu anderen Kerlen, die jedem Frauenarsch hinterherrennen – ich gucke niemanden an - zuverlässig und treu. Bei ihm kann ich mir sicher sein, dass er mir niemals wehtun würde!“ Er machte eine verächtliche Geste. „Du bist ja süß, Aiko. Bei dir ist es mit der Treue schließlich auch nicht so weit her. Wenn ich wirklich von allen erfahren habe, mit denen du es getrieben hast, dann sieht es wohl so aus, als hättest du mich mit einer halben Fußballmannschaft betrogen. Und natürlich mit dem Typen aus Konoha, wie hieß er noch gleich? Iruka? Sasuke? Oder waren das nicht sogar beide? Wer weiß, vielleicht hattest du auch was mit dieser Flasche Kakashi. Also, wie war doch gleich der Vorwurf?“ erwiderte er abschätzig. Ihr platzte der Kragen. Sie brüllte ihn an: „Du konntest doch nicht mal deine Freundin von einer Stripperin unterscheiden, die zufälligerweise auch rote Haare hatte!“ „Ach“, brüllte er zurück, „Ich war auch bis oben hin voll, Schätzchen. Mit den Promillewerten würdest du nicht einmal deinen kleinen Bruder erkennen!“ „Trotzdem würde ich nicht gleich mit ihm schlafen!“ „Wenn er besser aussehen würde, hättest du auch vor deinem Bruder nicht halt gemacht!“ Aiko gab ihm eine schallende Ohrfeige. Er rieb sich die Wange, lächelte aber, als er die Tränen in ihren Augen sah. „Genug davon. Ich würde dir das alles verzeihen. Vergeben und vergessen. Alles, was du tun musst, ist dieses Weichei verlassen und wieder mein Kätzchen werden. Ich weiß genau, dass du mich noch liebst. Und ich liebe dich unerklärlicherweise auch noch. Also komm jetzt, Süße, wir gehen.“ flüsterte er ihr ins Ohr, während er mit der einen Hand über ihre Wange und mit der anderen über ihren Rücken strich. Eine einzelne Träne rollte ihr Gesicht herab. Er fing sie mit seiner Zunge auf und fuhr über die Spur, die die Träne hinterlassen hatte. „Ich liebe dich, hörst du? Ich liebe dich. Und jetzt gib deinem geliebten Ex-Freund einen Versöhnungskuss.“ hauchte er. Sie konnte seinen heißen Atem an ihrem Ohr spüren. Es war einer dieser Momente, in denen sie sich fragte, ob sie denn mit einer Wand spreche. „Sag mal, hast du Tomaten auf den Ohren?! Ich sagte doch...“ „Augen, Liebling.“ unterbrach er sie. „Was? Wie meinst du das?“ Er hatte sie aus dem Konzept gebracht. „Es heißt 'Hast du Tomaten auf den Augen.' Nicht Ohren.“ Bevor sie irgendetwas darauf erwidern konnte, gab er ihr einen Kuss. Obwohl sie versuchte, ihn von sich weg zu schieben, ließ er sich nicht beirren und legte seine Hand auf ihren Hintern. Auf einmal wurde er unsanft von hinten gepackt und weggezogen. „Deidara. Ich habe dir doch gesagt, du sollst die Finger von ihr lassen.“ Der Jugendliche, der ihn gerade zur Seite geworfen hatte, war ein Stück kleiner als Deidara und sah auch sonst nicht besonders stark aus. Seine roten Haare waren wild durcheinander. Er funkelte Deidara, der am Boden lag, aus seinen strengen braunen Augen an. „Hast du immer noch nicht genug? Willst du nicht irgendwas Abfälliges über mich sagen?“ sagte er ruhig, aber bestimmt. Mühsam richtete sich Deidara auf. Ohne irgendeine Warnung oder ein Vorzeichen schlug er sein Gegenüber mit der Faust in Gesicht. „Das musst gerade du sagen!“, knurrte er, während er sich die leicht blutenden Handknöchel leckte. Sichtlich erregt fuhr Deidara fort: „Ich habe dir schließlich auch gesagt, dass du die Finger von ihr lassen sollst. Was du, wie man unschwer erkennen kann, nicht getan hast. Also halt's Maul. Und spiel dich nicht auf wie der große Retter, das kann ich sowas von überhaupt nicht ab! Wann kapierst du endlich, dass du einfach nur im Weg bist?! Du redest doch die ganze Zeit davon, dass du nur ihr Bestes willst. Wieso verschwindest du dann nicht, hm? Wir beide wissen doch, dass sie bei dir niemals glücklich sein wird. Sie und du, ihr wart nie füreinander bestimmt, so wie Aiko und ich es sind. Lass sie gehen, Sasori.“ Aiko strich sich das lange rote Haar zurück und packte Deidara am Schopf, um ihn runter zu drücken. Doch er verhinderte das durch einen gezielten Schlag auf ihr Handgelenk. Es schmerzte nicht sehr, aber sie war gezwungen, ihn loszulassen. Man musste nicht besonders intelligent sein, um zu erkennen, dass sie ziemlich wütend war. „Beweg deinen Arsch von hier fort! Geh endlich!“ brüllte sie ihn an. „Ich hasse dich, hast du gehört? Ich hasse dich!“ Deidara machte ein Gesicht, dass man hätte fotografieren müssen. Es war irgendwie, als hätte ihm irgendjemand sein Knie in den Bauch gerammt oder als hätte sie ihm gesagt, seine Mutter wäre gestorben. Als wäre irgendetwas Gravierendes passiert. Doch es war nichts passiert. Zumindest nichts, bei dem sie diesen Gesichtsausdruck für angemessen hielt. Sie hatte ihm gesagt, was er nicht hören wollte. Und sie hatte gewusst, wie sehr es ihn verletzen würde, doch in diesem Moment war es ihr herzlich egal. Er hatte sich ein paar Minuten nicht bewegt. Zumindest kam es ihr vor, als wären es Minuten gewesen. Die erste Regung war ein Schlucken. Dann ein Verkrampfen sämtlicher Gesichtsmuskeln. Sie sah ihm nicht in die Augen. Das brauchte sie auch gar nicht, denn sie wusste schon so, dass er die Tränen nur schwer zurückhalten konnte. Gleich würde er sich umdrehen, irgendetwas Episches von sich geben, um nicht wie jemand dazustehen, dem man grade gesagt hatte, dass er nicht erwünscht war. Er würde vielleicht etwas in Richtung „Es tut mir leid.“ oder „Wenn du dich selbst belügen willst, bitte.“ sagen und dann gehen. Doch er schwieg. Für einen ganz kurzen Moment tat er ihr leid. Nur für einen kurzen, ganz ganz kurzen Moment. Dann ging er langsam auf sie zu, nicht bedrohlich, sondern sehr ruhig und beherrscht. Es überraschte sie dermaßen, dass sie nicht einmal einen Schritt zurück ging, obwohl sie das in einem anderen Fall höchst wahrscheinlich getan hätte. Sasori zog ein Messer und brachte sich in Kampfposition, sodass er Deidara jederzeit von hinten anspringen und verletzen, im Notfall sogar töten hätte können. Dieser zog Aiko vorsichtig an sich und flüsterte ihr ins Ohr: „Hörst du mein blutendes Herz schreien? Es schreit nach dir. Es tut weh. Bitte, nimm es weg. Sag wenigstens, dass da noch irgendetwas ist. Irgendetwas, das in dir ist. Das nach mir schreit.“ Sie spürte etwas Feuchtes an ihrer Wange. Er weinte. Sie hatte ihn zum Weinen gebracht. Aiko merkte, dass er zitterte. „Du hast mir nichts mehr zu sagen, oder?“ fragte er. Genau genommen war es keine Frage, sondern eine Feststellung. Eine sehr bittere Feststellung. Sie konnte ihn nicht anlügen. Also schüttelte sie den Kopf. „Nein.“ bestätigte sie leise. In ihrem Magen machte sich ein flaues Gefühl breit. Innerlich regte sie sich ein bisschen darüber auf. Das schaffte ja wohl auch nur Deidara. Egal was er tat, egal wie sehr er sie nervte oder ihr wehtat, es gab stets etwas in ihr, das ihn verteidigte. Diese kleine Stimme plapperte gerade ununterbrochen auf sie ein. Während sie versuchte, diese zu ignorieren, sah er sie nur aus seinen traurigen blauen Augen an. Er hat es nicht verdient!, dachte sie. Lass es gut sein. Du hast ihm nur gesagt, was du denkst. Er tut doch nur so. Soviel macht es ihm nicht aus. Er wird es überleben. Sasori stand immer noch mit gezücktem Messer daneben. „Jetzt geh.“ sagte er zu Deidara, der sich nicht vom Fleck bewegt hatte und dessen Kopf auf Aiko's Schulter ruhte, was Sasori gewaltig störte. Deidara nickte und flüsterte noch ein letztes „Goodbye, meine Süße.“ in Aiko's Richtung. Dann verschwand er. Sasori umarmte sie vorsichtig. Er wusste genau, dass sie das jetzt brauchte. Aiko umarmte ihn ebenfalls. Sie war ein bisschen durcheinander, wie sie es nach jedem Streit mit ihrem Ex war. Zweifellos, sie liebte Sasori und nicht Deidara, aber trotz allem hatte sie ihren Ex-Freund immer noch sehr gern. Es tat ihr leid, was er alles wegen ihr durchmachen musste. Obwohl sie es vor allen anderen, sogar vor sich selbst abstritt, fühlte sie sich dennoch für seinen Zustand verantwortlich. Er war schon öfter bei ihnen ins Haus eingebrochen, weil er zu viel getrunken hatte. Das machte er manchmal, wenn er verzweifelt war. Er war in dieser Hinsicht wohl ziemlich feige und ein Experte darin, vor Problemen oder unangenehmen Situationen und Wahrheiten davon zu laufen. Es machte Aiko einfach ziemlich traurig, denn sie wusste, dass es allein ihre Schuld war, egal wie häufig sie beteuerte, es wäre seine eigene gewesen. Sie musste ziemlich unglücklich ausgesehen haben, denn Sasori sah sie ganz besorgt an und strich ihr mit der Hand vorsichtig über den Arm. „Was ist denn?“ fragte er ruhig. „Fühlst du dich nicht gut?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nicht besonders.“ Wieder ein besorgter Blick von seiner Seite. „Hey, so schlimm ist es nicht, okay? Es geht.“ Er sah sie immer noch durchdringend an. „Es ist in Ordnung. In Ordnung, ja? Jetzt mach dir doch keine Sorgen“, sagte sie und lächelte zaghaft. Jetzt lächelte er auch. Seine Hand ruhte auf ihrer Schulter. „Das war's, was ich sehen wollte. Du bist mir so am liebsten. Denk nicht allzu viel über ihn nach. Er hat dir wehgetan. Das darf er nicht! Das darf niemand! Nur weil du ihn geliebt hast, hatte er nicht das Recht dazu. Hörst du? Du hast ihm doch nichts getan“, erklärte er. Als sie etwas darauf erwidern wollte, legte er ihr den Zeigefinger auf den Mund und flüsterte: „Nein. Ich weiß, was du jetzt sagen willst. Aber so ist es nicht. Er war besitzergreifend und eifersüchtig. Dafür konntest du nichts. Er hat da einen … einen Schaden, verstehst du?“ Sasori tippte sich gegen den Kopf, um ihr zu zeigen, wo genau der Schaden bei Deidara seinen Ursprung hatte. Aiko musste unwillkürlich grinsen. „Du bist echt süß, wenn du das machst.“ lachte sie. „Wenn ich was mache?“ fragte er. „Na ja, mich vor mir selbst verteidigen.“ „Das habe ich doch gar nicht! Ich habe lediglich gesagt, wie es ist.“ „Schon gut, Liebling.“ Es musste seltsam aussehen, wie Sasori und sie vor dem kleinen Haus, welches sie gemeinsam bewohnten, standen, überlegte Aiko. Die meisten Nachbarn hatten sie erst für Geschwister gehalten, da sie beide rote Haare hatten. Es dürfte die Anwohner überrascht haben, dass sie und Sasori in Wirklichkeit ein Paar waren. Und nicht Bruder und Schwester, wie manche wohl trotzdem noch vermuten. „Nun gut, ich gehe dann mal lieber rein, okay?“, sagte sie und deutete Richtung Haus. „Klar. Dann gehe ich einkaufen. Dein Lieblingskäse ist leer“, erwiderte er fröhlich. Sie freute sich ehrlich über das, was er über sie und ihre vermeintliche Nichtschuld an dem Desaster mit Deidara gesagt hatte, doch der Streit mit ihrem Ex-Freund zog sie herunter. Um ihm jedoch keine Sorgen zu bereiten, ging sie in das weiße Haus, die Treppe hoch in ihr Zimmer. Sie brauchte jetzt etwas Zeit für sich. Es war noch nicht lange her, als sie in diesen neuen Ort gezogen waren. Am nächsten Tag würde sie zum ersten Mal mit Sasori in die neue Schule gehen. Man konnte nicht sagen, sie wäre aufgeregt gewesen. Es gab auch keine Vorfreude in ihr auf den nächsten Tag, denn sie wusste, dass irgendetwas im Gang war. „Die nächste Zeit wird schwer für uns werden.“, sagte sie zu einem Bild auf dem Regal. „Aber mach dir keine Sorgen. Es wird sicher vorbeigehen. Ich werde alles perfekt machen. Ich werde dich nicht enttäuschen. Irgendwann wird auch diese Zeit vorbei sein. Und dann sind wir glücklich. Für immer glücklich, mein Herz. Wir sehen uns wieder.“ Sie küsste das Bild und lächelte. Der nächste Tag kam schneller, als sie erwartet hatte. An diesem Morgen lag ein Schokoherz auf ihrem Platz am Frühstückstisch. Es war kein Herz aus irgendeiner Schokolade. Es war Weiße mit Zartbitter-Verzierungen und Zuckerguss. Darauf stand „Für mein Herz“. Sie hob es auf und lachte: „Sasori, ist das von dir?“ Er nickte und nahm sie in den Arm. „Das ist ja wirklich süß! Wofür ist das?“, fragte sie gut gelaunt. „Na ja, zum ersten Schultag!“ erwiderte er und gab ihr einen Kuss. „Aber ich hab gar nichts für dich!“ „Das brauchst du auch nicht. Ich liebe dich auch so.“ Er zwinkerte und küsste sie noch einmal. Ein Strahlen ging nun über ihr ganzes Gesicht. „Du machst mich doch immer wieder glücklich!“ Auf so eine Idee konnte auch nur er kommen, dachte sie. Unglaublich süß von ihm! Er weiß wirklich genau, was ich mag! Aiko biss herzhaft hinein. Weiße war ihre absolute Lieblingsschokolade. Sie seufzte glücklich. Sasori sah sie gespannt an. Was will er denn?, überlegte sie. Soll ich jetzt irgendetwas sagen? Ach so, natürlich! Mit vollem, verschmiertem Mund sagte sie heiter: „Dankeschön!“ „Gern geschehen.“, erwiderte er, doch sein erwartungsvolles Gesicht blieb. In einem Comic hätte sie jetzt wohl ein dickes Fragezeichen über dem Kopf, dachte Aiko. Was er bloß wollte? Vielleicht stand sie einfach nur komplett auf dem Schlauch und es war etwas Offensichtliches? Plötzlich durchfuhr ein Ruck ihren Kiefer. „Autsch!“, rief sie. Sie hatte auf irgendetwas Hartes gebissen. „Ich hab irgendwas Komisches im Mund.“, stellte sie fest und tastete mit ihrem Finger nach dem störenden Teil. Sie fühlte etwas und holte es heraus. Ein goldener Ring mit einem grünen Stein. Sie drehte ihn in ihrer Handfläche und sah dann auf. Sasori grinste einfach nur. Vorsichtig nahm er ihr den Ring aus der Hand und steckte ihn an. „Passt wie angegossen.“, sagte er währenddessen und gab ihr einen Handkuss. Aiko wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Wie immer, wenn sie das nicht wusste, brabbelte und stotterte sie irgendetwas vor sich hin, das eigentlich niemand verstehen konnte. Er hingegen wusste immer, was sie sagte. Selbst wenn sie nichts sagte, wusste er genau, was in ihrem Kopf vorging. Es war weniger eine mysteriöse unheimliche Gabe, die er besaß, als die Art, mit der er sie Tag für Tag beobachtete. Er war nicht der Typ, der als Wissenschaftler monatelang zerstreut in seinem Labor arbeitete und vergaß, etwas zu essen. Trotzdem hatte sie manchmal das Gefühl, er würde ihren Körper und ihre Verhaltensweisen regelrecht studieren. Er war wie ein Schwamm, der jede Information zu ihrer Person in sich aufnahm. Er wollte aber nicht unbedingt alles über sie wissen. Sein Interesse an ihr war riesig, aber nicht dermaßen ausgeprägt, dass er sie dazu bringen wollte, ihre Geheimnisse zu verraten. Er war auch kein besonders eifersüchtiger Mensch. Genaugenommen war Sasori kein bisschen eifersüchtig. Solange sie glücklich war, war er es auch. Selbst wenn das bedeutete, dass sie bei einem Anderen war. Ein unglaublich selbstloser Charakterzug an ihm, den Aiko mehr an ihm liebte als alles andere. Allgemein gesagt war sein einziger Fehler wohl, dass er alles für sie tun würde. Sie wusste es, und diese Eigenschaft fürchtete sie genauso wie sie sie schätzte. Er würde ohne ein Wort des Widerspruchs für sie sterben, wenn es sie glücklich machen würde. Doch das wirklich Selbstlose an ihm war, dass er diese Selbstlosigkeit nicht so handhabte wie jene bis in den Tod liebenden Film-Helden. Sie starben allesamt für ihre große Liebe, oder kämpften zumindest dafür. Sie verziehen ihr einiges, wenn auch nicht alles. In diesen Punkten war Sasori anders. Er würde nicht nur für sie sterben, denn viele Liebende würden das füreinander tun. Er würde für sie leben. Ein größeres Opfer als jemandem sein Leben zu opfern, ist, es dieser Person voll und ganz zu schenken. Seine Liebe zu ihr war mächtig, und ihre Liebe zu ihm war es ebenso. Es gab für beide keine größere Angst, als den anderen zu verlieren. Zusammen waren sie überglücklich, und nichts konnte ihr Glück trüben. „Dieser Ring ist ein Zeichen meiner Liebe. Verstehst du? Wann immer du ihn bei dir trägst, bin ich bei dir. Egal, wo du bist.“, sagte Sasori mit einem wunderbaren Lächeln. „Also, lass uns gehen!“, rief er heiter. Aiko stimmte ihm zu und griff vergnügt nach seiner Hand. Kapitel 2: Neue Freunde ----------------------- Die Schule schien ein sehr neues Gebäude zu sein. Zumindest war es neulich erst saniert worden, denn der gelbe Putz wirkte frisch und kaum beschädigt. Es war eine große Schule, in der Broschüre war von 1500 Schülern die Rede gewesen. Ein ungemütliches Gefühl machte sich in Aiko's Magen breit. Die Schule schien ihr nicht nur groß, sondern riesig. Auf den Fenstern stand in grün und blau der Name der Schule, vereinzelt waren auch Bilder aufgehängt. Die Schüler strömten an Aiko vorbei. Die einen würdigten sie keines Blickes und rempelten sie an, so als wäre sie gar nicht da. Neugierig reckten die anderen die Hälse, wenn sie die Neue bemerkt hatten. Doch niemand von ihnen schien sich zu trauen oder es für angebracht zu halten, sie anzusprechen. Die Glastüren standen einladend offen, als hätten sie auf sie gewartet. Aiko drückte Sasori's Hand fester. Der lächelte ihr aufmunternd zu, küsste sie auf die Wange und flüsterte ihr ins Ohr: „Du schaffst das schon, Süße.“ Sie lächelte ebenfalls und flüsterte zurück: „Wir schaffen das.“ Dann atmete sie nochmal durch und ging durch die Eingangstür. Innen sah es genauso aus, wie man es sich von außen vorstellte: Alles wirkte neu und es roch ein wenig nach Farbe. Viele Schüler aller Altersgruppen standen jeweils zu dritt oder zu viert im Gang und redeten aufgeregt über die Geschehnisse am Wochenende. In sich zusammengesunken lief Aiko durch den Gang. Sie kam sich ziemlich klein vor, zwischen den ganzen unbekannten Leuten. Sie war froh, dass Sasori dabei war, sonst wäre sie vermutlich sofort wieder raus gelaufen und hätte sich in ihrem Haus versteckt. Doch sie fühlte sich trotz seiner Anwesenheit auf eine gewisse Art alleine. Sie sah ihn an und lächelte gequält. Er wusste sofort, dass dies kein echtes Lächeln war, doch er nahm sie einfach in den Arm und sagte nichts. Als ihr die Tränen kamen, küsste er sie auf den Kopf und wischte die Tränen ab. „Du solltest deswegen nicht weinen. Ich bin doch bei dir, mein Herz. Nicht weinen, bitte. Ich liebe dich. Hörst du, ich liebe dich.“ Er drückte sie fester. Sie standen eine Weile so da, bis Aiko bemerkte, dass die Schüler um sie herum verschwunden waren und in ihre Klassensäle gegangen waren. „Verdammt“, flüsterte sie, „Wir sind zu spät!“ Sie lief zu dem Klassenraum, den man ihr angegeben hatte und klopfte vorsichtig. Nach einem dumpfen „Ja, herein!“ öffnete sie die Tür und trat ein, Sasori's Hand immer noch haltend. Die Schüler und der Lehrer starrten sie an, ignorierten Sasori jedoch völlig. Aiko hatte gleich das Gefühl, fehl am Platz zu sein. Dieses Gefühl verflüchtigte sich auch nicht, als einer der Schüler einen Pfiff ausstieß und rief: „Ist das die Neue, Herr Schreiber?“ Der Lehrer, Herr Schreiber, nickte und gab Aiko die Hand. „Aiko Momomiya, herzlich Willkommen an unserer Schule! Das ist deine neue Klasse“, sagte er freundlich. Reiß dich zusammen!, dachte sie. Der erste Eindruck zählt, also stell dich nicht so an. Er sieht dich. Und er will dich sicher nicht so sehen, wie du dich jetzt gerade aufführst. Also, mach gefälligst einen guten Eindruck! Sie atmete tief durch. Dann straffte sie die Schultern, baute sich ein wenig auf und lächelte selbstsicher in die Runde. Vermeintlich freudig und beschwingt zeigte sie auf einen freien Platz in der letzten Reihe und fragte, ob der noch frei sei und sie sich dorthin setzen dürfe. Herr Schreiber, offensichtlich froh darüber, dass sie nicht von der schüchternen Art war, bejahte und fügte hinzu: „Aber nimm dich vor Mr. Pain in Acht. Er ist nicht besonders höflich.“ Ehe sie fragen konnte, wer Mr. Pain sein sollte, hatte der Lehrer sie auch schon zu ihrem Platz geschoben. Sie setzte sich und beäugte ihren Sitznachbar. Der schien sich weder für sie noch für Sasori zu interessieren. Vielmehr war er mit seinem MP3-Player beschäftigt und hatte Ohrstöpsel in den Ohren. Aiko rückte ein bisschen zur Seite und flüsterte Sasori zu: „Magst du dich nicht setzen?“ Der schüttelte den Kopf. „Danke für das Angebot, aber ich stehe gerne“, erwiderte er. „Bitte, bitte, bitte, bitte...“, sagte sie und sah ihn mit ihrem von ihm gefürchteten Riesenaugen-Blick an. Er seufzte und setzte sich neben sie auf den gleichen Stuhl. Kopfschüttelnd grinste er sie an und murmelte: „Echt unfair, sowas! Du weißt doch genau, was du machen musst, um mich zu überreden.“ Sie nickte und strahlte ihn an. „Aber natürlich weiß ich das!“, rief sie etwas laut. Ihr Nachbar drehte sich ihr kurz zu und sah sie verständnislos an, ehe er sich wieder einem weißen Päckchen zu wandte, das er inzwischen herausgeholt hatte. Ohne sie anzusehen, fragte er mürrisch: „Was weißt du?“ Aiko räusperte sich. „Nichts. Entschuldige“, erwiderte sie. Sasori klopfte ihr auf die Schulter und erklärte, er würde jetzt wieder nach Hause gehen und das Mittagessen schon mal für sie vorbereiten. Dann stand er auf und ging. Eine Weile saß Aiko im Unterricht und versuchte diesem zu folgen. Doch irgendwann schaltete sie ab und kritzelte auf ihrem Block herum. Sie malte kleine Herzchen darauf und schrieb Sasori's Namen hinein. Nach einer gefühlten Stunde stöhnte sie leise auf und lehnte sich nach hinten. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass die Stunde noch zwanzig Minuten ging. Den Rest der Zeit sah sie den Typen neben ihr an, der irgendwelche Zahlen mit schwarzem Edding auf die Päckchen schrieb und sich wohl genauso wenig wie sie selbst für den äußerst einschläfernden Unterricht ihres neuen Klassenlehrers interessierte. Sie musste ihn ziemlich auffällig angestarrt haben, denn nach ein paar Minuten wandte er sich ihr mit ziemlich genervtem Gesichtsausdruck zu und fragte noch eine Spur unhöflicher als zuvor: „Ist irgendwas, oder warum glotzt du so, huh? Ich weiß selbst, dass ich geil aussehe, aber wenn du deine Augen schon nicht von mir lassen kannst, dann starr wenigstens unauffälliger.“ Sie glaubte sich verhört zu haben und blinzelte zweimal, bevor sie ärgerlich fragte: „Wie bitte?! Was glaubst du eigentlich, wer du bist??? Mr. Ich-tu-mal-so-als-wäre-ich-cool! Na warte, du solltest lieber aufpassen, bevor ich mich noch richtig aufrege...!“ Er sah sie herablassend an und machte eine lässige Bewegung mit der Hand. „Du kannst mir gar nichts, Kleine. Lass mich einfach in Ruhe, und wir kommen klar, kapiert?“, sagte er rau. Aiko wollte im ersten Moment etwas erwidern, ließ es dann aber doch. Es ist ja wohl nicht nötig, dass du dich gleich am ersten Tag bei deinem Sitznachbar unbeliebt machst. Sei freundlich. Denk daran, er will sicher, dass du freundlich bist. Er sieht dich. Er sieht dich, hörst du? Du musst einfach stärker werden! Verdammt, hör endlich auf, herum zu jammern! Das ist echt nicht auszuhalten! Du brauchst dich gar nicht zu wundern, wenn du hier nicht Fuß fassen kannst! Denk an ihn. Sei freundlich. Sie beruhigte sich ein wenig und lächelte ihn freundlich an. „Verzeih mir. Ich lasse dich sofort in Ruhe. Ich will nur gerne wissen, wer denn neben mir sitzt. Also, ich bin Aiko!“, sagte sie versöhnlich und streckte ihm ihre Hand entgegen. Der kam gar nicht auf die Idee, ihre Hand zu schütteln, sondern erklärte ihr schroff: „Für dich Mr. Pain. Für meine Freunde T.“ Aiko zog eine Augenbraue hoch. Wie der Rapper also, dachte sie. Gott, wie schlecht! Nicht einmal einen eigenen Namen konnte der Typ sich ausdenken. T-Pain ist ja mal der schlechteste Rapper, den ich kenne. Andere machen wenigstens gute Musik! Aber wenn er meint und sich damit cool fühlt... Schweigend nahm sie seinen Namen zur Kenntnis und hielt ihre spitze Zunge ausnahmsweise zurück. Man konnte sie nicht als streitsüchtig bezeichnen. Sie ging lediglich hitzigen Diskussionen und Streitgesprächen nicht unbedingt aus dem Weg. Genaugenommen provozierte sie diese gelegentlich mit ein paar Bemerkungen, die ihr Gegenüber stets auf die Palme bringen konnten. Das machte sie oft unabsichtlich und auch nur bei Menschen, die sie nicht besonders gut kannte. Bei Sasori machte sie so etwas nie, denn sie wusste, dass er jedes ihrer Worte für bare Münze nahm und Ironie oder Sarkasmus leicht zu überhören pflegte. Bei Personen wie diesem Mr. Pain, der ihr alles andere als sympathisch und umgänglich erschien, zügelte sie sich in der Regel nicht. Doch es würde vermutlich einen sehr schlechten Eindruck machen, wenn sie jetzt als Neue bereits einen Streit beginnen würde, und das mitten in Herrn Schreibers Unterricht. Dessen Versuche, sich bei seinen Schülern Gehör zu verschaffen und eine „geeignete Arbeitsatmosphäre“ aufzubauen, quittierte sie mit einem tiefen Seufzen. Herr Schreiber scheiterte kläglich an einer kompliziert aussehenden Gleichung, welche er an der Tafel zu lösen gedacht hatte und die sich zu einem Dschungel von Formeln und Variablen entwickelt hatte. Teils von Mitleid, teils von herabsetzender Böswilligkeit getrieben, hob Aiko den Arm und wartete, bis Herr Schreiber sie aufrief. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlenderte sie zur Tafel und löste vor den ungläubigen Blicken ihres Lehrers und ihrer neuen Klassenkameraden die Gleichung in wenigen Schritten auf, wohl darauf bedacht, alles möglichst einfach erscheinen zu lassen. „Letztendlich kommt y-2ax = y-2ax heraus, was die Richtigkeit dieser Aussage beweist. Sehr geschickt von Ihnen, die Klasse herauszufordern und zu motivieren, indem Sie vortäuschen, die Gleichung nicht selbst auflösen zu können und die Hilfe der Klasse zu brauchen. Das muss man Ihnen lassen, aber ich habe Sie durchschaut!“, sagte sie und zwinkerte ihrem Lehrer zu, der sichtlich erleichtert darüber war, dass sie ihm eine Ausrede geliefert hatte, weshalb er die Gleichung nicht hatte lösen können. Damit der Schwindel nicht aufflog, nickte er einfach und klatschte zweimal in die Hände. „Gut gemacht, Momomiya-san. Sehr gute Arbeit, muss ich sagen“, lobte er und drehte sich dann zur Klasse, um den nächsten Test anzukündigen. Als sie wieder zurück an ihren Platz ging, klingelte die Pausenglocke und alle standen auf, um nach draußen zu stürmen. Herr Schreiber hielt T-Pain an der Schulter fest und gab diesem den Auftrag, sich ein wenig um die Neue zu kümmern und ihr alles zu zeigen. Maulend schob der Aiko raus. „Gibt es denn einen Unterschied zwischen dem Pausenhof da und dem anderen?“, fragte sie ihn in höflichem Ton. Er blieb kurz stehen und sah sie an, als wäre sie ein Schimpanse. „Sonst gäbe es wohl keine zwei verschiedenen, was?“, gab er genervt zur Antwort. „Aber was ist denn jetzt der Unterschied?“, wollte sie wissen. Er entschloss sich, ihr eine Antwort zu geben, mit der sie etwas anfangen konnte, und erwiderte: „Der Pausenhof dahinten ist für uns, und der dort ist für die Jüngeren.“ „Ok, und wo gehen wir als Nächstes hin? Gibt’s hier sowas wie eine Bibliothek oder so?“ „Wir gehen nirgendwo hin. Ich habe noch ein paar Termine, und du stellst dich schön brav zu den Losern.“ „Mache ich doch.“ „Ich kann dir gerne zeigen, wer hier der Loser ist, aber ich glaube, ich würde Probleme mit deinen Eltern bekommen, wenn du mit 'nem blauen Auge nach Hause kommst.“ Sie zuckte kurz zusammen. Im nächsten Moment legte sie jedoch wieder denselben missbilligenden Gesichtsausdruck auf. „Da habe ich jetzt aber Angst. Was hast du denn für Termine in der Schule?“, wollte sie wissen. „Wichtiges. Geht dich allerdings nichts an. Würdest es eh nicht kapieren.“ „Was? Dass du tickst? Was ist das denn für ein Zeug?“, fragte sie und zog ihm mit einer geschickten Handbewegung eines der weißen Päckchen aus der Tasche seiner schwarzen Lederjacke. „Hey!“, rief er ziemlich sauer und griff nach dem Tütchen in ihrer Hand, die sie einfach wegzog. „Hm...Ich tippe mal auf Ecstasy“, meinte sie und drehte das Päckchen. T-Pain packte sie am Handgelenk und drückte sie gegen die Wand. „Hey, Kleines“, zischte er ihr bedrohlich zu, „Wenn du das noch einmal anfasst, bekommen wir ein gewaltiges Problem, kapiert?“ Sie grinste ihn frech an. „Das Lachen wird dir schon noch vergehen, Süße!“, sagte er wütend und schlug in ihr Gesicht. Ein Bluttropfen lief aus ihrem Mundwinkel. Sie sog die Luft durch die Zähne und schubste ihn mit unerwarteter Kraft von sich. Er stolperte ein paar Meter nach hinten, überrascht davon, dass sie sich wehrte, und so hatte sie einige Sekunden Zeit, um auszuholen und ihm einen rechten Haken zu verpassen. Jetzt ebenfalls leicht blutend fiel er zu Boden, sprang jedoch sofort wieder auf und schlug ihr die Beine weg. Sie strauchelte und fiel ihm vor die Füße. Ehe er sie erneut mit seiner Faust treffen konnte, rollte sie sich zur Seite und kam wieder auf die Beine. Er nahm ihre beiden Hände und drehte sie auf ihren Rücken. Sie schrie kurz auf. T-Pain ließ sie los und nickte fast anerkennend. „Gar nicht mal übel für 'ne Pussy. Siehst allerdings nicht gerade nach Schlägerbraut aus“, stellte er trocken fest. „Arschloch. Ich bin keine 'Schlägerbraut', so wie du das nennst“, zischte sie und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Er zuckte mit den Schultern und lief auf den Pausenhof hinaus. Sie lief neben ihm her, bis er stehen blieb und sich zu ihr drehte. „Sag mal, woher kennst du dich mit Drogen und Prügeln aus? Ich hätte dich jetzt wohl eher als Discoschlampe mit strengem Elternhaus eingeschätzt“, sagte er. Aiko sah ihn verärgert an und stand, ehe er sich versehen hatte, hinter ihm und hielt ihm ein Taschenmesser an den Hals. „Ich wäre an deiner Stelle vorsichtig, was ich sage. Außer, du willst eine freie Fahrkarte zum Friedhof; die kann ich dir beschaffen. Und, um auf deine Frage einzugehen: Ich habe früher mal getickt. Ist aber eine ziemliche Weile her. Es zählt nicht zu den Dingen, auf die ich stolz bin. Ach ja, und ich praktiziere Capoeira“, erklärte sie und ließ ihn los. Er betrachtete sie einen kurzen Moment, als sie mit gezücktem Messer in kämpferischer Pose vor ihm stand. „Hm“, machte er. „Was hältst du davon, wenn ich dich ein paar Kumpels vorstelle? Wir könnten einen neuen Dealer gebrauchen. Der Letzte ist eingelocht worden.“ Sie sah ihn kühl an. „Sag mal, hast du Tomaten auf den Ohren? Ich...“ „Auf den Augen“, unterbrach er sie. „Es heißt Tomaten auf den Augen.“ Sie wedelte mit ihrer Hand und fuhr fort: „Ist doch auch egal. Auf alle Fälle habe ich gesagt, dass ich nicht gerade stolz darauf bin!“ „Komm schon! Was ist denn schon groß dabei. Das ist die perfekte Chance, dich in diese Schule einzubringen und zu integrieren.“ Sie lachte gekünstelt und erwiderte: „Du meinst wohl, es ist die perfekte Chance, von der Schule zu fliegen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Bloß, wenn du dich erwischen lässt. Wenn du wirklich so erfahren bist, wie du behauptest, wird dich niemand kriegen. Oder hast du Angst?“, fragte er spitz. Sie wollte sich nicht noch einmal auf so etwas einlassen. Das letzte Mal hatte es geklappt, aber sie hatte ihm versprochen, damit aufzuhören. Er sieht dich. Denk immer daran. Und er will es nicht. Er würde es auf keinen Fall gutheißen. 'Drogen sind schlecht für dich', hat er gesagt. Andererseits musst du ja auch keine nehmen. Er hat sicher nichts dagegen, wenn du sie nur verkaufst. Aber pass' auf. Denen ist nie zu trauen. Sie sah ihn eindringlich an und streckte ihm an diesem Tag zum zweiten Mal die Hand entgegen. „Geht klar“, sagte sie monoton. Er nahm ihre Hand diesmal und nickte. „Okay. Erwarte aber keine 'Willkommen in der Mannschaft'-Party, klar?“, meinte er ebenso monoton. Sie verzichtete auf eine Antwort und ging mit ihm nach draußen. Es war nicht schwer, seine Kumpels zu finden. Ein Punk, ein stämmiger Türke und ein riesiger dunkelhäutiger Kerl standen in einer abgelegenen Ecke und sahen zu T-Pain und Aiko herüber. Sie hatten alle die gleichen schwarzen Lederjacken an. Der Dunkelhäutige musterte sie ausgiebig und fragte in T-Pains Richtung: „Was macht sie hier?“ „Sie ist in Ordnung. Ich hab' gedacht, nachdem Little Key flachfällt, könnten wir einen neuen Dealer brauchen“, erwiderte dieser cool. Daraufhin begann der Punk, lauthals zu lachen. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, fragte er spöttisch: „Was willst du dann mit der Kleinen? Wir brauchen 'nen Dealer, keine Cheerleaderin.“ „Jetzt spiel' dich mal nicht auf, Sorrow. Sieht so aus, als hätte sie Ahnung. Zumindest auf Probe könnten wir sie nehmen“, schlug T-Pain vor. „Es wäre auf deine Verantwortung, T. Du bist der Boss. Aber denk dran, wenn sie Scheiße baut, bist du geliefert“, sagte der Dunkelhäutige ruhig. „Hallo? Wir nehmen keine Pussys! Die bringen eh nur Ärger. Am Ende legt T sie flach und dann haben wir den Salat.Die da sieht nicht so aus, als hätte sie das Zeug dazu. Was für's Bett, aber nicht für unsere Gang“, spöttelte Sorrow und strich sich die Haare hoch. Er fixierte Aiko mit seinen eisblauen Augen. Sie schüttelte den Kopf. „Wie wäre es, wenn ich dir den Schädel einschlage? Vielleicht siehst du das dann ja anders? Überhaupt, allein bei der Vorstellung, dass der mich flachlegt, kommt mir die Galle hoch. Du kannst also davon ausgehen, dass so etwas nicht vorkommen wird“, knurrte sie aggressiv. „Eigentlisch schade, was, T?“, schaltete sich der Türke ein. „Was würdest du sagen? Isch denke, eher Domina.“ T-Pain grinste und nickte langsam. „Oh ja. Definitiv Domina“, stimmte er dem Türken zu. Aiko funkelte ihn böse an. „Wollten wir nicht über meine Fähigkeiten als Dealer reden?“, fragte sie genervt. Jetzt grinsten auch Sorrow und der Türke. „Deine Fähigkeiten im Bett finde ich allerdings wesentlich interessanter, Süße“, scherzte Sorrow. Zumindest hoffte Aiko inständig, dass es ein Scherz gewesen war. Zu ihrer Erleichterung brachte der Dunkelhäutige das Gespräch wieder auf den Punkt und sagte zu ihr: „Von meiner Seite ist es in Ordnung. Wie gesagt, T ist der Boss, also geht es auf seine Kappe. Du weißt hoffentlich, worauf du dich einlässt.“ „Ist nicht mein erstes Mal“, erwiderte Aiko gelassen. Im Hintergrund kicherte Sorrow. Der Dunkelhäutige verpasste ihm einen Klaps auf den Hinterkopf und wies ihn schroff in seine Schranken: „Lass das pubertäre Gehabe und halt den Rand.“ Er wandte sich an Aiko. „Ich bin Big Key. Die Grinsebacke hier ist Sorrow, und der da heißt Tyke.“ Big Key wies auf den Türken hin. T-Pain übernahm das Wort und erklärte: „Okay. Leute, das ist Aiko. Sie übernimmt ab jetzt Little Key's Part. Tut mir einen Gefallen und lasst die Finger von ihr, Jungs, auch wenn euch schwer fällt. Das bringt nur Ärger, wie Sorrow vorhin schon gesagt hat. Und sagt Luxury dasselbe. Wenn er sich an sie heranmacht, bekommt er ein paar auf's Maul. Heißt aber nicht, dass wir keine dreckigen Witze über ihre Möpse reißen dürfen“, endete T-Pain mit einem frechen Blick in ihr Dekolleté. Bleib ruhig. Ruhig. Es ist nicht schlimm. Lass sie ihre Witze über dich machen. Werde nicht wütend und tu ihnen nichts. Er sieht dich. Aiko hob den Kopf an und bemühte sich, ein halbwegs nettes Gesicht zu machen. Es würde überhaupt nichts bringen, sich aufzuregen. Was sie als nächstes vorhatte und weshalb sie eigentlich hier war, wusste sie selbst nicht. Vielleicht würde es ihr helfen, ein Stück weit zu vergessen. Ein bisschen zu heilen. Ein wenig Ablenkung von der ganzen Sache. „Süße?“, fragte Sorrow und wedelte vor ihrem Gesicht herum. „Es hat geklingelt. Wir gehen dann und ziehen ein bisschen um die Häuser. Solltest mitkommen.“ Sie schienen alle nicht besonders begeistert davon zu sein, dass Aiko jetzt ihre Dealerin sein würde, aber sie nahmen es hin. Um sich nicht selbst auszugrenzen, sagte sie zu und folgte ihnen. Kapitel 3: Zerbrochen --------------------- Als sie wieder nach Hause ging, hatte sie jede Menge über die Stadt gelernt, in der sie jetzt lebte. Die Jungs hatten sie herumgeführt und ihr die besten Ecken gezeigt. Die meisten Übergabeorte für die Drogen waren irgendwelche U-Bahnstationen oder Bushäuschen, die mit Graffiti besprüht waren und überall nach Zigarettenqualm rochen. Geraucht hatten sie auch. T hatte ihr eine angesteckt und gegeben. Aiko hatte dummerweise auch einen Zug genommen, um nicht vollkommen blöd dazustehen. In Wirklichkeit hatte sie zuvor noch nie so ein Ding in der Hand gehabt und war auch nicht gerade erpicht darauf gewesen, diese Erfahrung zu machen. Jedenfalls hatte sie einen schlimmen Hustenanfall bekommen und T, Sorrow und Tyke hatten sie ausgelacht. Sogar Big Key hatte geschmunzelt. Zumindest hatte sie gedacht, ihn schmunzeln gesehen zu haben. Alles in allem war es ein sehr witziger Vormittag gewesen. Nach der Panne mit der Zigarette waren sie noch in einen Dönerladen gegangen. Sorrow hatte sich über ihren Yufka lustig gemacht und Tyke hatte daraufhin ein paar extrem peinliche Storys über Sorrow's nur sehr selten bis gar nicht von Erfolg gekrönte Versuche, irgendwelche Frauen anzubaggern, erzählt. Obwohl es ein ereignisreicher Vormittag gewesen war, hatte Aiko stets im Hinterkopf behalten, was passiert war. So sehr sie auch gehofft hatte, sich ein wenig amüsieren zu können, war ihre Stimmung durch diese düsteren Gedanken getrübt gewesen. „Hey Schatz!“, rief Sasori, als sie die Haustür aufschloss. Sie lächelte ihn an. „Hey Süßer!“, rief sie zurück und gab ihm einen Kuss. „Wie war die Schule?“, fragte er. „Gut“, erwiderte sie. „Das freut mich. Ich habe dir Essen gemacht. Spaghetti Carbonara. Das magst du doch, oder?“ „Du weißt doch ganz genau, dass ich das mag! Gibt’s hier irgendetwas Neues?“ „Nein, nicht das ich wüsste.“ „Wie geht’s dir denn?“ „Sehr gut, danke der Nachfrage! Bis vor zwei Minuten ging es mir noch etwas schlechter, aber als du hereingekommen bist, war meine Laune gleich viel besser! Und wie geht’s dir?“ „Ganz gut, denke ich.“ Er sah sie ernst an. „Es geht mir wirklich gut, okay?“, sagte sie ein wenig genervt. Sasori schüttelte den Kopf und sah sie mitleidig an. Mit trauriger Stimme sagte er: „Bitte lüg mich nicht an. Ich mag es nicht, wenn du lügst.“ „Aber ich lüge doch gar n....“, begann sie, als er sie mit einem Kuss unterbrach. „Von so schönen Lippen sollte keine Lüge kommen. Ich bitte dich“, sagte er leise und nahm ihre Hand, „mach es dir doch nicht so schwer. Wir wissen beide, dass es dir nicht gut geht. Sag mir die Wahrheit. Ist es immer noch so schlimm?“ Sie sah zur Seite und flüsterte Tränen erstickt: „Es tut mir Leid. Bitte verzeih mir.“ Ihre Augen waren nass und spiegelten sein besorgtes Gesicht wider. „Hey“, sagte er behutsam, „Es ist schon in Ordnung. Die Wunden sind wohl immer noch so frisch.“ Nachdenklich strich er über ihre Hand. „Ich wünschte, du müsstest nicht so leiden. Es ist meine Schuld. Ich wollte nie, dass du dich wegen mir so peinigst. Es nimmt dich auseinander, mein Herz. Du musst damit aufhören. Du musst lernen, zu vergessen. Glaub mir, ich weiß, was ich von dir verlange. Aber ich kann nicht länger mitansehen, wie du in deiner Qual ertrinkst. Ich würde es von dir nehmen. So gerne würde ich das, Aiko. Wer weiß, vielleicht werde ich eines Tages im Stande sein, deine Wunden zu heilen“, flüsterte er. Sie weinte. Sasori hielt sie fest. Mit zitternder Stimme erwiderte sie: „Du weißt, dass du es niemals können wirst. Egal wie sehr du es dir wünschst, es ist zu spät. Ich habe es einfach falsch gemacht. Falsch, Sasori. Das ist es, wie ich mich fühle. Falsch. Als würde ich einem Licht hinterherjagen, von dem ich weiß, dass es längst erloschen ist. Als wäre nur mein Körper lebendig.“ „Deine Seele ist es auch, mein Herz. Du musst es nur loslassen.“ „Das kann ich nicht. Es ist … wie ein Schatten, der mir überall hin folgt. Ich ... ich werde ihn einfach nicht los.“ „Du musst dich endlich überwinden. Sonst wirst du daran zerbrechen. Aiko! Hörst du nicht? Du wirst daran zerbrechen!“ „Ich bin zerbrochen! Kapier es doch! Ich bin bereits kaputt! Daran kannst du nichts ändern! Es ist scheißegal, wie sehr du es versuchst, du kannst es nicht!“, schrie sie. Er sah sie einfach nur an. Schweigend fuhr er mit seiner Hand über ihr Gesicht und beruhigte sie damit. Langsam und vorsichtig küsste er ihren Hals. „Warum hast du mir das nur angetan? Warum?“, fragte sie traurig. „Ich weiß, dass es ein Fehler war. Ich bin deiner unwürdig, so unwürdig, mein Schatz. Wenn ich es hätte verhindern können, hätte ich dir diese Pein erspart. Ich liebe dich. Wie kann dich etwas nur so zerreißen? Wie konnte das passieren?“, fragte er sich selbst. „Ich möchte nicht, dass du dir Sorgen machst. Es bringt doch sowieso nichts. Siehst du, deswegen sage ich dir nicht, wenn es mir schlecht geht.“ „Ich weiß. Es gibt Vieles, dass du mir verschweigst.“ Sie sah ihn verwundert an. „Was meinst du?“ Anstatt einer Antwort schob er behutsam, beinahe zärtlich, ihren Ärmel hoch und legte ihren Unterarm frei. Mit einem Seufzen sagte er: „Solch ein schöner Körper, so viele Narben.“ Er machte sich daran, ihren mit Schnitten übersäten Arm zu verbinden, doch sie zog ihn weg. Ihr Atem ging schnell und unruhig. „Es ist okay so.“ Sie versuchte ihre Trauer mit einem falschen Lächeln zu überspielen. Ein anderer wäre vielleicht darauf hereingefallen und hätte es dabei belassen. Ein anderer hätte sich nicht die Mühe gemacht, sie dazu zu überreden, sich den Arm verbinden zu lassen, und ein anderer hätte sich nicht solche Sorgen gemacht. Niemand außer Sasori hätte geweint, nur weil Aiko traurig war. Und er weinte. Die Tränen strömten nur so über sein Gesicht. Er drückte sie an sich und führte ihre Hand zu der Stelle, an der sein Herz schlug. Sie spürte es pochen. „Es schlägt für dich“, sagte er weinend. „Und jeder einzelne Schlag ist ein verzweifelter Versuch dich so zu lieben, wie du es verdienst. Mach es mir nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist. Mach es aber vor allem dir nicht noch schwerer. Ich habe diese eine Bitte an dich. Du weißt, ich würde niemals etwas von dir verlangen, doch ich bitte dich darum. Lebe nicht ewig in der Vergangenheit. Du bist innerlich so kalt geworden. Eiskalt.“ Sie sah zu Boden und schwieg. Es war nie ihre Absicht gewesen, ihn zum Weinen zu bringen. Alles, was ihr weh tat, tat auch ihm weh und alles, was sie bewegte, bewegte auch ihn. Ihre zittrigen Hände hielten die seinen. „Ich liebe dich“, sagte sie. Es war die einzige Wahrheit, die sie wirklich kannte. Die einzige Wahrheit, der sie sich sicher war. Sie strich seine Tränen aus seinem Gesicht und küsste seine Stirn. „Ich liebe dich auch. Vergiss es nicht“, erwiderte er mit gesenktem Kopf. „Wie könnte ich.“ Aiko lächelte traurig. Er war ihre Unterstützung. Derjenige, der ihr Halt gab. Und seine Liebe war das, wovon sie lebte. Ihre Luft, ihr Brot und ihr Wasser in einem. Solange seine Liebe bestand, hätte sie es ohne diese Dinge ausgehalten. „Wie könnte ich“, wiederholte sie noch einmal und sah auf. Seine braunen Rehaugen blickten sie treu an. „Aber ich hoffe, du verstehst mich. Ich hoffe, du verstehst, wie ich mich fühle. Ich gebe dir keine Schuld. Es ist nicht deine Schuld. Du konntest nichts dafür. Doch du hast es mir versprochen. Mir bedeuten Versprechen nun mal sehr viel. Du hast es auf unsere Liebe geschworen“, sagte sie etwas enttäuscht. Er schüttelte leicht den Kopf und antwortete: „Und ich würde es wieder schwören. Du wirst niemals allein sein. Ich bin bei dir, egal was passiert. Ich verspreche es dir! Meine Liebe wird dich ewig tragen!“ „Lüg' nicht!“, rief sie laut aus. „Ich will es nicht hören! Es ist eine Lüge! Eine verdammte Lüge!“ Sie begann erneut zu weinen. Abermals schüttelte er den Kopf und erwiderte betont ruhig: „Das ist nicht wahr. Habe ich dich jemals belogen? Habe ich dir je so etwas angetan? Wenn ich dich je verletzt habe, dann tut es mir Leid!“ „Du hast mich nie belogen“, gab sie zu. „Aber ich … ich weiß nicht … Es tut so weh! Es tut so schrecklich weh! Es … reißt mich in Stücke!“, schrie sie weinend und kniff die Augen zusammen. Ihr Atem wurde noch schneller. Er nahm sie in seine Arme und drückte sie fest an sich. Leise flüsterte er in ihr Ohr: „Beruhige dich. Ich werde immer bei dir sein. Ich lasse dich nicht so einfach alleine.“ Sie kam ein wenig zur Ruhe. Doch etwas in ihr schmerzte und schrie. Es fehlte. Irgendetwas fehlte. „Willst du, dass ich gehe?“, fragte er leise. Sie nickte. „Ist besser so. Ich schaffe das hier schon“, erwiderte sie mit vorgetäuschter Stärke in der Stimme. Er bemerkte es sofort, stand aber trotzdem auf und ging an die Tür. Für einen Moment wollte sie ihn gehen lassen. „Ich komme später wieder, mein Schatz“, verabschiedete er sich und drückte die Klinke herunter. Sie hob die Hand und schrie: „Warte!“ Er drehte den Kopf in ihre Richtung und sah sie fragend an. Aiko sprang auf, rannte zu ihm und stürzte halb in seine offenen Arme. „Geh nicht. Bitte, geh nicht!“, bat sie ihn. Sie sah ihn mit einem dermaßen flehenden Blick an, dass es ihm wehtat, sie so zu sehen. Erneut umarmte er sie. Es war ein unglaublicher Trost für sie, wie er sie behandelte. Eigentlich hatte sie gewusst, dass sie ihn nicht gehen lassen wollte. Und sie hatte genauso gewusst, dass sie ihm nichts vorspielen musste. Bei ihm konnte sie so sein, wie sie war. Mit all ihren Schwächen und Ängsten, ihren Tränen und ihrer Hilflosigkeit. Er schenkte ihr seine Liebe auf eine Art, die ihr einen unerklärlich kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Wieso weinst du eigentlich? Du solltest nicht vor ihm weinen. Er hasst es, dich weinen zu sehen. Weshalb tust du ihm so weh? Es ist deine Schuld. Es war schon immer deine Schuld, wenn es ihm schlecht ging. Er tut so viel für dich, und du weinst. Was verlangst du denn noch? Ist es dir nicht genug, dass er jetzt bei dir ist? Er ist bei dir, vergiss es nicht! Er ist immer bei dir, egal was du tust, oder wo du bist. Er hat es geschworen. Auf seine Liebe. Du hast keinen Grund zu weinen. Nicht jetzt, nicht hier. Doch ihre Tränen liefen weiter. Unaufhaltsam. Er blieb bei ihr. Den ganzen Nachmittag. Irgendwann, als es schon spät war, machte er ihr Abendessen und fütterte sie. Er gab sich alle Mühe, sie zum Lachen zu bringen, und einige wenige Male funktionierte es auch. Jedes Mal, wenn er es geschafft hatte, dass sie zumindest für einen kurzen Moment lächelte, freute er sich. Es tat ihr unglaublich gut, ihn bei sich zu haben. Sie war froh, dass er geblieben war. Es war schon Nacht, als er ein paar Kerzen anzündete und sich mit ihr ins Bett legte. Er erzählte ihr Geschichten aus seiner Kindheit, wie er sich im zarten Alter von drei Jahren mit einem Glas Honig überschüttet hatte. Er erzählte ihr auch Geschichten aus der Zeit, in der sie sich kennengelernt hatten. Er erzählte, wie er sich Stück für Stück in sie verliebt und wie er beschlossen hatte, immer für sie da zu sein, was immer sie tat und wen immer sie liebte. Selbst wenn sie ihn gehasst hätte, wäre er für sie da gewesen. Er ließ nichts aus. Er sprach von Dingen, die Aiko bis dahin nicht gewusst hatte. Zum Beispiel davon, dass er sie oft beobachtet hatte. „Nicht was du jetzt wieder denkst“, lächelte er. „Ich habe dich beobachtet, wenn du auf der Wiese gesessen bist und dein Buch gelesen hast, nicht unter der Dusche oder beim Umziehen oder so! Das hätte ich mich gar nicht getraut!“ „Denke, es hätte dich auch gar nicht interessiert“, ergänzte Aiko. „Das wiederum hast jetzt du gesagt.“ „Und, warst du enttäuscht, als du mich zum ersten Mal so gesehen hast?“ „Nein.“ Das sagte er sehr schnell und bestimmt. „Ich war einfach nur fasziniert, wie etwas so Schönes in dieser Welt überhaupt existieren könnte. Und wie es möglich ist, dass jemand dich verletzen kann. Ich habe bis heute keine Antwort gefunden.“ „Ist das dein Ernst? Das waren deine ersten Gedanken?“ „Ja, warum nicht?“, fragte er und wurde ein bisschen rot. „Was für eine blöde Frage!“, sagte sie und tippte ihm spielerisch gegen die Stirn. „Keiner hätte das in diesem Moment gedacht!“ „Sehe ich aus wie keiner?“ „Weiß nicht. Glaube aber eher nicht.“ „Ist ja auch egal! Wichtig ist eigentlich ja nur, dass ich dich damals NICHT unter der Dusche bespannt habe!“ „Aber du hättest gerne.“ „Hätte ich nicht!“ „Hättest du wohl.“ „Naaa-hein!“ „Do-hoch!“ „Nein.“ „Doch.“ Er küsste sie und brachte sie damit sanft zum Schweigen. So lagen sie noch lange im Kerzenschein auf dem Bett, während er sie in den Armen hielt. Um Mitternacht schlief sie ein. Sasori deckte sie zu und legte eine Rose auf die Seite des Bettes, wo er gelegen hatte. Nach einem Kuss auf ihre Stirn verschwand er. Und die Schwärze der Nacht kehrte in ihr gebrochenes Herz zurück. Kapitel 4: Undercover --------------------- Ihr Wecker klingelte unerbittlich, bis sie endlich aufgewacht und ihn ausgeschaltet hatte. Verschlafen drehte sie sich um und tastete nach Sasori. Doch statt seiner Hand fand sie eine rote Rose, deren Dornen entfernt war. Sie war offensichtlich von ihm. „Damit du dich auf keinen Fall an ihnen stichst“, hatte er geantwortet, als sie ihn danach gefragt hatte. Seitdem hatte er die Dornen jeder Rose entfernt, die er ihr schenkte. „Sasori?“, fragte sie und ging durch das Wohnzimmer ins Bad. „Schatz, wo bist du denn?“ Sie sah sich um und zuckte zusammen, als sie in den Spiegel sah. Ihre eigentlich grasgrünen Augen waren ganz rot und verheult. Ein Zeichen, dass sie die ganze Nacht durchweg geweint hatte. Unter ihrem Gesicht war mit Filzstift ein Pfeil nach oben gemalt. Darunter stand „Die schönste Frau der Welt“ und ein rotes Herz mit Sasori's Unterschrift. Sie musste unwillkürlich lächeln. Es war so typisch er. Einfach nur süß. Als sie in die Küche lief, saß er schon am Tisch und schob ihr eine Müsli-Schüssel hin. „Gut geschlafen?“ Es war eine rhetorische Frage. Sie wusste genau, dass er kein Auge zugetan hatte. „Du?“, fragte er, ohne ihr eine Antwort zu geben, obwohl er von ihr genauso wusste, dass sie nicht viel geschlafen hatte. „Auch gut, danke der Nachfrage.“ Sie setzte sich zu ihm und löffelte ihr Müsli. „Danke für die Rose. Echt süß von dir, Schatz“, sagte sie. „Ich bitte dich! Was ist eine Rose gegen das, was du mir gibst?“ „Was gebe ich dir denn schon?“ „Dein Herz.“ „Es gehört dir eben. Dafür habe ich aber nichts getan. Du hast es mir einfach gestohlen!“ „Dann sind wir ja quitt! Du hast mich auch nicht nach meinem gefragt!“ „Ooooh, das tut mir aber Leid!“ Er seufzte gespielt. Sie gab ihm einen Kuss auf die Nase. „Hast du heute schon Zeitung gelesen?“, fragte er und tippte auf die Zeitung, die neben ihm lag. „Wann hätte ich das denn machen sollen?“ „Ich meine ja nur. Sie wollen angeblich jemanden vom FBI hier als Geheimagent einschleusen, wegen den ganzen Drogengeschäften.“ „Wirklich witzig.“ „Was denn?“ „Sowas schreiben die sicher nicht in die Zeitung. Sonst weiß die Drogenszene ja gleich, auf was sie achten muss.“ „Doch, das steht hier drin! Hat irgendein Typ von der örtlichen Drogenfahndung ausgeplaudert.“ „Zeig mal.“ Er reichte ihr die Zeitung, auf der ein Foto von einem Polizisten zu sehen war. „Das ist der Kerl von der Drogenfahndung“, fügte Sasori hinzu, als er ihren fragenden Blick bemerkte. „Ach so. Ziemlich dumm von denen, findest du nicht?“ „Schon. Na ja, sie werden es wohl hoffentlich schaffen den Drogenring zu sprengen. Soll hier in der Gegend ja ein echtes Problem sein.“ „Hoffe ich auch.“ Sie schluckte ihr Essen herunter. Er sah sie durchdringend an. Spätestens in diesem Moment war ihr klar, dass er von der Gang wusste. Trotzdem tat sie so, als wäre nichts, denn er würde ihr ohnehin nur sagen, dass sie damit vorsichtig sein müsse und dass er ihr davon abrate. „Die Witzeseite dieser Zeitung soll ja granatenmäßig schlecht sein. Kannst du das bestätigen?“, wechselte sie das Thema. Er zog überrascht von dem plötzlichen Umschwung eine Braue hoch und antwortete: „Hab' schon besseres gelesen.“ Sie stand auf und stellte ihre Müsli-Schüssel in die Spülmaschine. Er beobachtete sie auf eine beinahe vorwurfsvolle Weise. „Gehst du heute zur Schule?“, fragte er. „Ja, klar.“ „Wie findest du deine Klasse denn so?“ „Keine Ahnung. Ich denke, sie ist ganz in Ordnung.“ „Und der Typ, der neben dir sitzt?“ „Er ist ziemlich schlechtgelaunt und etwas aggressiv, aber es geht.“ „Verstehe. Klingt unangenehm. Du solltest dich besser von ihm fernhalten.“ „Warum?“ „Der Direktor hat gestern angerufen.“ „Schön.“ „Du und dieser T-Pain, das ist doch dein Sitznachbar?“ „Ja. Ist er.“ „Ihr habt gestern nach der zweiten Stunde irgendwie gefehlt, ohne euch abzumelden. Du bist allerdings erst nachmittags nach Hause gekommen. Willst du mir nicht erzählen, wo du warst?“ „Nein.“ „Deine Sache. Pass einfach auf dich auf, okay?“ „Ja, mach ich. Und...“ Sie machte eine Pause. „...danke.“ Sasori erhob sich und warf die Zeitung einen Papiereimer. „Kein Problem“, antwortete er. Er stand nun direkt hinter ihr. Liebevoll schloss er seine Arme um ihre Taille und küsste ihr Ohr. Ihr Körper entspannte sich langsam und sie lehnte den Kopf zurück. Eine Welle von angenehmen Gefühlen überkam sie. In seinen Armen fühlte sie sich geborgen. Zärtlich fuhr er mit seinen Lippen an ihrer Schläfe hinunter und verweilte dort für wenige Sekunden, ehe er seinen Kopf an ihren lehnte und flüsterte: „Geh bitte kein unnötiges Risiko ein. Und reg dich bitte nicht auf. Bleib ruhig, egal was sie sagen.“ Sie schloss die Augen. „Ich weiß. Ich versuche es ja. Aber du kennst mein Temperament. Es geht ständig mit mir durch.“ „Ich liebe dich doch für dein Temperament.“ Er schenkte ihr ein warmherziges Lächeln. Sie lächelte zurück und warf einen routinemäßigen Blick auf die Uhr. „Oh, verdammt!“, rief sie. „Ich komme zu spät!“ Schnell packte sie ihre Schultasche, schlüpfte in ihre Schuhe und nahm eine Jacke unter den Arm. Als sie die Haustür öffnete, hielt er sie noch einmal kurz zurück, küsste sie und wünschte ihr viel Spaß. Nach hinten hin winkend lief sie über die Straße und rannte zum Schulgebäude, das am anderen Ende der Stadt lag. Dort erwartete man sie bereits. Vor dem Eingang zum Pausenhof stand T-Pain mit verschränkten Armen und sah sie verärgert an. Sorrow lehnte an die Mauer, die das Gelände umgab, und Tyke starrte sie aus seinen schwarz funkelnden Augen an. Big Key ging auf sie zu und packte sie im Nacken. „Au!“, sagte sie laut. „Was soll das?“ Der Riese drückte sie ohne ein Wort der Erklärung gegen die Mauer und tastete sie ab. „Lass die Scheiße!“, rief sie und versuchte, sich zu wehren. Doch er war zu stark und so blieb ihr nichts anderes übrig, als das über sich ergehen zu lassen. Big Key zog ein paar Messer aus ihren Hosentaschen und warf sie Tyke zu. „Sie ist sauber“, sagte er auf gewohnt schroffe und direkte Art zu T-Pain. Sorrow schüttelte den Kopf und rief: „Biggy, du hast 'ne Stelle ausgelassen!“ Mit einem auf Aiko bedrohlich wirkenden Grinsen ging er auf sie zu und langte ohne Scham in ihren Ausschnitt. „Hey!“, brüllte sie sauer, doch er wühlte ungeniert darin herum. Mit einem triumphierenden „Na, bitte!“ zog er drei Wurfmesser heraus, die mit schmerzhaft aussehenden Widerhaken versehen waren. Tyke pfiff durch die Finger. „Profibesteck“, stellte er fest. T-Pain stöhnte angenervt und gab Big Key ein Zeichen, sie loszulassen. Der schubste sie unsanft von sich. Übellaunig nahm T-Pain Tyke die Messer aus der Hand und betrachtete sie genau. „Die sind zwar ganz hübsch, aber nicht das, was wir befürchteten. Hat sie 'ne Marke?“, wollte er wissen. „Sieht nicht so aus“ , antwortete Sorrow. „Obwohl...vielleicht hat sie die ja weiter unten versteckt...“ Aiko schnappte empört nach Luft und ging sicherheitshalber ein paar Schritte zurück. „Geht's noch???“, brüllte sie ihn an und holte sich ihre Messer von T-Pain zurück. „Du bist so ein Arsch!“, rief sie in Sorrow's Richtung, der sein blödes Grinsen beibehalten hatte. Um sie weiter auf die Palme zu bringen, sagte er zu Tyke: „Wie und wo sie da noch die Messer untergebracht hat, ist mir echt schleierhaft.“ Als logische Reaktion darauf empfing er einen heftigen Schlag ins Gesicht. Er schrie auf und hielt sich die Backe. Tyke lachte ihn aus, während T-Pain und Big Key leise miteinander sprachen. „Hätte jemand die Güte, mir zu erklären, was zur Hölle das sollte?“, fragte sie. Tyke antwortete ihr als Einziger: „Ey, escht voll sorry. Is' nur wegen Zeitung, steht drin, dass so'n Bulle sisch bei uns versteckt. Also wir mussten disch überprüfen. Nix für Ungut, Aiko.“ T-Pain kratzte sich am Hinterkopf und nuschelte ebenfalls irgendetwas in Richtung „'Tschuldigung.“ „Ich hab's gelesen. Ist schon okay. Nur das mit meinen Wurfmessern war überflüssig.“ Sie warf Sorrow, der eine geschwollene Backe bekommen hatte, einen bösen Blick zu. Der richtete seinen grün-blauen Irokesenschnitt wieder vernünftig her und sah in eine andere Richtung. Er schämte sich anscheinend dafür, dass ein Mädchen ihn geschlagen hatte. „Kannste mit den Dingern überhaupt umgehen?“, fragte T-Pain und deutete auf die Messer in ihrer Hand. Diese verdrehte die Augen und erwiderte schnippisch: „Sonst würde ich sie wohl kaum mit mir rumschleppen, oder?“ Er zuckte mit den Schultern und forderte sie auf: „Zeig' mal, was du kannst!“ „Sollten wir nicht eigentlich längst im Unterricht sein?“, schwenkte Aiko um und verwies auf die Schulglocke, die schon vor zehn Minuten geläutet hatte. Sorrow lachte in seiner üblich schrillen Art auf. „Bin ich blöd?“, fragte er. Aiko nahm an, dass es eine rhetorische Frage gewesen war, auf die er keine Antwort wollte, obwohl sie ihm zu gerne eine gegeben hätte. „Wir schreiben jetzt Bio. Wenn ich den wieder verhaue, bekomme ich Null Punkte ins Zeugnis“, erklärte er. „Bekommst du die nicht sowieso?“, mutmaßte Tyke. Sorrow überlegte kurz und erwiderte gleichgültig: „Ja, glaube schon. Dann hat es ja erst Recht keinen Sinn, hinzugehen.“ „Was für eine Logik!“, befand Aiko und wandte sich an T-Pain. „Und, gehst du hin?“, fragte sie ihn. „Nee, lass mal. Die Schobermann kann mir jetzt gerade gestohlen bleiben. Und du kannst auch nicht in die Schule gehen.“ „Warum nicht?“ „Wir kriegen in einer guten Stunde eine Lieferung rein. Hoffe für dich, dass du echt kein Bulle bist. Deine Kampftechnik spricht zwar eindeutig dagegen, aber es kann ja trotzdem sein.“ „Bin ich nicht ein bisschen jung, um jetzt schon Geheimagentin im Drogenmilieu zu werden?“ „Kann ja täuschen.“ „Willst du damit behaupten, ich würde alt aussehen?“, fragte Aiko empört. „Kommt drauf an.“ „Worauf?“ Sorrow schaltete sich in das Gespräch ein und antwortete an T-Pain's Stelle: „Darauf, ob man nach deiner Oberweite oder nach deinem ziemlich kindlichen Gesicht geht.“ Diesmal duckte er sich unter ihrer Faust weg, ehe die ihn treffen konnte, und hielt ihr Handgelenk fest. „Du … Arsch!“, zischte Aiko sauer. Big Key, der die meiste Zeit irgendwelche Unterlagen geordnet hatte, legte diese nun beiseite und stieß Sorrow weg von ihr. „Wir haben keine Zeit für Kindereien“, sagte er schroff und packte die Papiere weg. „Okay, dann lasst uns gehen!“, schlug Tyke vor, froh, dass es endlich losging. T-Pain nickte und sprang von der Mauer herunter. Mittlerweile hatte sich Sorrow wieder aufgerappelt und lief mit Aiko und den anderen aus dem Schultor. Sie gingen durch die Straßen, die um diese Uhrzeit noch ziemlich leer waren. Nur vereinzelt begegneten sie jemandem, meist Spaziergänger, die sich wohl ihren Teil zu der brutal aussehenden Gang dachten. Nachdem sie eine Viertelstunde durch den ärmsten Bezirk der Stadt gegangen waren, kamen sie endlich an einem verlassenen Hinterhof an. Aiko empfand die Stille dieses Ort als unheimlich. Eine Weile warteten sie dort. Dann kam ein Typ in ihrem Alter auf sie zu. Er hatte hellgrau gefärbte Haare und ein Hemd an, das nach Aiko's Geschmack einen Knopf zu viel offen hatte. Sein Gang war lässig, seine Augen glichen der einer Schlange. Sie waren seltsam rot. Müssen Kontaktlinsen sein., dachte sie. Der Typ war ihr auf seine Art nicht ganz geheuer. Sie bekam eine Gänsehaut, als er sie auffällig musterte und währenddessen die anderen begrüßte. „Das ist unsere Neuzugang!“, stellte Tyke sie vor. „Aiko, das ist Luxury. Er ist der Vollidiot in unserer Gang“, fügte Sorrow mit einem abschätzigen Blick auf Luxury hinzu. „Noch einer?“, meinte Aiko trocken und ohne jegliche Ironie. „Süß...“, murmelte der beinahe Silberhaarige und betrachtete sie noch einmal ganz genau. „Schön, dass wir das geklärt haben“, sagte T-Pain ein wenig genervt und drehte Luxury von ihr weg. „Da. Arbeit“, ergänzte er und zeigte auf einen Lastwagen. Luxury, vom Körperbau eher mittelmäßig muskulös, stemmte widerwillig eine Kiste von dem Lastwagen herunter, der im Hof stand. Big Key half ihm dabei. Auch Sorrow und Tyke packten mit an, während ihr Boss bloß daneben stand und zusah. „Jetzt macht schon“, drängte er sie, „Wir haben hier nicht ewig Zeit. Je länger ihr braucht, desto größer ist das Risiko. Außerdem müssen wir die erste Ladung noch heute loskriegen. Na los, bewegt euch!“ Sorrow stapelte ein paar Kisten und sah missmutig zu Aiko hinüber, die neben T-Pain stand und die vier amüsiert beobachtete, wie sie sich mit den schweren Kisten abmühten. „Hey!“, rief er. „Wie wäre es, wenn Aiko ihren hübschen Arsch auch mal hierüber bewegen und uns helfen würde? Die Arbeit tut sich nicht von alleine!“ T-Pain sah ihn verständnislos an und blaffte: „Jammer hier nicht 'rum wie 'ne Pussy! Das ist ja nicht auszuhalten! Wenn das für dich zu schwer ist, dann kannst du dich gerne ausruhen. Aber nerv' mich nicht!“ Dann drehte er sich zu Aiko und sagte mindestens ebenso barsch: „Und du, du drehst 'ne Runde und stehst Schmiere! Mach dich nützlich, na los!“ Aiko sah es als unnötig an, ihm zu widersprechen und ihn noch wütender zu machen, weshalb sie seinem Befehl folgte und um das Gebäude herumlief. Sie huschte an der Hauswand entlang wie eine Geheimagentin und hielt Ausschau nach jemandem, der in irgendeiner Weise im Weg sein könnte. Doch das Einzige, was sie sah, waren ein paar Straßenfeger, gelegentlich kamen auch Passanten vorbei. Nur ein Auto beunruhigte sie. Da sie sich in einer kleinen Nische an der Hauswand versteckt hatte, konnte sie niemand sehen, sie jedoch alles beobachten. Dieses Auto, ein schwarzer Porsche, war vor ein paar Minuten vorgefahren worden, an einen Punkt, von dem aus man bequem in den Hinterhof schauen konnte, wenn man ein paar Spiegel benutzte. Da bis jetzt noch niemand ausgestiegen war, ging sie davon aus, dass sich der oder die Fahrer noch in dem Wagen befanden. Erkennen konnte sie nichts, denn die Scheiben waren dunkel getönt und verspiegelt. Um jemanden zu beschatten ist das wohl etwas auffällig., dachte sie. Aber weshalb sollte das Auto sonst dort stehen? Vielleicht ist der Fahrer ja auch nur irgend so ein Idiot, der schwarze Autos mit verspiegelten Fenstern total cool findet und gerade eine Stadtkarte auf dem Schoß hat, weil er sich verfahren hat. Oder die Polizei hält uns wirklich für extrem bescheuert und unvorsichtig. Vermutlich eher Letzteres...Wir werden ja sehen... Sie überlegte, was nun zu tun wäre. Wenn sie ihre Stellung aufgab, um T-Pain Bescheid zu geben, würde sie Gefahr laufen, entdeckt zu werden. Außerdem würde der Fahrer sofort wissen, dass er bemerkt worden war. Nach einigem gedanklichen Hin und Her entschloss sich Aiko zu einem ziemlich ungewöhnlichen und riskanten Schritt. Sie ging aus der Deckung und lief auf das Auto zu. Mit den Sachen, die sie trug, und mit ihrem allgemeinen Erscheinungsbild würde niemand auf die Idee kommen, dass sie zu der Bande gehörte. Ein weißes Sonntagskleid gehörte nun wirklich nicht zu dem typischen Kleidungsstil eines Drogendealers, und wenn sie ihren Unschuldsblick aufsetzte, würde er schon keinen Verdacht schöpfen. Im Notfall würde sie mit ihm kämpfen, das wäre auch kein Problem. Also klopfte sie an die Scheibe und lächelte freundlich. Erst, nachdem sie länger als normal dagegen geklopft hatte, kurbelte der Fahrer die Scheibe ein winziges Stückchen herunter. Sie konnte nicht sehr viel erkennen. „Was?“, ranzte sie der Sonnenbrillenträger im Innern des Wagens an. T-Pain und er hätten sich sicher gut verstanden, dachte sie. „Entschuldigen Sie, dass ich störe, aber ich wollte zum örtlichen Chor gehen, und jetzt weiß ich aber gar nicht, wo die Kirche ist! Könnten Sie mir da vielleicht aushelfen?“, fragte sie höflich. Der Typ im Auto schien nicht sehr erfreut zu sein, dass sie hier war. Einen Stadtplan hatte er auf jeden Fall nicht auf dem Schoß, wie sie bemerkte. „Ich bin selbst nicht von hier“, erwiderte er desinteressiert. Eine männliche Stimme vom Beifahrersitz, die wesentlich freundlicher klang als die des Fahrers, mischte sich ein. „Sei doch nicht immer so scheiße zu allen! Hey, Kleine, ich erklär's dir. Warte kurz.“ Die Beifahrertür öffnete sich. Von drinnen konnte Aiko deutlich ein „Bist du denn verrückt?“ des Fahrers hören, doch der junge Mann stieg ungeachtet dessen aus dem Auto. „Also, du gehst da entlang, dann die nächste Straße rechts, dann dem Straßenverlauf folgen und dann dürftest du am Kirchplatz sein. Hast du das verstanden, Süße?“, fragte der junge Mann, der höchstens Mitte zwanzig war und sonst sehr durchschnittlich aussah. Sie lächelte und nickte. Plötzlich fasste sie in ihre Tasche und holte ihr Handy hervor. „Oh nein!“, rief sie, als sie darauf sah. „Was denn?“, fragte der nette Typ, den der Fahrer dazu bewegen wollte, wieder ins Auto zu steigen. Für einen Moment fragte sie sich, ob sie zu weit ging. Doch diesen Gedanken verwarf sie gleich wieder und log: „Ich hasse es! Wir hatte doch tatsächlich 'nen Aufsatz in Deutsch auf. Über die Polizei! Und dabei hab ich weder Zeit dafür noch Ahnung von Polizisten!“ Sie seufzte schwer und sah ihn etwas hilflos an. „Weißt du, ich kenne mich eigentlich ganz gut damit aus, schätze ich. Soll ich dir vielleicht helfen?“ Sie fasste es nicht. Wie konnte man nur so blöd sein, auf so einen uralten Trick hereinzufallen? „Wir haben allerdings LEIDER keine Zeit mehr!“, knurrte der Fahrer ihn böse an, sodass dieser den Kopf einzog. Anscheinend war der junger Kerl noch nicht sehr lange dabei. Es wunderte sie überhaupt, dass er seinem Vorgesetzten widersprochen hatte. Gespielt schüchtern nahm sie seine Hand und flüsterte: „Warte bitte!“ Der junge Mann sah sie fragend an. „Vielleicht … können wir uns ja schreiben...? Ich würde gerne etwas über Polizisten erfahren. Gibst du mir deine Nummer?“, sagte sie so leise, dass der Fahrer es nicht hören konnte. Er nickte grinsend und steckte ihr ein Zettelchen zu. Oh mein Gott. Wie kann so ein naiver Idiot nur Polizist werden? Hätte nicht gedacht, dass es so einfach wäre..., überlegte sie. „Dann gute Weiterfahrt!“, strahlte Aiko die beiden an und winkte. Jetzt haben sie ein Problem. Wenn sie nicht weiterfahren, würde es Aufsehen erregen, weil ich ja hier stehe und darauf warte, dass sie losfahren. Wenn sie wegfahren, dann müssten sie ihre Stellung aufgeben. Sie werden wohl oder übel auf die andere Seite fahren und sich dort einen Standpunkt suchen. Zwischen dem Hinterhof und der Straße ist allerdings eine so hohe Mauer, dass sie da keinen Posten beziehen können. Tja, Pech gehabt, würde ich mal sagen... Sie wartete. Nach ein paar Minuten, in denen im Innenraum vermutlich heftig diskutiert wurde, fuhr das Auto dann endlich los. Als der Wagen hinter der nächsten Kurve verschwunden war, rannte Aiko zu T-Pain und den anderen. Die waren inzwischen anscheinend fertig mit der Arbeit und ruhten sich ein wenig aus. „T? Ich muss dir was berichten!“, rief Aiko und lief zu ihm. Dann erzählte sie ihm davon, was passiert war. Er nickte und blieb im Gegensatz zu Sorrow ziemlich ernst. Der Punk hinter ihm lachte und meinte: „Guten Geschmack hatte der Bulle ja schon! Aber der muss ja echt übelst dumm gewesen sein! Was für'n Opfer!“ Luxury grinste ebenfalls. Ohne Vorwarnung legte er einen Arm um ihre Taille, zog sie an sich heran und flüsterte ihr ins Ohr: „An seiner Stelle hätte ich auch alles stehen und liegen lassen, um dir den Weg zur Kirche zu zeigen. Leider weiß ich nicht, wo die Kirche hier ist, aber ich kenne ein nettes Hotel hier ganz in der Nähe...Wenn du willst, könnte ich...“ Aiko glaubte, beziehungsweise sie hoffte eher, dass das ein Witz sein sollte. Was geht denn mit dem?, dachte sie. Der hat's doch echt nötig! Geht’s noch? Das kann der doch nicht einfach so sagen?! Ich hab' mir doch gleich gedacht, dass der nicht ganz koscher ist! Nachdem sie nicht geantwortet hatte, immer noch schockiert von seiner unglaublichen Dreistigkeit, redete er mit einer Stimme, die wie Honig an einem herunterging, weiter in ihr Ohr: „Komm schon, du musst dich nicht zieren. Ich weiß, was du für eine bist... Kein Grund sich dafür zu schämen...“ So, jetzt reicht's! Ich bring den Kerl um! Ich schlag ihm die Rübe ein! Dieser … Arrrrrgh! Ich mach den sowas von fertig! Sie kochte vor Wut. Die Außenstehenden beobachteten das Szenario mehr oder weniger amüsiert und warteten darauf, dass Aiko explodierte. Doch auch wenn sie normalerweise in einer solchen Situation niemand aufhalten hätte können, so hielt sie in diesem Moment tatsächlich etwas in ihr zurück. Beruhig' dich, verdammt! Du sollst nicht ständig ausrasten! Denk daran, was du ihm geschworen hast! Sei gefälligst freundlich und werd' nicht so schnell wütend! Du weißt doch genau, dass er dich sieht! Er sieht dich! Also stell dich besser an! „Glaub nicht, es würde mich irgendwie kratzen, was du sagst“, erwiderte sie und kühlte ihr Gemüt stark herunter. Er nahm die Niederlage gelassen hin und startete gleich den nächsten Angriff. „Tut mir Leid. Hab' ich dich wohl falsch eingeschätzt, Süße. Wärst du eine von der Sorte, hättest du anders reagiert. Ich wollte damit nicht sagen, dass du dich wie ein Mädchen dieser Art kleidest oder verhältst. Es kommt nur heutzutage äußerst selten vor, dass jemand von deiner Schönheit nicht überheblich wird und versucht, mit den bemitleidenswerten Herzen der Männerschaft zu spielen. Du musst wissen, die meisten dieser Frauen glauben doch tatsächlich, eine Trennung würde uns mehr verletzen als sie. Also verzeihe mir meine unüberlegten und vorschnellen Worte. Ich war lediglich ein Opfer dieser weit verbreiteten Vorurteile“, sagte er. Seine Worte waren sehr gut durchdacht und das wusste Aiko auch. Sie bewunderte es, wie man nur so viel Mist reden und es so schön klingen lassen konnte wie er. „Boah, jetz' schleim hier nicht 'rum. Ist ja echt das Letzte“, kam es von Sorrow. „Wenn du jetz' schon geblickt hast, dass sie 'ne Schlampe ist, dann bleib wenigstens auf dem Kurs und laber' keinen Scheiß, bloß weil du gemerkt hast, dass ihr das voll peinlich ist.“ „Okay, jetzt mache ich ihn fertig!“, rief Aiko sauer und ging auf Sorrow los. Die beiden lieferten sich einen filmreifen Kampf, in dem er sich überraschend wendig unter ihren wütenden und unkontrollierten Tritten und Schlägen hinweg duckte. Letztendlich war es jedoch, als würde er gegen eine übermächtige Naturgewalt kämpfen, die ihn trotz allem Widerstand irgendwann niederrang. Aiko gewann und drückte ihn gegen die Hauswand. Ihr Blick war eiskalt und zielgerichtet. In ihrer Rage zog sie eines ihrer Messer hervor und hielt es ihm an den Hals. „Wenn du diesen Tag überleben willst, dann bettle!“, flüsterte sie bedrohlich. Sorrow schien tatsächlich sehr eingeschüchtert zu sein und hätte sicher getan, was sie gesagt hatte, doch Big Key verhinderte dies. Er nahm ihr das Messer aus der Hand und sah sie kopfschüttelnd an. „Solche Kindereien. Du hättest ihn damit ernsthaft verletzen können. Dinge wie diese sind in unserer Gang nicht gestattet, zumindest nicht aus einem solch niederen Grund wie einem Scherz. Das nächste Mal...“, erklärte Big Key mit strafendem Blick. „...wird es nicht geben“, ergänzte Aiko mit gesenktem Kopf. „Und was dich angeht, Sorrow,“, fuhr er fort, „du solltest aufhören, sie zu verärgern. Mir scheint, als hätte sie ein sehr hitziges Temperament. Hör auf, dich wie ein Kleinkind zu verhalten und lass alle niveaulosen Witze über sämtliche ihrer weiblichen Attribute oder die umstrittene Vermutung, sie würde zu der selben Sorte wie deine zahlreichen Frauenbekanntschaften, oder zumindest wie jene, die du vorgibst gehabt zu haben, gehören. Verstanden?“ Sorrow hatte anscheinend einen großen Respekt vor Big Key, wie ihn alle zu haben schienen. T-Pain nickte zufrieden. Sorrow nickte ebenfalls, um Big Key seine Reue zu zeigen. Aiko seufzte schwer. „Sollten wir jetzt nicht besser das ganze Zeug wegbringen?“, fragte sie. „Ich denke, das ist eine sehr gute Idee. Also, auf Jungs! Es gibt was zu tun! Los!“, rief T-Pain. Stöhnend und maulend machten sich Sorrow, Tyke und Luxury wieder an die Arbeit.Später, als sie endlich mit dem Beladen fertig waren, setzte sich Big Key in den Lastwagen und fuhr ihn in einem rasanten Tempo davon. „Hey, Kleines!“, rief Luxury ihr zu, nachdem alle ihrer Wege gegangen waren und Aiko auch gerade aufbrechen wollte. „Hast du ein paar Minuten Zeit?“, wollte er wissen. „Nee, sorry. Mein Freund wartet auf mich“, sagte sie scharf mit Betonung auf dem Wort „Freund“. Luxury zeigte sich unbeeindruckt davon. „Kriege ich deine Handynummer?“, fragte er, ohne auf ihre Antwort einzugehen. Sie lachte. „Was willst du denn bitte mit meiner Handynummer? Ich sagte doch gerade, dass du keine Chance hast! Zugegeben, du bist echt hartnäckig, aber meine Antwort ist: Vergiss es“, erklärte sie eindeutig, aber gelassen. „Du sagtest mit keinem Wort, dass du kein Interesse hast. Bloß, dass du einen Freund hast, aber das muss uns beide ja nicht daran hindern, oder, Süße?“, erwiderte er sehr von sich überzeugt. Sie seufzte und wiederholte noch einmal: „Ich sagte nein, und dabei bleibt es. Ich bin nicht dein Typ, okay?“ „So würde ich das nicht sagen. Du bist exakt mein Typ.“ „Dein Typ ist Single. Ich nicht.“ „Nicht zwingend. Ich habe kein Problem damit, wenn du einen anderen hast. Ich will dir doch nur zeigen, was richtiger Spaß ist.“ „Schon klar. Ich will es aber nicht wissen. Nicht von dir.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um, winkte ihm kurz und ging erhobenen Hauptes davon. Sie werden dich niemals bekommen. Kein anderer wird dich bekommen. Denn dein Schwur gilt bis zum Tage deines Todes. Bis zu jenem Tag, an dem seine Welt zusammen mit deiner zerbrechen wird. Kapitel 5: Ein alter Freund --------------------------- „Hey, hörst du mir überhaupt zu?“ Aiko sah auf. Etwas verwirrt und abwesend drehte sie sich zu ihm. Er lächelte aufmunternd. „Dachte schon, du hättest mir nicht zugehört“, murmelte er. „Hab' ich auch nicht“, gestand sie ihm geknickt. Er strich mit der Hand über ihren Kopf. Sie saßen auf einem großen, weichen Sofa in hellbraun in einer schönen, ansonsten modern eingerichteten Wohnung. Vor der Couch stand ein gläserner Wohnzimmertisch in Form einer Aubergine. Er passte gut zum restlichen Stil der Wohnung, im Gegensatz zu dem eher altertümlichen Sofa. Zwei Eiskaffee standen auf dem Glastisch, eines davon mit einem grünen Papierschirm. „Ich weiß“, sagte er und sah zum Fenster hinaus, wo sich ein großer bunter Garten erstreckte. Sein Lächeln wurde trauriger. Wortlos zeigte er nach draußen und sie folgte mit den Augen seinem Zeigefinger. Ihr Blick wurde auf eine einzelne rote Rose gelenkt, die inmitten hunderter weißer Rosen wuchs. Auch Aiko lächelte nun wehmütig. So viele Erinnerungen verband sie mit diesem Garten, aber vor allem mit dieser Rose. Sie betrachtete sie genauer. Die Blütenblätter wurden an den Rändern bereits braun. Schwer seufzend nahm sie ihren Eiskaffee, schob den Papierschirm ein Stück zur Seite und trank wenige Schlucke, ehe sie ihn zurückstellte. Er beobachtete sie dabei. Seine schwarzen Augen folgten jeder ihrer Bewegungen aufmerksam, als dürfte ihm nicht das geringste Detail entgehen. „Versuche nicht, meine Gedanken zu lesen“, ermahnte sie ihn locker, ohne ihn anzusehen. Mit einer kurzen Entschuldigung sah er in eine andere Richtung wieder zum Fenster heraus. Eine unangenehme Stille entstand, als beide nichts sagten. Sie schob ihr Glas auf der Tischplatte herum. „Erinnerst du dich noch?“, brach er schließlich sein Schweigen. Sie schüttelte den Kopf und fragte: „Was meinst du?“ „Sieh nach draußen“, gebot er ihr, „Die Rosen. Erinnerst du dich noch daran, wie wir sie gepflanzt haben?“ „Ach das meintest du.“ Jetzt verstand sie. „Wie könnte ich das vergessen“, fügte sie hinzu. „Es hat geregnet...“, murmelte er nachdenklich. „Und wie! In Strömen!“ „Ich fragte dich, was wir jetzt machen sollten, weil wir ja eigentlich Federball spielen wollten.“ „Und ich hab dann gesagt: 'Itachi, lass uns Rosen pflanzen!'. Gott, wie du geguckt hast.“ „Wenn du Verrückte auch sagst, bei dem schönen Wetter kann man unmöglich drinnen bleiben! Wir sind dann zum Blumenladen gefahren und haben uns diese Samen gekauft.“ „Und ich wollte unbedingt eine rote Rose haben!“ „Ja, die Verkäuferin sagte uns, wir müssten mehr von den roten einstreuen als nur eine, weil die Wahrscheinlichkeit bei einem Samen so gering wäre.“ „Ich hab' einfach trotzdem nur einen Samen eingepflanzt.“ „Das war echt viel Arbeit. Wir sind im Schlamm herumgerannt, haben Löcher gebuddelt...“ „Und der Schlamm hat die Löcher immer wieder zugemacht. Ich erinnere mich noch gut. Letzten Endes waren wir klatschnass, aber glücklich!“ Sie lachte. Itachi ebenfalls. „Und sieh an,“, lächelte er, „was daraus geworden ist! Von wegen, die Rose wird nicht wachsen! Von da an ist sie Tag für Tag schöner geworden.“ Sie merkte nicht, dass er nicht mehr die Rose ansah. „Doch sie beginnt zu welken“, stellte Aiko halb besorgt, halb unglücklich fest. „Das ist ganz normal“, beschwichtigte er sie eifrig. Sein Blick wanderte über ihr Gesicht. „Nein. Die weißen Rosen sind allesamt noch wunderschön. Es ist wegen etwas anderem“, widersprach sie traurig. „Rede keinen Unsinn! Sie wird nächstes Jahr wieder blühen. Du wirst ja sehen.“ „Und was ist, wenn sie eingeht? Was wird dann sein? Kannst du mir das sagen?“ „Was soll dann schon sein? Dann geht sie eben ein. Es ist nur eine Rose! Nur eine Rose, verstehst du? Es hat nichts mit dir zu tun!“ „Woher willst du das wissen?“ „Sie wäre dann wohl ganz verwelkt, oder nicht?“ Es war auf einmal ganz leise. Man hörte nur Aiko's Schlucken. Sie musste einen Moment lang darüber nachdenken. Wieso wusste Itachi, dass es ihr so schlecht ging? Woher konnte er das wissen, wenn sie nie mit ihm darüber gesprochen hatte? Vielleicht hatte er ihre Gedanken doch gelesen. Vermutlich war es allerdings auch einfach nur so, dass man ihr ihre Laune viel zu leicht ansehen konnte. „Ich denke, der Zustand der Rose trifft ganz gut auf mich zu“, murmelte sie. „Es ist nicht allzu schlimm. Mir geht es zwar nicht unbedingt blendend, aber ich komme über die Runden.“ Der Zwang in ihrem Lächeln fiel ihm kaum auf. Er schien froh zu sein, dass es nichts Ernstes war. Itachi war seit jeher ein guter Kumpel für sie gewesen. Er war für sie da, wenn sie ihn brauchte. Ein sehr verlässlicher Mensch, wenn auch streckenweise etwas schweigsam und geheimnisvoll. Mit seinen tiefschwarzen Haaren, die er immer zu einem Zopf zusammenband, und seiner hellen Haut wirkte er düster und gruselig auf die Menschen. Aiko, die ihn schon seit vielen Jahren kannte, wusste, dass die Vorurteile der Leute, wenn sie ihn zum ersten Mal sahen, nicht gänzlich falsch und unberechtigt waren. „Ich mag die Art, wie du lächelst.“ Das war sein erster Satz gewesen, den er zu ihr gesagt hatte. Jedes Mal, wenn sie daran dachte, machte es sie ein Stück fröhlicher. Aiko überlegte, was sie jetzt wohl sagen könnte, damit er nicht weiter über ihren Zustand redete. Schließlich umarmte sie ihn einfach. Er umarmte sie, etwas überrascht, ebenfalls. „Ich hab gehört,“, sagte Itachi nach einer Zeit der Stille, „du gehst wieder zur Schule. Ist schon ziemlich viel Zeit vergangen, seit du das letzte Mal die Schulbank gedrückt hast. Vier Monate, wenn ich mich nicht irre.“ Sie nickte langsam und lächelte tapfer. Nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, erwiderte sie: „Vier Monate und 17 Tage, um genau zu sein.“ „Wie läuft es denn so? War es arg schwer, den Stoff nachzuholen?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Die Lehrer geben mir Schonzeit, damit ich mich eingewöhne und so. Total überflüssig, wenn du mich fragst, aber wenn sie meinen. Im Großen und Ganzen ist nichts Besonderes passiert.“ „Hast du neue Freunde gefunden?“ Aiko hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde. „Du klingst wie mein Vater.“ „Ich dachte, du kennst deinen Vater nicht.“ „Na ja, er ist ziemlich früh gestorben, aber wenn er noch da wäre, dann … dann hätte er mich das jetzt gefragt!“ „Also, ich dachte, ich könnte so ein bisschen deinen Vater .. na ja, nicht ersetzen, aber... du weißt schon.“ „Schon klar. Siehst du dich echt als mein Vater?“ „Nicht direkt, aber irgendjemand muss ja wohl die Vaterrolle übernehmen, oder nicht?“ „Das ist süß von dir.“ Itachi grummelte. „Jetzt lenk' nicht ab! Also, hast du neue Freunde gefunden?“ „Ja. Sind ziemlich cool.“ „Ich hoffe, du treibst dich nicht mit den falschen Leuten herum. Du hast selbst gesagt, dass das mit den Drogen scheiße ist“, erinnerte er sie. „Sag mal, was habt ihr denn alle?! Steht mir irgendwie Gangsterbraut auf die Stirn geschrieben oder warum glaubt ihr alle immer, dass ich wieder im Geschäft bin?“, regte sie sich auf. Er runzelte die Stirn und erwiderte: „Wer hat das denn noch gesagt?“ „Sasori.“ „Wenn er es annimmt, wird es wohl so sein. Er liegt nie falsch, was dich angeht.“ Er seufzte schwer. „Ich dachte, du wolltest das nicht mehr machen. Er hasst es, das weißt du doch. Und ich hasse es auch.“ „Er hat nie gesagt, dass ihn das Ticken stört. Ich nehme keine mehr, ich schwör's. Immerhin bin ich seit über einem Jahr clean!“ „Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du wieder dealst. Das ist verdammt gefährlich. Ich verstehe dich einfach nicht! Dabei hast du doch am eigenen Leib erfahren, was passieren kann, wenn man den Bossen auf den Schlips tritt.“ „Mir wird so etwas niemals wieder passieren. Es kann gar nicht noch einmal passieren.“ Sie schaute weg. In diesem Moment hatte sie keine Lust, darüber zu diskutieren, welche Gefahren der Handel mit Drogen mit sich brachte. Schließlich wusste sie es nur zu gut. Deshalb konnte sie gut auf seine Moralpredigt verzichten. Dass sich auch alle stets um sie sorgen mussten. Einer der Gründe, weshalb sie gerne mit Menschen von T-Pains Sorte abhing. Wenn sie verschwand, war der Stoff das Einzige, was sie interessierte. Sie machten sich keinerlei Sorgen um Aiko. Solange der Stoff da war, würde sie keiner suchen. Es war für sie sehr wichtig, möglichst frei und unabhängig zu sein. Sie war niemand, den man in einen Käfig sperren und dort festhalten konnte. Sie würde immer wieder versuchen auszubrechen. Itachi schien nicht gerade überzeugt und sah sie bedeutungsvoll an. „Du weißt, wie ich darüber denke. Natürlich wird es nicht noch einmal passieren können. Doch ich will nicht, dass dir etwas ähnliches widerfährt. Du bist mir verdammt wichtig, okay? Ich habe einfach Angst, dass du unwiderruflich komplett auseinanderbrichst. Du bist noch ziemlich labil.“ „Komm schon! Was sollte jetzt noch passieren?! Ich bin unwiderruflich komplett auseinandergebrochen. Wo nichts mehr ist, kann auch nichts mehr kaputt gehen. Versteh das doch endlich!“ „Das kann und will ich nicht glauben. Es muss doch noch etwas in dir zu retten sein!“ „Es ist vorbei. Du willst es nicht sehen, aber für mich ist es gelaufen. Ich bin nur wegen Sasori noch am Leben. Sonst hätte ich mich vermutlich längst von einer Klippe gestürzt.“ Aiko sah ihn ernst an. „Deine Arme sind verbunden“, stellte er monoton fest. Das war ihm bereits aufgefallen, als sie vor wenigen Stunden zur Tür hereingekommen war und ihm einen Obstkorb vorbei gebracht hatte. Er hatte jedoch nichts gesagt, denn es brachte ja sowieso nichts. Er war nicht überrascht, dass ihre Arme versehrt waren. Sie hatte die Eigenart, sich für alles die Schuld zu geben, selbst wenn sie rein gar nichts dagegen hätte machen können. Vielmehr war er überrascht, dass ihre Arme verbunden waren. „Sasori hat das gemacht, oder?“, fragte er etwas missverständlich. „Was? Du weißt doch genau, dass er so etwas nie machen würde!“, erwiderte sie entrüstet. Itachi schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht von den Wunden geredet. Ich meinte den Verband.“ „Ach so. Ähm, ja, das war er.“ Sie stand auf und trug ihre leere Tasse in die Küche. Dort stand bereits viel schmutziges Geschirr an der Spüle. Vor allem Teller und Töpfe, die er neben dem Kühlschrank gestapelt hatte. Es sah aus, als hätte jemand eine große Menge Hühnerfrikassee gekocht und es mit mindestens vier anderen Leuten gegessen. Als sie noch mehr Geschirr in der anderen Ecke neben dem Gefrierschrank erblickte, tippte sie eher auf ein Vier-Gänge-Menü, das Hühnerfrikassee und Crème Brûlée beinhaltet hatte. Schwarzes Hühnerfrikassee und schwarze Crème Brûlée, die extrem unappetitlich auf sie wirkte. „Hattest du Besuch?“, fragte sie, um das Gespräch von unangenehmen Dingen weg zu leiten. Er kam ebenfalls in die Küche und sah sich um, als wäre ihm das Chaos gerade erst aufgefallen. „Oh, ähm … ja, denke schon“, erwiderte er und kratzte sich am Hinterkopf. Sie musterte ihn. „Ich hoffe, du hattest da etwas anderes an als jetzt“, sagte sie, während sie um ihn herum lief. Er trug eine weite schwarze Jogginghose und ein um so engeres grünes T-Shirt mit der Aufschrift „Vorsicht Bulle!“. Seine langen schwarzen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, bis auf ein paar Strähnen, die sich wohl selbstständig gemacht hatten. Itachi stellte das rechte Bein ein bisschen hoch und lehnte sich gegen den Kühlschrank. Mit einem verlegenen Grinsen antwortete er: „Ehrlich gesagt muss ich mich noch umziehen.“ „Hä?“, fragte Aiko und machte passend dazu einen entsprechend dümmlichen Gesichtsausdruck. Er musste lachen. „Okay, ich erklär's dir“, bot er ihr an. Sie nickte, beruhigt, dass das Thema mit ihren verletzten Armen und den Drogen endlich vom Tisch war. „Es ist so: Ihre Eltern und ihre kleine Schwester kommen zu Besuch. Sie natürlich auch. Und du kennst ja meine Kochkünste...“, begann er und räusperte sich. „Jedenfalls dachte ich, es macht immer einen guten Eindruck, wenn man kocht. Ich kann ja schlecht ein paar Döner bringen lassen oder Spaghetti kochen. Also hab' ich ein bisschen geübt.“ „Und die benutzten Teller?“ „Ich habe ein paar Freunde eingeladen, damit sie mal vorkosten.“ „Und? Was haben sie gesagt?“ „Ähm... Deidara meinte, es würde schmecken wie gequirlte Scheiße, Kisame hat gesagt, mit viel Pfeffer würde man vielleicht etwas schmecken und Pein kam nicht zu einer Bewertung, weil er schnell auf die Toilette gerannt ist. Für's erste Mal doch gar nicht schlecht, oder?“ „Bestell' Döner“, riet ihm Aiko. „Ich meine es ernst! Was mache ich denn jetzt? Sie kommen in zwei Stunden. Bis dahin wird sicher kein Meisterkoch mehr aus mir...Aiko, du könntest nicht zufällig..?“ „Ich habe gewusst, dass das wieder darauf hinausläuft. Es ist doch wirklich immer so! Sollen die Eltern nicht einen guten Eindruck von dir bekommen? Aber als deine beste Freundin mache ich das natürlich für dich. Wofür bin ich denn sonst da?“ „Danke! Echt cool von dir.“ Sie sah ihn vielsagend an. „Was?“, fragte er. Sie sah ihn immer noch vielsagend an. „Ich hab' dich nicht deswegen eingeladen, ich schwör'! Zumindest nicht hauptsächlich! Jawohl, eigentlich habe ich dich eingeladen, damit du ...“ Er machte eine Kunstpause. „Ja?“, fragte sie. „...mein Outfit auswählst.“ „Wow“, murmelte sie trocken. „Ich hatte jetzt gerade Hoffnung, du hättest mich wegen meiner Präsenz eingeladen oder weil du mich vermisst hast, und dann … Absturz.“ Er lachte und schob sie in sein Schlafzimmer, das eher wie die häusliche Waschküche aussah. Wie Aiko wusste, war das die häusliche Waschküche. Behutsam, als wäre es eine Schatzkammer voller Gold und Edelsteinen, öffnete er seinen Kleiderschrank. „Such dir was aus“, bat er sie. Aiko, voll in ihrem Element, machte sich über den Kleiderschrank her. Das heißt, sie stellte sich davor und warf die Kleiderstücke, die ihr missfielen oder zu diesem Zweck unpassend erschienen, hinter sich auf das ohnehin zugemüllte Bett. „Nein...nein...oh nein, bestimmt nicht...nein...das hier?“, fragte sie und hob ein weißes Hemd in die Höhe. Er schüttelte den Kopf. „Das sieht total geschniegelt und schleimig aus, wie so ein … du weißt schon, wie so ein … Freak“, beschwerte er sich. „Das Wort, das du suchst, ist Gentleman“, half sie ihm aus. „Ich fühle mich damit nicht wohl!“, nörgelte er, in dem Wissen, bereits verloren zu haben. „Es sieht sehr gepflegt aus, wenn du das trägst!“, überredete sie ihn. Mit gespielt genervter Miene gab er auf und knöpfte das Hemd oben auf. Aiko setzte ihm einen Hut auf und ging ein paar Schritte zurück, um das Gesamtwerk zu begutachten. Nachdem sie seinen Kragen zurecht gezupft und sein Haar wieder in Ordnung gebracht hatte, war sie zufrieden. Itachi schien immer noch nicht ganz mit seinem Outfit zufrieden zu sein, ließ es aber auf sich beruhen. Schließlich wusste er, dass man bei Aiko gegen eine zwei Meter dicke doppelt verstärkte Stahlwand redete, zumindest wenn es um Dinge ging, von denen sie mehr zu verstehen glaubte als er. Er musste zugeben, dass sie sich tatsächlich besser bei Mode und gutem Geschmack auskannte als er. „Und jetzt geht’s ans Kochen, was?“, lachte Aiko und machte sich freudig an die Arbeit. Die meiste Zeit saß Itachi daneben und sah ihr bei der Arbeit zu, aber in wenigen Situationen versuchte er sogar, sich nützlich zu machen. Zwar nicht sonderlich erfolgreich, denn das Meiste, was er anfasste, landete auf dem Boden, doch sie rechnete ihm den guten Willen positiv an. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie so einen Faulpelz wie Itachi getroffen; also war es ein echtes Weltwunder, dass er ihr seine Hilfe angeboten hatte. Letztendlich ließ sie ihn jedoch auf dem Sofa sitzen, um ungestört arbeiten zu können. Es dauerte länger, als er erwartet hatte, doch nach einer guten Stunde duftete es im ganzen Haus. Neugierig, ob das Essen auch gut schmeckte, schlurfte Itachi in die Küche und stellte fest, dass Aiko mindestens genauso lecker aussah wie das Essen. Er stand in der Tür und starrte sie ungeniert an, während sie die Hähnchenschenkel auf Teller verteilte. Nach kurzer Zeit bemerkte sie seinen aufdringlichen Blick und sah ihn böse an. „Was ist?“, wollte sie wissen. Er grinste sie breit an, ohne ihr eine Antwort zu geben. So ein Verhalten brachte sie auf die Palme. „Was ist denn?“, fragte sie lauter und stellte die Pfanne auf der Spüle ab. „Mir ist nur aufgefallen, dass du verdammt heiß bist“, erklärte Itachi in selbstverständlichem Ton. Aiko verzog ihr Gesicht und erwiderte säuerlich: „Für wen mache ich das Essen?“ „Für mich“, sagte er, ohne zu wissen, worauf sie hinaus wollte. „Und für wen noch?“, fragte sie weiter. Langsam verstand er. „Für meine Freundin!“ „Richtig. Du hast eine Freundin.“ „...Ja, und?“ Er hatte doch nicht ganz kapiert, was sie ihm jetzt damit sagen wollte. Sie stöhnte und wedelte ihm mit der Hand vor dem Gesicht herum. „Hallo? Du kannst doch nicht einfach einer anderen Frau Komplimente machen?!“, empörte sie sich. „Jetzt reg dich mal nicht künstlich auf!“, lachte er. „Meiner besten Freundin darf ich ja wohl sagen, wie scharf sie ist! Das heißt längst nicht, dass ich etwas von dir will. Oder wünschst du dir das etwa?“ Er stieß seinen Ellenbogen leicht in ihre Seite und zwinkerte. Aiko verdrehte die Augen und gab ihm eine Kopfnuss. „Du bist echt unglaublich...“, meinte sie kopfschüttelnd. „Schon klar. Ich weiß doch, dass du Sasori lie...“ Itachi stockte. Für einen kurzen Moment verfinsterte sich ihre Miene. Dann lächelte Aiko wieder. Ihre kleinen Hände deckten den Tisch, doch der Rest ihres Körpers verkrampfte sich. „Sorry“, murmelte er beschämt. „Schon gut“, erwiderte sie aufmunternd. Itachi sollte sich keine Vorwürfe deswegen machen. So etwas konnte passieren. Obwohl sie es nicht ertrug, wenn jemand sie daran erinnerte, zwang sie sich zu einem Lächeln. Schon wieder musste sie an Sasori denken, der sie jetzt vermutlich mit diesem traurigen Blick ansehen würde, wie er es immer tat, wenn sie ihre wahren Gefühle zu verbergen suchte. Ein Blick auf die ungewöhnlich altertümliche Standuhr in Itachis Küche verriet ihre, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte, um das Essen fertig zu machen und möglichst unauffällig zu verschwinden, damit seine Freundin und deren Eltern auf keinen Fall auf die Idee kamen, dass er die Köstlichkeiten vielleicht gar nicht selbst zubereitet hatte. „So, ich denke, ich bin fertig“, sagte Aiko erschöpft, nachdem sie eine gefühlte Stunde in Echtzeit waren es nur ein paar Minuten gewesen, vor dem Herd gestanden war. Itachi nickte zufrieden, als er die Leckereien verköstigte, und er klang erleichtert, als er ihr dankte: „Das war spitze, Süße! Einfach klasse von dir! Siehst du, das ist es, wofür ich dich so lieb habe!“ Ein schnelles Küsschen auf ihre Wange und schon hatte ihr übereifriger Freund sie samt Mantel aus der Wohnung geschoben. Er hat es wohl ziemlich eilig., dachte Aiko kopfschüttelnd und lief die Straße runter. Was solls, er freut sich halt auf seine Freundin. Kann man ihm ja nicht verübeln. Ich muss sowieso nach Hause. Sasori wartet bestimmt schon mit dem Essen. Der Fußweg bis zum Bahnhof war lang. Deshalb war sie vollkommen außer Atem, als sie an Gleis 6 ankam, von dem aus der Zug in ihre neue Heimat fahren sollte. Dort wollte sie gerade einsteigen, als sie eine vertraute Person auf einer Bank sitzen sah. Was macht er denn hier? Sollte er nicht zu Hause sein?, dachte Aiko und lief auf ihn zu. Sasori lächelte sie an und winkte ihr. Noch bevor sie ihn fragen konnte, warum er hier war, gab er ihr die Antwort: „Ich dachte mir, ich hole dich ab. Der Zug ist sicher ungemütlich, das wollte ich dir nicht antun, Schatz!“ Er lachte sie an und umarmte sie. Ihre Laune hob sich augenblicklich. Ebenso lächelnd ließ sie sich von ihm zum Auto führen. „Das ist neu, oder?“, fragte sie und zeigte auf den Kleinwagen, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sasori nickte und öffnete den Wagen. Ihr fiel auf, dass ein paar Leute, die auf ihren Zug warteten, sie seltsam ansahen. Das störte ihren Freund aber nicht weiter, als er ihr anbot, selbst zu fahren. „Schließlich kennst du das Auto noch nicht, und du magst es doch, mit neuen Wägen zu fahren. Also, viel Spaß! Aber setze das Ding nicht bei der ersten Fahrt gegen einen Baum, ja?“, sagte er grinsend und bohrte seinen Zeigefinger in ihre Seite. Sie stieg ein und fuhr mit Sasori los. Nach einer Weile des zufriedenen Schweigens sprach er sie von der Seite an. „Du, Aiko?“, sagte er. „Ja?“ „Ich liebe dich.“ Ein helles Lächeln huschte über ihr nachdenkliches Gesicht. „Ich weiß“, flüsterte sie. „Ich dich auch.“ Kapitel 6: Eine Weile lang -------------------------- Der Weg zur Schule war ihr mittlerweile allzu gut bekannt. Sie wohnte jetzt seit zwei Wochen in dieser Stadt und wusste nun etwas mehr über sie, ein Heim war sie ihr trotzdem noch nicht geworden. Es war ihr allerdings von Anfang an klar gewesen, dass sie sich nirgends mehr zu Hause fühlen würde. Es war eine trostlose Stadt, in der es zu viele am Leben gescheiterte Seelen gab. In den Straßen konnte Aiko es ihren Gesichtern ablesen, wie die schwarzen Schatten des Pechs und die eisernen Geißel des Schicksals die Bewohner in dieser sonderbaren Gegend geknechtet und auf ewig in die Abgründe hineingezogen hatten, die auch sie hinunterzufallen drohte. Die schrecklichen Klauen der Verderbnis hatten ihre tiefen Wunden und Furchen bereits in den Menschen hinterlassen, die Herzen waren von Erbarmungslosigkeit ebenso vergiftet wie von dem Verlust jeglicher Hoffnung. Jene Tage, die der Grund für die meisten Ausstiege aus der Tragödie Leben waren, schienen in dieser Stadt wohl von der Geburt bis zu der Erlösung von eben dieser Qual zu währen und einen selbst in der größten Verdammnis weiter am Leben zu erhalten, obgleich man dasselbige schon unwiderruflich aufgegeben hatte. Sie hatte gewusst, dass der Abschaum und die Verfluchten dieser Welt an diesem Ort ihr Dasein fristeten, und doch hatte sie mit Sasori gerade diese Stadt gewählt, um auf ihren unausweichlichen Untergang zu warten wie ein Verurteilter auf seine Hinrichtung. Dieses Gefühl war nicht nur hier, es war überall. Die Menschen in dieser Welt waren schlecht. Diese Welt war schlecht. Dieses Leben war schlecht. Seit fünf Monaten und drei Tagen war Aiko rast- und ruhelos umhergeirrt, auf der Suche nach etwas, das sie hier nicht finden würde. Es existierte nicht. Nicht dort, wo sie war, doch sie wurde geheißen, hier danach zu suchen. Und das würde sie. Das Ziel war der Weg. Sie sollte nicht finden, wonach sie suchte. Es war die letzte Prüfung, die sie bestehen musste. Doch noch hatte sie nicht erkannt, wozu diese diente. Und so schnell würde sie das auch nicht. Eine SMS ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken. HEY, KLEINES, WIE WÄRS DENN MIT HEUTE? SAM So ein Idiot, dachte Aiko kopfschüttelnd, als sie die Mitteilung gelesen hatte. Sam nervte jetzt schon seit über einer Woche damit. Ob sie denn den Aufsatz schon abgegeben habe, und ob es ihr geholfen hätte, was er ihr geschickt hatte und Ähnliches. Zwischen drin fragte er ständig nach einem Treffen. Bis jetzt hatte sie noch nicht eindeutig abgelehnt, er könnte schließlich noch nützlich sein. An sich mochte sie es nicht, Leute zu hintergehen, und Samuel war ihr auch auf Anhieb sympathisch gewesen, als er aus dem Polizeiauto gestiegen war, um ihr „den Weg zu Kirche“ zu erklären, aber erstens war es ihre Aufgabe bei der Gang, solche Verbindungen auszunutzen, und zweitens hatte sie nach einigen Telefonaten festgestellt, dass er genauso widerlich und ekelhaft war wie viele andere Kerle. Nein, auf ein Treffen mit ihm war sie nicht unbedingt scharf. Als sie auf die Schule zulief, kamen ihr bereits Tyke und Sorrow entgegen. „Hey, Schatz!“, rief Sorrow und gab ihr ein Küsschen auf die Wange, worauf sie ihn gegen den Kopf schnipste und grinsend erwiderte: „Komm schon, lass das!“ Nach ein paar kurzen verstrichenen Momenten fügte sie noch hinzu: „Und nenn' mich nicht Schatz! Sonst denken die anderen noch was Falsches!“ Der Punk schüttelte den Kopf. „Nee, dann denken sie genau das Richtige! Nämlich, dass das Schicksal uns zusammengeführt hat!“, verbesserte er sie. Aiko sah ihn überrascht an. „Bist du betrunken oder hast du dich zu lange von Luxury berieseln lassen? Sonst gehört das Wort Schicksal doch nicht zu deinem Sprachgebrauch“, fragte sie ihn. „Das ist Beides, Aiko. Er hat Bier getrunken, vorhin, zwei Flaschen. Mit Luxury“, antwortete Tyke an Sorrow's Stelle. Sie schüttelte den Kopf. Wie konnte man sich nur am frühen Morgen betrinken, zumal man noch Schule hatte? Nun gut, er besuchte den Unterricht sowieso sehr selten, aber das war nun wirklich unnötig. „Danke für die Auskunft“, sagte sie zu Tyke. Seine Brust schwoll vor Stolz etwas an. Aiko stieß Sorrow in Richtung Schule, in der Hoffnung, er würde freiwillig in den Unterricht gehen. Diesen Gefallen tat er ihr aber nicht. Stattdessen ging er auf Luxury zu, der aus dem Schulhaus herauskam und ihnen zuwinkte. Hinter ihm kamen auch T-Pain und Big Key. Die beiden kamen anscheinend immer gemeinsam hierher. Sie fragte sich, ob T und Big zusammenwohnten. Schief grinsend und gut gelaunt wie selten kam T-Pain auf sie zu und knuffte sie gegen die Schulter. „Na, alles locker?“, begrüßte er sie. Aufmerksam musterte sie ihn. „Habt ihr einen großen Deal?“, mutmaßte sie aufgrund seiner Fröhlichkeit. Die Antwort kam von Big Key. „Ja, das haben wir. Der Boss war heute Nacht äußerst erfolgreich in den Verhandlungen, sodass wir nun die Versorgung für einen größeren Bezirk bekommen. Eine gute Möglichkeit, den Betrieb und das Personal zu erhöhen. Wir sollten mehr Leute dazu holen“, schlug er mit seiner gewohnt tiefen Stimme vor. T-Pain schüttelte den Kopf. „Unsere Gruppenstärke reicht noch aus. Neue Leute bedeuten Risiko und Ärger.“ Aiko pflichtete ihm stumm bei. Auch sie war ein Risiko gewesen. Nach längerem Schweigen fiel ihr wieder ein, dass sie eigentlich noch etwas wissen wollte. „Ähm, T? Was soll ich denn eigentlich wegen Sam unternehmen?“, fragte sie etwas kühler. T-Pain sah sie fragend an. „Wer ist Sam?“ „Du weißt doch, der seltsame Typ von der Polizei, den ich bei dem Ding vor zwei Wochen vertrieben habe. Der betreibt regelrechten Telefonterror. Darf ich ihn jetzt endlich abservieren oder willst du dir unbedingt alle Möglichkeiten freihalten?“ Er dachte kurz nach. Sorrow kam ihm zuvor. „Wie wäre es denn, wenn du ihn verführst, damit wir wissen, wie weit die Polizei schon in unserem Fall ist? Nun ja, und da du bestimmt keine Erfahrungen hast, wie man mit Männern umzugehen hat, kannst du ja mit mir üben! Ich kann dir da einiges beibringen, du weißt schon...“, schlug der Punk mit leicht schräger Stimme vor und stellte sich ziemlich nah neben sie. Sofort war Luxury an ihrer anderen Seite und hauchte ihr ins Ohr: „Wenn du einen Übungspartner brauchst, bin ich natürlich immer für dich da. Ich könnte dich charmantere Überredungskünste lehren als der unwissende Tölpel da. Wir wollen doch nicht, dass du dich am Ende unpassend benimmst, bloß weil diese Person dir irgendwelche schmutzigen Redensarten beigebracht hat. Dir wäre ich doch auch viel lieber, oder nicht, mein kleiner Engel...“ Als er so nah an ihrem Ohr war, dass er es fast verschluckte, schob sie ihn angenervt weg und verschaffte sich auch nach rechts, wo Sorrow seinen Arm um sie gelegt hatte, etwas mehr Platz. „Nun, so schlecht war die Idee gar nicht“, befand T-Pain. Aiko's Meinung von ihm sank beträchtlich. „Das kann doch nicht dein Ernst sein! Du kannst doch nicht von mir verlangen, dass ich...Das kannst du nicht!“, beschwerte sie sich. „Lass mich überlegen... Doch, kann ich. Du musst natürlich nicht üben. Ich denke, du bekommst das schon irgendwie hin. Luxury, Sorrow, hört auf mir auf den Sack zu gehen und verzieht euch. Ich hoffe mal, du bekommst was aus ihm raus, Aiko. Wenn nicht, dann wäre es eben umsonst. Na ja, vielleicht findest du ja auch Gefallen daran“, gab er leicht grinsend zurück. Sie verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. „Sehr witzig. Sicher nicht. Lieber würde ich eine Nacht mit dir verbringen, als zwei Minuten mit diesem Schleimbeutel!“, wetterte sie. T-Pain grinste noch etwas breiter. „War das ein Angebot?“ „Nein, ein Scherz.“ „Hätte mich ehrlich gesagt auch gewundert.“ Aiko verzog ihr Gesicht. „Muss ich wirklich?“, fragte sie. Es war ihr anzusehen, dass sie keine Lust auf ein Treffen mit Sam hatte. T-Pain grinste und erwiderte: „Ja, musst du. Aber es muss alles klappen und der Kerl darf keinen Verdacht schöpfen. Am Besten, du lässt dich doch teachen. Von Luxury oder Sorrow, ist mir egal.“ Beide standen neben Aiko und grinsten sie an. Diese schüttelte den Kopf und meinte, sie könne auf einen Lehrer gut verzichten. Wenn T-Pain jedoch der Meinung sei, sie hätte noch Übung nötig, könne er ja diese Arbeit erledigen. Schließlich war es ja dann auch letztendlich er, wegen dem sie es machen musste. „Och, Aiko, du bist so eine Spielverderberin. Was will der dir denn bitte beibringen? Der Chef hat doch selbst keine Ahnung!“, rief Sorrow in die Runde. Aiko war sich nicht ganz sicher, aber sie hätte schwören können, dass T-Pain etwas errötete. Nein, sie musste sich versehen haben. Er war nicht der Typ, der rot wurde. „Das sagt der Richtige. Als ob du mehr darüber wüsstest!“, versuchte er, seine Ehre wieder herzustellen. „Nun gut, es stört mich nicht, dir ein wenig zu helfen. Falls du irgendwelche Fragen hast“, sagte er dann zu Aiko. Sie lachte über seine Formulierung und antwortete dann: „Vielen Dank, aber ich denke, ich komme alleine klar.“ Das Thema war nun geregelt, weshalb sie nicht weiter darauf einging. Sie würde sich also mit Sam treffen müssen. Der Himmel begann zu grollen. Die besorgten Blicke aller wanderten nach oben. Es war ziemlich dunkel, denn eine graue Wolkendecke, die keine Sonne hindurch ließ, war über sie gezogen. Die meisten Schüler, die zuvor noch um sie herumgestanden waren, saßen vermutlich gerade im Unterricht. Das Klingeln zum Schulanfang hatte Aiko überhaupt nicht bemerkt. Ihre Freunde zogen in verschiedene Richtungen von dannen, nur ging keiner Richtung Schulhaus. Sie hatte ihre Versuche aufgegeben, sie zum Unterricht zu bewegen, denn es hätte ja sowieso keinen Sinn. Mit kalten Füßen lief sie die Straße hinunter. Es regnete in Strömen. Sie hatte nicht damit gerechnet, weshalb sie keine Jacke mitgenommen hatte. Die Silhouette der Häuser verschwamm vor ihren Augen und sie musste gut aufpassen, nicht auf dem komplett nassen Asphalt ausrutschte. Es war zum Glück kein besonders weiter Weg, aber sie war dennoch ziemlich durchgeweicht, als sie vor dem Café ankam. Sie blieb kurz stehen und seufzte einmal tief. Eigentlich wäre sie jetzt viel lieber zu Hause, aber sie musste das wohl tun. Zumindest müsste sie ihn danach nie wieder sehen. Mit einem gespielten Lächeln ging sie durch die Tür und hielt nach ihrem Date Ausschau. Sam saß in einer lauschigen Ecke des Cafés und studierte gerade die Karte. Solange er dich nicht gesehen hat, kannst du noch wegrennen., dachte sie in der Hoffnung, sie würde ihren Nachmittag doch mit Sasori verbringen statt mit diesem Kerl. Ehe sie sich für etwas entschieden hatte, entdeckte er sie und winkte sie zu sich. „Hey!“, grüßte sie ihn und setzte sich. „Hi! Du bist ja ziemlich in den Regen gekommen, was?“, meinte Sam lachend. Aiko konnte sich zwar keinen Reim darauf machen, was daran lustig sein sollte, aber sie lachte einfach mit. „Ich wünschte, es wäre mir erspart geblieben. Jetzt ist meine Frisur total hinüber!“, beschwerte sie sich. „Du siehst bezaubernd aus“, widersprach er ihr mit einer Stimme, die wie Honig an einem herunterging. „Danke für das Kompliment. Hast du schon bestellt?“ „Nein, ich wollte auf dich warten. Weißt du schon, was du nimmst?“ „Bestell du für mich.“ Männer mochten es, wenn man ihnen die absolute Wahl ließ. Das zeugte von einem Vertrauen gegenüber ihres Geschmacks, weshalb sie dann dachten, besonders stilvoll zu sein. Sam erwies sich als genauso geschmacklos, wie Aiko bereits befürchtet hatte. „Gut“, antwortete er und orderte eine Probierplatte – für zwei Personen. Ihr würde aber auch wirklich nichts erspart bleiben. Sie entschied sich, einfach auf das Essen zu warten und sich derweil etwas umzusehen. Der Tisch, an dem sie saßen, war nämlich perfekt, um die Besucher des Cafés zu beobachten. Eine von ihren Lieblingsbeschäftigungen, die sie überall und jederzeit ausübte, war es, ihre Umgebung zu observieren. Es gab ihr das Gefühl von Sicherheit. Sam interpretierte ihr Schweigen falsch. „Gefällt es dir hier nicht?“, fragte er mit gedämpfter Stimme. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Es ist schön hier“, erwiderte sie und lächelte ihn an, um ihre Antwort zu bekräftigen. Er schien sich damit zufrieden zu geben. „Na, dann ist ja gut“, kommentierte er. Aiko ließ sich etwas Zeit, bis sie mit dem ihr wichtigen Thema anfing. Erst als der Kellner das Essen brachte, fragte sie: „Sag mal, was machst du denn eigentlich so momentan. Als Polizist, meine ich.“ Er setze einen gequälten Gesichtsausdruck auf und meinte: „Ich habe jede Menge Stress auf der Wache. Weißt du, wir sind gerade an so einem Drogenfall dran. Ätzende Sache.“ „Verstehe. Kommt ihr nicht voran?“ „Pfft. Wir beschatten die meiste Zeit irgendwelche Verdächtigen, die dann allerdings nichts Auffälliges tun. Momentan sind wir an so einem Typen dran, der ein wenig zu viel mit einer Kollegin geplaudert hat. So ein Vollidiot. Plaudert der einfach mal locker über seine Drogengeschäfte und merkt nicht, dass vor ihm eine Polizistin steht.“ „Was? Er hat einfach so einer Politesse davon erzählt?“ „Hat's natürlich nicht gewusst, der Kerl. Wir suchen gerade seinen richtigen Namen. Hier kennt ihn jeder nur unter dem Synonym 'Sorrow'. Echt ein Blindgänger, wenn du mich fragst.“ Seine Zuhörerin stützte ihren Kopf mit fasziniertem Gesichtsausdruck auf ihre grazile Hand und nickte, um ihn zu bestätigen. Er stach mit seiner Gabel in ein Stück Fleisch und hob sie ihr hin. „Du hast noch gar nichts angerührt“, fügte er hinzu. Obwohl sie nur ungern von dem Besteck anderer aß, nahm sie die Speise von seiner Gabel auf und lächelte gespielt verlegen. Behutsam fuhr sie Sam mit ihrem Zeigefinger über den Handrücken. Der verräterische Glanz in seinen Augen gefiel Aiko ganz und gar nicht. „Ich denke, ...“, hauchte sie ihm zu und brach ab. „Du denkst?“ Sein Grinsen wurde immer breiter. Abrupt erhob sie sich vom Tisch und warf ihre kirschrote Haarpracht zurück. „Du hast nichts dagegen, wenn ich mir eben kurz … die Hände waschen gehe?“, fragte sie. Er zeigte mit einer Handbewegung, dass er keinen Einwand hatte. Mit einem Zwinkern in seine Richtung wandte sie sich um, verdrehte die Augen und suchte die Toilette auf, um T-Pain zu kontaktieren. Der war wie erwartet alles andere als guter Laune, nachdem sie ihm von Sorrow's atemberaubender Leichtsinnigkeit erzählt hatte. Überlaut blaffte er sie durch das Handy an, als ob sie etwas für diese Misere konnte. „Ist ja schon gut“, spielte sie das Ganze herunter und versuchte, ihn zu beruhigen. „Jetzt komm mal wieder runter, Großer. ...Ich weiß es nicht. … Nein, ich habe keine Ahnung! Wäre irgendwie ein bisschen zu auffällig, da weiter nachzuhaken, meinst du nicht? … Was?! Bist du meschugge? Das kann ich ihn doch jetzt nicht..?! … Ganz ehrlich, Chef, du hast einen Schaden! … Ja, du mich auch...Scheißkerl.“ Kopfschüttelnd legte sie auf und wusch ihre Hände in dem in Marmor eingelassenen Waschbecken vor ihr. Ohne es zu wollen, sah sie in dem großen Spiegel darüber ihr verhasstes Abbild. „Du bist zu wundervoll. Zu wundervoll, um ein Mensch zu sein. Mein Herz. Mein Engel“, flüsterte Aiko ihrem Spiegelbild zu. Es war ein Satz von Sasori. „Wenn sie dich am Ende deiner Tage in den Himmel zurückholen, nimmst du mich dann mit?“ Sie lachte. Ihre Augen leuchteten, als sie an ihn dachte. Doch er war nicht da. Für einen Moment fuhr sie über den Spiegel und wünschte sich fort von hier. Fort von all diesen Problemen. Alle hatten sie ihr gesagt, dass sie aufpassen müsse, nicht erneut abzurutschen. Sie sollte sie Hände von Drogen lassen. Sie sollte alles vergessen. Doch sie konnte es nicht. Ihr Herz ließ das nicht zu. Mit aufgesetztem Lachen kam sie zurück an den Tisch und setzte sich. „Wovon sprachen wir gerade?“, fragte sie und wartete kaum seine Antwort ab. „Ach ja, genau, du hast von diesem … Drogenmensch geredet... Wie nannte er sich noch gleich?“ Sam sah sie beeindruckt an. Bevor er Antwort gab, machte er eine Pause und erwiderte dann: „Ähm... Sorrow, glaube ich. Aber das interessiert mich jetzt eigentlich auch gar nicht. Hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du absolut umwerfend bist?“ „Ach, wirklich?“, sagte sie und errötete. Wie so vieles, was sie tat, war selbst dieses Erröten pure Kalkulation. „Was … hast du jetzt vor?“, fragte sie. „Was meinst du?“ „Mit diesem Sorrow. Wie willst du denn seinen richtigen Namen herausbekommen?“ „Ich werde ihn beschatten.“ „Beschatten?“ Sie zog dabei beide Augenbrauen hoch und berührte mit ihren Fingerspitzen den Glasrand. „Was du nicht sagst, Sam.“ Es war mehr als offensichtlich, dass sie Interesse heuchelte. „Andere Sache: Ich habe ein nettes kleines Apartment, ganz hier in der Nähe...“, murmelte er und sah sie vielsagend an. Mit einem kurzen Lachen schüttelte sie den Kopf und stand in einer fließenden Bewegung auf. „Danke für den schönen Nachmittag, aber man erwartet mich“, erklärte sie und ging davon. Das „Ruf mich an!“, das er ihr hinterher rief, überhörte sie geschickt. Kapitel 7: Verdrängung ---------------------- Nach einem kurzen Telefonat mit T-Pain bog sie in eine Seitenstraße ein und wartete dort auf einem Parkplatz. Nach wenigen Minuten stand Luxury bereits vor ihr und lächelte sie an. Eigentlich hatte sie gehofft, nicht ihn hier zu treffen. Wegen dem Date mit Sam hatte sie etwas recht Knappes angezogen in der Hoffnung, etwas mehr aus ihm herauszubekommen als bloß diese paar mageren Informationen. „Wie ist es gelaufen?“, wollte Luxury wissen, während seine Hand zielsicher über ihren Oberschenkel glitt. „Nicht gut.“ Mit festem Griff hielt sie seine Hand auf. „Was war?“ „Er sagte, er wolle Sorrow beschatten.“ „Ah ja. Kein Wunder. Ich habe dieser Ratte schon so oft gesagt, er soll sich ein wenig in Acht nehmen. Ist nicht gut in diesem Geschäft, wenn man so mit vertraulichen Dingen umgeht wie er.“ „Absolut meine Meinung. Faszinierend, wie blöd man eigentlich sein kann. Er hat es einer Polizistin gesteckt. Hat's natürlich nicht gewusst, aber trotzdem muss man sowas ja nicht gleich jedem erzählen.“ Luxury stand sehr nahe bei ihr, während sie auf einem Müllcontainer saß und seinen Blicken auswich. „Nimmst du eigentlich Drogen?“, fragte sie ihn mit gedämpfter Stimme. „Der Scheiß ist einfach zu geil, als dass ich es lassen könnte“, antwortete er und berührte mit seiner Nase ihren Hals. „Und wie sieht's mit dir aus?“ „Das ist Vergangenheit.“ Ihr Blick schweifte in die Ferne. „Ich kann dir ein paar nette Sachen geben. Echt gutes Zeug.“ „Hey, ich nehm nichts mehr. Verstehst du? Ich bin clean.“ Er holte ein kleines weißes Päckchen aus seiner Hosentasche und steckte es ihr in den Ausschnitt. „Du bist süß. Deshalb geb ich dir was umsonst. Probier's mal aus, wenn du down bist. Und wenn du mehr willst, komm zu mir.“ „Steck dir das Zeug sonst wo hin. Ich will es nicht!“, rief sie. Mit den Drogen hatte sie abgeschlossen. Auf ihre klare Absage reagierte Luxury mit einem lauten Lachen. Er schob ihre Hand etwas zurück und erwiderte: „Du wirst es noch brauchen.“ Sie wollte es ihm wieder zurückgeben, allerdings nicht, weil sie wusste, dass sie es niemals benutzen würde. Vielmehr wollte sie es nicht haben, weil sie Angst hatte, es tatsächlich in einem schwachen Moment einzunehmen. Gerade wollte sie erneut versuchen, es loszuwerden, als sie von Weitem Sorrow kommen sah. Mit schrägem Grinsen und der Hand am Hinterkopf begrüßte er sie und fragte dann: „Der Chef hat mich herbestellt. Wasn los?“ Aiko zog verächtlich eine Braue nach oben und sah ihn missbilligend an. „Du hast ziemlich viel ausgeplaudert. Das gibt Ärger“, antwortete sie ihm mit beiläufiger Stimme. Der Punk sah sie überrascht an. „Ich schwöre, ich habe nichts verpfiffen! Würde ich niemals tun, echt nicht!“, wehrte er ab. Nach ein paar Momenten wandelte sich sein Gesichtsausdruck gravierend. „Du!“, rief er und zeigte auf Aiko, die gemütlos ihre Fingernägel besah. „Du hast ihm irgendeinen Müll erzählt, nicht wahr? Weil du mich loswerden willst! Aber nicht mit mir, du kleine dreckige Schlampe!“, brüllte er sie wütend an. Doch ehe er sich versehen hatte, stand sie hinter ihm und schnitt ihm mit einem Springermesser den Hals ein. Bemüht, nicht zu tief in sein Fleisch einzudringen, ließ sie etwas lockerer. Die Wunde blutete trotzdem. „Wag es nicht, mich Schlampe zu nennen!“, begründete sie ihre hinterhältige Attacke zischend. Luxury hielt ihre Hand fest, die das Messer fest umschloss. Langsam drückte er diese herunter und umarmte sie leicht. „Kein böses Blut, Süße. Das sieht der Boss gar nicht gerne. Er ist es doch eh nicht wert“, sagte Luxury in seiner verführerischen Stimme. Sorrow verzog seine Miene und befühlte seinen Hals. „Ich blute!“, schrie er, als würde er daran sterben. Wie so oft zum rechten Augenblick tauchte T-Pain auf. Er sah ziemlich mitgenommen aus, in ramponierten Hosen und einem ehemals weißen Tanktop, das über und über mit Schlamm verdreckt war. Ein Auge war blau angelaufen und über seine rechte Augenbraue zog sich eine tiefe Schramme. Im Gegensatz zu Sorrow machte er jedoch kein Aufheben um seinen angeschlagenen Zustand, sondern kam gleich zur Sache, als er sah, dass alle da waren. Auf Tyke schien er nicht warten zu wollen und Big Key war wohl verhindert. „Sorrow. Du hast uns verraten“, sagte er gewissenhaft in die Runde ohne jegliche Wut in der Stimme. „Nein, Mann! Niemals! Ich weiß nicht, was diese kleine Schl...“, begann dieser sich zu verteidigen. Als er darauf Aiko's Knurren und Luxury's Knöchel knacken vernahm, führte er seinen Satz mit anderen Worten fort. „Ich weiß nicht, was sie dir erzählt hat, aber sie lügt!“ „Ja, klar. Vielleicht hast du es einfach nicht mitbekommen, aber diese Frau, der du anscheinend ein bisschen was über deine Arbeit bei uns erzählt hast, war eine Polizistin. Wenn wir wegen deiner Unachtsamkeit Ärger bekommen, dann wird Big Key sich um dich kümmern. Verstanden?“, sagte T-Pain in autoritärem Ton und drückte ihn dabei gegen die Wand. „I-ist gut, Boss“, stotterte der eingeschüchterte Punk und schluckte. Darauf ließ er ihn los und sah auf seine rote Hand. „Warum blutest du?“, wollte T-Pain wissen, als er die Spur verfolgte und die Wunde an seinem Hals entdeckte. Aiko kratzte sich mit einem Unschuldsblick am Kopf und sah in eine andere Richtung. „Sie hat's getan“, petzte er und richtete seinen Blick auf den Boden. T sah sie böse an. „Wir fallen uns hier nicht gegenseitig an, Kleine. Das solltest du besser schnell lernen, sonst geht es hier ziemlich steil bergab. Du willst meine Faust nicht in deinem hübschen Gesicht haben“, erklärte er in trockenem Ton. „Übrigens, nicht übel für den Anfang. Die Sache mit dem Bullen. Jetzt wissen wir zumindest, dass sie nichts wissen, was für uns von Belang wäre.“ „So würde ich das nicht sagen“, korrigierte sie ihn. „Sam sagte irgendetwas davon, dass sie Sorrow jetzt erst einmal beschatten wollten, um seinen richtigen Namen und mehr über uns herauszubekommen. Wir sollten besser aufpassen. Wenn die Polizei mich bei euch sieht, wissen die sofort, was los ist.“ Unwillkürlich ließ T-Pain seinen Blick über den Platz schweifen. Aiko schüttelte den Kopf. „Keine Sorge“, beschwichtigte sie ihn. „Wir werden hier gerade nicht beobachtet. Anscheinend haben sie noch nicht damit begonnen.“ „Wie kannst du dir da so sicher sein?“, hakte Sorrow nach. „Ich habe die Lage vorher abgecheckt. Alle möglichen Verstecke, die die Bullen nutzen könnten, liegen von diesem Punkt des Platzes aus in meinem Blickfeld. Bis auf den Balkon da vorne und diese Spalte zwischen den Garagen, die jedoch direkt in Luxury's Blickrichtung liegen. Wären sie dort, hätte er das längst bemerkt.“ Der silberhaarige Schönling pflichtete ihr durch ein Kopfnicken bei. Sorrow stellte sich beleidigt zur Seite und schwieg. „Passt trotzdem auf“, sagte T-Pain streng. „Aiko, halt dir den Bullen noch eine Weile warm. Vielleicht werden wir ihn noch brauchen.“ Mit einem Ächzen wandte er sich um und löste die Versammlung auf. Sie ging ein paar Schritte neben ihm her und sagte, als die anderen nicht mehr in ihrer Hörweite waren: „Wer war das?“ Obwohl er genau wusste, was sie meinte, fragte er trotzdem: „Wovon redest du?“, ohne dabei wirklich interessiert an einer Antwort zu wirken. Er beschleunigte seinen ohnehin schon zügigen Schritt. „Komm schon. Ich bin nicht blöd. Wer hat dich so zugerichtet? Und erzähl mir nicht, du wärst gegen einen Schrank gerannt oder so.“ Sie sah ihn besorgt an. Sein Schweigen jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Er sah zu Boden und ignorierte ihre Frage einfach. Sein Mund war steif und zeigte keine Emotion, sodass sie seine Gedanken oder Gefühle nicht ablesen konnte. Nach ein oder zwei Minuten blieb sie stehen und hielt ihn fest. „Was?“, fragte er gereizt, ohne sie anzusehen. Ihr Kopf war auf eine unangenehme Art leer, als er so vor ihr stand. Alles, was sie jetzt hätte sagen können, hatte sie vergessen. Denn auf eine seltsame Weise empfand sie Mitleid für ihren „Vorgesetzten“, der nun weitaus schwächer schien, als die anderen dachten. Wie er so auf seine Füße starrte, unfähig, sie anzusehen, sein Körper mit blauen Flecken und Schrammen regelrecht übersät, wollte sie einfach nur irgendetwas tun, was diese Umstände änderte. Sie wollte sagen, dass es nicht schlimm wäre. Ihn in den Arm nehmen und trösten, über seinen Hinterkopf streichen und ihm erzählen, dass niemand das Recht habe, ihm wehzutun. Dennoch schwieg sie und rührte sich nicht von der Stelle. Er stieß sie mit der Schulter beiseite, als er an ihr vorbeirauschte. Eine ungewohnte Traurigkeit erfüllte Aiko. In diesen Tagen hatte sie nie viel zu Lachen gehabt, doch dieses Gefühl war ihr neu. Er wird wohl hingefallen sein, dachte sie. Selbst wenn nicht, es geht mich sowieso nichts an. Schließlich dealt er. Was interessiert es mich dann überhaupt? Dieses Leben war nie dazu gedacht, den Lebenden Freude zu bereiten. Stattdessen holen sie die guten Menschen aus dieser wundersam bösen Welt heraus und machen das Dasein der Verbliebenen noch unerträglicher. Eine Sache, die schon seit Jahrhunderten so ist. Wie viele Frauen haben schon ihre Männer verloren, wie viele Kinder ihre Eltern? Er verdient es auch nicht, glücklich zu sein, sonst wäre er jetzt vermutlich tot. Wie könnte ich ihm helfen? Wie könnte ich... Sie lief mit lauten Geräuschen über das Pflaster. Der Regen hatte schon lange aufgehört und der Himmel klarte langsam auf. Für sie gab es nichts mehr zu tun, so dass sie eigentlich hätte nach Hause gehen können. Doch sie wollte nicht in das viel zu große Haus gehen, das sie bewohnte. Weite leere Zimmer, die ihre Einsamkeit immer weiter und weiter verstärkten, bis der Strudel aus Angst und Verzweiflung sie unter die Erde gezogen hatte, wo sie verlassen und ohne Sonne mit der Person alleine sein würde, die ihr das Leben zur Hölle machte. Das Handy in ihrer Tasche vibrierte. Mit einer hastigen Handbewegung zog sie es heraus und drückte auf „Annehmen“. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Itachi. „Bist du's, Aiko?“, fragte er. Sie wirkte ein wenig enttäuscht, als sie antwortete. „Ja. Ja, ich bins.“ Das leichte Zittern in ihrer Stimme entging ihrem Freund nicht. Sie hatte es schon immer gehasst, dass diejenigen, die sie kannten, durch ihre Stimme und ihr Gesicht ihre Gedanken lasen als wäre sie ein offenes Buch. Doch sie hatte ihre Gefühle noch nie gut verbergen können. „Hast du jemand anderes erwartet?“, fragte er freiheraus. Zuerst schüttelte sie den Kopf, bis ihr einfiel, dass er ihre Bewegung durch das Handy nicht sehen konnte. „Nein. Eigentlich nicht. Was gibt’s?“, erwiderte sie. Itachi am anderen Ende der Leitung räusperte sich. „Es ist wegen Deidara...“ „Was ist mit ihm?!“ „Er hatte einen Unfall, aber ich glaube, es ist nicht so schlimm. Soweit ich informiert bin sind es ein paar kleinere Brandverletzungen und...“ „Was, und? Muss ich dir jetzt alles aus der Nase ziehen?“ „Ganz ehrlich, ich hab ja gleich gesagt, er sollte nicht an seinen Feuerwerkskörpern herumbasteln. Du weißt doch, wie sehr er das liebt. Er war einfach nicht von der Idee abzubringen, dieses Jahr an Silvester das schönste Feuerwerk zu kreieren, was die Welt je gesehen hat. Meinte er zumindest. Nun ja, dann ist halt so ein Ding in seiner Hand explodiert...“ „SEINE HAND?!“, schrie sie in den Hörer. „Das kann nicht dein Ernst sein! Soll das heißen, er hat nur noch eine?!“ Ihr Gesprächspartner machte eine kurze Pause, bevor er ihr die ganze Wahrheit verriet. „Offengestanden ist es sein ganzer rechter Arm, der nun unbrauchbar ist.“ Aiko schluckte. Die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich. So gerne sie es kühl zur Kenntnis genommen hätte, das konnte sie einfach nicht. „Oh“, war das Einzige, was sie in diesem Moment sagen konnte. „Tut mir Leid, Süße. Aber er ist okay, soweit. Nur ein bisschen durch den Wind. Ich wollte dir einfach Bescheid geben, damit du nicht aus allen Wolken fällst, falls du ihm mal begegnen solltest.“ Sie sagte eine Weile nichts. „Aiko? Bist du noch dran?“ „Mhm.“ „Nun... Ich muss dann los. Yukiko hat noch was mit mir zu besprechen.“ „Mhm. Bye.“ Sie brach das Gespräch ab. Es war sicher ein mächtiger Schlag für Deidara gewesen sein. Sein Selbstbewusstsein war ihm das Wichtigste; so offensichtlich und stark und doch so einfach zu zerstören. Sie sah schon sein Gesicht vor sich. Scham und Trauer würden in seinem Ausdruck liegen. Schließlich war sein Körper alles, was er hatte, und das wusste er auch. Mit charakterlicher Schönheit konnte er noch nie punkten. Einst hatte sie den schönen Schein geliebt, der von ihm ausging. Doch dieser undurchsichtige Schleier fiel nach einer Zeit von ihm ab und zeigte seinen wahren Charakter. Sie empfand nichts mehr für ihn, außer das Mitleid, das sie jedem Menschen entgegenbrachte. Denn sie wusste, dass jeder Mensch Schmerzen hatte. Für einen Moment überlegte sie, ob sie ihren Ex-Freund anrufen sollte, doch sie entschied sich dagegen. Es wäre wohl unangebracht gewesen, nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war. Auch konnte sie sich eine gewisse Genugtuung nicht verkneifen. Gerechtigkeit gibt es nicht mehr häufig, aber sie scheint noch zu existieren. Er hat es verdient. Er hat es einfach verdient. Du hättest ihn ja angerufen, wenn er nicht soviel getan hätte. Wenn er dir nicht soviel getan hätte. Aber du kannst es eben nicht ungeschehen machen. Er wird immer ein Arschloch bleiben. Aiko blieb vor einer Telefonzelle stehen. Warum ausgerechnet jetzt, wo sie über einen Anruf nachdachte, hier eine Telefonzelle stand, war ihr schleierhaft. Während sie noch ein wenig grübelte, entschloss sie sich, diese als Zeichen zu werten und Deidara anzurufen. Seufzend tippte sie seine Nummer in ihr Handy. Nach einigen Wartetönen legte sie wieder auf. Anscheinend war er gerade nicht zu erreichen. Obwohl sie Angst hatte, nach Hause zu gehen, wusste sie, dass sie es musste. Früher war sie selten zu Hause bei Sasori gewesen und hatte oft bei anderen Männern übernachtet. Es war nicht so, dass sie ihn betrogen oder mehr als einfache Freundschaft für diese Männer empfunden hatte, aber sie fühlte sich wohl, wenn sie bei ihren Freunden war. Nun konnte sie sich nicht erklären, wie sie jemals so hatte leben können. Er hatte alles schweigend hingenommen, doch die kleinen Anzeichen, die sie beide vernachlässigt hatten, wuchsen zu einem Grauen heran, dass ihre Liebe beinahe zugrunde gerichtet hätte. Sasori hatte alles in sich hineingefressen, jede offensichtliche Ausrede, jede Lüge, selbst die Schnitte an ihren Armen. So gut es möglich war, versuchte er ihr bei ihren Problemen zu helfen, doch er konnte es nicht. Denn er kannte das Übel nicht, von dem sie befallen war, und auch sie wusste nicht, was los war. Doch es war eine innere Unruhe, die sie beschäftigte und nicht mehr losließ. Hätte sie die Zeit zurückdrehen können, so hätte sie keinen Moment gezögert. Es war ihre Schuld gewesen, dass sie beide auf eine unaufhaltsame Art und Weise daran zerbrachen. Eifersucht und Misstrauen waren die Folge ihres seltsamen Verhaltens gewesen, und obwohl er versucht hatte, Verständnis zu haben, war es ihm unmöglich gewesen, ihre Kühle zu ignorieren. Nachdem sie bereits zu viele Tränen wegen diesen Fehlern in ihrer Vergangenheit vergossen hatte, konnte sie nicht so weitermachen. Doch er zwang sie dazu. Mit einem tiefen Seufzen drehte sie den Schlüssel im Hausschloss herum und betrat die Räume ihrer eigenen inneren Leere. Kapitel 8: Ihr größtes Laster ----------------------------- „So klein und unscheinbar.“ Aiko schüttelte den Kopf. Vorsichtig, um nicht zu sagen beinahe ehrwürdig strich sie über den Plastikbezug. Natürlich würde sie das Tütchen nicht öffnen. Schließlich hatte sie es versprochen. Aber Sasori war heute nicht da, sodass sie sich das Pulver zumindest etwas näher ansehen konnte. Es war vermutlich eine Mischung. Luxury hätte ihr keinen hochwertigen Stoff geschenkt, denn der war teuer. Es wäre ja auch reichlich dumm von ihr gewesen, jetzt plötzlich wieder damit anzufangen. Immerhin hatte sie einen langen und schmerzvollen Entzug überstanden, um wieder ohne die kleinen verräterischen Tabletten, Pulver und Spritzen leben zu können. Und doch stellte sie sich von Zeit zu Zeit, wenn ihre Gedanken frei waren, die Frage, ob sie sich nicht alles eingebildet hatte. Vielleicht war sie noch nicht so clean, wie sie es angenommen hatte. Wie die Ärzte es ihr versprochen hatten. Konnte sie überhaupt ohne das Zeug leben? War diese Phase nun wirklich überstanden? Sie wusste sicher, dass es an ihr lag, sich von diesem Laster zu befreien. Aber sie hatte Angst davor. Denn in den letzten Jahren hatte sie so oft versucht, sich das Leben zu nehmen, dass nur Drogen sie davon abhalten konnten. Genauso, wie sie sich nicht Sasoris Liebe entziehen konnte, wollte sie auch nicht die Drogen hinter sich lassen. Ihre Augen waren fahl und glanzlos, als sie das Tütchen aufriss. Ich will es ja nicht einnehmen., dachte sie. Nur für einen Moment in den Händen halten. Ich will's mit nur mal ansehen. Und überhaupt besteht keine Gefahr, wenn ich es aufmache. Schließlich bin ich absolut sauber. Mit leicht zittrigen Fingern schüttete sie sich das grobe Pulver auf die Handfläche. Es hatte einen Lila-Stich. Aiko's Lächeln zuckte. Lila, die Farbe der sexuellen Frustration. Vielleicht war es ja eine Droge für sexuell Frustrierte. Vielleicht war es eine von den Drogen, die sie für alles Mögliche zugänglich machen sollte. Die sie etwas „auflockern“ sollte. Oder es war eine, die sie ganz ruhig machte. In einem solchen Fall war sie immer ganz still dagesessen und hatte die Welt mit anderen Augen gesehen. Bunter, schneller, noch verwirrender, als sie ohnehin schon war. Doch es war egal, was für eine Wirkung das Zeug hatte. Denn sie wollte nichts davon nehmen. Trotz allem konnte sie es nicht einfach wegwerfen. Es war schließlich ein Geschenk gewesen, und Geschenke warf man nicht weg. Mit ihrem Zeigefinger durchmischte sie das Pulver und fuhr dann über ihre Zunge. Natürlich nur, um den Geschmack zu testen. Zu ihrer geringen Überraschung hatte die Droge keinen bestimmten Geschmack. Doch die Wirkung würde sicher einschlagen wie eine Bombe. Zumindest dann, wenn Luxury mit seinen Anpreisungen Recht behalten würde. Es juckte sie regelrecht in den Fingern bei dem Gedanken daran, das Pulver ganz zu schlucken. Nein!, befahl sie sich. Du siehst, wo es dich hingebracht hat! Du weißt es doch! Sicher, für den Moment mag es dir helfen, aber es wird dir nur noch mehr wehtun. Du bist gerade erst über diese verdammte Sucht hinweg, also bau jetzt keinen Mist! Du weißt es doch. Du weißt doch, dass er es hasst. Wenn du das Zeug jetzt nimmst, wird er es sehen. Und er wird weinen. Er sieht dich! Vergiss es nicht... Mit neugewonnener Entschlossenheit stand sie auf und ließ das Päckchen auf dem Tisch liegen. Ihre Schritte führten sie ins Bad, um zu duschen, doch mit ihren Gedanken war sie immer noch bei diesem kleinen unscheinbaren Gegenstand auf ihrem Küchentisch. Nachdem sie ihre Haare geföhnt und sich ein Handtuch umgebunden hatte, wollte sie ein letztes Mal einen Blick auf die sonderbare Droge werfen. Ihr Entschluss war fest; sie würde dieses lästige Ding die Toilette hinunter spülen. Aiko begutachtete das Teil genau. Eigentlich irrsinnig, dass es ihr so schwerfiel, es zu entsorgen. Lächerlich. Es waren nur 20g einer Substanz, die sie nicht einmal genau hätte benennen können. Was sollte das schon für eine Anziehungskraft auf sie ausüben? „Was zur Hölle tust du da?“, fuhr Sasori sie wütend an. Er packte ihr Handgelenk, so dass sie dieses nicht mehr bewegen konnte. Die Verzweiflung in Aiko's Blick verwandelte sich in Trotz. „Ist doch wohl meine Sache, oder nicht?“, entgegnete sie und zog ihren Arm weg. Ihr Geliebter hielt sie weiter fest. Sie zerrte ein wenig an seiner Hand, um seinen Griff zu lockern, doch er ließ sich nicht abschütteln. Entnervt sagte sie etwas lauter: „Jetzt lass mich los, ja? Du nervst!“ „Dann leg dieses … dieses Ding weg! Ich dachte, wir hätten das geregelt! Keine Drogen, verstanden? Oder hast du vergessen, wie dreckig es dir damals ging?“, rief er. „Verdammt noch mal, Sasori! Ich wollte das nicht einnehmen! Ich wollte es bloß wegschmeißen.“ „Und woher hast du den Mist? Gekauft? Von einem deiner tollen neuen Freunde?“ Er betonte das Wort „Freunde“ besonders scharf. Entsprechend störrisch reagierte sie. „Das geht dich einen Scheißdreck an! Lass mich einfach in Ruhe! Geh weg!“ Er schien etwas ruhiger geworden zu sein. Sanft strich er über ihr Gesicht. „Hey... Ich möchte nur dein Bestes, das weißt du doch. Ich liebe dich! Sei bitte nicht so abweisend. Du musst zugeben, dass du bei mir nicht anders reagiert hättest, wenn unsere Rollen vertauscht wären. Ich mach das jetzt weg, ja?“ Aiko nickte. Eine Träne lief an ihrem Gesicht herunter. „Es ist schwer“, murmelte sie. „Was ist schwer?“, fragte er erstaunt. „Ohne dich. Ohne dich ist es schwer.“ „Ich hab's dir doch schon so oft gesagt, Schatz. Ich werde immer bei dir bleiben, solange du mich haben willst.“ „Du hast mich angelogen. Warum? Ich dachte, du liebst mich.“ „Jetzt fang nicht wieder damit an. Wir sind doch damit durch, meinst du nicht? Und diese Drogen brauchst du nicht. Du hast sie nie gebraucht.“ „Früher habe ich sie nicht gebraucht. Aber ich habe sie trotzdem genommen. Jetzt, wo ich sie brauche, darf ich sie nicht mehr nehmen.“ Sasori nahm sie in den Arm und küsste ihren Hals. „Auf Wiedersehen, mein Herz“, flüsterte er. „Wohin gehst du?“, fragte sie. Die Antwort kannte sie jedoch bereits. „Zurück.“ Dann ging er fort. Sie wünschte, sie hätte ihn festgehalten. Doch das hatte keinen Sinn. Apathisch starrte sie auf das Drogenpäckchen in ihrer Hand. „Hallo?“ „Hallo, T!“ Aiko kicherte. „Was... gibt es?“ Seine Stimme klang reserviert. „Ich wollte mich nur mal sooooo melden.“ „Aha. Einfach mal soooo“, ahmte er ihr übertrieben langes o nach. „Wer hatt'n dich vorhin...nee...ich meine gestern. Wer hat dich denn gestern so verschlagen? Sahst aus wie so ein Asozialer.“ „Aiko. Hast du gerade was intus?“ „Quatsch.“ Sie kicherte erneut. „Ich doch nicht.“ Ihr Blick fiel auf das leere Tütchen, das vor ihr auf der Küchenplatte lag. „Hey, ich habe jetzt wirklich keine Lust drauf, dich high zu erleben. Wir sehen uns dann Mittwoch.“ Er war hörbar genervt. „Haaaalt, warte!“, plärrte sie durch den Hörer. „Was?!“ „Wo wohnst du? Ich mag dich besuchen kommen.“ T-Pain seufzte. „Hör zu: Mir ist es scheiß egal, was du so in deiner Freizeit schluckst, aber nerv' mich nicht dabei, klar?“ Sie schwiegen kurz. Dann erwiderte Aiko lachend: „Würde es dich nerven, wenn ich etwas ...Bestimmtes von dir schlucken würde?“ Er legte ohne ein weiteres Wort auf. Die Rothaarige legte sich auf das Sofa und wälzte sich kichernd umher. Nur ein paar Minuten später sprang ihr Klingelton an. Es war Luxury. „Hast du vielleicht ein wenig Zeit für mich, Süße?“, wollte er wissen. „Vielleicht...“, antwortete sie zu seiner Überraschung. „Okay. Super! Hast du Hunger?“ „Eigentlich nicht...nöööö.“ „Hm. Wie wäre es, wenn du einfach zu mir nach Hause kommst? Ich wohne in der 3rd Alley in dem blauen Haus.“ „Jo, klar. Ich bin in ein paar Minuten bei dir. Bis dann.“ Wäre sie nicht ein klein wenig high gewesen, hätte sie seine Einladung ohne Umschweife ausgeschlagen. So ging sie jedoch tatsächlich zu ihm. Was genau er allerdings vorhatte, war ihr zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst. Schließlich stand sie vor seiner Haustür und klingelte. Luxury öffnete. Er sah mal wieder perfekt aus. „Hey, Kleines“, grinste er. „HAAAALLO!“, begrüßte sie ihn überschwänglich und fiel ihm um den Hals. Dieses doch eher ungewöhnliche Verhalten von Aiko war ihm dann aber doch ein wenig suspekt. Er zog eine Augenbraue nach oben und sah ihr in die Augen. „Pupillen wie Autoreifen“, stellte er fest. Er dachte kurz nach. Dann wurde sein Grinsen breiter. „Hast du es also doch genommen. Ich hab doch gewusst, dass dir das gefallen wird. Gutes Zeug, nicht wahr?“, sagte er etwas leiser und zog sie weiter in die Wohnung. Sie konnte nicht leugnen, dass er Geschmack hatte. Alles war ideal aufeinander abgestimmt, die Möbel waren modern und seine Einrichtung passte genau zu seinem Stil. Mit einem unwiderstehlichen Blick und einer Geste lud er sie ein, sich neben ihn auf das Sofa zu setzen. Vernebelt wie sie war, folgte sie seiner stummen Aufforderung. „Ja. Das Zeug ist subba“, murmelte sie und kuschelte sich ein wenig an ihn. „Möchtest du noch ein wenig davon? Ich habe jede Menge für dich...“, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie schüttelte jedoch den Kopf. „Man muss es ja nich übertreiben, oder?“, erwiderte sie. Für einen kurzen Moment machte er ein ernstes Gesicht, doch dieser Ausdruck wich augenblicklich wieder einem verführerischen Lächeln. Seine Absichten waren ähnlich durchsichtig wie sein ohnehin halboffenes Hemd. Es wurde schnell klar, worauf er aus war, sodass Aiko es selbst in ihrem willensschwachen Zustand bemerkte. Doch so recht einlenken konnte sie aus einem ihr unerfindlichen Grund nicht. Luxury erkannte seine Chance und wollte diese unter keinen Umständen in den Wind schlagen. Guter Dinge lief er summend in die Küche. Ein Korken knallte. Kurz darauf kam er mit zwei Sektgläsern wieder und setzte sich wieder zu ihr. „Danke“, murmelte sie, nahm ihm eines der Gläser aus der Hand und kippte es in einem Zug herunter. Er lachte leicht affektiert. „Du bist ja eine richtige Trinkerin“, sagte er. Behutsam zog er ihr Bein zu sich hin und stellte die beiden Gläser zur Seite. „Weißt du, worauf ich jetzt Lust hätte?“, fragte er grinsend. Aiko schüttelte den Kopf. Sie hatte keinen Schimmer. Mit einem noch breiteren Grinsen beugte er sich zu ihr hin und flüsterte ihr etwas ins Ohr, so leise, dass sie es kaum verstand, und doch so deutlich, dass ihr das Blut in den Kopf schoss. Einen Moment lang sahen sie sich einfach nur an. Dann ging er zur Tat über. Es war nur ein Anfang gewesen. Nur ein Kuss. Doch vor ihrem inneren Auge spielte sich etwas anderes ab. Vorbeirauschende Bilder, unscharf, und doch klar zu erkennen. Sasori schrie auf. „Warum?!“, brüllte er. Ihr ganzer Kopf dröhnte. Seine Schreie wurden immer lauter. Sie konnte sehen, wie er sich auf dem Boden zusammen krümmte. Die Stelle, wo eigentlich sein Herz gewesen wäre, war nur ein riesiges schwarzes Loch, aus dem eine große Menge Blut floss. Eine kalte, erstickende Angst packte Aiko direkt dort, wo ein unüberwindbares Eisenschloss den Weg hätte versperren sollen. An einem Ort, den sie schon lange vergessen wollte. Warum er noch existierte wusste sie nicht. Doch wie hätte sie etwas so Mächtiges, so Starkes je wirklich wegsperren können. Wie hätte sie vergessen können, was geschehen war. Ihr ganzer Körper bebte. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn und ihr Atem ging kurz. „Ist alles okay?“, fragte Luxury, der sich nun doch Sorgen um sie machte, denn sie sah nicht gerade gesund aus. Sie sah ihn mit verklärtem Blick an. „Alles … alles in Ordnung“, hauchte sie. „Ich...Kann ich vielleicht ein Glas Wasser haben?“ „Ja, natürlich“, erwiderte er und stand sofort auf, um ihr etwas zu trinken zu holen. Nachdem sie das Glas leergetrunken hatte, ging es ihr wieder besser. Auch ihr Kopf fühlte sich nicht mehr so schlimm an. „Entschuldige. Ich bin es einfach nicht mehr gewohnt“, sagte sie ruhig. Er winkte ab und nahm sie erneut in den Arm. Doch sie fühlte sich unwohl bei ihm. Sie wusste genau, dass es falsch war hier zu sein. Erneut versuchte er, sie durch seine ganz eigene Körpersprache zu etwas zu bewegen, was er von ihr niemals bekommen sollte. Doch trotz des kleinen Anfalls, den sie gehabt hatte, ließ er nicht von ihr ab und presste seine Lippen wieder auf ihre. Sie hätte ihn wegdrücken können. Theoretisch. Dennoch fehlte ihr die Kraft dazu. Ihr Kopf begann wieder stärker zu dröhnen. Warum gehst du nicht einfach? Was machst du eigentlich noch hier? Du willst doch eigentlich gar nichts von ihm. Aber es ist so warm...So kuschelig...Nein, vergiss es! Hör auf! Raff es doch endlich! Du weißt, was er davon halten würde. Stell dir sein Gesicht vor. Er sieht dich doch! Schämst du dich nicht? Verdammte Schlampe! Verdammte... Sie hielt sich den Kopf. Alles schmerzte und pochte in ihr. „Okay“, sagte Luxury bestimmt und setzte sich weiter weg. „So geht das nicht! Wenn du keine Lust auf mich hast, dann sag's doch gleich!“ Er hörte sich etwas sauer an. „Was?“ Aiko sah ihn aus trüben Augen an. Ihr Körper zitterte und ihr war unendlich heiß. Als er sie so sah, kam in ihm doch eine gewisse Besorgnis auf. Er legte seine Hand auf ihre Stirn. „Glühend heiß“, kommentierte er. Sie konnte nicht mehr klar denken. Ihr Körper war ein Phänomen für sie. Es war beinahe so, als würde er eine schlechte Absicht wie eine Krankheit abwehren. Doch es war nicht immer so gewesen. Erst nachdem dieser Vorfall geschehen war, fühlte sie sich so. Dumpf hörte sie noch, wie der Silberhaarige ihren Namen rief. Seine Stimmung war von besorgt zu panisch gesprungen. Er schüttelte sie. Die Erde schien zu beben. Sie drehte die Augen nach oben. Die Tastentöne seines Handys nahm sie kaum wahr. Das Einzige, was sie noch hörte, war ihr eigener Atem, der laut und ungleichmäßig war, bevor ihr die Sinne schwanden und Luxury's Designerwohnung wich einer endlosen Schwärze. Kapitel 9: Im Abgrund --------------------- „Würde es dich nerven, wenn ich etwas ...Bestimmtes von dir schlucken würde?“ Entnervt drückte T-Pain den Hörer in die Gabel. Es war wieder einer dieser Momente, in denen er sich fragte, wie tief man eigentlich sinken konnte. Hatte Aiko nicht behauptet, sie wäre vollkommen sauber und würde nur noch des Geldes wegen ticken? Das war also gelogen gewesen. Er schüttelte den Kopf und ging in die kleine Einbauküche seiner recht ordentlich gehaltenen Wohnung. Solche nutzlosen Gespräche machten hungrig. Wie er es gewohnt war, legte er sich eine Pizza in die Mikrowelle und wartete. Eigentlich wollte er nicht über Aiko und ihr anscheinend doch vorhandenes Drogenproblem nicht weiter nachdenken. Trotzdem kam er nicht umhin, zumindest kurz daran denken zu müssen, dass ihr in ihrem Zustand alles passieren hätte können. Sie könnte auf der Straße einem Polizisten begegnen und ihm brisante Dinge über das Geschäft ausplaudern. Oder sie könnte so einen Schläger treffen, der irgendein Problem mit ihr hat, oder... Er lachte, gerade so, als wolle er seine Sorgen vor sich selbst herunterspielen. War sie nicht ein großes Mädchen? Ja, das war sie. Es gab keinerlei Grund, sich auf welche Weise auch immer um sie zu sorgen. Vollkommen absurd. Es war doch schließlich ihre eigene Schuld, wenn sie Drogen nahm. Es war nicht sein Problem. Trotzdem hatte er ein ungutes Gefühl, als er sich seine Pizza aus der Mikrowelle nahm und sie zum Abkühlen auf einen Teller legte. Zwar versuchte er, möglichst nicht über die Möglichkeiten nachzudenken, was Aiko alles zustoßen könnte, doch irgendwie wollte ihm das nicht so recht gelingen. Erneut schüttelte er sich, als würde er damit auch die lästigen Gedanken abschütteln können. Das könnte ihr alles genauso gut im nüchternen Zustand passieren. Es ist nicht deine Aufgabe, auf sie aufzupassen. Außerdem hat sie bis jetzt ja wohl auch überlebt. Komm schon, ist doch egal. T-Pain schaltete das Radio ein. Ein starker Bass hämmerte aus seinen Lautsprechern. Katy Perry und Timbaland. Wie er dieses ganze Zeug hasste. Er wechselte den Sender. B-Tight. Seit wann kam der denn im Radio? Schulterzuckend ließ er das Lied an, setzte sich auf seinen Sessel und aß seine Pizza. Während er an seinem Lederarmband herumspielte, wartete er auf Big Key. Es war Mittwoch Abend, der übliche Zeitpunkt für ihre Wochenbesprechung. Schließlich arbeiteten sie in der Drogenszene, da musste einiges geplant und vorbereitet werden. Seine Gang unterschätzte diesen Job. Es mussten nicht nur Einnahmen und Ausgaben überprüft werden, sondern auch der Bestand. Wenn nötig, musste nachbestellt werden. Und das Nachbestellen war immer eine Sache für sich. Die Dealer, von denen er das Zeug bezog, waren schließlich keine harmlosen Schuljungen. Das waren größtenteils richtige Killer. Natürlich hätte er es vor seinen Jungs nie zugegeben, doch er hatte bei jeder Bestellung Angst, einen Fehler zu begehen. Das Geld für die Drogen zählte er davor stets mehrere Male durch, sodass ja kein Schein fehlte. Schließlich konnte das auch als Betrugsversuch gewertet werden, und diese Menschen hatten ihre Finger schneller am Abzug als er eine Erklärung dafür sagen könnte. Als er gerade in sein letztes Stück Pizza hinein beißen wollte, vibrierte sein Handy. Für ihn gab es zwei Möglichkeiten, wer es sein könnte: Erstens Big Key, der das Treffen verschieben musste oder sich verspätet hatte. Normalerweise war er ein pünktlicher Mensch und achtete auf die Einhaltung der Meetings, aber er war auf der Flucht vor den Behörden, sodass er ab und zu untertauchen musste. Zweitens Aiko, die ihn in ihrem Drogenrausch weiter nerven wollte. Er hielt dies für die wahrscheinlichere Variante. Doch er täuschte sich. Es war Luxury, der verstört in den Hörer brabbelte. „Ganz langsam“, beruhigte T-Pain seinen aufgebrachten Kumpel. Dieser redete etwas deutlicher. „Du hast WAS?! Wie konnte das passieren? Du hast doch gewusst, wie das Zeug einschlägt! ...Fuck! Hast du ein Rad ab, oder was? ...Ja, verdammt. Hol einen Scheiß-Krankenwagen und sag denen, du wüsstest von nichts. Oder sag am Besten nichts. Ich komm zu dir!“ T-Pain schmiss den Rest Pizza auf den Boden, schnappte sich seine Jacke und rannte wie ein Wahnsinniger die Straße herunter. Er hatte gewusst, dass etwas passieren würde. Was er allerdings nicht gewusst hatte, war, dass Luxury ihr Fuel gegeben hatte. Eine Droge, die schon in geringen Mengen ihre Wirkung zeigte. Ein ganzes Tütchen grenzte bereits an eine lebensgefährliche Überdosis. Dieser Idiot! Er hat es doch auch gewusst! Wollte er sie umbringen? Was zur Hölle hat er sich dabei gedacht? Scheiße, Mann. Außer Atem und mit einer unglaublichen Wut im Bauch kam er am Unglücksort an. Er stürzte in die Wohnung und stieß Luxury, der über die bewusstlose Aiko gebeugt war, zu Seite. Während er ihren Puls suchte, fuhr er den in seinen Augen Schuldigen an: „Du hast ihr Fuel verabreicht, Mann! Was hab ich dir darüber gesagt?! SPARSAM! Und was machst du? Knallst ihr gleich die ganze Tüte rein!“ „Woher hätte ich denn wissen sollen, dass sie alles nimmt? Ich wollte doch nur, dass sie ein bisschen lockerer ist! Dachte halt, mit ein bisschen Fuel und Sekt...“, gab der nicht minder aufgewühlte Luxury zurück. Sein Boss schlug ihn ins Gesicht. „Auch noch ALK?! BIST DU JETZT TOTAL BESCHEUERT ODER WAS?!“ Wie ein wildes Tier ging T-Pain auf ihn los. Blind vor Wut schlug und trat er auf ihn ein. Luxury hielt seine Arm vors Gesicht und wehrte sich. Die beiden lieferten sich eine gefährliche Prügelei, bis ein Notarzt durch die offene Tür hereinkam und sie trennte. Dann passierte alles sehr schnell. Aiko wurde auf eine Trage gelegt und mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gefahren. T-Pain blieb bei ihr. Luxury hielt es deshalb für angebracht, zu Hause zu bleiben, da er auf eine Fortsetzung der Schlägerei nicht sonderlich scharf war. Im Krankenhaus wurde er in den Warteraum geschickt. Er war noch nie in einer solchen Situation gewesen und fühlte sich dementsprechend von den Ereignissen überfahren. Eine Krankenschwester versuchte, ihm zu entlocken, was genau Aiko vor ihrem Zusammenbruch genommen hatte, doch er schwieg. Er hatte Verantwortung gegenüber seinen Leuten, und die konnte er nicht aufs Spiel setzen. Die Droge war ohnehin noch recht neu auf dem Markt und es hätte den Ärzten nichts gebracht, ihren Namen zu erfahren. Für einigen ungewisse Stunden hatte er einfach nur Angst. In seinem Geschäft machte man sich entweder nie Sorgen um die Zukunft, oder man tat es ständig. Er gehörte zu letzterer Gruppe. Was wäre, wenn sie es nicht überleben würde? Es wäre fahrlässige Tötung. Die Drogen oblagen seiner Verantwortung und er hatte dafür zu sorgen, dass keiner sie missbrauchen würde. Wenn die Polizei Luxury statt ihn belangen würde, wäre sein Leben genauso verwirkt. Seine Partner kannten keine Gnade. Er wäre tot, bevor die Sonne aufging. Während er wartete, begann er, alle möglichen Versprechen zu geben. „Wenn sie es schafft,“, murmelte er vor sich hin, „gehe ich jeden Sonntag in die Kirche.“ Obwohl er wusste, dass er dies im Ernstfall niemals einhalten würde, glaubte er fest daran, es könnte helfen. Sein Zeitgefühl war verschwunden. Er wusste nicht, wie lang er da gesessen hatte. Das Einzige, das für ihn zählte, war, dass ein Arzt hereinkam. Sein Gesichtsausdruck war freundlich und er winkte T-Pain zu sich. Die paar Sekunden, die der Arzt wartete, bevor er die erlösenden Worte sprach, kamen ihm endlos lange vor. Dann sagte der Mann im weißen Kittel: „Sie ist über den Berg. Wenn Sie wollen, können Sie jetzt zu ihr.“ Ein unbeschreibliches Glücksgefühl breitete sich in ihm aus. Sie hatte überlebt. Das Horrorszenario, das er sich schon so lebhaft ausgemalt hatte, war nicht eingetreten. Für ihn stand fest, dass er die Droge erst einmal aus seinem Repertoire nehmen würde. Und für Luxury würde es auch noch ein Nachspiel haben. Doch das war gerade Nebensache. Es zählte nur, dass sie lebte. Als er in das Krankenzimmer kam, schlief Aiko noch. Der Arzt hatte ihm gesagt, dass sie bald aufwachen würde. Leise setzte er sich auf einen Stuhl neben ihrem Bett und betrachtete sie. Eigentlich war er kein Fan von Poesie und Lyrik, aber wenn er sie ansah, fiel ihm sofort der Begriff „Blume der Unterwelt“ ein. Sie war der Typ Mensch, dem er sofort zutraute, die Freundin eines richtig großen Drogenbosses zu sein. Obwohl sie keine klassische Schönheit war, faszinierte sie jeden in der Gang auf ihre Art. Es war ihm in den letzten Tagen verstärkt aufgefallen. Luxury's und Sorrow's Interesse war von ihrer ersten Begegnung bereits mehr als offensichtlich gewesen. Doch normalerweise gab Luxury schneller auf, wenn er einen Korb erhalten hatten. Er hatte außerdem verdächtig viel von ihr geredet, als T-Pain mit ihm im Englischkurs gesessen war. Es wäre absurd gewesen, seine Zuneigung zu ihr als Verliebtheit oder gar Liebe zu bezeichnen. Bei dem Gedanken daran musst T-Pain kurz lächeln. In seinen Augen war Luxury einfach nur vernarrt in das rothaarige Mädchen. Es ging anscheinend nicht in seinen Kopf, dass ihm etwas so Besonderes entgehen sollte. Doch wenn sie es schaffte, selbst den größten Aufreißer, der ihm bekannt war, in ihren Bann zu ziehen, dann bedeutete das schon einiges. Immerhin war Luxury bereits verzweifelt genug gewesen, zu Drogen zu greifen, nur um sie ins Bett zu bekommen. Er verwarf seine Gedanken. Vielleicht interpretierte er sein Verhalten einfach ein wenig über. Ohnehin war das alles jetzt unwichtig. Aiko öffnete die Augen. Ein heller Lichtstrahl fiel in ihr Gesicht. Unsicher sah sie sich in dem großen weißen Raum um. Noch bevor sie die piepsenden Geräte, die großen Fenster oder den neben ihr sitzenden T-Pain wahrnahm, bemerkte sie den Geruch. Es roch streng nach Krankenhaus. Die Gedanken in ihrem Kopf rasten. Was ist passiert? Was war los? Warum bin ich im Krankenhaus? Hm...Luxury...Was war mit ihm? Ich war bei ihm... Hat er...Er hat mich geküsst...Warum war ich bei ihm? Wie kam ich auf diese Idee...? „Was ist … Was ist geschehen?“, fragte Aiko mit müder Stimme. Ihr Boss zog etwas hektisch seine Mütze vom Kopf. „Du bist wach?“, fragte er überflüssigerweise zurück. Sie sah ihn dementsprechend an. „Sieht so aus“, fügte sie hinzu. Er kratzte sich nervös am Hinterkopf. Vermutlich wusste er nicht, was er sagen oder wo er anfangen sollte. Nachdem sie ihn für ein paar Sekunden erwartungsvoll angesehen hatte, gab er ihr eine kurze Erklärung. „Luxury hat dir Fuel gegeben. Und das hat dich so umgehauen, dass du bei ihm dann eben zusammengeklappt bist. Überdosis.“ Zwar sagte er es in einem beiläufigen Ton, doch Aiko konnte in seinen Augen sehen, dass er sich das Ganze mehr zu Herzen ging, als er zugeben wollte. Es wunderte sie nicht. Als Verantwortlicher hätte er viel verlieren können. Sie setzte sich im Krankenhausbett auf und fragte: „Was für'n Ding?“ T-Pain lachte trocken. „Fuel. Ist noch ziemlich neu auf dem Markt. Es reicht allerdings schon ziemlich wenig und du bist stoned“, erwiderte er und starrte aus dem Fenster. Sie betrachtete die Schläuche in ihren Armen und sah sich erst einmal richtig um. Irgendwann sagte er dann: „Bullshit. Ich dachte, du wärst clean. Hast du doch gesagt, oder nicht?“ Aiko zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich hoffe mal, du willst mir jetzt nicht die Schuld daran geben! Schließlich hat Luxury es doch verpeilt, mir die Dosis zu nennen. Und überhaupt, das geht dich ja wohl einen Scheiß an. Bis jetzt war ich auch clean. Und ich habe nicht vor, so etwas nochmal zu machen. Das war nur so ein einmaliges Ding“, erklärte sie. „Einmaliges Ding? Scheiße, du hättest draufgehen können! Hast du eigentlich eine Ahnung, was mich das gekostet hätte? Die hätten mir den Arsch aufgerissen!“, rief er wütend. Sie sah ihn etwas enttäuscht an. „Wenn das alles ist, was dich interessiert.“ Enttäuscht war nicht das richtige Wort. Sie hatte keineswegs erwartet, dass er sich wirklich um sie scherte. Aber ein wenig mehr Taktgefühl hätte sie sich schon gewünscht. „Du weißt, was ich meine. Stirb einfach nicht, okay?“, murmelte er entschuldigend. „Wenn es sich einrichten lässt“, gab sie trocken zurück. Sie schwiegen wieder. T-Pain hatte seinen Kopf in seine Hände gestützt und raufte sich die Haare. „Kann ich dich mal was fragen?“, wollte er dann von ihr wissen. „Klar.“ „Warum?“ „Was, warum?“ „Warum hast du das Fuel genommen, obwohl du eigentlich sauber bleiben wolltest?“ Einen Moment lang brauchte Aiko zum Überlegen. Dann gab sie Antwort: „Weil ich vergessen wollte.“ Er sah auf. „Und? Hat es funktioniert?“, wollte er dann wissen. Sie lachte leise. „Nein. Nicht wirklich, zumindest. Aber danke.“ „Danke wofür?“ „Dafür, dass du nicht gefragt hast, was ich vergessen wollte.“ Sie meinte es ehrlich. Er war wohl doch nicht ganz so unsensibel, wie sie angenommen hatte. Selbst wenn er gefragt hätte, wäre es aber vermutlich egal gewesen. Sie hätte ihm nicht geantwortet. Nicht, weil es ihn nichts anging. Vielleicht hätte sie es ihm trotzdem erzählt. Aber sie redete prinzipiell mit keinem Menschen darüber. Außer mit Sasori. Er war der Einzige, dem sie alles darüber sagen konnte, ohne dass er sie für verrückt hielt. Diese eine Sache, die ihr ganzes Leben für immer verändert hatte, war einfach zu schmerzhaft, als dass sie je wirklich darüber reden könnte. Nicht mit jemandem, dem sie so wenig vertraute. Außerdem hätte sie dann garantiert weinen müssen, und sie wollte auf keinen Fall vor T-Pain Schwäche zeigen. Auf einmal öffnete sich die Tür. Sasori streckte seinen Kopf herein und winkte ihr zu. Aiko lächelte. Ihr erster Besucher stand auf und verabschiedete sich mit den Worten, er wolle sie nicht weiter stören. Dann kam Sasori an ihr Bett. „Hey“, sagte sie zu ihm. „Ich hätte die ja einen Blumenstrauß besorgt, aber die hatten unten schon zu“, erzählte er, ohne sie zu begrüßen. „Ist doch nicht nötig“, winkte sie ab. Sein Blick wurde trauriger. „Was machst du auch?“ Er seufzte. „Du hast es mir doch versprochen, dass du damit aufhörst! Ist dir das denn gar nichts wert?“ „Du hast auch vieles versprochen.“ „Warum musst du mir das ständig vorhalten? Ich meine, man muss doch nicht immer auf den Fehlern des anderen herumreiten.“ Aiko verdrehte die Augen. „Dann lass du es auch. Ist jetzt eben so gelaufen. Das war das letzte Mal, wirklich“, sicherte sie ihm lustlos zu. „Wenn du meinst“, sagte er leise und hielt dabei ihre Hand. Er sah ihr nicht in die Augen, wie er es immer tat, wenn ihm etwas unangenehm war. Sie wussten beide, dass es eine Lüge war. Und doch sagten sie beide nichts dazu und spielten sich selbst vor, es wäre nichts. Sie war wieder dabei, ihre Tränen zurückzuhalten. Warum musste es immer soweit kommen? Warum konnte sie ihm nie die Wahrheit sagen, obwohl er sie bereits kannte? Ihr ganzes Leben hatten sie so verbracht. Mit Lügen. Doch sie hatte einst beschlossen, dass das alles vorbei sein sollte. Sie wünschte sich sehnlichst, es hätte funktioniert. Sasori nahm sie trotz seiner berechtigten Zweifel an ihrer Ehrlichkeit in den Arm. Sie zogen es den Nachmittag über vor, über belanglose Dinge zu reden. Aiko war froh, dass sie für ein paar Stunden abgelenkt war. Es war eine Abwechslung, mal wieder über Itachi und seine Freundin Yukiko zu reden, die jetzt schwanger geworden war. Als Aiko es erfuhr, musste sie grinsen. Yukiko's Eltern würden sicher alles andere als erfreut darüber sein, Oma und Opa zu werden, zumal sie Itachi nicht einmal besonders gut leiden konnten. Er würde wohl noch mehrere Abende damit verbringen müssen, einen guten Eindruck bei ihnen zu hinterlassen, bis sie ihn endlich akzeptierten. Wenn überhaupt. Immerhin hatte er ihnen gesagt, er sei arbeitslos. Das warf kein gutes Licht auf seine Finanzen, die jedoch eigentlich nicht gerade schlecht dastanden. Er hätte ihn allerdings auch schlecht seinen richtigen Job sagen können. Kunstfälscher war nicht der beliebteste Beruf für einen angehenden Schwiegersohn. Überhaupt hatte Itachi ständig lügen müssen, auch vor seinen eigenen Eltern. Kein Wunder. Bis zu ihrem Tod kurz vor seinem 14. Geburtstag waren sie fest davon überzeugt gewesen, er wäre mit Aiko zusammen gewesen. Und das nur, um einen Grund dafür zu haben, ständig weg zu sein. In Wirklichkeit war er in dieser Zeit seinem Geschäft nachgegangen. Die Stunden vergingen wie im Flug, bis ein junger Arzt hereinkam und erklärte, sie müsse jetzt schlafen. Ihr Protest hatte ihn kaltgelassen, sodass sie Sasori wegschicken musste. Nachdem sie noch eine Weile wachgelegen hatte, über dies und jenes nachdenkend, was in den nächsten Wochen auf sie zukommen würde, fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Kapitel 10: Eingeständnis ------------------------- „Na, los! Mach schon!“, zischte Aiko genervt. Doch Mario gelang es nicht, mit so wenig Anlauf über den schier endlos wirkenden Graben zu springen, so lange sie es auch versuchte. Aber wie hätte er denn auch Anlauf nehmen können, wenn direkt hinter ihm ein unbesiegbares, mit Stacheln besetztes Schildkrötentier war, das sich Bowser nannte und nicht weichen wollte. Frustriert gab sie auf und packte ihren Nintendo in die Tasche. Eigentlich hatte Sasori sie hier am Krankenhaus abholen wollen, aber er kam einfach nicht. Es enttäuschte sie, dass er es vergessen hatte. Diese Tatsache verstärkte ihre ohnehin schon schlechte Laune. Zuletzt hatte ein Arzt ihr noch lang und breit die Risiken des Drogenkonsums herunter gebetet, ganz als hätte sie diese nicht bereits am eigenen Leib erlebt. Er hatte sie hartnäckig dazu überreden wollen, einen Entzug zu machen, doch das wollte sie sich auf keinen Fall antun. Nicht noch einmal. Sie verstand auch nicht, was die Angestellten im Krankenhaus überhaupt von ihr wollten. Schon der Krankenschwester hatte sie versprechen müssen, es sei das letzte Mal und sie würde auf alle Fälle mit den Drogen aufhören. Das war auch das, was sie tatsächlich vorhatte. Aber sie hatte ihr nicht recht glauben wollen. Aiko ärgerte sich auch maßlos über ihren Rückfall. Sie wusste, dass sie Sasori enttäuscht hatte. Und sie wusste ebenfalls, dass sie sich das nicht noch einmal erlauben dürfte. Jedes Mal könnte das letzte Mal sein. Es könnte wieder alles schief gehen und das wollte sie, ganz egal wie, verhindern. Langsam begann sie sich um ihren Freund zu sorgen. Wenn ihm nun etwas zugestoßen war und er deshalb nicht kommen konnte? Es wäre eine plausible Erklärung für sein ungewöhnlich unzuverlässiges Verhalten. Das Warten beunruhigte sie. Nach einer Stunde, in der sie zahllose Male versucht hatte, Sasori auf irgendeine Art und Weise zu kontaktieren, gab sie es auf und lief nach Hause. Ein Weg von sieben Kilometern, den sie nur ungern zu Fuß ging, doch es blieb ihr nichts anderes übrig. Als sie nicht mehr weiter wusste und gerade einen Passanten fragen wollte, in welche Richtung sie denn weitergehen müsse, ging ihr Handy los. Bereits der unruhig flimmernde Display teilte ihr in blauer Schrift mit, dass ihr Exfreund versuchte, sie zu erreichen. Nach einigen Sekunden des Überlegens ging sie dann doch dran. „Was gibt’s?“, fragte sie forsch. „Wow. Komm mal runter. Ich dachte, du hättest mich angerufen. Aber vielleicht habe ich mich auch getäuscht. Hab's die ganze letzte Woche versucht. Wo warst du?!“, gab er mit vorwurfsvollem Unterton zurück. Ihr fiel auf, dass sie seine Stimme ein klein wenig vermisst hatte. Aber diese Erkenntnis drängte sie zurück. „Ich war im Krankenhaus“, antwortete sie knapp. „Du auch? Du glaubst nicht, was mir passiert ist...“ „Du hast deinen Arm in die Luft gesprengt.“ Sie wusste genau, wie sie ihm die Freude an etwas nehmen konnte. Er gab einen undefinierbaren Laut von sich. „Wie bitte?“, hakte sie nach. „Wer hat dir das erzählt?“ „Itachi. Er hat mich gleich angerufen, nachdem es passiert ist.“ Ein wenig Besorgnis mischte sich in ihre unterkühlte Stimme. „Wie geht es dir denn … damit?“, fragte sie vorsichtig. „Ich bin entstellt.“ Er klang traurig. „Ach komm. Es gibt bestimmt Prothesen für sowas.“ Er lachte bitter. „Hast du einen Plan, wie teuer so etwas ist? Dafür müsste ich vier Jahre durcharbeiten, und das ohne Verpflegung und Miete.“ „Also entschuldige mal, aber da bist du auch selbst Schuld. Ich habe dir immer gesagt, dass Feuerwerkskörper gefährlich sind!“, sagte sie etwas lauter. „Ist ja echt süß, wie authentisch du Interesse heuchelst.“ „Ich heuchle nicht.“ „Du gibst es also zu!“ „Warst du nicht eben noch todunglücklich wegen deinem Arm?“ „Du lenkst a-hab!“, flötete er in die Leitung. Aiko zeigte sich genervt. „Kauf dir einen Keks. Nur weil du mich ausgenutzt, hintergangen und auf grausame Art und Weise verletzt hast, heißt das nicht, dass du mir total egal bist. Immerhin habe ich vor langer Zeit mal irgendetwas für dich empfunden.“ Sie konnte vor ihrem inneren Auge sehen, wie er in sich zusammenfiel. „Und Klospülung“, nuschelte er. „War nicht so gemeint, Deidei. Das mit dem Streit tut mir übrigens leid.“ „Welcher Streit?“ „Ist ja schon eine Zeit her, aber wir haben und seitdem nicht mehr gesehen, also... Entschuldigung angenommen?“ Er wirkte verwirrt. „Öhm... wenn du meinst?“ Seine Überraschung über ihren plötzlichen Sinneswandel war offensichtlich. Nach einer kurzen Denkpause fragte er dann: „Weshalb warst du eigentlich im Krankenhaus?“ Aiko räusperte sich auffällig. „Nur so eine Magenverstimmung. Nichts Ernstes“, antwortete sie schnell. Nicht einmal Deidara, der in punkto Einfühlsamkeit in der Regel nicht besonders gut abschnitt, kaufte ihr diese Lüge ab. „Warum willst du mir nicht sagen, warum du dort warst?“ „Weil ich keine Lust habe, mir auch noch von dir Vorwürfe anhören zu müssen.“ „Wieso sollte ich dir irgendwelche Vorwürfe machen? Ich bin ja nur dein Exfreund.“ „Weil ich unter Drogen zusammengebrochen bin.“ Statt eines Vorwurfs ertönte jedoch ein schallendes Lachen. „Du hast … was? Oh Gott, bist du blöd!“ Deidara konnte sich kaum halten. Sie fand es jedoch überhaupt nicht witzig. „Warum lachst du jetzt so dämlich?“ „Weil … ich habe ja gewusst, dass du nicht sooo schnell dazulernst, aber ich dachte mir, das mit deinem wunderbaren perfekten Super-Freund hätte dir mal ein bisschen auf die Sprünge geholfen, dass Drogen eventuell gefährlich sind. Du bist also wieder im Geschäft?“ „War wirklich schön, dich mal wieder zu sprechen.“ Sie legte auf. Wie schaffte er das nur immer? So viel Unsensibilität war sie sonst nur von sich gewohnt. Die Trauer hatte sie erneut überfallen. Sie hatten ja recht mit ihren Anschuldigungen. Es war nicht das erste Mal, dass Aiko einen Fehler mit furchtbaren Folgen wiederholte. Bilder, die sie längst verdrängt hatte, tauchten in ihrem Kopf auf. Bilder von enttäuschten Gesichtern, denn das war wohl das, was sie am besten konnte. Enttäuschen. Es wunderte sie, dass Deidara überhaupt noch etwas mit ihr zu tun haben wollte, nach allem, was sie ihm angetan hatte. Sicher, er hatte auch viele Fehler begangen, die sie verletzt hatten, doch das lag eben in seiner Natur. Eine Frau reichte ihm einfach nicht. Sie hatte sich längst mit dieser Tatsache abgefunden gehabt, und es war auch nicht so, dass sie ihm nachtrauerte. Sasori war die bessere Wahl gewesen. Ihr Herz hatte sich ohnehin bereits für den charmanten Rothaarigen entschieden gehabt, bevor sie von dem schamlosen Betrug ihres Exfreundes Wind bekam. Doch das war ohnehin alles Geschichte. Es interessierte keinen mehr, was früher war. Das Jetzt zählte, und das Jetzt war unerträglich. Darum wartete sie auf das Morgen. Ziemlich müde kam sie zu Hause an. Das Erste, was ihr auffiel, war, dass Sasori nicht da war. Das Zweite war, dass der Ring, den er ihr geschenkt hatte, auf dem Boden lag. Sie musste ihn ausgezogen haben, während sie auf Drogen gewesen war. Unter anderen Umständen hätte sie ihn nicht abgelegt. Seufzend hob sie ihn auf und warf einen Blick auf den Kalender. Es war Mittwoch. Eigentlich hatte sie jetzt immer Capoeira-Training gehabt, doch seit sie umgezogen war, war sie nicht mehr hingegangen. Eine andere Stadt, ein anderes Leben, das hatte sie sich erhofft. Doch sie konnte ihre Erinnerungen an die Gräueltaten nicht dort zurücklassen, wo sie passiert waren. Sie würde sie wohl ewig mit sich herumtragen müssen. Als sie auf die Gang zukam, erhellte sich Luxurys Miene schlagartig. „Gott sei Dank, du lebst!“, rief er und umarmte sie. Wenig überrascht drückte sie ihn wieder weg. „Ist doch klar gewesen. So schnell haut mich nichts um!“, erwiderte sie. Es war logisch, dass Luxury sich über ihre Genesung freute. Nicht auszudenken, was er und T-Pain hätten über sich ergehen lassen müssen, wenn ein schlimmerer Unfall unter Drogeneinfluss geschehen wäre. Schließlich ging das Ganze aus Sicht der Drogenbosse auf deren Kappe. Tyke grinste blöd vor sich hin, ganz so, als hätte er mal wieder nichts mitbekommen. „Wieso? War irgendwas?“, fragte er mit dümmlichem Gesichtsausdruck. Wie sich herausstellte, hatte er tatsächlich nichts mitbekommen. Sorrow gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf und erwiderte: „Sag bloß, dir ist echt nicht aufgefallen, dass sie die letzten Tage nicht da war.“ Tyke zuckte unbedarft mit den Schultern. T-Pain meldete sich zu Wort, nachdem er sich etwas im Hintergrund gehalten hatte. „Mir ist es jedenfalls deutlich aufgefallen. Es war so schön ruhig hier.“ Doch er lächelte, als er das sagte. Sie strahlte ihn an, froh, wieder hier zu sein, wo niemand sie nach ihren Problemen fragte und nichts von all den Dingen zählten, die sie erlebt hatte. Ihr Lachen gefror, als sie die Schwellung an seinem linken Auge sah. Er hatte zwar versucht, seine Haare darüber zu kämmen, aber sie waren nicht ansatzweise lang genug, um sein blaues Auge zu verdecken. Er bemerkte ihren Blick und drehte sich etwas zur Seite. „Ein paar Streitigkeiten mit nem Kumpel“, murmelte er beinahe entschuldigend. Sie wusste nicht genau, warum, aber sie glaubte ihm nicht. Es war zwar üblich, das sich Typen wie er prügelten, aber er verhielt sich seltsam, so als sei es ihm peinlich. „Ach so“, quittierte sie seine Worte. Er schien beruhigt zu sein. Luxury warf seine Haarpracht nach hinten und fragte beiläufig: „Was steht denn so an? Haben wir heute irgendwas bestimmtes vor?“ „Wir ziehen ein wenig um die Häuser. Ich habe neulich ein paar Ratten in unserem Gebiet gesehen. Wenn die sich hier nochmal blicken lassen, werden wir sie wohl vertreiben müssen“, antwortete Big Key ruhig. „Yeah. Gangbanging“, warf Sorrow mit einem schiefen Grinsen ein. „Wie wär's, wir ziehen Aiko aus und stellen sie zur Ablenkung der Gegner vor uns. Dann haben wir gute Chancen gegen diese Flachwichser.“ Sein silberhaariger Rivale gab ein affektiertes Lachen von sich. „Siehst du?“, sagte er abfällig, „Solche Aussprüche unterscheiden einen peinlichen niveaulosen Loser wie dich von einem stilvollen Ladykiller wie mir.“ Aiko hüstelte. Er sah sie vorwurfsvoll an. „Auch du wirst meinem Charme über kurz oder lang erliegen. Es ist keine Schande, Süße. Du bist nicht allein.“ „Du hast doch keine Ahnung, was eine Frau wie ich wirklich will“, gab sie zurück. Luxury wollte antworten, doch Sorrow kam ihm in seiner unbedachten Art zuvor. „Schnellen, hemmungslosen, harten, dreckigen Sex“, mutmaßte er und machte dabei ein ernstes Gesicht. Vier missbilligende Blicke trafen ihn. Er sank etwas zusammen. Nachdem sie noch ein paar Sprüche abgelassen hatten, zogen sie los, um ihr Revier zu markieren. Aiko war kaum noch in der Schule. Sie machte sich etwas Sorgen um den nachzuholenden Stoff, denn im Gegensatz zu den anderen hatte sie schon vorgehabt, einen guten Abschluss zu machen. Außer ihr schien sich kein Gangmitglied für die Schule zu interessieren. Sie war sich nicht einmal sicher, ob Big Key überhaupt zur Schule ging. Sein Alter ließ sich nur schwer einschätzen, doch seine Ernsthaftigkeit und Gewissenhaftigkeit in den Dingen, die er tat, ließen auf ein Alter von 25 und aufwärts schließen. Soweit sie es mitbekommen hatte, wussten die anderen auch nicht viel mehr über ihn als sie. Es war ein gutes Gefühl, umgeben von den streitsüchtig wirkenden Typen durch die breite Straße zu laufen und alle Blicke auf sich zu ziehen. Die meisten Mädchen in ihrem Alter, die sie sahen, schenkten ihr einige verachtende Blicke, doch sie wusste, dass sie einfach nur neidisch waren. Zufrieden beobachtete sie die vorbeifahrenden Autos. Auf einmal schlug sie die Kapuze ihrer Lederjacke hoch und wandte sich ab. Ein Polizeiwagen, hinter dessen Steuer Sam saß, hielt am Straßenrand. „Zeit, abzuhauen!“, rief Big Key und lief fort. Auch die anderen zerstreuten sich in alle Richtungen aus Angst, erwischt zu werden. Aiko stürzte in die nächste Seitengasse. Wenn Sam sie sehen würde, wäre das eine Katastrophe. Sie drückte sich gegen die Hauswand, als würde das sie unsichtbar machen, und wartete darauf, dass Sam fortging. Als es allmählich ruhiger wurde und sie nichts mehr hörte, wagte sie einen Blick auf die Hauptstraße. Sie konnte den Kopf nicht schnell genug zurückziehen, als sie feststellte, dass er sich nur etwas notiert hatte und ihr winkte. Er kam auf sie zu. „Hallo, Aiko!“, sagte er und stellte sich für ihren Geschmack viel zu nah vor sie. „Warum hast du dich nicht mehr gemeldet?“, fragte er etwas beleidigt. Am liebsten hätte sie ihm ins Gesicht gesagt, dass sie ihn einfach nur eklig fand und er sich von ihr fernzuhalten hatte. Aber selbst der impulsiven Rothaarigen war bewusst, dass ein solches Handeln ein Fehler wäre. Vermeintlich schüchtern spielte sie mit ihren Haaren und zog mit der anderen Hand in einer geschmeidigen Bewegung die Kapuze vom Kopf. „Ich hatte die letzten paar Wochen so furchtbar viel zu tun. Die Lehrer wissen echt, wie sie alle Prüfungen in einen bestimmten Zeitraum legen, und dann hat man als Schüler immer so viel zu tun. Und außerdem...“ Sie brach ab. Damit weckte sie sein Interesse. „Was ist denn außerdem? Ich hatte schon Angst, du fändest mich zu aufdringlich...“, murmelte er anscheinend beruhigt. JA, du widerlicher dummer Holzkopf! Du bist so aufdringlich, dass ich dich drei Kilometer gegen den Wind riechen kann und dann am liebsten Reißaus nehmen würde, aber dummerweise bist du Polizist und hast Informationen, an die ich rankommen muss. Wenn das nicht so wäre, würde ich einen Schleimbeutel wie dich nicht einmal mit dem Arsch angucken du Vollpfosten!, dachte sie etwas verärgert. Dann kühlte sie sich sofort wieder runter. Denk an deine Ziele. Sei freundlich, stets freundlich. Er sieht dich, und er will, dass du glücklich aussiehst. Lach gefälligst mehr. Freu dich, dass sich so jemand für dich interessiert. Ist doch nett. Es war ihre Art sich selbst zu belügen, um nach außen hin so auszusehen, wie sie es wollte. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Nun ja...“, druckte sie herum, „Vielleicht bist du doch eine Nummer zu groß für mich...“ Sie betete innerlich, dass er diese unabsichtliche Vorlage nicht für einen flachen Witz über sein bestes Stück nutzte. Zu ihrer Beruhigung fühlte er sich allerdings viel zu geschmeichelt, um jetzt einen Witz zu reißen. „Zu groß für dich? Ach komm, wieso denn? Du bist total süß, und ich mag dich. Offensichtlich hast du ja auch was für mich übrig. Also, wo liegt das Problem? Ist doch alles bestens! Wenn du willst, können wir's auch langsam angehen. Ich habe Zeit“, erklärte er. Sie nickte. Er lächelte und umarmte sie und obwohl sie sich stark zurückhalten musst, stieß sie ihn nicht von sich. Offenbar sah er das als Erlaubnis, etwas weiterzugehen, und drückte seine Lippen auf ihre. Mit zusammengekniffenen Augen ertrug sie die Nötigung, konnte sich jedoch nicht dazu überwinden, den Kuss zu erwidern. Halte dich unter Kontrolle, verdammt!, ermahnte sie sich. Aber er kann dich sehen! Er will das nicht! Und du weißt das! Du wolltest niemals wieder jemanden anderen küssen, hast du das schon wieder vergessen? Wie kannst du nur! Wie kannst du ihm das antun! Du weißt doch, dass er es nicht will! Er sieht dich! Er sieht dich! Der einseitige Kuss endete in einem stummen Schrei. Sie wandte sich etwas ab, aus Angst, er könnte ihr ihre Missgunst von ihren Augen ablesen. Doch sie hatte vergessen, dass er nicht gerade der Hellste war, was zwischenmenschliche Gefühle anging. Grinsend fuhr er sich über die Lippen und stützte sich ein Stück über sie. „Komm morgen zur Dienststelle. Dann führe ich dich ein bisschen rum, wenn du dich für meinen Beruf interessierst. Bis dann!“, bot er ihr an und ging. Zumindest hatte es sich etwas gelohnt, diese Tortur über sich ergehen zu lassen. Mit der Hand wischte sie sich seinen Speichel von den Lippen. Dann machte sie sich auf die Suche nach den anderen. An einem kleinen Innenhof fand sie die Truppe dann versammelt. „Danke, dass ihr mich so selbstlos im Stich gelassen habt!“, sagte sie vorwurfsvoll und ironisch. Ihr angewiderter Gesichtsausdruck sprach Bände. „Wie läuft's denn so zwischen Sammy und dir?“, erkundigte sich Sorrow hämisch. „Hör auf ihn so zu nennen. Der Typ ist einfach nur... brrr.“ Aiko schüttelte sich. „Aber wenigstens zeigt er mir morgen die Polizeistelle. Ich werde gucken, ob ich da irgendwas über die Drogenermittlungen aufschnappen kann.“ Ihr Boss nickte zufrieden. „Gut“, befand er. „Dann scheint unser Plan ja aufzugehen.“ Sie kratzte sich am Arm und sagte: „Allerdings eine Sache will ich noch geklärt haben. Wenn er irgendetwas von mir erwartet, bin ich raus. Ich werde nichts mit ihm anfangen.“ Luxury umarmte sie von hinten und säuselte ihr mit seiner Karamell-Stimme zu: „So etwas Zuckersüßes wie dich hat er auch gar nicht verdient.“ Während er seine Hand auf ihren Bauch gelegt hatte, fand seine Zunge den Weg in ihr Ohr. Sie schrie vor Schreck auf. „Sag mal, geht’s noch?!“, brüllte sie ihn an. Es war unglaublich, wie ignorant ein Mensch sein konnte. T-Pain zeigte sich etwas genervt von Luxurys Verhalten und schob ihn etwas zur Seite. „Ich dachte, wir hätten das geklärt“, sagte er schroff zu ihm. Aiko war etwas überrascht, denn sie wusste nicht genau, was T mit „geklärt“ genau meinte. Hatte er etwa mit Luxury über sie gesprochen? „Also, ist das Gangbanging hiermit abgeblasen?“, fragte Sorrow ein wenig enttäuscht. „Sieht wohl so aus.“ T-Pain löste die Versammlung auf. Als Aiko gehen wollte, hielt er sie zurück. „Du bleibst hier.“ Verwirrt blieb sie stehen. Nachdem die anderen in verschiedene Richtungen weggegangen waren, sah sie ihn fragend an. „Big Key hat dich mal ein wenig unter die Lupe genommen. Das Auto, das vor deinem Haus steht...Wem gehört das?“, fragte er forsch. „Meinem Freund.“ „Heißt dein Freund etwa Frida Kohlbrenner?“ Sie war sich nicht sicher, ob er eine Antwort erwartete. „Nein. Natürlich nicht.“ „Auf die ist das Auto aber zugelassen. Es ist also nicht das Auto deines Freundes. Es ist mir egal, wie du es machst, aber werde das Ding los. Ich habe keinen Bock darauf, dass du irgendwie ins Kittchen kommst und das Licht auf uns fällt. Das Teil ist geklaut. Wir haben zwar alle schon mal was mitgehen lassen, aber ein Auto fällt auf.“ „Aber...“ „Mach es einfach.“ Sie nickte. Vielleicht war es etwas dumm gewesen, das Auto zu stehlen. Sie wusste selbst nicht mehr, weshalb sie es getan hatte. Irgendeine spontane Eingebung hatte sie dazu veranlasst. „T?“ Er hatte sich bereits umgedreht und wollte eigentlich gehen, blieb dann aber stehen. „Hm?“, brummte er. „Du hast dich nicht geprügelt. Es ist was anderes, nicht wahr?“ T-Pain sah weg. „Ich habe dir doch gesagt, das geht dich einen Dreck an. Selbst wenn es etwas anderes wäre, na und? Wen fickt das, huh?“ „Vielleicht möchtest du drüber reden? Manchmal hilft das.“ Sie merkte, wie er wütend wurde. „Weißt du was?“, knurrte er und riss ihren Ärmel hoch. Die Narben, die sich über ihren ganzen Unterarm zogen, leuchteten rot. „Wir haben alle unsere Probleme, aber es interessiert keinen! Jeder kann sehen, dass du dich ritzt, aber keiner fragt dich! Und weißt du auch warum? Weil es dein Ding ist! Weil keiner darüber reden will! Ich frage dich nicht nach deinen Problemen, und du fragst nicht nach meinen, kapiert?! So hat es zu laufen und nicht anders!“ Mit seiner lauten wütenden Stimme hatte er sie eingeschüchtert. Mit gesenktem Kopf zog sie ihren Ärmel wieder runter. „Das hilft aber niemandem weiter“,sagte sie leise. Ohne ein weiteres Wort gingen sie die Straße herunter, aus der Stadt heraus und setzten sich dann auf eine Wiese. Keiner von ihnen wusste genau, warum sie nicht einfach nach Hause gingen, aber sie taten es einfach nicht. Er hatte sich etwas beruhigt. Sie schwiegen eine Weile, bis er dann sagte: „Du tust so, als wäre an den blauen Flecken irgendetwas Besonderes. Aber es ist einfach nur... ich habe mich mit meinem Alten gestritten. Das ist aber nichts Neues. Ich bin sowieso ausgezogen. Da kann es mir jetzt egal sein. Ich brauche ihn nicht.“ „Ich hatte nie richtige Eltern. Sie starben als ich klein war“, gestand Aiko. „Manchmal frage ich mich, was sie wohl sagen würden, wenn sie mich sehen könnten. Ich glaube, sie wären nicht gerade stolz.“ Sie legte sich rückwärts in das Gras. „Jeder baut mal Scheiße“, meinte er. Die Atmosphäre war irgendwie komisch. Sie wussten auf eine Art beide, was zu sagen war, und dennoch schwiegen sie die meiste Zeit. „Das mit deinem Vater ist aber nicht das, was dich so sehr bedrückt, oder?“, fragte sie vorsichtig. Ihr Gegenüber machte ein Gesicht, dass sie nicht deuten konnte. „Nein“, erwiderte er. „Und bei dir?“ Sie sah in den Himmel. „Es ist meine Schuld, dass es so ist. Und ich werde diese Schuld niemals abwälzen können, selbst wenn ich es jemandem erzähle.“ Ihr Ton war melancholisch. „Weiß dein Freund davon?“ „Ja. Aber wir versuchen, nicht mehr darüber zu sprechen.“ Sie wusste nicht genau, wie es passierte. Seine Hand fuhr über ihre, er zog sie zu sich und ehe sie sich versehen hatte, lag sie in seinen Armen. Obwohl es sie selbst überraschte, legte sie ihren Kopf auf seine Brust und schloss die Augen. Und erst jetzt, wo sie die Wärme auf ihrer Haut spüren konnte; erst jetzt, wo sie sich zum ersten Mal seit langem wieder geborgen fühlte; erst jetzt fiel ihr auf, wie sehr sie es eigentlich vermisst hatte. Kapitel 11: Janusköpfigkeit --------------------------- Man konnte das Gefühl nicht als Freude oder Glück bezeichnen. Sie war nicht glücklich. Aber es war eine Art Trost, den er ihr schenkte. Eine Hoffnung aus etwas, dass sie längst verloren geglaubt hatte. Es war ganz so, als würde er darum wissen, als hätte er genau das Gleiche durchgemacht. Doch er konnte sie nicht verstehen. Niemand würde das je können. Nicht Itachi, nicht Deidara, und vor allem nicht Sasori, denn er hatte ihre Liebe nie verstanden. Für einen Moment fühlte sie sich befreit von all der Pein, die auf ihr lag. Ein paar Sekunden, in denen sie durchatmen konnte. Die ganze Zeit hatte sie immerzu an ihn denken müssen und über das, was er von ihren Taten hielt. Als sie so in T-Pains Armen lag, verspürte sie keine Sehnsucht mehr nach dem, was sie nie haben würde. All die Dinge, die sie vermisste, erschienen ihr mit einem Schlag nur noch wie ein winziger Fleck auf einem riesigen weißen Leinentuch. Sie vergaß die Zeit, so wie sie alles vergaß, was um sie herum geschah und geschehen war. Das, was blieb, war das einzigartige und zugleich sonderbare Gefühl, dass sie nicht mit Worten hätte beschreiben können. Sie wusste nicht, was es war, aber sie konnte genau sagen, was es nicht war. „Woran denkst du?“, fragte sie irgendwann in die Stille hinein. Als Antwort folgte ein Geräusch, dass sie zunächst nicht eindeutig zuordnen konnte, doch als sie ihm ihr Gesicht zu wandte, stellte sie fest, dass er leise lachte. Dieses Lachen hatte sie noch nie bei ihm gehört, denn es klang dieses Mal nicht verhöhnend und spöttisch wie sonst. „Du kannst ja doch ziemlich... typisch sein“, murmelte er. Sie drehte ihren Kopf wieder von ihm weg. „Manchmal. Manchmal ziemlich oft“, erwiderte sie und bemerkte erst danach, dass der Satz keinen Sinn machte. „Ich meinte“, verbesserte sie sich, „dass ich in manchen Phasen sehr typisch sein kann. Für eine Frau.“ Er sah in den Himmel und beobachtete die Wolken beim Vorbeiziehen. Nach einer Zeit nahm er das Gespräch wieder auf. „Ehrlich gesagt frage ich mich, was an dir echt ist.“ Als er ihren empörten Blick spürte, überdachte er seine Aussage erneut und grinste. „Nicht so... ich spreche von deinen Verhaltensweisen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand auf der Welt so facettenreich ist wie du zu sein scheinst.“ Sie setzte sich auf und kratzte sich am Kopf. „Ich verstehe dich nicht ganz“, gab sie zu. „Es ist auch nicht so wichtig.“ „Erklär's mir einfach!“, bat sie. „Und neugierig bist du auch noch.“ Er schüttelte den Kopf. „Sag schon!“ „Keine Ahnung... Ich dachte nur, dass Einiges, was du sagst und tust, nur gespielt ist. Weil du so gegenteilige Dinge tust. Weil eine Person nicht so viele Seiten haben kann. Ich habe mir einfach nur überlegt, wer du wirklich bist. Ob du so laut und tough bist wie vor den Jungs. Oder ob du so verletzlich und sensibel bist wie jetzt. Ich kann dich einfach nicht einordnen, das ist alles“, erklärte er. Du bist etwas ganz Besonderes. Jeden Tag überraschst du mich mit einem neuen, liebenswerten Charakterzug. Und ich kann, ich will mich gar nicht entscheiden, welche Seite ich von dir mehr liebe. Der Satz hallte in ihrem Kopf wieder und vertrieb dieses Gefühl, dass sie zuvor gehabt hatte. Erinnerungen ließen sich nicht in ein Gefängnis sperren. Man konnte nicht so tun, als wäre es vergessen. Sie wusste nicht, warum sie es trotz dieser Erkenntnis immer noch fortwährend versuchte. Das Licht, was sie zu sehen geglaubt hatte, war erloschen. Er war zurückgekommen, um sie dort heimzusuchen, wo nichts als die traurigen Reste ihres früheren Seins auf den Tag warteten, an dem sie selbst diese Relikte beiseite räumen würde. Doch sie wusste, genau wie er, dass sie verblichen sein würde, ehe dieser Tag kam. Ihr Herz glich einem Keller, in den sie über die Jahre hinweg all ihre Sünden gesperrt hatte, in der Hoffnung, dass sie dort unten verrotten und zerfallen würden. In der Tat zerfraßen sie ihre Seele, und nichts, weder Sasori, noch ihre Freunde, noch sie konnte diesen Prozess aufhalten. „Vielleicht bin ich nichts von alledem. Oder aber auch alles“, sagte sie leise, um auf T-Pains Frage zu antworten. Er nickte langsam. „Ich habe nicht gewusst, dass es auch Menschen wie dich gibt“, sagte er dann und entfernte eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Sie drückte ihren Kopf leicht gegen seine Brust. „Menschen wie mich?“ Ihre Gedanken widersprachen ihm. Es war nicht gut, dass es Menschen wie sie gab. Denn sie war schlecht. Der Satz stand im Raum, ohne dass sie weiter darüber sprachen. Irgendwann standen sie auf und liefen zurück in die Stadt. Auf dem Weg dahin schwiegen sie weiter, bis sie eine Bewegung in ihrer Tasche spürte. „Oh. Mein Handy“, erklärte sie, holte es hervor und nahm das Gespräch an. „Ja?... Hey.“ Ihre Augen wurden glasig, so als würde sie erblinden. Im ersten Moment dachte ihr Begleiter, es könnte etwas passiert sein, doch als er ihr sanftes Lächeln sah, verwarf er diese Vermutung wieder. „Ich bin spazieren... Ist doch egal. Was? Ach so... Nein. T hat mir erzählt, dein Auto wäre auf eine... Frederike oder sowas zugelassen. Wer ist das? Ich dachte, es würde dir gehören? … Hab ich mir ja gedacht.... Keine Ahnung... Ja, hab ich gemerkt. Wo warst du?...Konnte man wohl nichts machen.“ Ihre Stimme klang enttäuscht, doch ihr Lächeln währte. T-Pain hatte das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen, doch er ließ es bleiben. In seinen Augen war sie nicht der Typ, der sich durch so etwas aufheitern ließ. Mit leicht zitternder Hand legte sie auf. „Was ist?“, wollte er wissen. Der Glanz kehrte langsam wieder in ihre Augen zurück und ihre Mundwinkel entspannten sich. „Nichts.“ Es war die Antwort, die sie seit langem gab. Und jeder, sie selbst und auch der Fragende, erkannte es als Lüge. Doch es war wie eine unausgesprochene Vereinbarung, dass dieses Wort eine weitere Frage in dieselbe Richtung ausschloss. Als sie damals nach Hause gekommen war und Sasori sie aus seinen geröteten Augen angesehen und gefragt hatte, was sie getan habe, hatte ihre Antwort stets „Nichts.“ gelautet. Er hatte sehr wohl gemerkt, wie sie ihm in einem schleichenden Prozess durch die Finger geglitten war, wie es immer später geworden war, und wie sie auf seine drängenden Fragen, was mit ihr los sei, nur ein „Nichts.“ erwidern konnte. Und dann, als seine Angst begonnen hatte Gewissheit zu werden, hatte er sie ein letztes Mal gefragt. Doch sie hatte ihn nicht noch einmal belügen können. Es war ihr nicht über die Lippen gekommen, denn mit seinem enttäuschten Blick hatte er ihr jegliche Stütze aus ihrem ohnehin instabilen Gerüst aus Lügen und Verrat genommen. Es war in sich zusammengestürzt wie ein Kartenhaus, und mit ihm auch ihr „Nichts.“ Sie hätte nichts weiter sagen brauchen, denn ihr Schweigen hatte ihm gereicht, um die letzte Hoffnung aus dem Weg zu räumen. Wie sehr musste er sich damals gewünscht haben, sie hassen zu können, doch seine Liebe ließ nur den Schluss zu, ihr die Fehltritte zu vergeben und bei ihr zu bleiben. Andernfalls hätte sie ohnehin zu ihrer letzten Waffe greifen müssen, der er sich nicht hätte entziehen können. Sie war nie selbstlos genug gewesen, um ihn gehen zu lassen, so wie er es für sie getan hätte. Sie konnte in T-Pains Augen sehen, dass er um ihre Lüge wusste. Vermutlich war es bei ihm dieselbe, sich immer wiederholende Antwort, die er auf diese Frage gab. Doch er schwieg dazu, genau wie sie alle schwiegen. „Scheiße.“, sagte er ohne Emotion. Aiko verstand nicht, worauf sich dieser Ausspruch beziehen sollte oder was er damit sagen wollte, aber er schien keine Reaktion darauf zu erwarten, sodass sie nicht fragte. „Wir sollten uns ein wenig beeilen. Es sieht nach Regen aus“, schlug sie stattdessen vor. Er stimmte ihr zu und beschleunigte seine Schritte. Tatsächlich brach ein Schauer über sie hinein, gerade ein paar Minuten, nachdem sie das Eingangsschild der Stadt passiert hatten, und durchnässte ihre Kleidung. Sie war froh, dass sie etwas Dunkles trug. Ein weißes Shirt hätte wohl Dinge durchsehen lassen, die sie T und ihrer Außenwelt eigentlich vorenthalten wollte. Es war ihr ziemlich egal, dass ein paar Leute sie komisch ansahen. Sie hatte nie viel auf die Meinung Fremder gegeben, denn Fremde interessierten sich auch nicht für sie. Eine Gruppe Mädchen, die sie aus ihrem Mathematik-Kurs kannte, lief an ihnen vorbei. Aiko konnte hören, wie sie sofort begannen zu lästern, als sie außer (so glaubten die Mädchen) Hörweite waren. „Ich hab's gleich gewusst. Das ist so ne Großstadtschlampe“, zischte die eine sauer. Die andere pflichtete ihr unter verächtlichem Schnauben bei. Sie gab nicht viel auf die Meinung Fremder, doch es gab diese eine Ausnahme. „Getroffene Hunde bellen“, so hieß es, doch bei dieser Sache war es umgekehrt. Eine Schlampe stand dazu und scheute nicht, das zu zeigen. Wenn diese Beleidigung Aiko also dermaßen zur Weißglut brachte, dann konnte sie keine Schlampe sein. Doch das war falsch. Sie hatte sich dazu gemacht, unfreiwillig, und gleichzeitig hatte sie diesen Weg selbst gewählt. Ihre größte Angst war es gewesen, zu „so einer“ zu werden, doch nun, da es kein Zurück mehr gab, nichts, was das Geschehene ungeschehen hätte machen können, war es zu ihrem Schicksal geworden. Zumindest hatte sie es als dieses angenommen. Sie stand da wie eingefroren, während ein leichtes Zittern ihren Körper erfasste. Die Hitze stieg in ihren Kopf und ihre Muskeln spannten sich an, sodass sie wirkte, als könne sie jeden Moment platzen. Ihr Begleiter verstand und zog sie unsanft und ruckartig hinter sich her. „Lass es. Das ist absolut kindisch“, befahl er ihr in genervtem Ton. Sie ärgerte sich darüber, dass sie ihm tatsächlich Folge leistete und weiterlief. „Tu nicht so, als ob du dich noch nie geprügelt hättest. Sowas braucht nicht immer einen triftigen Grund, und das weißt du. Außerdem ist so 'ne Scheiße genug Grund für mich“, murrte sie und trat gegen eine Konservendose, die auf der Straße lag. Er stöhnte. „Sorry, dass ich das jetzt so ausdrücken muss, aber Weiber sollten sich nicht prügeln. Das liegt nicht in ihrer Natur. Außerdem kann ich dir bei sowas nicht mal helfen. Ich schlag' keine Mädchen.“ Sie schnappte empört nach Luft. In Gedanken ließ sie ihren ersten Schultag Revue passieren. Sein Lachen war dumpf und heiser. „Für dich mache ich immer mal gerne eine Ausnahme.“ Aiko zog ihre Augenbrauen nach oben und beruhigte sich. Sie bemerkte, wie sie langsamer wurde, je näher sie an ihren Wohnort kamen. Zuerst lief sie noch normal, dann verringerte sich ihre Geschwindigkeit von Minute zu Minute, sodass sie beinahe stehenblieb, als sie in ihre Straße einbiegen wollte. „Du willst nicht unbedingt nach Hause, hm?“, sagte er und klang dabei desinteressiert und beiläufig, ganz als ob er mit sich selbst sprechen würde. Ihrem Schulterzucken folgte ein Blick von seiner Seite, der die unausweichlich folgende Frage dringlicher ausdrückte als jedes Wort es getan hätte. Es wäre keine große Sache gewesen, ihm eine weitere Antwort schuldig zu bleiben, denn sie hatte mittlerweile gemerkt, dass er keiner von den Menschen war, die es sich zum Ziel machten, jede in jedem erdenklichen Sinne interessante Information verbal aus ihren Gesprächspartnern heraus zu prügeln. Aber sie antwortete trotzdem, ohne wirklich zu wissen, weshalb: „Warum, fragst du dich? Das ist eigentlich einfach.“ Sie lehnte sich gegen ihre Hauswand, die sie inzwischen erreicht hatten, und fuhr fort. „Ich will nicht da rein, weil ich mich fürchte.“ Nach einer kurzen Pause ging er einen Schritt zu ihr und fragte: „Und wovor?“ Er hatte geahnt, dass sie nichts erwidern würde. Doch das brauchte sie auch nicht, denn als ihre Augen kurz von seinem Gesicht zu ihrem Unterarm und anschließend zur Seite wanderten, reichte ihm das schon als Antwort. Sie wussten beide nicht, was zu sagen war, weshalb ein unangenehmes Schweigen in der feuchten Luft hing. „Bis dann.“ Er gab ihr einen leichten Klaps gegen die Schulter und ließ sie dort stehen, während er weglief und schließlich im Nebel verschwand. „288 Tage“, sagte sie leise und nippte an dem Kaffee in ihrer Hand. Sasori tauchte hinter ihr auf und legte den Arm um ihren Bauch. „Und es wird ein Jahr werden. Und zwei. Und drei. Und dann hast du es bald vergessen. Alles. Wer weiß, was dir das Leben noch bringen wird“, sagte er ruhig. Sie stieß einen höhnischen Laut aus. „Ich weiß es, Sasori“, gab sie zurück, „Nichts anderes als Schmerzen und Leiden und Enttäuschung. Wann hat mir das Leben je etwas Gutes gebracht, huh? Wann?“ Ihr Freund musste nicht überlegen, um ihre Frage zu beantworten. „Hast du all die schönen Momente schon vergessen? Es war nicht immer so, mein Herz, und das weißt du auch. Neben diesen furchtbaren Dingen, die dir passiert sind, waren noch andere, gute Dinge.“ Er sprach mit einer unüberwindbaren Überzeugung. Den Kopf schüttelnd stellte sie ihren Kaffee zur Seite und packte ihre Schultasche mit einer Aggression, die einen wesentlichen Einfluss auf den Verschleiß ihrer Bücher hatte, welche sie unkontrolliert hineinstopfte. „Warum müssen wir die ganze Scheiße dauernd aufwärmen, hm? Ich habe keine Lust mehr, darüber zu diskutieren! Du kotzt mich an!“, rief sie mit lauter werdender Stimme. Sein Seufzen trug nur noch mehr zu ihrem Zorn bei. „Was hast du denn jetzt?“, fragte er beherrscht. Mit viel Schwung schulterte sie ihre Tasche und schob ihn beiseite, während sie ihm ein genervtes „Nichts.“ zu zischte. Er musste es Leid gewesen sein, ständig diese unbefriedigende, verlogene Antwort zu hören, doch er sagte nichts weiter und ließ es auf sich beruhen. Sie war impulsiv und launisch wie eh und je. Die meisten ihrer Freunde wussten damit umzugehen und wunderten sich nicht weiter darüber, wenn sie von einem Moment auf den anderen wütend wurde. Sie selbst hasste diese Eigenschaft an sich genauso wie sie das Meiste an sich hasste. Ohne ein weiteres Wort stürzte sie aus dem Haus und machte sich auf den Weg zur Schule. Sie konnte es zwar nicht wirklich ausdrücken, doch sie war froh, dass sie an ihrer neuen Schule zwar keinen richtigen Anschluss, aber zumindest Freunde gefunden hatte. Ein Großteil der Schüler mied sie, da seit den letzten Wochen einige Gerüchte über sie kursierten, die wahrscheinlich eine ihrer niederträchtigen Klassenkameradinnen verbreitet hatte. Das Letzte, was ihr zu Ohren gekommen war, handelte von einem angeblichen Techtelmechtel mit einem Obdachlosen in der Toilette der örtlichen Grundschule. Es war absurd, aber es gab tatsächlich Schüler, die es glaubten. An sich war es ihr nicht wichtig, dass sich die Schülerschaft ihr Maul über sie zerriss, doch spätestens nachdem ihre Biologielehrerin sie aus dem Unterricht nahm und auf das Thema „Analsex ohne Verhütung birgt das Risiko einer Übertragung von lebensgefährlichen Geschlechtskrankheiten“ ansprach, erreichte das Ganze einen gewissen Grad an Peinlichkeit. „Ich habe gehört, unsere Zuckerschnecke hat einen Braten in der Röhre!“, plärrte Sorrow über den Pausenhof, als sie ein paar Minuten nach dem Klingeln dort eintraf. Sie fasste sich an den Kopf und fragte etwas verwirrt: „Wie bitte?!“ T-Pain steckte ein Messer ein, mit dem er gerade noch ein unförmiges Stück Holz bearbeitet hatte, und erklärte ihr: „Gwyneth Scott hat rumerzählt, du wärst nach der Sache mit dem kleinwüchsigen Tennisspieler schwanger geworden.“ Sie verdrehte die Augen und drückte ihre Handfläche kurz gegen Sorrows Stirn. „Welcher kleinwüchsige Tennisspieler? Das wäre mir echt ziemlich neu“, wehrte sie die Vorwürfe ab und setzte sich neben Tyke auf die Mauer. „Isch hab misch ein bissschen umgehört, wegen deinem Problem mit den Weibern und dem Gelaber“, sagte der Türke zu ihr und war offensichtlich sehr stolz, ihr seine Ergebnisse präsentieren zu können. Aiko sah ihn erwartungsvoll an. Sie vermutete, dass er eine besonders lange bedeutende Kunstpause machen wollte, doch nach zwei Minuten des allgemeinen Wartens und Schweigens verstand sie, dass er vergessen hatte, was er sagen wollte. Sorrow übernahm deshalb das Wort. „Ich weiß auch, was die Bitches rausgerückt haben. Die sind ein wenig angepisst wegen Physik.“ Sie sah ihn fragend an. „Nun ja, Vögler...“ „Er heißt Vogel, Idiot!“, verbesserte sie ihn genervt. „Vögler hat dir eine 1 in Epo gegeben und die Arbeit als Auslutscher gewertet, und jetzt sind die Schicksen eben total eingeschnappt, weil du es nicht verdient hast und es ja sowieso nur wegen deinen Riesendingern ist. Ich kann den armen Mann ja verstehen...“, fuhr Sorrow mit einem breiten Grinsen fort. „Ausrutscher, oder nischt?“, warf Tyke ein, der sich der Aussprache selbst nicht mehr sicher war. Sein Freund lachte und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. „Je nachdem, welchen Gerüchten man glaubt, Tyky“, fügte er hinzu und duckte sich unter Aiko's Wischer hinweg, den er nun allzu gut kannte. „Holy Shit. Das Image bekommst du nicht mehr los, Kleines.“ T-Pains schelmisches Grinsen lag in seinen Worten. Sorrow machte einen mehr oder weniger ernsten Vorschlag zur Lösung dieses Problems, der eine Lebensabschnittspartnerschaft mit ihm beinhaltete, auf die sie gerne verzichtet hätte. „Ich schätze, dann gingen die Gerüchte erst richtig los. Schwanger von einem kleinwüchsigen Tennisspieler klingt für mich besser als zusammen mit einem abgefuckten Loser wie dir“, erwiderte sie. Von weitem konnte man Big Key sehen, der zusammen mit Luxury einen laut lamentierenden Jungen herbrachte. „Lasst mich los, ihr Lackaffen! Das werdet ihr noch bereuen!“, brüllte dieser halb heulend. Aiko stüzte ihre Hand gegen die Hüfte und betrachtete den blonden Jungen, der kaum älter als 13 sein konnte. Sie wunderte sich etwas, dass sie ihn hier her brachten. Es stand außer Frage, dass er irgendetwas angestellt haben musste, was den Drogendealern missfiel, doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass er zu den Konsumenten gehörte. „Hier, Boss“, brummte Big Key und warf ihn zu Boden. Luxury nahm seine Zigarette aus dem Mund und blies dem Jungen eine Rauchwolke ins Gesicht. Dieser hustete heftig. „Was soll das?“, wollte sie wissen. „Er hat mir eine Päckchen LSD geklaut“, erwiderte T-Pain, während er ihn an seinem Hemdkragen hochhob. Aiko machte sich berechtigte Sorgen um den Kleinen, der sich gehörig vor den jungen Männern um ihn herum fürchtete. „Also. Du spuckst jetzt SOFORT aus, wo du die Scheiße einstecken hast, oder du wirst ein bisschen Scheiße einstecken!“, rief er laut. Der Junge schnappte nach Luft, die er in T-Pains festem Griff kaum bekam. Es war ihm kaum möglich, schnell genug zu antworten, sodass die Faust des Gangleaders geradewegs auf seiner rechten Wange aufschlug. Sein Weinen wurde lauter. Die Rothaarige musste schlucken. Sie wusste, dass Mitleid in einer solchen Sache unangebracht war. Doch sie konnte es nicht einfach unterdrücken, denn es schnürte ihr die Kehle zu, wiesie den Jungen so weinen sah. Jeder wird so behandelt, dachte sie sich. Es ist normal, es ist so. Anders lernen sie nichts dazu. So wie du. Hätte er dich dafür bestraft, hättest du's vielleicht nicht getan. Aber so ist er nicht. Er hasst Gewalt. Und er sieht es. Er sieht dich, genau jetzt. Und er wird wütend und enttäuscht sein. „NA, WIRD'S BALD?!“, schrie er wütend. Der Kleine schluchzte, sodass man kaum ein Wort von dem verstand, was er sagen wollte. Als er merkte, dass das zwecklos war, deutete er auf seinen beinahe quadratischen Schulranzen, der ihm halb kaputt von der Schulter hing. Big Key und Luxury schienen nicht besonders vorsichtig mit ihm gewesen zu sein. Auf ein Zeichen riss Sorrow den Reißverschluss des Ranzens auf und durchsuchte diesen, bis er triumphierend ein 25-Gramm-Päckchen LSD in die Höhe hob. Den Jungen immer noch festhaltend untersuchte T-Pain die unversehrte Tüte und warf sie wieder Sorrow zu. „Das ist, damit du sowas nie wieder tust!“, sagte er und holte aus, um den Jungen erneut zu schlagen. Diesmal wurde seine Faust jedoch von Aiko aufgehalten, die seinen Umgang mit dem Kind nicht länger ertragen konnte. „WAS?!“, brüllte er sie gereizt an. Unbeeindruckt von seiner Lautstärke sagte sie: „Es reicht, T. Er hat es doch rausgerückt. Und verdammt, er ist ein Kind! Lass ihn einfach gehen und gut ist!“ T-Pain schubste den Jungen zurück zu Luxury und wandte sich ihr zu. „Hast du den Arsch offen oder was?! Red mir nicht in meine Sachen rein, okay?! Ich bin der Boss und du hast mir verdammt nochmal zu gehorchen! Wenn du ein Problem mit dem hast, was ich tue, dann verzieh dich, aber lass mich mit dieser Scheiße in Ruhe!“ „Ach?! Nur weil ich nicht zu jedem Scheiß, den du verbockst, Ja und Amen sage? Guck ihn dir mal an! Er blutet! Er wird’s wohl kaum noch einmal machen! Wenn du unbedingt jemanden verprügeln willst, dann nimm wenigstens jemanden in deiner Gewichtsklasse!“, erwiderte sie laut und aufgeregt. „Noch ein Wort, und du bekommst die Prügel, kapiert?! Also halt dein Maul!“ Es war ihr klar, dass sich niemand auf ihre Seite stellen würde. Hier galt es, der stärkeren Partei treu zu sein. Und alle wussten, dass diese Seite T-Pain war. Trotzdem konnte sie es nicht hinnehmen, dass der Junge weiter misshandelt werden würde. Auch wenn es ein unfairer Kampf wäre, könnte sie sich immer noch besser verteidigen als ein zwölf- oder dreizehnjähriger Junge. „Dann tu das, wenn du nicht die Eier hast, nachsichtig zu sein!“ Sie wollte ausweichen. Doch seine Faust kam so schnell, dass sie sich in der kurzen Zeit kaum bewegen konnte. Reflexartig schloss sie die Augen und wartete auf den starken ziehenden Schmerz in ihrem Kiefer, den ein Schlag mit sich brachte. Doch sie wartete grundlos. Stattdessen hörte sie seinen Aufschrei, als sein Schlag neben ihr auf die Betonwand auftraf. Seine Knöchel bluteten und er atmete laut, das Gesicht direkt vor ihrem. Die Aggression in seinem Ausdruck wich der Beruhigung. „Lass ihn gehen, Big. Aber lass dir das eine Lehre sein, Kleiner. Das nächste Mal wird Aiko wissen, wo ihr Platz ist.“, sagte er ungewöhnlich leise. Die Luft um ihn herum war so dick, dass man sie hätte zerreißen können.Der kleine Junge rannte mit seinem Ranzen davon, sobald Big Key ihn gehen ließ. Niemand traute sich wirklich, etwas zu sagen, weil jeder Angst hatte, den Gangleader wieder zu verärgern. Bis auf Tyke, der die Spannung offensichtlich nicht sah und ein unqualifiziertes „Is' ja krass!“ einwarf. Doch T-Pain schien sich wieder soweit beruhigt zu haben, dass er auf Tykes Kommentar nicht weiter einging, sondern seine Hand mit einem Tape verband. „Ich glaub', ich geh heute in den Unterricht“, sagte er dann und verschwand im Schulhaus. Sorrow drehte sich ebenfalls in diese Richtung und sagte: „Ich auch.“ Aiko sah ihn überrascht an. „Scheeeerz!“, sagte er dann und grinste. „Ich geh wieder nach Hause!“ „Hab' schon gedacht“, erwiderte sie schwach lächelnd und überlegte sich, ob sie ebenfalls ihren Klassenraum aufsuchen sollte. Eigentlich hatte sie keine Lust auf ihren schleimigen Physiklehrer, von dem sie wusste, dass er diese Kursarbeit tatsächlich unter den Tisch hatte fallen lassen, weil er sie mochte. Mögen hieß In diesem Fall, ihm gefiel ihr Brustumfang. Trotzdem musste sie wohl oder übel in die Schule. Sasori würde sofort wissen, was los war, wenn sie schon wieder so früh nach Hause kam. Er wusste es ohnehin, aber sie wollte es nicht offensichtlich zugeben. Außerdem hatten sich ihre Noten dramatisch verschlechtert. Mit dem festen Vorsatz, sich später bei T-Pain zu entschuldigen, ging sie zu ihrer Klasse. Sie musste immer noch an den Vorfall dieses Morgens denken, als sie nach der Schule auf dem Nach-Hause-Weg war. Es war dämlich. Wieso mussten diese Menschen so brutal sein? Warum taten sie so etwas? Aiko verstand es einfach nicht. Sie machte die Drogenszene dafür verantwortlich, dass ihre Welt sich auf diese Art und Weise verändert hatte. Das Einzige, was ihr noch geblieben war, ihre Liebe, hasste es, was sie tat. Doch sie musste es tun. Es gab keinen anderen Weg. Kapitel 12: Falsche Zuneigung ----------------------------- Nachmittags schien endlich die Sonne, nachdem die dichte Wolkendecke für einige Tage nicht mehr aufgerissen war. Die Schüler, die aus ihren Klassensälen rannten, waren froh darüber, zumal mit den ersten Sonnenstrahlen auch die Osterferien angefangen hatten. Überall konnte man kreischende und lachende Kinder hören, erst auf dem Schulhof und bald auch auf den Straßen der Stadt, als sie ihren Nachhauseweg antraten. Auf dem Schulgelände ließ der Lärm langsam nach, und als bereits alle gegangen waren, kam auch Aiko durch die gläserne Doppeltür, die den Eingang der Bildungseinrichtung markierte. Sie war nicht gerade glücklich darüber, wie der Tag gelaufen war. Erstens hatte sie sich mit T-Pain gestritten. Im Nachhinein ärgerte sie sich darüber, so unüberlegt und vorschnell gehandelt zu haben. Zwar hätte sie ihn ohne Zweifel aufgehalten, als er den Jungen auf diese Art und Weise bestrafen wollte. Doch ihn danach so anzuschreien, kam ihr nun doch recht unvorsichtig vor. Er war der Anführer der Gang, und sie brauchte diesen Einstieg ins Drogengeschäft. Ihr Plan würde sonst niemals aufgehen, oder sie müsste erneut die Stadt wechseln. Doch eigentlich fand sie, dass sie hier viel Glück gehabt hatte. Bis auf Big Key, dessen Misstrauen sie mit ihrer offenen und lauten Art geweckt hatte, schienen die Mitglieder der Gang perfekt dafür geeignet zu sein. Sie wollte sich nicht mit ihm streiten, und das Schlimmste an diesem Streit war, dass er eine Entschuldigung nach sich zog, die sie ihm nur ungern geben wollte. Es war ihr nie leicht gefallen, sich zu entschuldigen, weshalb sie es einige Male unterlassen hatte, wo es vielleicht angebracht gewesen wäre. Doch sie war nicht gut darin, ihre Fehler vor anderen zuzugeben. Selbst wenn sie sich auf verlorenem Posten befand, beharrte sie so gut es ging auf ihre Meinung. Diesmal wollte sie jedoch über ihren Schatten springen und ihn in seiner Wohnung aufsuchen. Sie war noch nie dort gewesen und wusste auch nicht, was sie dort erwartete, doch Sorrow hatte ihr nach einigem Bitten und Betteln die Adresse anvertraut, sodass sie keine Ausrede mehr vor sich selbst hatte, nicht hinzugehen. Zweitens hatte ihre Erdkundelehrerin, eine rundliche junge Frau mit einer zu großen Hornbrille, den Langtest zurückgegeben, den sie vor zwei Wochen mitgeschrieben hatte. Die Tage vor dem eigentlichen Termin waren so voll mit Gangbang-Aktionen und Drogenverkäufen gewesen, dass sie den Test komplett vergessen und somit nichts darauf gelernt hatte. Dass sie den Test vollkommen verkatert nachschreiben musste, weil sie kurzer Hand in besagter Stunde nicht zum Erdkunde-Unterricht erschienen war, nachdem man sie an den anstehenden Langtest erinnert hatte, und sie am Abend zuvor zusammen mit der Gang feiern gewesen war, erleichterte ihr es nicht gerade, eine gute Zensur zu schreiben. Letztendlich war eine Drei dabei herausgekommen, mit der sie sich eigentlich hätte zufrieden geben können, wenn man den wenigen Aufwand miteinbezog, den sie zur Vorbereitung hatte. Aber Dreier waren in ihren Augen, wie sie ihrem Erdkunde-Sitznachbarn Sorrow mitgeteilt hatte, „extrem unbefriedigend“. Es verwunderte sie nicht weiter, dass sie für diese ungewollt doppeldeutige Aussage ein fettes Grinsen von seiner Seite erntete. Drittens und Letztens war sie von den Gerüchten genervt, die sie beim Durchqueren des Schulhauses von allen Ecken aufschnappte. Wie kam man auf solche Ideen? Einerseits konnte sie verstehen, dass man ihr eine geheime Affäre zu ihrem überfreundlich benotenden Physiklehrer nachsagte. Andererseits wollte es nicht in ihren Kopf gehen, weshalb einige behaupteten, sie hätte vor zwei Jahren noch dem männlichen Geschlecht angehört. Es war zu abstrus, um glaubwürdig zu sein, aber darum schienen sich ihre Mitschüler nicht zu scheren. Sicher machten die Meisten von ihnen nur einen Hehl daraus, Witze über ihre vermeintliche Männlichkeit zu machen, aber es gab tatsächliche einige wenige, die diese Unwahrheit allen Ernstes für bare Münze nahmen und die Geschichte auch eifrig weiter verbreiteten, sodass sie nun Gespräch der Schule war. Alles in allem war es einer der Tage, den sie getrost hätte verschlafen können. Doch leider hatte sie heute Morgen trotz aller Vorahnungen (Ihr war ein Fingernagel abgebrochen) den Schulweg angetreten. Nun war es an ihr, diese Misere wieder auszubaden, so gut sie konnte. Also machte sie sich auf den Weg zu T-Pains Wohnung, die zu ihrer Überraschung nicht im Arbeitslosenviertel der Stadt und viel näher an ihrem eigenen Apartment lag, als sie zunächst angenommen hatte. Als sie vor dem riesigen Mehrfamilienhaus stand, musste sie überlegen, an welcher Wohnung sie denn nun klingeln musste. Die Schilder waren allesamt beschriftet, bis auf eines, bei dem jemand den Namenszettel heruntergerissen hatte. Für sie war es klar, dass er in dieser Wohnung leben musste. Sorrow hatte ihr gesagt, dass er den richtigen Namen seines Bosses nicht kannte, und da er anscheinend schon einmal hier gewesen war, musste es diese Wohnung sein. Seufzend betätigte sie die Klingel. Ein rotes Lämpchen neben der Lautsprecheranlage leuchtete auf. „Wer ist da?“, hörte sie seine durch die Anlage stark verzerrte Stimme fragen. „Hier ist Aiko. Kann ich vielleicht hochkommen?“ Es dauerte eine kleine Weile, bis ihr unter lautem Zurren der Eintritt gewährt wurde. Oben wartete T-Pain bereits an seiner Wohnungstür. „Wer zur Hölle hat dir gesagt, wo ich wohne?“, fragte er in neutralem Ton, während er sie in das Innere der Wohnung führte. Die Tatsache, dass diese recht ordentlich und aufgeräumt war, überraschte Aiko. Sie hatte ein Chaos erwartet. Einzig und allein der Stapel leerer Pizza-Kartons ließ vermuten, dass ein Junggeselle hier lebte. „Sorrow“, erwiderte sie. „Aber ich habe ihm versprochen, dir nichts davon zu sagen.“ Wenn er versucht hatte, bis jetzt ernst auszusehen, gab er seine Stellung nun auf und lachte. „Ich schätze, ich sollte dir nichts mehr erzählen“, lächelte er und räumte ein paar ramponierte Bücher vom Küchentisch. Sie war erleichtert, dass er anscheinend wieder besser gelaunt war und ihr den Streit verziehen hatte. Für einen Moment überlegte sie sich sogar, ob sie nicht einfach wieder gehen und so tun sollte, als sei nichts vorgefallen. Letztlich konnte sie sich dann doch dazu überwinden, dort zu bleiben. „Warum bist du hier?“, wollte er dann wissen. Sie hoffte inständig, dass er die Verlegenheit in ihrem Lachen nicht heraushörte. „Chrm... Ich wollte...“ Sie stockte kurz. „Es tut mir Leid, wegen heute Morgen. Ich wollte nicht.. du weißt schon, deine Autorität untergraben oder sowas.“ Gespannt wartete sie auf eine Reaktion. Sein Gesichtsausdruck war nahezu nichtssagend, sodass sie daran nichts ablesen konnte. „Ist dir ziemlich schwer gefallen, hierher zu kommen und mir das zu sagen, hm?“, sagte er dann und lächelte freundlich. Einerseits erleichtert, andererseits verwirrt durch seinen verwunderlichen Stimmungsumschwung nickte sie. „Wenn ich ehrlich bin...“, sagte er und warf einen Blick auf die Mikrowelle, in der sich eine Schüssel Suppe drehte. „Ja?“ „Wenn ich ehrlich bin, dann war es gut, dass du das gemacht hast“, gab er zu. Sie sah ihn überrascht an. „Warum das?“, fragte sie dann. „Es wäre wohl nicht okay gewesen, den Kleinen zu schlagen. Weißt du, manchmal bin ich einfach so aggressiv, wenn da so ein Pimpf daherkommt und glaubt, er müsse in meinen Sachen rumwühlen. Ich bin verantwortlich dafür, dass alles verkauft oder an die Hauptdealer zurückgegeben wird. Es ist...“ Er brach ab, als die Mikrowelle einen langen hohen Ton von sich gab, der wohl anzeigte, dass seine Suppe nun fertig war. Ohne weiter zu sprechen entnahm er die Schüssel und setzte sich wieder auf den Küchenstuhl. Aiko lehnte an der Wand und wartete darauf, dass er seinen Satz vollendete. Stattdessen schüttelte er den Kopf und stützte ihn in seine Hände. „Du bist seltsam“, stellte er fest, ohne sie dabei anzusehen. „Keine Ahnung, warum ich dir soviel von mir erzähle. Aber irgendwie... kriegst du das alles aus mir heraus. Ich glaube, das ist ziemlich typisch von mir, aber ich red' nicht so gern über... sowas.“ Sie sah ihn nachdenklich an. Es war tatsächlich sehr typisch für einen Menschen wie ihn. Keiner redete in diesem Milieu mit anderen über seine Gefühle. Meistens wurde es sogar indirekt vorausgesetzt, dass man entweder nichts empfand, weil viele Emotionen als Schwäche betrachteten, oder es zumindest zu verbergen wusste. Eigentlich war es, wie so vieles in der Welt, unlogisch. Jeder wollte das sein oder haben, was er nicht war oder besitzen konnte. Warum wollten Menschen das, was sie von Maschinen, von Gegenständen unterschied, ablegen? Sicher, für die Personen, die so dachten, war Menschlichkeit der Inbegriff von Schwäche. Nicht umsonst war dieses Wort in der Bedeutung das Gegenteil von Grausamkeit. Doch in der Drogenszene konnte Grausamkeit nur von Vorteil sein. Und so gut wie alle lebten auch nach diesem Prinzip. Wie könnte sie jemandem Menschlichkeit entgegenbringen, der nichts als diese kalte, gefühllose Haltung zeigte? Vor gut fünf Monaten war sie hergekommen, in der Hoffnung, einen Beweis dafür zu finden, dass man diese Menschen nicht vorverurteilen konnte. Ohne diesen Lichtblick wäre sie vermutlich Amok gelaufen, mit dem Ziel, all die Grausamkeit zu zerschlagen, die in der Welt vorherrschte. Es waren so viele, die es nicht verdient hatten zu leben, und so viele andere, die einen unverdient frühen Tod fanden. Allgemein gab es für sie zu wenig, dass sie noch verstehen konnte. Das Leben war ein Mysterium, dass sie niemals voll und ganz entschlüsseln können würde. „Hast du Angst?“, fragte sie T-Pain leise. Er sah auf, als wolle er ihr sagen, dass die Antwort wohl auf der Hand lag. „Jeder hat irgendwann mal Angst, meinst du nicht?“, erwiderte er dann und schob sich einen Löffel Suppe in den Mund. „Nein.“ Es kam schnell und bestimmt, weshalb er sich ein wenig überrascht zeigte. „Nein?“ „Es gibt Menschen, die sich nie fürchten. Weil sie nichts zu fürchten haben. Niemand kommt an sie ran, niemand bereitet ihnen Sorgen. Ihnen ist nichts wichtig außer ihrem eigenen Leben, dass sie mit allen Mitteln beschützen wollen. Und da sie finanziell gut gestellt sind, brauchen sie dich um nichts zu kümmern.“ „Aber dann haben sie doch Angst. Angst um ihr Leben. Selbst wenn es wirklich unmöglich wäre, sie umzubringen, so würden sie sich trotzdem davor fürchten. Oder es sind keine Menschen.“ Sie dachte darüber nach. Obwohl es ihr schwer fiel, musste sie ihm diesmal recht geben. Es gab wohl niemanden, der sich vor nichts fürchtete. Doch die einen hatten mehr Angst als die anderen. Sie wusste nicht genau, ob man sie als furchtsamen Menschen bezeichnen konnte. Es war nicht so, dass sie vor vielen Dingen Angst hatte. Doch ihre Ängste waren real. Zu real, als dass sie sie hätte zurückdrängen können. „Wovor hast du Angst?“, fragte sie schließlich. Sie konnte ihm ansehen, dass er zunächst nicht wusste, was er entgegnen sollte. Er lächelte traurig. Sie versuchte, zu erraten, was er in diesem Moment dachte, doch es gelang ihr nicht. Statt einer Antwort wechselte er das Thema. „Kommst du morgen Abend?“, wollte er wissen. „Was ist denn morgen Abend?“ Sie durchsuchte ihr Gedächtnis, aber ihr fiel nichts ein, was sein könnte. „Hausparty bei Luxury. Er feiert... Ach, keinen Plan, was genau er feiert. Du kennst ihn ja. Er braucht keinen Grund dafür.“ Nicht schon wieder, dachte sie seufzend. Sasori wird nicht gerade erfreut sein, wenn du schon wieder so einen Abend mit ihnen verbringst. Die letzten Male waren katastrophal gewesen. Meistens war sie sturzbetrunken nach Hause gewankt, um vier Uhr morgens, und er hatte sie erwartet, die ganze Nacht. Sie war seine traurigen Blicke leid, seine Enttäuschung, die sie andauernd spürte. Sie hatte ihm auch angeboten, mitzukommen, doch er hatte stets abgelehnt. Er hielt nichts von Partys und vom Trinken. Einmal war er mit ihr gekommen, allerdings war er dann die meiste Zeit in einer Ecke gestanden, und wenn sie ihn zum Tanzen hatte bewegen wollen, hatte er mit der Begründung, er könne nicht tanzen und würde sich ohnehin nur peinlich machen, abgelehnt. Sie waren so gegensätzlich, dass es ein Wunder war, dass ihre Beziehung bis zu diesem Tag Bestand gehabt hatte. Doch es war wohl mehr sein Verdienst als Aikos, denn er hatte viel Toleranz zeigen müssen, um ihre Partnerschaft zu bewahren. Er war die Quelle ihrer größten Angst. Die Angst, ihn zu verlieren. „Vielleicht. Ich weiß noch nicht, ob ich Zeit habe. Eventuell mache ich an dem Abend was mit Sasori.“ Er nickte. „Lass es mich wissen, wenn du dich entschieden hast. Solltest du kommen, müssen wir schließlich die doppelte Menge Alk einkaufen“, lachte er und zwinkerte ihr zu. Ausnahmsweise ließ sie sich nicht provozieren, sondern lachte mit. Schließlich konnte sie nicht leugnen, dass sie gelegentlich zu tief ins Glas schaute. „Gibt es in nächster Zeit sonst noch irgendein Datum, dass ich mir vormerken sollte?“, erkundigte sie sich. „Nein, nicht dass ich wüsste. Aber sei vorsichtig.“ Er führte die Schüssel zum Mund und trank den Rest der Suppe. „Warum das?“ „Ich fürchte, Luxury plant etwas. Er hat ein paar Andeutungen fallen lassen, dass er bereits die perfekte Idee hat, wie er dich für sich gewinnen könnte.“ „Ist das für ihn eine Art Wettbewerb, oder warum tut er das?“ „Nun ja, Sorrow und er haben um einen Fünfziger gewettet, wer dich schneller ins Bett bekommt.“ Seine beiläufige Stimme machte die Aussage nur umso seltsamer. „Nicht dein Ernst.“ Sie seufzte laut. „Vollidioten, echt. Ich sollte aus Protest mit Tyke schlafen!“ T-Pain stellte seine Suppe zur Seite und kratzte sich hinterm Ohr. Mit verlegenem Grinsen erwiderte er: „Da wäre ich aber beleidigt...“ „Hoff' ich doch!“, scherzte sie und verwüstete seine Frisur. Er gab einen Laut der gespielten Empörung von sich. Unter Gähnen streckte sie sich. Die Müdigkeit, die sie schon vormittags in der Schule empfunden hatte, schien langsam zuzunehmen. Leicht apathisch stierte sie ihn an. „Weißt du noch, als du mir mal gesagt hast, ich hätte so viele verschiedene Seiten an mir?“, fragte sie. „Klar.“ „Du änderst dein Verhalten auch ziemlich stark. Wenn wir bei der Gang sind, dann benimmst du dich... Na ja. Wie sich ein Typ wie du halt benimmt. Aber wenn wir alleine sind, bist du ganz anders.“ Er dachte nach. Währenddessen fuhr er mit seinem Zeigefinger über den Rand der leeren Suppenschüssel, die er erneut in die Hand genommen hatte. „Kann sein“, kommentierte er ihre Aussage. Etwas abwesend erhob er sich von dem Stuhl, stellte die Schüssel auf die Spüle und ging an ihr vorbei ins Wohnzimmer. Vorsichtig öffnete er eine Kiste neben einer Glasvitrine und zog eine Schachtel Zigaretten hervor. Er hob auch ihr eine hin und sie nahm sie an. Seit ungefähr drei Monaten hatte sie die schlechte Angewohnheit ihrer Freunde angenommen und mit dem Rauchen angefangen. Zwar hasste sie den Geschmack der Zigarette in ihrem Mund, aber es beruhigte sie ungemein. Seufzend folgte sie ihm auf den Balkon und stützte sich mit den Ellenbogen auf der Brüstung ab, während sie einen tiefen Zug nahm. „Wo hast'n du vorher eigentlich gewohnt?“, wollte er von ihr wissen. Sie stieß eine kleine Rauchwolke aus. „Ungefähr 70 Kilometer von hier. Warum?“ „Es hat mich interessiert. Hast du noch Freunde dort, oder kompletter Neuanfang?“ „Ein paar Kumpel. Mein Exfreund. Die sind alle noch dort, aber ich habe zu den Meisten keinen richtigen Kontakt mehr. Bloß Itachi und Deidara. Aber mit den Namen kannst du wahrscheinlich nicht viel anfangen.“ Sie lächelte nachdenklich. Kisame, Nagato, Konan, Sasuke, Kakashi... Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, die sie ihre Freunde nicht mehr gesehen hatte. Von einigen hatte sie sich nicht einmal richtig verabschiedet. Es kam damals eins zum anderen, und so war sie gegangen, überstürzt, fluchtartig, als hätte es tatsächlich irgendetwas an ihrer Situation ändern können. Doch es war in Ordnung für die anderen, denn sie kannten Aiko ohnehin als unüberlegte, impulsive Person. Ständig auf dem Sprung, immer in Bewegung. Sie war wirklich kein Hausmütterchen gewesen, nie, und auch jetzt nicht, obwohl man hätte glauben müssen, dass all die Geschehnisse sie von der Herumtreiberei abgeschreckt hatten. Doch sie lernte nicht aus solchen Fehlern, was vermutlich ihr größter Makel war. Sasori hatte so manches Problem damit gehabt, dass sie ständig weg war. Abend für Abend, Nacht für Nacht. Sie sagte ihm nicht immer, wo sie hinging, und wenn sie ihm versprach, um Mitternacht wieder da zu sein, wusste er, dass sie vor dem Morgengrauen nicht zurück sein würde. Im Nachhinein wusste sie nicht, wie sie es hatte tun können. Dass sie alles aufs Spiel gesetzt hatte, was ihr lieb und teuer war, konnte sie nicht mehr verstehen. Und wie sie es damals gerechtfertigt hatte, wollte ihr nicht mehr in den Kopf. Sie sah zu T-Pain, der seine aufgebrauchte Zigarette vom Balkon auf den Vorgarten fallen ließ. Selbst wenn er sicher viel Schlechtes in seinem Leben getan hatte, war sie überzeugt davon, ihn um Längen schlagen zu können. Mit einem Lächeln warf sie ihre Haare in den Nacken und sagte: „Ich mag dich, T.“ Der Blick, mit welchem er sie ansah, wirkte überrascht. „Glaub nicht“, antwortete er leicht brummelnd, „dass du ein schwules 'Ich dich auch' oder so'n Scheiß zurückbekommst.“ Da sie ein 'Ich dich auch' nicht erwartet hatte, störte sie sich nicht weiter an der Tatsache, dass er ihr keine richtige Antwort gab. Die rötliche Färbung in seinem Gesicht reichte ihr bereits. „Ach ja, übrigens. Wenn du morgen Abend nicht kommst, steige ich in Luxury's komische Wette ein. Also?“, drohte er plötzlich. „Auch wenn ich mir dafür in den Arsch beißen könnte... Ohne mich wird die Party langweilig. Ich bin da, oder denkst du echt, ich würde mir einen Haufen besoffener Idioten entgehen lassen?“ Er lachte. Sie lachte. Und alles schien in Ordnung. Kapitel 13: Jahrestag --------------------- Boah, hat des Kapitel ewig gebraucht... Ich hatte voll die Blockade, und ich fürchte, die Qualität des Kapis hatte ziemlich darunter zu leiden -.- Na ja, was solls, hier isses also: „Hey! Was soll das Ganze eigentlich?“ Sasori war nicht laut. Doch an seinem Tonfall konnte man unschwer hören, dass er ziemlich wütend war. Leicht schnaubend fegte er einige Unterlagen vom Tisch. „Du hast gesagt, du gehst nicht mehr auf solche Partys! Nicht ohne mich!“ Der Streit war vorprogrammiert gewesen. Aiko hatte das schon in dem Moment gewusst, in dem sie T-Pain zugesagt hatte. Mittlerweile fragte sie sich, warum sie Sasori überhaupt erzählt hatte, wo sie hingehen wollte. Es regte ihn ohnehin nur auf. „Ich will doch nur nicht, dass du dich langweilst... So wie letztes Mal“, versuchte sie, ihn ein wenig auszubremsen. Es gelang ihr nicht. „Langweilen ist wohl nicht das richtige Wort, wenn du ein paar Meter neben mir mit diesem... Menschen rummachst!“, warf er ihr vor. Sie verdrehte die Augen. „Ich habe nur mit ihm getanzt. Und nichts anderes.“ Lüge, schoss es ihr durch den Kopf. Es war wohl mehr als tanzen gewesen, was sie da mit Luxury betrieben hatte. Sie hatte zu wenig Hemmung und zu viel Alkohol intus gehabt, um ihn in seine Schranken zu weisen, doch hatte sie glücklicherweise geschaltet, ehe es zu eindeutigeren Aktionen hätte kommen können als in ihren Augen harmlosem Geplänkel. Es war also kein richtiger Betrug gewesen. So konnte man es nicht nennen. Aber 'Nur Tanzen' war eine Untertreibung. Sasori lachte freudlos. „Aiko, ich kenne den Unterschied zwischen Tanzen und Rummachen. Halt mich nicht für blöd.“ Sie schlüpfte in ihre hohen, unbequemen schwarzen Schuhe und griff nach ihrer Handtasche. „Du weißt doch, dass du mir vertrauen kannst“, fügte sie hinzu, ihr Kleid zurecht zupfend. „Ach ja, weiß ich das?“, rief er und hielt ihr Handgelenk fest, als sie die Tür öffnen wollte. Sie fuhr herum und sah ihn an. Seine Augen glänzten. „Bitte geh nicht! Sonst passiert das Gleiche wie damals! Ich will dich nicht noch einmal verlieren!“, flehte er sie an und zog sie an sich. Aiko aber stieß ihn von sich und ging über die Türschwelle. „Mach dir nichts vor. Wir haben uns verloren.“ Mit diesen Worten zog sie die Tür hinter sich ins Schloss. Das war genau ihre Art sich auseinandersetzen. Nämlich am besten gar nicht. Wenn ihre zumeist schwache Verteidigung zusammenbrach und die Antworten auf die unangenehmen Fragen auf der Hand lagen, lief sie weg. Ein nichtssagender Satz, ein enttäuschter Blick, und sie war fort. Doch dieser letzte Satz, den sie Sasori ohne nachzudenken an den Kopf geworfen hatte, war nicht gelogen. Irgendwo in ihr hatte Aiko ihre Beziehung schon längst aufgegeben und sie wusste, dass er ohnehin nie an ihre Liebe geglaubt hatte. Denn sie konnte den Ansprüchen eines Einzelnen nicht genügen. Es war nicht so, dass sie beziehungsunfähig gewesen wäre, aber in einer gewissen Weise tat sie sich schwer damit. Sasori hingegen hielt zwar stets an ihrer Partnerschaft fest, doch er glaubte ihr nicht, dass sie ihn liebte. Es war zu viel passiert, was ihre Liebe zu ihm hätte verhindern müssen, unter der Voraussetzung, dass sie tatsächlich existierte. „Verdammt!“ Aiko schlug mit der flachen Hand gegen eine Betonmauer. Warum taten manche Menschen Dinge, von denen sie genau wussten, dass sie falsch waren? Warum tat sie Dinge, die ihr zum Verhängnis werden würden? Damals wie heute, sie konnte einfach nicht aus ihren Fehlern lernen. Auch wenn ihr Kopf sie in die andere Richtung dirigierte, fanden ihre Füße den Weg zu Itachi. „Wow. Hoher Besuch“, kommentierte ihr bester Freund mit vollem Mund. „Du bist aber auch immer nur am Fressen, oder?“, begrüßte sie ihn grinsend und umarmte ihn. „Wieso? Das ist doch nur eine kleine Zwischenmahlzeit! Bevor du dich über meine Essgewohnheiten beschwerst, sag lieber mal, warum du gekommen bist?“, wollte er wissen und bot ihr einen Stuhl an. Sie setzte sich. „Ich gehe heute Abend aus.“ Itachi rückte seinen Stuhl etwas näher zu ihr und sah sie etwas besorgt an. „Du gehst wieder aus? Bist du dir sicher, dass das so gut ist? Ich meine … wegen Sasori und so...“, sagte er vorsichtig. Sie räumte einige Teller, die auf seiner Spüle standen, mit viel Schwung in die Spülmaschine. „Nerv mich nicht damit, okay? Es ist verdammt nochmal meine Sache! Überhaupt, wer sagt, dass ich ihn gleich betrüge, nur weil ich ausgehe?!“, fuhr sie ihn an. „Ich bitte dich. Bisher war es fast immer so. Du gehst aus, du triffst ein, zwei, drei Männer, denen du gefällst und die dir gefallen und schon ist es zu spät. Es ist deine Sache. Aber begib dich nicht absichtlich in Gefahr. Das ist absolut dämlich.“ „Siehst du?! Genau deshalb bin ich hier!“, erwiderte sie. Er sah sie unverständlich an. „Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht … mitkommen könntest?“, fragte sie, während sie ihr liebstes Lächeln aufsetzte. Er lehnte sich seufzend zurück, wohl wissend, dass die Entscheidung bereits gefallen war. Wenn es nicht sein Gewissen war, das ihn dazu überredete, dann war es wohl sein Verstand, der ihm sagte, dass er ihr eine Menge schuldig war. „Na schön. Dann gib dir aber zumindest Mühe, nichts zu tun, was du später bereuen wirst. Und trink nicht so viel! Ist ja echt kaum zu glauben, dass du noch einen Anstandswauwau brauchst... Und das, obwohl du ja immer soooo erwachsen bist“, sagte er mit einem Zwinkern. „Warum gehst du eigentlich überhaupt aus, wenn du gar keine Männer aufreißen willst?“ Aiko kratzte sich an der Wange und antwortete: „Da schmeißt so ein Freund von mir 'ne Party und ich...“ „Du hast also schon Männer aufgerissen!“, unterbrach er sie. „Hab ich nicht! Er ist genaugenommen nicht mal ein Freund! Nur so jemand aus der Gang, mit der ich rumhänge“, rechtfertigte sie sich. „Und wie nennt sich diese Gang?“ Aiko begann zu lachen. Sie hatte T-Pain vor einiger Zeit nach dem Namen der Gang gefragt, und er hatte nur etwas verlegen zur Seite geschaut, sich entschuldigend, noch bevor er ihr eine richtige Antwort gegeben hatte. Der Name sei rein provisorisch und er sei ohnehin Sorrows Idee gewesen, also könne man ja nicht viel davon erwarten. Und dann hatte er ihr den Namen verraten. „Sie nennen sich die TroublemakerZ. Mit Z hinten“, erklärte sie und grinste breit. Itachi verkniff sich offensichtlich sein Lachen. „Ich finde, du hast eine Gang mit einem kreativeren Namen verdient“, kommentierte er dann. „Wen juckt denn schon der Name? Gehst du jetzt mit?“ Er seufzte schwer und legte seinen Teller Nudeln beiseite. „Bleibt mir was anderes übrig?“, fragte er rhetorisch, verschwand in seinem Schlafzimmer bzw. seiner Waschküche und kehrte in einem etwas zu engem T-Shirt und übertrieben weiten Jogginghosen wieder. Während er seine langen schwarzen Haare durchkämmte, schlüpfte er in ein halbwegs sauberes Paar Skater-Schuhe und machte sich einen Zopf. Dann gingen sie zu Luxurys Wohnung, die sich als genauso protzig und exzentrisch eingerichtet erwies wie ihr Eigentümer. „Hey, Schatz, wer is'n das?“, fragte Luxury, anscheinend schon gut angetrunken, als er Aiko und ihren Begleiter entdeckt hatte. „Mein bester Freund Itachi. Ita, das ist Luxury!“, erwiderte sie und machte die beiden miteinander bekannt. Der Silberhaarige musterte Itachi gründlich und befand ihn anscheinend als attraktiv genug, um an seiner Party teilzunehmen. Jedenfalls führte er Aiko und ihn herum und stellte ihnen einige Personen vor, junge Männer und schöne Frauen, die sich alle in seiner kleinen Wohnung befanden und zu lauter Musik tanzten. Die Kommunikation stellte ein kleines Problem dar. Man musste schreien, wenn man verstanden werden wollte, und die Menge sog einen in ihre Mitte wie ein Wasserstrudel, weshalb Aiko Itachi bald aus den Augen verlor. Dafür fand sie die Bar, auf der zahlreiche alkoholische Getränke standen. Sie schnappte sich einen Cocktail und trank ihn aus wie ein Glas Wasser. „Hey!“, rief ihr irgendjemand ins Ohr. Als sie sich umdrehte, sah sie einen Typen, den sie aus ihrer Parallelklasse flüchtig kannte. Sonst waren nicht viele Menschen dort, die sie schon mal gesehen hatte. Kurz nickte sie ihrem Schulkameraden zu und mischte sich dann unter die Leute. Nachdem sie sich durch das Getümmel gekämpft hatte, fand sie T-Pain, der mit Sorrow und Tyke auf der breiten Couch saß. „Und, was läuft so bei euch?“, fragte sie laut, um die Musik zu übertönen. T-Pain hob zur Antwort eine Flasche Wodka nach oben und füllte ihr leeres Cocktailglas damit. Sie trank es in einem Zug aus und bemühte sich, das Brennen in ihrem Hals zu ignorieren. „Was ist mit ihm?“ Aiko deutete auf den regungslosen Tyke, dessen Kopf auf Sorrows Schulter lag. „Der pennt.“ Sorrow schien Tyke überhaupt nicht zu bemerken. Sie lächelte. Langsam merkte sie, wie ihre Wangen erröteten und das Blut durch den Alkohol in ihren Kopf schoss. T-Pain erhob sich von dem Sofa und zog sie an der Hand auf die Tanzfläche, einfach so, ohne ein weiteres Wort. Sie wusste, dass sie bereits angetrunken war, und sie wusste genauso, dass Tanzen zu verlockend war. Es war beschämend für sie, dass sie überhaupt Angst davor haben musste, ihren geliebten Freund zu betrügen, denn es sollte selbstverständlich sein, dass sie ihm die Treue hielt. Er hatte ihr eigentlich nie den Grund dazu gegeben, sich in irgendeiner Weise vernachlässigt zu fühlen und er gab sich alle Mühe, sie nicht zu langweilen. Es war nicht so, dass er sie langweilte. Aber eine Beziehung war für sie nicht abwechslungsreich genug, um sie nicht der Gefahr auszusetzen, fremd zu gehen. Von allen Charakterschwächen, die sie hatte, von allen Fehlern, die Sasori stets zu übersehen gepflegt hatte, hasste sie ihre Unzufriedenheit mit dem, was sie hatte, am meisten. Es hätte genug Ausreden gegeben, die sie Sasori hätte an den Kopf werfen können, um sich für einen weiteren Seitensprung zu rechtfertigen. Es wäre keine Entschuldigung gewesen. Aber er hätte so getan, als wäre alles wieder gut, um sie nicht zu verlieren. Und wieder einmal befand sie sich an einer Stelle, an der sie „Nein“ hätte sagen müssen, nur ein kleines Wort, doch sie brachte es nicht über die Lippen. Also tanzten sie, mit dem Abstand von einer Armlänge. Nach und nach verdrängte sie ihre Vorsätze, das Drumherum und den Ring an ihrem Finger, der sie an ihre Liebe zu Sasori erinnern sollte, und ließ ihn näher kommen. Seine Nasenspitze berührte ihr Stirn, und als er ihren Kopf etwas anhob, sah er in ihre Augen und ihre Lippen waren nur wenige Millimeter von einander entfernt. Sie spürte seinen Atem heiß und trocken auf ihrer Haut und sie wusste, dass es falsch war. Er wollte sie küssen, und sie wollte geküsst werden, sodass es ihr unvermeidbar schien, ihren Prinzipien und ihrem Freund untreu zu werden. Und das, was sie vorhergesehen hatte, geschah. Für andere war es kein Drama, nur ein Kuss, eine kleine Geste, doch für sie war es ein großer Schritt in die falsche Richtung. Sie konnte seinen Blick förmlich auf ihr spüren, seine Enttäuschung und sie wollte einfach nur noch weg, in ihr Bett und sich die Decke über den Kopf ziehen und schreien. So viele Gedanken beschäftigten sie, dass sie sich kaum auf die eigentliche Sache konzentrieren konnte, nämlich das Zurückdrängen ihres Tanzpartners. Es half ihr nichts, sich einzureden, es sei ein Reflex gewesen, dass sie seinen Kuss erwidert hatte, denn sie konnte sich nicht einfach von ihm lösen. Sofort fielen ihr zahlreiche andere Ausreden ein, die sie benutzen könnte, um ihr fehlerhaftes Verhalten zu entschuldigen. Natürlich wären es immer noch Ausreden und keine wirklichen Erklärungen, aber er würde es hinnehmen, er würde es hinnehmen müssen. Sie sei stark alkoholisiert gewesen, er hätte sie mit dem Kuss zu sehr überrascht, als dass sie hätte rechtzeitig reagieren können, die Dunkelheit, die laute Musik, die späte Uhrzeit, die ganze Atmosphäre hätte zu diesem einmaligen Unfall geführt, der auch sicher nie wieder vorkommen würde. Es sei nichts gewesen. Er würde ihr nichts vorwerfen. Wie jedes Mal. Jetzt ist es sowieso egal, also Scheiß drauf..., dachte sie sich und ging auf T-Pains Annäherungen ein. Sie rechnete bereits damit, dass irgendetwas passieren würde. Er konnte sie doch sehen, und bisher hatte er sie noch jedes Mal daran erinnert, wenn es zu einer brenzligen Situation gekommen war. Genau wie bei Luxury, als sie zusammengebrochen war. Es war er gewesen, er hatte es gemacht, irgendwie, da war sie sich absolut sicher. Und als nichts geschah, war sie beinahe ein wenig beunruhigt. T-Pain grinste sie an und flüsterte in ihr Ohr: „Warum verziehen wir uns nicht einfach irgendwo hin, wo es ruhiger ist...“ Aiko nickte, ohne groß nachzudenken. Sie gingen einfach gemeinsam aus Luxurys Wohnung, torkelten Arm in Arm die Treppe herunter und fanden irgendwie durch die Dunkelheit zu seiner Behausung. „Willst du noch was zu trinken, Süße?“, fragte er und ging in die Küche. „Hast du Sekt?“, fragte sie zurück, während sie sich auf seine Couch setzte und ihre unbequem hohen Schuhe auszog. „Nein, aber ich hab noch Bier, Wodka, Batida...“ Er stockte. Aiko konnte ihn von ihrem Platz aus nicht sehen und wunderte sich deshalb ein wenig, weshalb er abgebrochen hatte. „Was ist denn?“ „Ach nichts...“, erwiderte er und kam aus der Küche, zwei Biere in der Hand, mit nachdenklichem Gesichtsausdruck. Dann stellte er sie auf dem Wohnzimmertisch ab und ging in sein Schlafzimmer, anscheinend um irgendetwas zu holen. Inzwischen nahm sie seine Wohnung genauer unter die Lupe. Sie hatte sie sich etwas schmutziger und unaufgeräumter vorgestellt. Doch entgegen dieser Vermutung schien er sich gut um die Instandhaltung seiner Wohnung zu kümmern. Ein wenig gedankenverloren griff sie dann nach dem Bier und blätterte in einer alten Zeitung, die sie in einer Ablage unter dem Wohnzimmertisch fand. Es waren die alltäglichen Nachrichten. Bürgermeister Soundso tritt wegen Skandal zurück. Der Mörder des 12-jährigen Kevin endlich hinter Gittern. Älteres Ehepaar findet Wildschwein in Hotelzimmer. T-Pain nahm ihr die Zeitung aus der Hand. „Die ist schon ewig alt“, meinte er und legte sie wieder zurück. „Und jetzt?“ Sie legte ihre Hand auf sein Hemd. Er grinste und küsste sie. Wie kannst du mir das antun? Wie?! Du hast gesagt, du liebst mich! War das alles gelogen?! Die Erinnerungen von damals krallten sich an ihren Gedanken fest, als fürchteten sie in Vergessenheit zu geraten. Und obwohl sie versuchte, nicht an ihn zu denken, während sie einen anderen küsste, konnte sie nicht anders als sich sein Gesicht vorzustellen, wie sie es immer und immer wieder hatte sehen müssen. Seine Vorwürfe. Seine Angst. Sein Schmerz. Es war alles in ihrem Kopf. „Soll ich dir was sagen, Kleines?“, raunte er und blies gleichzeitig einen Schub nach Alkohol riechender Luft in ihr Gesicht. „Hm“, machte sie in Gedanken versunken, kaum auf seine Worte achtend, während er seine Hand immer weiter unter ihren Rock schob. Seine Küsse waren fordernd, ganz so, als wolle er ihr die Luft nehmen und sie mit seiner unerwarteten Leidenschaft ersticken. „Ich hab dich schon immer süß gefunden...Seit du in meine Klasse gekommen bist....“ Selbst wenn sie sich darauf hätte konzentrieren können, ihm zuzuhören, hätte sie sein heiseres, beinahe lüsternes Flüstern kaum verstehen können. Die Hitze in ihrem Kopf stieg weiter an, ebenso wie die Lust, die sie nicht verspüren wollte. Eine Lüge, die sie sich einredete, denn eigentlich war ihr sehr gut bewusst, wie sehr sie dieses Gefühl spüren wollte. Aber ihr Gewissen appellierte an ihren Verstand, der von ihrem Körper außer Kraft gesetzt zu werden drohte. Sie zog zunächst gar nicht erst in Betracht, etwas gegen seine drängenden, forschen Berührungen zu unternehmen. Es fühlte sich zu richtig an, um falsch zu sein. Doch umgekehrt war es genauso. Hasst du mich?! Ist es das? Oder willst du mich einfach nur leiden sehen? WARUM?! Das ist nicht wahr, das stimmt nicht! Glaub mir! Ich wollte das nicht... Es ist nicht meine Schuld! Was soll das? Lüg mich nicht an, Aiko! Ich weiß, was zwischen euch läuft! Lass mich in Ruhe mit deinen Unterstellungen! Du hast keine Ahnung! Sie hörte das Geschirr gegen die Wand schlagen und zerbersten, das sie nach ihm geworfen hatte. Sein trauriger Blick. Sein immer noch liebevoller Blick. Sie konnte ihn genau vor sich sehen, genau wie sie die Geräusche der brummenden Waschmaschine in ihrem alten Haus und das Ticken der Wanduhr vernahm, obgleich nichts davon noch um sie herum war. Die Stimmen in ihrem Kopf wurden immer lauter, wie jedes Mal, wenn sie in einer Situation war wie dieser. T-Pain machte sich mittlerweile an dem Reißverschluss ihres dunkelgrünen Satinkleides zu schaffen, der mal wieder klemmte. Sie merkte, wie sehr seine Finger zitterten und schob ihn von sich. „Hey, was soll das?“, maulte er und sah sie verwirrt an. Aiko stand bebend auf und schob ihre Kleid ein wenig nach oben. „Du bist verdammt heiß“, sagte sie auf ihrem Weg in die Küche. „Danke sehr!“, rief er ihr seltsam lachend hinterher. Geladen öffnete sie einige Küchenschränke, suchte, fand ein Glas und ließ Leitungswasser hineinlaufen. „Ich rede von deiner Temperatur, Idiot! Was hast du genommen?“, wollte sie wissen. „Gar nichts!“, beteuerte er. „Trink das!“ Sie setzte das Glas an seine Lippen und flößte es ihm langsam ein. Er wehrte sich kaum dagegen. Sie stöhnte aufgrund seiner offensichtlichen Leichtsinnigkeit und legte ihn auf die Couch. Er nahm ihre Hand und hielt sie an seine Backe, während sie mit ihrer anderen ihr Handy aus der Tasche holte und es sich ans Ohr hielt. „Was machst du da?“, fragte er verwundert. „Ich ruf nen Arzt“, erwiderte sie gestresst. In einer ruckartigen Bewegung zog er sie nach unten, sodass sie auf ihn fiel und ihr Handy zu Boden ging. „Mach keinen Unsinn, Süße. Wenn der rauskriegt, dass ich Drogen nehme, is aus, verstehst du das nicht? Bleib einfach locker.“ Er versuchte sie erneut zu küssen, sie drehte sich aber weg und holte einen Waschlappen, den sie ihm auf die Stirn legte. „Leider hast du recht“, gab sie zu, an seiner Seite sitzend. „Was für Drogen denn genau?“ „Ecstacy.“ Er sah etwas schläfrig nach oben. Sie seufzte. „Was soll denn der Scheiß?“, fragte sie ihn, immer noch sehr aufgeregt. Er zuckte nur unbeteiligt mit den Schultern und legte seinen Kopf auf ihren Schoß. Vorsichtig strich sie darüber, Wie ein Kind, dachte sie lächelnd, auch wenn die Situation ihr ernst war. Schließlich könnte tatsächlich etwas Schlimmes geschehen. Damit war nicht zu spaßen. Es würde eine lange Nacht werden. T-Pain schlief sehr bald ein und sie bemühte sich darum, sein Fieber zu kurieren und seine Körpertemperatur wieder auf ein normales Level ab zu senken. Das war nicht gerade leicht, doch letztendlich, nachdem er einige Male dazwischen aufgewacht war, war sein Zustand unbedenklich. Nach rund fünf Stunden schlug der geräderte Gangleader blinzelnd und immer noch zugedröhnt seine Augen auf. „Wie geht es dir?“, fragte Aiko, seinen Kopf in den Händen haltend. „Gut“, antwortete er. Er machte einen sehr verwirrten Eindruck. Gähnend drehte er sich auf die Seite und kuschelte sich gegen ihren Bauch. „Ich liebe dich“, murmelte er irgendwann einfach so, ohne Bezug, in ihr Kleid hinein. Sie gab ihm mit einem leisen Seufzen einen Kuss auf die Stirn und ging in die Küche, um selbst etwas zu trinken. Etwas gedankenverloren, das Glas in der Hand, ging sie dann durch seine Wohnung und sah sich die herumliegenden Dinge an. Dabei fiel ihr Blick auf den Küchenkalender, auf welchem der neue Tag rot angestrichen war. „Jahrestag“ stand dort in dicken großen Lettern. Aiko wunderte sich etwas darüber. Sie hatte nie davon gehört, dass er eine Freundin hätte, und sein Geburtstag war vor zwei Monaten gewesen. Daran konnte sie sich noch gut erinnern, so oft, wie sie sich in dieser Nacht hatte übergeben müssen. Plötzlich hörte ihr Handy, das auf dem Küchentisch lag, klingeln. Es war Sasori. „Wo bist du?“, fragte er. Seine Stimme klang verschnupft und müde. Anscheinend war das nicht sein erster Anruf diese Nacht. „Noch auf der Party“, log sie. Es würde nur unnötige Komplikationen bedeuten, wenn sie ihm jetzt die Wahrheit sagte. Das zu erklären dauerte ihr zu lange „Scheint ja nicht mehr viel los zu sein“, stellte er trocken fest. „Wieso?“ „Sonst würde ich ja im Hintergrund was hören.“ „Warum hast du überhaupt angerufen? Hoffentlich nicht, um mir deine Eifersucht aufzudrängen!“ „Hör zu, Aiko, ich habe mir vielleicht Sorgen gemacht, wenn du einfach so aus dem Haus stürmst und um 6 Uhr morgens immer noch nicht zu Hause bist?“ „Ah ja. Schön. Jetzt weißt du ja, wo ich bin.“ „Ja. Stimmt wohl.“ Er legte auf. Sie spürte, dass er insgeheim wusste, wo sie war. Und sie schämte sich, schämte sich für all die Dinge, die sie ihm erneut angetan hatte. Um nicht darüber nachdenken zu müssen, räumte sie ein wenig auf. Gerade als sie die Gläser auf die Spüle stellte, fiel ihr Blick erneut auf die rote Markierung in T-Pains Kalender. Jahrestag. Sie sah kurz zur Seite. „Wir haben den 8.“, überlegte sie laut. Auf einmal riss sie die Augen auf und ging ins Wohnzimmer, wo die alte Zeitung auf der Ablage unterm Tisch lag, leicht vergilbt und unscheinbar. Sie hob sie hoch und las. Der Artikel, den sie gesucht hatte, war ein kurzer Text, etwas am Rand. Sie überflog ihn, sah auf, las ihn gründlich. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. Drei Jahre lag es zurück. Nun war ihr Vieles klarer. Darum war er also so. Kapitel 14: Seelenverwandtschaft -------------------------------- Fassungslos war sie nicht. Auch nicht schockiert. Dieses Gefühl in ihr lag irgendwo zwischen Verständnis und Trauer. Eigentlich konnte sie durch diesen Fund nicht wissen, weshalb er diese Zeitung immer noch aufbewahrte und warum dieser Tag einer besonderen Kennzeichnung in seinem Kalender würdig war. Aber diese Dinge ließen nur einen Schluss zu. Es lag auf der Hand, dass er einen Bezug zu diesem Tag gehabt haben musste. Kein Mensch würde sich aus einem anderen Grund so verhalten. Ihre Hände, die Zeitung haltend, zitterten. Er war ihr so viel ähnlicher als sie je gedacht hätte. Ein Seelenverwandter. Ausgerechnet er also. Sie hatte sich fest vorgenommen, diese Menschen zu hassen, die für ihr Unglück verantwortlich waren. Sie hatte alles verabscheuen wollen, was seine Finger im Drogengeschäft hatte. Es kam wie jedes Mal, wenn sie sich darauf eingeschossen hatte, ihre Vorurteile beizubehalten. Ihre Engstirnigkeit hatte oftmals genau zum Gegenteil geführt, denn wenn sie einen Blick hinter die Fassaden warf, musste sie immer wieder einsehen, dass sie Menschen nicht nach Belieben in Schubladen stecken konnte. Nun hätte dies vermutlich der Anfang einer wunderbaren Liebesbeziehung werden können. Zwei junge Menschen, die sich gefunden hatten, mit den gleichen Problemen, den gleichen Ängsten, alleingelassen in einer dunklen, einsamen Welt, die ihnen die Liebe versagte, welche sie so herbeisehnten wie nichts anderes. Es hätte alles perfekt gepasst, wäre da nicht ihr Freund, dessen beinahe verzweifelte Bemühungen, ihr eben diese Liebe zu geben, allesamt vergebens waren, weil sie sich immer allein fühlen würde, egal, wer an ihrer Seite war. Wäre da nicht die tiefe Treue, die sie ihm gegenüber einhalten wollte, jetzt, da er sie immer beobachten konnte und sie ihre Eskapaden nicht weiter hätte vor ihm verheimlichen können, obschon er auch in früheren Zeiten eine Ahnung von ihren Fehltritten hatte. Und wäre da nicht die Tatsache, dass ihre Gefühle sich stets gegen ihren Verstand wehrten und sie ein Herz, das nicht mehr ihr gehörte, nicht einfach einem anderen schenken konnte, selbst wenn es so viel einfacher gewesen wäre, als ihr Schicksal hinzunehmen und ihre Versprechen zu halten. Es sprach doch alles dagegen, was hätte dagegen sprechen können, sodass nicht einmal sie etwas daran ändern konnte, dass eine Beziehung zu T-Pain in keinem Fall in Betracht kommen, geschweige denn funktionieren würde. Sie brauchte gar nicht erst über den Haufen Probleme, den eine Beziehung mit ihm allgemein unvermeidlich auslösen würde, nachzudenken. Nein, es kam überhaupt nicht in Frage, und da konnte sie ihn noch so gern haben, lieben würde sie ihn nie. All diese Gedanken im Kopf, kniete sie an seinem Lager und sah ihm beim Schlafen zu. Jetzt, da er ruhig atmete und sein Fieber abgeklungen war, wirkte er ganz friedlich, so als könne er keiner Fliege etwas zu leide tun. Seine dunkelblonden Haare waren durcheinander, seine Augen geschlossen, sodass er beinahe unschuldig wirkte. Vorsichtig schob sie die Decke etwas über seine Schultern. Auch wenn sie sehr behutsam gewesen war und seine Haut kaum berührt hatte, wachte er davon auf. Das erste, was er von sich gab, war ein Geräusch, mit dem sie bereits gerechnet und deshalb vorsorglich einen Eimer neben das Sofa gestellt hatte, der auch sofort zum Einsatz kam. „'Tschuldige“, nuschelte er, leicht errötet und sichtlich peinlich berührt. Sie holte ihm ein paar Tücher, mit denen er sich von der unappetitlichen Mischung an seinem Mund befreien konnte, und entleerte den Behälter in die graue Tonne. „Ist doch nicht schlimm,“, erwiderte sie ruhig, „aber vielleicht solltest du dich besser mal unter die Dusche stellen. Nimm aber kaltes Wasser, das kühlt den Kopf.“ Widerstandslos befolgte er ihren Rat und kam später frisch geduscht und in sauberen Kleidern wieder ins Wohnzimmer. Auch wenn sie sich fest vorgenommen hatte, einfach über die Ereignisse der vergangenen Nacht zu schweigen und ihn mit den beschämenden Vorkommnissen nicht zu belästigen, kam sie dennoch nicht um einige Anmerkungen hin: „Es war überflüssig, dass du die Tabletten geschluckt hast.“ „Ich weiß“, antwortete er leise mit dem Blick zum Boden. „Als ob es nicht schon gereicht hätte, dass du gesoffen hast wie ein Loch!“ „Ich weiß.“ „Es hätte sonst was passieren können!“ „Ja, ich weiß, verdammt! Du hättest mich ja auch einfach dort liegen lassen können!“ Er klang ziemlich gereizt. „Um heute zu erfahren, dass du in einem Straßengraben verreckt bist, oder was?!“ „So schlecht ging's mir nicht!“ „Du hättest dich sehen sollen. Dir ging es dreckig. Kein Wunder, wenn du so einen Scheiß machst!“ Sie sah ihn vorwurfsvoll an. Als sie aber seinen wehmütigen Blick bemerkte, wurde auch ihre Miene milder. „Es muss hart für dich sein“, murmelte sie. „Wovon redest du?“, fragte er unverständig. „Heute ist der 8. Dieses Mädchen aus der Zeitung hat sich vor drei Jahren die Brücke runter gestürzt“, sagte sie mit ruhiger Stimme und klang dabei, als würde sie ihm etwas Neues sagen, obwohl sie sich ziemlich sicher war, dass er es wusste. Sein Blick wanderte zum Wohnzimmertisch, wo die alte Zeitung halb aufgeschlagen lag. „Du hast es im Kalender gesehen und warst so unglücklich, dass du dir das Zeug reingepfiffen hast, nicht wahr?“ T-Pain legte den Nachrichtenanzeiger wieder auf die Ablage, wo er vorher gelegen hatte. „Das geht dich nichts an. Und überhaupt, was hast du an meinen Sachen zu suchen?“, meinte er bestimmt, aber nicht wirklich wütend. Mit dem Gesicht weg von ihr setzte er sich neben Aiko. „Willst du mir vielleicht erzählen, was .. damals eigentlich passiert ist?“, fragte sie vorsichtig und lehnte sich leicht an ihn. Er schwieg dazu, aber sie hatte auch keineswegs eine Antwort erwartet. Umso überraschter war sie, als er plötzlich nach ein paar Minuten Stille anfing, zu erzählen. „Ich hab in einem Blumenladen gejobbt, zu Fuß so zehn Minuten von hier. Da war ich 14 und weil ich meinen Eltern scheißegal war, musste ich mir halt alles selbst verdienen, was ich gebraucht hab. War ein guter Job, wirklich. Irgendwann ist sie mir dann aufgefallen, weil sie jeden Nachmittag zur gleichen Zeit am Schaufenster vorbeigelaufen ist. Sie war zwar ein paar Jahre älter, aber das war mir ziemlich egal. Ich weiß nicht warum, aber ich hab jeden Tag darauf gewartet, dass sie am Fenster vorbeikam, auch wenn es nur ein paar Sekunden waren, bis sie auch wieder verschwunden war. Einmal ist sie dann sogar in den Laden rein, hat Blumen gekauft. Gelbe Nelken. Sie hatte echt eine süße Stimme, und ich glaube, dass ich ziemlich rot war, aber ich hab natürlich nichts gesagt. Also, abgesehen von „Da haben Sie sich einen schönen Strauß ausgesucht! Sie werden jemandem damit sicher viel Freude bereiten!“, was mein Standardspruch gewesen war, aber insgeheim hab ich mir gewünscht, dass die Blumen nicht für ihren Freund oder sowas waren. Die Besitzerin von dem Blumenladen hat mir später gesagt, dass sie an einer Privatschule so eine Art Stipendium hatte, wo sie ihr Abi machen wollte.“ Sie schluckte, aber möglichst leise, denn sie wollte ihn nicht unterbrechen. Er lehnte sich zurück, ganz so, als wäre die Geschichte, die er erzählen hatte wollen, zu Ende, doch für Aiko war sie das nicht. „Und... dann?“ Sie versuchte, nicht ungeduldig zu wirken, obwohl es sie sehr interessierte, was er zu sagen hatte. „Tja. Irgendwann hab ich's dann in der Zeitung gelesen...“, sagte er mit gedämpfter Stimme und deutete mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmertisch. „Woher wusstest du, dass sie es war?“, fragte sie leise. „Sie kam nie wieder am Blumenladen vorbei, also war mir irgendwann klar, dass sie es gewesen sein musste.“ Aiko nahm ihn behutsam in den Arm und strich über seinen Rücken. Es ging kaum länger als ein, zwei Minuten, die sie so dasaßen, aber ihr kam es vor wie eine halbe Ewigkeit. „Eigentlich... ist das ziemlich pussig“, stellte T-Pain fest, während sein Blick in die Leere des Raumes abschweifte. „Das wäre es, wenn du jetzt heulen würdest“, befand sie mit einem Schmunzeln. Dann schlug sie vor:„Vielleicht sollten wir eine Kerze anzünden.“ Er nickte. „Vielleicht sollten wir sollten wir das tun“, erwiderte er dann und stand auf, um eine weiße Kerze aus einem voll gestellten Regal zu holen. „Hast du Feuer?“, fragte er. „Jap.“ Sie stand ebenfalls auf und kramte ein Feuerzeug aus ihrer Handtasche. Entgegen ihrer Erwartung entzündete er damit jedoch zunächst nicht die Kerze, sondern zwei Zigaretten aus der Ablagefläche des Wohnzimmertischs. Eine schob er ihr in den Mund. Streng genommen wollte sie nicht mehr rauchen. Aber einmal noch würde sie schon nicht umbringen. Anschließend starrten sie beide abwechselnd auf die flackernde Flamme der Kerze und in das Gesicht des anderen. „Es ist wirklich schön mit dir, weißt du das?“, lächelte Aiko und nahm einen langen Zug aus der Zigarette, ohne ihn anzusehen. Sie spürte schon im nächsten Moment, dass diese Worte nicht wahr sein sollten. Und doch waren sie es. Ob er dich dafür hasst? Er sieht sicher gerade zu und hasst dich dafür. Sicher. Du willst dich nicht so fühlen... Du darfst es nicht, du sollst es nicht, es ist falsch! Warum bist du überhaupt hier? Was in aller Welt machst du?! Kein Wunder, wenn er dich hasst! Wer könnte es ihm verübeln? Wie kannst du so treulos sein?! Kleines Miststück! „Ich finds auch ziemlich...“ T-Pain suchte offensichtlich nach einem Wort für die Stimmung zwischen ihnen, das nicht unmännlich klang. „...cool.“ Sie sah ihn grinsend an. Ihre Gedanken hatte sie wieder zurück in den Käfig gesperrt, der sie schon seit so vielen Jahren vor der Wahrheit schützte. Sie redeten nur, nichts Verfängliches. Es konnte nicht falsch sein. „Cool, huh?“, lachte sie laut, zu laut, um natürlich klingen zu können. Einen kurzen Augenblick sah er sie irritiert an, dann neutralisierte sich sein Blick wieder. „Nicht cool. Du weißt, was ich meine, komm schon!“, murmelte er leicht errötet. „Ich mag dich eben“, fügte er hinzu. „Ich mag dich auch“, erwiderte sie leise. Es war nichts Verfängliches, ganz normal. Es war keine Untreue, ganz unschuldig, bloß ein nettes Gespräch. Nicht mehr. Behutsam fuhr T-Pain mit der Hand an ihrem Arm hoch, ohne seine von den ihren abzuwenden. Ein plötzliches Brummen, das von Aikos Handtasche ausging, ließ die zunächst so besinnliche Stimmung kippen. „Willst du nicht rangehen?“, fragte T-Pain, offensichtlich angesichts der Störung genervt. „Es wird sowieso nur Sasori sein“, murmelte sie. Er fischte kurzerhand das Handy aus ihrer Tasche und meldete sich. „Bei Aiko. Lass sie endlich mal in Ruhe.“ „Tu das nicht!“, zischte sie ihn an und versuchte, ihm das Mobiltelefon wieder zu entwenden. Auch wenn sie sich nicht hätte Sorgen machen müssen, was Sasori jetzt dachte. Denn es war nicht Sasori. „Wo in aller Welt ist Aiko?! Und wer bist du eigentlich?!“, tönte die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Ist da Sasori?“, fragte T-Pain. „Nein, zur Hölle, hier ist Itachi, und Itachi reißt dir den Arsch auf, wenn du Aiko nicht sofort ihr Handy zurück gibst!“, brüllte er. „Ist für dich“, erklärte T-Pain und übergab seiner Freundin das Telefon. „Ja“, sagte sie leise in den Hörer. „Wo in aller Welt bleibst du? Yukiko und ich warten auf dich!“ „Was? Wo? Wieso? Waren wir etwa verabredet?“ Sie kratzte sich etwas verwirrt am Hinterkopf und zuckte gegenüber T-Pain nur kurz die Schultern. „Ja, das könnte man so sagen, Aiko! Wir stehen hier vor Madaras Privatkapelle. Du erinnerst dich vielleicht? Ich heirate?“ „Ups. Ähm... Ich bin in einer halben Stunde da, okay? Ich beeil mich!“ Sie legte auf. „Itachi heiratet heute. Ich hab's komplett verpeilt. Hol ein Taxi!“, rief sie, während sie sich mit seinem Deo einnebelte. „Und zieh dir was Besseres an! So kannst du nicht mit!“ Er stockte und erwiderte: „Wer sagt denn, dass ich mit will?“ Sie steckte sich eilig die Haare hoch. „Bitte. Ich will da nicht alleine hin. Und Sasori will ich jetzt grade nicht sehen.“ T-Pain willigte ein und tat, wie ihm befohlen. Eigentlich hatte er keine Lust und wäre lieber weiter mit Aiko auf der Couch gesessen, aber auf eine seltsame Art und Weise wollte er einfach in ihrer Nähe sein, selbst wenn er dazu eben auf eine Hochzeit zweier völlig Fremder zu gehen. Tatsächlich schafften sie es in relativ kurzer Zeit, die Kapelle zu erreichen, in der Itachi und Yukiko den Bund fürs Leben schließen wollten. Allerdings war sie dem Taxifahrer Ranjit noch das Geld für die Fahrt schuldig geblieben, kam eine dreiviertel Stunde zu spät und sah zudem in ihrem viel zu kurzen Kleid eher unseriös aus. T-Pain war auch nicht unbedingt nach der Kleiderordnung angezogen. Alles in allem würde die Hochzeit demnach eine Katastrophe werden. „Da bist du ja“, zischte Itachi, der ohnehin über seine Belastungsgrenzen hinaus angespannt war. Aiko zupfte noch kurz seine Fliege zurecht und lächelte ihn kurz an, bevor sie T-Pain auf einen Stuhl in der ersten Reihe drückte und sich neben Sasuke, Itachis kleinen Bruder, stellte. „Nettes Kleid, Süße“, grinste der nach einer ausgiebigen Musterung ihres unangemessen kurzen Kleides. Sie ignorierte seinen Kommentar und richtete ihren Blick auf Yukiko, die am Eingang der Kapelle stand und mit ihrem streng wirkenden Vater am Arm auf das Einsetzen der Musik wartete. Es war eine wirklich schöne Zeremonie wie aus einem Bilderbuch. Yukiko sah zauberhaft aus in ihrem langen wehenden Kleid, Itachis Anzug stand ihm überraschend gut, es gab niemanden, der es für nötig hielt, Einspruch einzulegen, und so gaben sie sich vor märchenhafter Kulisse das Jawort. Kapitel 15: Klarheit -------------------- T-Pain hatte alles fasziniert verfolgt und ließ es sich nicht nehmen, den beiden zu ihrem Glück zu gratulieren, obgleich er sie zum ersten Mal traf. Zwar hatte er noch nie zuvor Gedanken an seine eigene Hochzeit verloren, da er deren Stattfinden in absehbarer Zeit für mehr als unwahrscheinlich hielt, aber wenn er zu gegebenem Anlass jetzt darüber nachdachte, erschien ihm die Idee in einem besseren Licht. Leicht verstohlen linste er zu Aiko hinüber und erwischte sich bei der Vorstellung von ihr in einem weißen Kleid. Doch er wusste sehr wohl, dass das bloß Hirngespinste waren, von denen er nicht genau wusste, warum sie so plötzlich in seinem Kopf aufgetaucht waren. Die schöne Rothaarige unterhielt sich mit fast allen Gästen, und auf T-Pain machte es den Anschein, als würde jeder sie mögen. Besonders fiel ihm ein androgyner junger Mann mit blonden Haaren ins Auge, der regelrecht um sie herumschlich und von ihr nur Ignoranz erfuhr. Schließlich gab er es auf und wandte sich zu dessen Überraschung an T-Pain. „Und wer bist du?“, fragte er, offensichtlich von Aikos unhöflichem Verhalten genervt. „Ähhm, meinst du mich? Ich heiße T-Pain“, erwiderte er. Der Blonde lachte affektiert. „Wenn du meinst, dass du dir einen Zacken aus der Krone brichst, wenn du mir deinen Geburtsnamen verrätst, bitte. Überhaupt, das habe ich nicht gemeint. Was machst du hier?“ „Ich begleite sie.“ T-Pain nickte in Aikos Richtung. „Ach, du BEGLEITEST sie.“ Er sah ihn an, als hätte er gerade eine Information von höchster Wichtigkeit erhalten. „Soll ich dir mal etwas über Aikos BEGLEITER erzählen, Kleiner?“, fragte er dann mit hochgezogenen Augenbrauen. Wie er mit ihm sprach, gefiel T-Pain gar nicht. „Hm?“ „Abgesehen davon, dass du nicht in ihrer Liga spielst, ist dieses Begleiterding ein Beweis dafür, dass niemals etwas aus euch werden wird. Wenn sie jemanden haben will, nimmt sie ihn als ihren Freund mit und nicht als ihren Begleiter. Gib's auf, Kleiner. Du kriegst sie nicht. Sie wird dich vermutlich nicht einmal ranlassen, so wie du aussiehst.“ „Wer glaubst du eigentlich, wer du bist? Bläst dich hier auf, als wüsstest du alles besser und glaubst, mich würde deine Meinung interessieren. Überhaupt, vielleicht bin ich ja gar nicht so scharf auf sie wie du es offensichtlich bist? Schon mal daran gedacht?“ „Wer ich bin? Hm...Mein Name ist Deidara und ich hatte immerhin die Gelegenheit, sie eineinhalb Jahre lang zu halten...und damit meine ich auch, sie jede Nacht zu nehmen, wie und wo ich wollte...“ Deidara schüttelte lachend seine lange Haarpracht und beobachtete T-Pain genau. Der verzog ein bisschen das Gesicht. Wenn dieser Kerl so über sie redete, wird er sie wohl kaum richtig geliebt haben. Sie schien wohl keinen guten Männergeschmack zu haben. Es wunderte ihn wenig, denn seine Erfahrungen hatten ergeben, dass so beliebte Frauen immer auf komische Männer standen. Nach allem, was er über Sasori gehört hatte, war der auch nicht ganz dicht. Total anhänglich und überdramatisch. „Du kannst gerne so tun“, nahm Deidara das Gespräch wieder auf, „als hättest du kein Interesse an ihr. Sie hat schon ganz andere Kaliber als dich rumgekriegt.“ Sein verächtlicher Unterton war nur schwer zu ignorieren. „Pfft. Du redest wohl von Kalibern wie dir, was? Tu nicht so, als wüsstest du alles über sie. So wie du dich anhörst, scheint es bei dir ja mit der Liebe nie allzu weit her gewesen zu sein. Außerdem mag es ja sein, dass sie einen ganz guten Eindruck auf Männer macht, aber so viele tolle Typen, die ach so viel besser sind als ich, rennen ihr auch nicht hinterher“, murmelte sein Gegenüber. Deidara, anscheinend etwas überrascht ob des Vorwurfs, der ihm gemacht wurde, zog ihn etwas zu sich heran und ging ein paar Schritte weg von der Gesellschaft. „Hier“, erklärte er dann mit einer ausladenden Handbewegung, „hast du sie alle.“ „Alle?“ T-Pain sah hin verständnislos an. „Was meinst du mit 'alle'?“ „Siehst du den schmalen großen Mann mit den langen schwarzen Haaren, dahinten neben dem Buffet, der große Ähnlichkeiten mit Itachi hat? Er ist irgendein entfernter Verwandter, aber sie haben viel miteinander zu tun. Und er sieht nicht nur gut aus, er hat auch einen Haufen Schotter und man munkelt, er sei sogar Leiter einer Sekte. Auf alle Fälle ist er ziemlich einflussreich. Was glaubst du wohl, wie er zu unserer lieben Aiko steht?“ „Keine Ahnung.“ Er zuckte mit den Schultern. „Er liebt sie. Und sie weiß es. Deshalb hat sie sich auch bei ihm ausgeheult und sich von ihm ihre Schulden tilgen lassen. Immerhin mehrere tausend Euro.“ „Wieso hatte sie...?“ Deidara unterbrach seine Frage. „Oder der da, mit den grauen Haaren. Das ist Kakashi Hatake, der Polizeichef der Stadt, in der sie früher gewohnt hat. Er hat auch was für sie übrig. So weit ich weiß, waren sie sogar kurz zusammen. Natürlich, weil sie ihn liebte...oder vielleicht, weil er ihre Strafanzeigen aus dem System gelöscht hat.“ T-Pain wurde etwas ungeduldig. „Das ist ja alles schön und gut,“, sagte er, „aber sie ist nicht so hinterhältig. Das glaube ich einfach nicht. Aiko ist viel zu freundlich und gut, um so berechnend zu sein. Sicher ist sie nicht perfekt, aber sie ist süß und lieb und hat ihr Herz am rechten Fleck!“ Deidaras Lachen machte ihn bloß wütender. Der Blonde meinte, immer noch lachend: „Sagtest du nicht, du wärst nicht scharf auf sie? Du siehst doch selbst, dass sie dich schon um den Finger gewickelt hat. Vielleicht ist sie wirklich nicht so berechnend, aber wenn sie in Schwierigkeiten ist, macht sie den richtigen Personen Hoffnungen und nutzt deren Gefühle schamlos aus. Vielleicht merkt sie es einfach nicht, aber das bezweifle ich. Schließlich ist sie nicht so dumm.“ T-Pain fühlte sich ertappt. Aber sein Gesprächspartner war ja auch ihr Exfreund, da war es kein Wunder, dass er schlecht über sie sprach. Zumindest versuchte er, sich das einzureden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Aiko so sein sollte wie die meisten Frauen. „Was ist mit ihrem Freund?“, fragte er dann. Als Deidara ihn nur etwas unverständig ansah, ergänzte er: „Sasori. Ich rede von Sasori.“ Der Blonde blickte kurz auf und setzte sich dann auf eine Bank in der kleinen Kapelle, in der die Trauung stattgefunden hatte. „Du willst also etwas über Sasori hören, hm?“, sagte er dann, ganz so, als wäre es eine ungewöhnliche Frage gewesen. „Vorher will ich aber noch etwas von dir wissen. Wie gut kennst du sie?“ T-Pain überlegte kurz, weil ihm auf diese Frage nicht sofort eine gute Antwort einfiel. „Sie erzählt mir viel. Nicht viel von früher, als sie noch mit dir zusammen war, oder weiter vorher. Immer wenn ich sie danach frage, macht sie nur seltsame Andeutungen und blockt ab. Aber aus ihrem jetzigen Leben, hier, mit mir und den Anderen, und von Sasori erzählt sie oft.“ Wenn er recht darüber nachdachte, kannte er sie eigentlich kaum, obwohl er schon mehr Zeit mit ihr verbracht hatte, als mit irgendjemand anderem. Er hatte auch vorher nie jemanden gehabt, mit dem er überhaupt über Privates geredet hatte, und die Tatsache, dass er ihr von dem Blumenladen und dem Mädchen erzählt hatte, aber kaum wirklich etwas über ihre Geheimnisse wusste, schockierte ihn in diesem Moment schon ein wenig. „Was hat sie dir von Sasori erzählt?“, wollte Deidara von ihm nach einer kurzen Pause wissen. „Dass sie ihn liebt und dass er sie liebt. Sie sagt oft, dass er eifersüchtig ist und sie deshalb nicht mit uns weg kann. Oder dass er so romantisch ist. Oder so nervig. Je nachdem, wie sie gerade drauf ist. Manchmal betont sie auch vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen, dass sie ihm treu ist und dass sie ihn nie betrügen würde.“ Unwillkürlich musste er grinsen. Zwar fand er das von sich selbst nicht besonders nett Aiko gegenüber, aber er konnte nicht anders, während er sich selbst reden hörte. Da hatte sie wohl gelogen. Es sei denn, ihre Beziehung schloss Fremdküssen als Betrug aus. Nach allem, was er über Sasori gehört hatte, würde das aber kaum der Fall sein. Allgemein schien Aiko ihm nicht sonderlich konsequent zu sein, was ihre Vorsätze betraf. Nur zu gut erinnerte er sich noch an ihren Drogenrückfall. Aber vielleicht war es das, was sie so spannend machte. Egal was sie sagte, man wusste nie, was sie als Nächstes tun würde. „Oh, glaub mir, sie würde und sie hat“, bestätigte Deidara ihn. „Aber du wolltest ja das Märchen von Sasori und Aiko hören, nicht wahr, Kleiner? Gut, hier ist es...“ Es freute sie wirklich für Itachi. Er sah so überglücklich aus. Schließlich hatte er ja auch gerade die Frau seines Lebens geehelicht, wenn auch etwas verfrüht. Aber es musste ja alles noch passieren, bevor ihr Bauch zu dick werden würde und er vor ihren Eltern später nicht mehr von einer Frühgeburt würde reden können. Dennoch störte sie sich etwas an der Hochzeit. Diese ganzen Leute um sie herum, die um ihr Schicksal wussten und sie teils bedauernd, teils vorwurfsvoll ansahen. In diesem Moment wünschte sie sich Sasori mehr an ihrer Seite als irgendwann sonst. Er würde sie von den anderen abschirmen, mit ihr ins nahegelegene Feld flüchten und dort sagen, dass alles gut werden würde. Aber er war nicht hier. Er war fort. Fort, und das schon viel zu lange. Doch zumindest heute wollte sie nicht darüber nachdenken. Der Tag war ohnehin schon schlimm genug. Allein, weil sie in einer fremden Wohnung bei einem Kerl übernachtet hatte, von dem sie wusste, dass sie sich auf Dauer nicht von ihm würde fernhalten können. Zu lange schon hatte sie sich dem bereits entzogen, was sie doch mehr brauchte als irgendetwas sonst. Außerdem hatte sie etwas aus T-Pains Wohnung stibitzt, wofür sie sich ziemlich schämte. Sie wusste nicht, warum sie es mitgenommen hatte. Ihre Rechtfertigung vor sich selbst hatte sie bereits vergessen. Vermutlich war es so etwas wie „Wenn ich es habe, schütze ich ihn davor“. Aber in Wirklichkeit war es einfach nur gut. Nicht gut für ihren Körper, aber gut für sie. Zumindest ein paar Minuten lang. Langsam steckte sie ihre Hand in die Tasche und fühlte nach dem Plastikpäckchen. Und nur, falls du es vergessen hast: Er wartet. Wartet, und schon so lange läufst du weg. Aber du kannst nicht fliehen. Wenn du dich in die dunkelsten Winkel deines beschränkten Verstandes verkriechst, wo der schwache Versuch, mit all dem abzuschließen, was du ihm und dir selbst angetan hast, noch ein Funke der Hoffnung für eine glückliche Zukunft zu sein scheint, wird er dich dennoch finden und dich mit seinem grellen Licht blenden, sodass die Erkenntnis, nach der du zu verzweifelst greifst, erneut in unerreichbare Ferne schwindet, und nicht einmal der klägliche Rest von dem, was einst dein Leben war, an den du dich mit aller Kraft klammerst, wird dich davon abhalten, ihm zurück in das brennende, schmerzvolle, erlösende Licht zu folgen. Du bist unwiederbringlich verloren „Was tust du nur wieder?“ Sie fuhr erschrocken herum und sah direkt in Sasoris traurige Augen. Ihre Hand, welche das kleine Tütchen fest umklammert hielt, schob sie wieder in ihre Tasche, auch wenn sie wusste, dass er es längst bemerkt hatte. „Nichts. Ich … denke nach“, erwiderte sie und drehte sich wieder von ihm weg in der Hoffnung, sie könne damit seinem durchdringenden Blick ausweichen. Doch auch ohne ihn direkt anzusehen spürte sie genau, was für ein Gesicht er gerade machte. „Ich hasse es, wenn du mich anlügst“, sagte er und zog ihre Hand aus der Tasche. Sie gab widerwillig nach. Langsam hob sie den Kopf an und wandte sich zurück in seine Richtung. „Was machst du hier? Ich dachte, du wärst zu Hause...“, fragte sie leise. Er beendete ihren Satz: „...und warte darauf, dass du irgendwann zurück kommst, wankend und mit Pupillen so groß wie Autoreifen? Nein, bestimmt nicht.“ Sie schluckte hörbar. Es war einer dieser Momente, in denen sie fürchtete, er hätte genug. Zwar wusste sie, dass er sie nie wirklich verlassen würde, denn dazu brauchten sie einander zu sehr. Aber die Möglichkeit würde zumindest in der Theorie trotzdem bestehen. Vorsichtig legte sie ihre Arme um seinen schlanken Torso und drückte sich leicht an ihn. „Lass mich niemals allein, Sasori. Niemals, wie du es damals versprochen hast.“ „Du weißt, dass ich dich immer lieben werde, Aiko“, erwiderte er und strich ihr über den Kopf. Sie hob diesen ein Stück an und sah ihn mit traurigem Blick an. „Das ist nicht, was ich meinte.“ „Das ist alles, was ich dir versprechen kann. Der Rest liegt nicht in meiner Hand.“ „Was soll ich damit?“ Aikos Stimme wurde lauter und höher. Ihr Gegenüber wich ein wenig zurück, überrascht von ihrem plötzlich wiederkehrenden Temperament. „Wovon... sprichst du?“, fragte er vorsichtig. „Was nützt mir deine Liebe, wenn du nicht da bist? Warum bleibst du nicht bei mir?! Warum gehst du jedes Mal, wenn ich dich brauche? Nennst du das Liebe?“, schrie sie wütend. Sie hielt es nicht länger aus, sich ewig einsam fühlen zu müssen, ungeachtet dessen, wie viele Menschen sich in ihrer Nähe befanden. Noch nie hatte sie sich so allein gefühlt wie jetzt, auf einer Hochzeit, die all den Dingen entsprach, welche Sasori und sie hätten haben können, wenn alles nach Plan gelaufen wäre. Aber das war es nicht. Sie hatte es zerstört, mit jedem Typen, den Sasori sie durch sein Schlafzimmerfenster hatte küssen sehen, jedem fremden Aftershave-Geruch, den er von ihrer Haut gesogen hatte und jeder Tablette, die er sie hatte schlucken sehen. „Ich wollte dich von deinem Kummer befreien. Ich wusste nicht, dass das passieren würde! Wenn du nicht... Warum kannst du deine Finger nicht von diesem Zeug lassen?“, fragte Sasori mit ruhiger Stimme. „Das könntest du ohnehin nicht verstehen!“ „Was war denn so schlimm an deinem Leben, dass du es nicht ausgehalten hast? Was habe ich falsch gemacht?“ „Es war nichts wegen dir!“ Aiko begann zu weinen. Ihr war nur allzu klar, dass sie so nicht für immer weitermachen konnte, aber sie hatte keine andere Wahl, als sich selbst ständig zu belügen in der Hoffnung, sie könnte dadurch die Zeiten zurückbringen, die ihr so glückselig in Erinnerung geblieben waren. Sie hatte wieder gelogen. Alles, was sie tat, und jeder Gedanke, der sie in den Wahnsinn und darüber hinaus trieb, war wegen ihm. „Bitte, lass mich einfach in Ruhe!“, bat sie ihn beinahe flehend, während sie ihn daran hinderte, sie zu berühren. Ein lautes Räuspern ließ sie herumfahren. T-Pain stand wenige Meter vor ihr, den Blick gen Boden. „Dann ist es also wahr“, murmelte er in sich hinein. Aiko sah ihn fragend an. „Was hast du gesagt?“, wollte sie wissen, doch er schüttelte nur den Kopf, ohne aufzusehen. „Ist egal“, fügte er hinzu, obwohl es das ganz und gar nicht war. „Wie lange stehst du schon da?“, fragte sie dann. „Vielleicht fünf Minuten.“ Ihre Augen weiteten sich. Wie automatisch drehte sich ihr Kopf dorthin, wo Sasori zuvor gestanden hatte. Doch eigentlich wusste sie, noch bevor sie hinsah, dass er nicht da sein würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)