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Eien 永遠

Der Samurai und der Fremde
von

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Berührung

2. Kapitel: Berührung
 

[Wie Funken in meiner Brust,

brennt die Berührung

deiner vertrauten Hände]
 

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Der Winter war hereingebrochen. Eine dicke Schicht aus Eiskristallen, die sich beinahe unbemerkt während der Nacht auf Strohdächer und Wege gelegt hatte, verwandelte Echigo in ein weißes, glitzerndes Meer.

Auch am darauffolgenden Tag hatte es nicht aufgehört zu schneien.

Der heiße Atem eines Mannes, der im Garten der Nishiyamaresidenz in den Himmel blickte, formte weiße Wolken in der Luft.

An der Kopfoberseite war sein Haar nicht abrasiert, wie es gehobene Samurai zu jener Zeit trugen, sondern im Nacken zu einen Zopf gebunden. Ein paar dünne Strähnen fielen ihm über die Stirn und verdeckten die lange Narbe über der linken Augenbraue nur geringfügig.

Er blinzelte, als ihm eine Schneeflocke ins Auge rieselte.

Er war Fukushima Yusuke, der engste Freund und treue Berater des Klanoberhauptes Nishiyama.

Dieser wohnte einer von Kenshin einberufenen Versammlung bei.

Normalerweise wäre es seine Aufgabe gewesen, seinen Herren dorthin zu begleiten, doch war es Kagegakus ausdrücklicher Wunsch gewesen, dass er während seiner Abwesenheit hier blieb und persönlich ein wachsames Auge auf den Fremden warf.

Nachdenklich ließ er seinen Blick in den Korridor schweifen. Vor der Shoji-Tür unweit des Gartens standen zwei Wachen, die den auffälligen Gefangenen im Auge hatten.

Auch Fukushima war Zeuge der seltsamen Situation am gestrigen Abend gewesen, als sein Freund, Kagegaku dem Fremden in die Augen gesehen hatte und daraufhin beinahe ängstlich davongerannt war.

Seit Kindestagen waren sie Kameraden gewesen. Gemeinsam waren sie aufgewachsen und hatten unzählige Schlachten überlebt. Sogar die Narbe über seinem Auge war der Beweis, wie nahe sie sich ihr ganzes Leben lang schon standen.

Doch was am letzten Abend passiert war, konnte sich selbst Fukushima nicht erklären.

Eine Begegnung, wie sie sonderbarer nicht sein konnte. Selbst wenn er der Einzige unter den noch Anwesenden war, der diese eigenartigen Schwingungen zwischen Kagegaku und Hidetori gespürt hatte, würde er seine Hand für das Gesehene ins Feuer legen.

Der Mann mit der befremdlichen Haarfarbe hatte den großen Kriegsherren mit einem einzigen Blick zum Rückzug gezwungen.

Hätte er es nicht selbst gesehen, würde er dem Erzähler für diesen Frevel die Zunge ausreißen.

Warum Kagegaku so kurios gehandelt hatte, wagte der junge Freund das Familienoberhaupt nicht zu fragen, denn er vermutete fast, dass dieser selbst nicht wusste, was geschehen war.

Denn abgesehen vom kopflosen Benehmen am Abend, konnte Fukushima auch ein ungewöhnliches Verhaltensmuster in den darauffolgenden Stunden feststellen.

Nervös war Kagegaku mitten in der Nacht stundenlang im Garten herumgelaufen. Die dicken Schneeflocken hatten sein pechschwarzes Haar bedeckt, selbst die extrem niedrigen Temperaturen und seinen bereits durchnässten Kimono hatte er ignoriert.

Erst als Fukushima ihn das fünfte Mal gebeten hatte, bitte auf seine Gesundheit zu achten, war er hineingekommen.

Zitternd hatte er dann auf dem Boden gesessen, hatte vor sich hingestarrt und ab und an unverständliches Zeug gemurmelt, während er sich an die Brust gefasst und grübelnd das Gesicht verzogen hatte.

Auf besorgte Fragen seitens seines Freundes war nicht reagiert worden.

Es war wohl passiert, etwas womit Fukushima niemals gerechnet hatte.

Er dachte, dass eher die Hölle zufrieren würde, als dass sein Herr und Freund sich eines Tages verlieben würde. Doch für ihn waren die unzähligen Anzeichen eindeutig. Selbst die Appetitlosigkeit am heutigen Morgen hatte sicher etwas damit zu tun gehabt.

Doch ihn darauf ansprechen konnte er nicht. Kagegaku würde es auf jeden Fall abstreiten. Vor allem, weil er höchstwahrscheinlich selbst nicht verstand, was mit ihm geschehen war.

Er kannte dieses unbeschreibliche Gefühl nicht. Woher sollte er wissen, dass Verliebtsein jenes ziehen in seiner Brust war, jene Rastlosigkeit, die ihn nicht schlafen ließ?

Der Mann hinter den geschlossenen Schiebetüren war mysteriös, nicht nur wegen seiner goldenen Haarpracht, sondern auch aufgrund seines grotesken Wesens.

Obwohl Fukushima kaum ein Wort mit diesem Menschen gewechselt hatte, war ihm, als wäre ihm ein andersartiges Wesen begegnet. Selbst seine Bewegungen schienen merkwürdig, seine Art zu reden war überlegt, wenn er überhaupt ein Wort sprach.

Alles an ihm war sonderbar. Zuletzt auch die Anziehung, die er auf Kagegaku ausübte.

Und das nach einer Begegnung, die keine zehn Minuten gedauert hatte.

Der Blick, mit dem Hidetori Kagegaku hinterhergesehen hatte, als dieser aus dem Raum geflüchtet war, würde er wohl nie vergessen.

Es war dieselbe Ratlosigkeit, die er auch in den Augen seines Freundes entdeckt hatte.

Wer war dieser Mann, gefunden am Fluss, bis auf die Haut durchnässt, in einen unschätzbar wertvollen Kimono gekleidet?

Etwas Geheimnisvolles umgab ihn. Er war ohne Zweifel rätselhaft und mysteriös. Vielleicht war es das, was Kagegaku faszinierend an ihm fand.

Oder spielte die Fantasie Fukushima einen Streich?

Es wäre ihm auf jeden Fall nicht zu verübeln. Schließlich hatte sich der Stratege noch nie so seltsam verhalten. Kagegaku, verliebt in einen Mann, der sich nicht scheute, sofort eine offensichtliche Lüge zu sprechen?

Skeptisch riskierte Fukushima erneut einen Blick zur verschlossenen Shoji-Tür. Sein Verstand sagte, dass es unmöglich wäre. Obwohl er die Fakten kannte und seinen Freund noch nie in diesem eindeutigen Zustand erlebt hatte, fragte er sich, ob es überhaupt möglich war, dass sich Kagegaku während dieses kurzen Augenblickes verliebt haben könnte. Gab es denn wirklich dieses verschrieene Wunder, von dem ständig erzählt wurde? Konnte man von nur einem Blick krank vor Liebe werden?

Wenn es das gab, dann war sein Freund definitiv davon befallen, so unglaublich es auch für ihn klingen mochte.
 

„Fukushima!“ Die Stimme seines Herren riss ihn aus den sorgenvollen Gedanken, in die er sich schon seit dem gestrigen Abend verstrickt hatte. Die Rückkehr der wenigen Männer, die nach Kasugayama* aufgebrochen waren, hatte er genauso wenig mitbekommen wie Kagegakus Näherkommen.

„Kagegaku“, murmelte Fukushima überrascht.

„Ihr seid schon zurück?“ Fukushima Yusuke, der trotz ihrer Freundschaft von niederem Rang war, verbeugte sich tief, um das Oberhaupt gebührend zu begrüßen.

Kagegaku nickte nur flüchtig, bevor er seinen Freund und wichtigsten Berater mit einem Nicken zu verstehen gab, ihm zu folgen.

Kaum dass sie die Veranda verlassen hatten, um im gegenüberliegenden Raum über das Treffen mit Kenshin zu reden, rückte Kagegaku schon mit den wesentlichsten Fakten der Versammlung heraus.

„Kosaka Danjo wurde in Kawanakajima** gesehen. Die Takeda wirken durcheinander. Kagekatsu*** schlägt deshalb vor, Truppen nach Miyako# zu schicken, statt in Etchu**** zu helfen.“

Ohne seinen nachdenklichen Blick vom Gesicht seines Herren zu wenden, setzte sich Fukushima im Schneidersitz mit gebührendem Abstand zum Oberhaupt, der selbst auf einem Sitzkissen ihm schräg gegenüber Platz nahm, auf den Boden.

„Nach Miyako?“

Überraschende Dinge hatten sich während ihrer Abwesenheit zugetragen. Fukushima wusste sofort, dass die Trennung Kosaka Danjos*****, der die rechte Hand Shingens war, von seinem Lord einiges zu bedeuten hatte. Nicht zuletzt auch, dass im Feindesklan Unruhe herrschen könnte, die man zu seinem Vorteil nutzen sollte.

„Die einmalige Gelegenheit, Shingen davon abzuhalten, die Hauptstadt einzunehmen“, antwortete Nishiyama, der in den funkelnden Augen seines Freundes sehen konnte, dass er Kagekatsus Meinung, in die Hauptstadt zu marschieren, teilte. Obwohl auch er derselben Ansicht war, musste er der Begeisterung seines Beraters einen enttäuschenden Dämpfer verpassen.

„Lord Kenshin jedoch teilt Kagetoras****** Meinung. In einem Monat brechen wie geplant Truppen nach Etchu auf. Wir sind für die Verteidigung Kasugayamas zuständig.“

Die Frustration über die mäßig erfreuliche Nachricht ihrer kommenden Aufgabe war deutlich in den Augen des Beraters sichtbar. Doch Kagegaku wusste genau, dass sein Freund, genauso wie auch er selbst, nie gegen einen Befehl ihres Lords vorgehen würden. Auch wenn dessen Anordnungen jenseits ihrer eigenen Meinung war. Es war ihre Aufgabe, nicht zu zweifeln und so zu handeln, wie es ihnen befohlen wurde.

„Und was wird mit Toshiba Hidetori?“ brachte Fukushima aus heiteren Himmel hervor, obwohl die Frage nicht wirklich unerwartet kam. Es war anzunehmen, dass der Fremde Thema der nächsten Versammlung werden würde, denn sein Auftauchen war in der gesamten Provinz bereits die meistdiskutierte Thematik unter dem Schwertadel.

Kenshin selbst zeigte großes Interesse an der Geschichte, die hinter diesem Mann stecken mochte, doch Angelegenheiten wie in Etchu und der Feind Shingen ließen ihm nicht viel Raum, um sich selbst um eine mysteriöse Person zu kümmern. Wahrscheinlich war dies auch der Grund ihrer eher unpassenden Aufgabe gewesen. Es war schließlich das erste Mal, dass Kenshin seinen besten Strategen zurückließ, damit dieser die Burg beschützte.
 

Kagegaku schloss kurz die Augen. Fukushima glaube, ein leises Seufzen zu hören, als wäre ihm die Frage lästig, doch anscheinend war es nur Einbildung gewesen, denn die Antwort kam so schnell, als wäre sie schon vor Minuten zurecht gelegt worden.

„Ich soll herausfinden, wer er ist, und dann entscheiden, was mit ihm geschieht.“

Fukushima nickte, während er sich grübelnd über das Kinn strich.

„Dass er ein normaler Bauer ist, ist schon auszuschließen.“

Kagegaku blickte zu Boden. Sein Freund beobachtete diese an ihm seltsame Regung, doch das, was darauf folgte, wunderte ihn noch mehr.

„Ja, leider!“ Es war das Seufzen im Unterton, das Fukushima stutzig machte.

„Leider? Was meint Ihr damit? Sympathisiert Ihr mit ihm, obwohl Ihr nicht einmal wisst, ob er Feind oder Freund ist?“

Da war es wieder. Diese Unsicherheit und Ratlosigkeit, die Kagegaku auch am Vortag ausgestrahlt hatte. Seit dem Moment, als sein Blick auf den von Toshiba traf.

„Natürlich nicht“, stritt das Familienoberhaupt hektisch ab. Fukushima bemerkte sehr wohl, dass sein Gesprächspartner versuchte, seinem Blick auszuweichen. Als hätte er ihm bei einem regelwidrigen Gedanken erwischt, den er beharrlich zu vertuschen versuchte. Doch locker lassen wollte der Berater des Strategen auf keinen Fall.

Sollte sich früher oder später tatsächlich herausstellen, dass der Herr des Hauses sich in diesen Mann verliebt hatte, war es seine Pflicht, dem Liebeskranken noch einmal deutlich vor Augen führen, mit wem er es zu tun haben könnte. Nämlich mit einem Feind, der darauf aus sein könnte, das Vertrauen des Strategen zu gewinnen, um dann während eines günstigen Augenblickes das Schwert in dessen Herz zu bohren.

Kagegaku musste zumindest noch einmal deutlich gewarnt werden.

„Seine Lüge war bewusst gesprochen, also hat er etwas zu verbergen“, davon war Fukushima überzeugt. Und nicht nur er, sondern jeder der gestrigen Anwesenden, der den kurzen Wortwechsel bezeugen konnte, war derselben Meinung.

„Ich bin mir darüber im Klaren“, klagte Kagegaku verärgert. Natürlich hatte er dies nicht das erste Mal gehört. Ständig dachten seine Berater, ihn an seine Pflicht, etwas gegen Toshiba Hidetori zu unternehmen, erinnern zu müssen. Obwohl er selbst wegen dieser Sache kaum an etwas Anderes denken konnte. Selbst als Kenshin ihn mit der Aufgabe der Verteidigung ihrer wichtigsten Burg beauftragt hatte, war er erleichtert gewesen. Ungeachtet davon, dass er der Ansicht war, besser nach Miyako zu reiten, da dieser Schachzug strategisch wertvoller war.

„Was also werdet Ihr tun, wenn sich tatsächlich herausstellen sollte, dass er ein Spion ist? Werdet Ihr den Befehl zur Hinrichtung geben können? Mir scheint eher nicht.“ Es wunderte Kagegaku nur wenig, dass Fukushima ihn so direkt auf seine momentane Unschlüssigkeit ansprach. Dass er es nicht bemerkt hatte, war also ausgeschlossen. Und doch spürte er nicht den Drang, seinen Freund um Antworten auf seine Fragen zu bitten, die dieser mit Sicherheit sofort parat haben würde.

„Solange wir nicht mehr über ihn wissen, brauchen wir nicht weiter darüber zu diskutieren.“ Kagegaku stand auf und trat zur Veranda, den durchbohrenden Blick seines Freundes auf seinem Rücken spürend.

„Es wäre aber besser, wenn Ihr langsam darüber nachdenken würdet.“

Darauf antwortete der Stratege nicht. Er schloss nur die Augen und nickte innerlich, denn er wusste, dass es seine Pflicht war, so zu handeln. Seine innerliche Zerrissenheit musste er ignorieren, denn würde letztendlich doch das eintreten, was er nicht zu hoffen wagte, dann blieb ihm einfach keine andere Wahl.

Die seltsamen Gefühle, die er spürte, wenn er an den gestrigen Moment ihres Blickkontakts dachte, waren nun kaum noch zu übergehen. Im Gegenteil. Je öfter er an Toshiba dachte, desto schlimmer und hartnäckiger wurde es.

Aber wie konnte er jene unerfahrenen Empfindungen mit seiner unermüdlichen Ehre und Loyalität zu seinen Herren verbinden, wenn er doch selbst damit beauftragt war, über das Schicksal dieses Fremden zu entscheiden?

Wortlos blickte Kagegaku in den grau verhangenen Himmel, dessen dicke Wolken weiße, glitzernde Flocken in den Garten rieseln ließen.

Und plötzlich wunderte er sich über die ihm klare Tatsache, dass dieser eigenartige Mann mit den goldenen Haaren dazu fähig war, ihn diesem Konflikt auszusetzen.

Warum kreisten all seine Gedanken um einen Menschen, den er überhaupt nicht kannte?

Was war der Grund dafür, dass er zögerte, seiner Pflicht als Samurai und Diener seines Herren nachzugehen? Warum war er plötzlich so schwach geworden, obwohl er am Vortag noch so entschlossen gewesen war?

Kagegaku drehte sich herum, blickte auf seinen Freund hinab, der immer noch im Schneidersitz im hinteren Teil des Raumes saß und ihn fragend ansah.

Fukushima würde darauf sicher eine Antwort finden können. So wie es immer der Fall war. Wobei es nun aber das erste Mal war, dass Kagegaku einen Rat für seine Gefühle brauchte. Doch auch auf diesem Gebiet war sein Freund bei Weitem erfahrener als er selbst. Er musste ihn nur fragen und dann damit klarkommen, sich völlig lächerlich gemacht zu haben.

Doch genau das war es, was er nie tun würde. Über diesen dunklen Schatten seines Wesens konnte er beim besten Willen nicht springen. Lieber blieb er ahnungslos und ließ alles so geschehen, wie es vorgesehen war.

„Bring Toshiba her“, ordnete Kagegaku nach langer Überlegung an.

Fukushima, der inständig hoffte, sein Herr wäre nun zur Vernunft gekommen, verbeugte sich tief und antwortete mit einem deutlichen „Jawohl!“
 

*
 

Wieder wurde Hyde zum Raum gegenüber des Gartens geführt. Wieder sollte er niederknien und darauf warten, vom Oberhaupt angesprochen zu werden.

Als seine Füße auf die Tatamimatten traten, sah er den Samurai bereits im Augenwinkel. Er saß wie am Vortag im Schneidersitz auf einem niedrigen Sitzkissen. Er spürte, wie er eindringlich von diesem angesehen wurde.

Hydes Blick jedoch blieb an den Boden geheftet. Er wagte es nicht, den Schwarzhaarigen anzusehen, zumal er auch nicht wusste, ob es ihm gestattet war.

Er kniete sich nieder, circa 6 Meter von seinem Gesprächspartner entfernt. Seinen Kopf beugte er genauso tief wie das letzte Mal und wartete, während ihm das Herz wieder bis zum Hals schlug.

Die Flucht des Kriegers war Hyde ziemlich gut im Gedächtnis geblieben. Für den Langhaarigen, der stets darauf achtete, sein Gesicht zu wahren, und die Ehre seiner selbst nicht zu verletzen, musste es eine Schande gewesen sein, vor den Augen seiner Leute unbedacht gehandelt zu haben.

War er ein echter Samurai, dann würde er sich zumindest ein wenig schämen und natürlich tief bereuen.

Würde Hyde, der in den Augen des Klans die Ursache dafür war, nun seine Strafe erhalten? Würden sie ihn hinrichten, seinen Kopf abschlagen oder sogar verlangen, dass er sich selbst tötete?

Hyde war nervös. Seine Hände zitterten. Die Qual nicht zu wissen, was ihn nun erwarten würde, hatte ihn die ganze Nacht nicht schlafen lassen.

Und all das nur wegen dieser unüberlegten Lüge, die so offensichtlich war.
 

„Entschuldigt mein würdeloses Verhalten von gestern.“ Die klare Stimme des Samurai, die plötzlich wie Donner in seinen Ohren hallte, ließ Hyde kurz aufschrecken. Seine Kehle war wie zugeschnürt, während sein Herz so stark schlug, dass seine Brust zu schmerzen anfing.

Zugegeben, mit einer Entschuldigung hatte er tatsächlich am allerwenigsten gerechnet, und doch ließ sie sofort wieder seine begrabene Hoffnung auf ein sehr viel längeres Leben aufblühen.

Es war ein gutes Zeichen, da war sich der Blonde ziemlich sicher, deswegen nickte er, um zu zeigen, dass die unerwartete Entschuldigung angenommen wurde.

„Ich bin der älteste Sohn der Nishiyama Familie. Seit elf Jahren führe ich diesen Klan an und diene mit ihm den Uesugis. Dieses Anwesen und das Land bis hinter dem Fluss gehört seit fünf Generationen meiner Familie. Das alles zu beschützen ist nun meine Aufgabe, so wie es mein Vater und deren Vater getan haben.“

Fukushima, der als einziger Berater diesem Treffen beiwohnte, war von der beharrlichen Stimme, mit der sein Freund sprach, beeindruckt. Tatsächlich hatte er mit einem weiteren Desaster gerechnet, das er dieses Mal jedoch mit allen Mitteln verhindern würde.

Doch anscheinend gab es überhaupt keinen Grund zur Sorge. Kagegakus Augen blickten standhaft auf den Fremden, der tief verbeugt jedes Wort zur Kenntnis nahm.

„Was gestern passiert ist, war gegen meinen Charakter und meine Pflicht und dafür muss ich mich entschuldigen. Ich gebe zu, dass mich Eure außergewöhnliche Erscheinung verwirrt hat. Meine Männer hatten mich auf Euer wunderliches Haar vorbereitet, trotzdem muss es mich konfus gemacht haben. Um es uns allen einfacher zu machen, solltet Ihr genauso ehrlich sprechen, wie ich es gerade getan habe.“

So war das also. So hatte sich der Schwarzhaarige den Moment ihrer Verbundenheit erklärt. Hydes Lippen umspielte ein zynisches Lächeln, als ihm klar wurde, dass so ein kompliziertes Gefühl, wie er es empfand, so simpel als einfache Verwirrung, in die ihn seine Augen gestürzt hatten, ausgelegt werden konnte. Normalerweise hätte er widersprochen, doch aufgrund der Tatsache, dass er sich in einer Zeit befand, in der die Menschen noch anders dachten, musste er sich zurückhalten.

Stattdessen stimmte er mit einem einfachen Ja zu.

„Dann sind wir uns ja einig“, meinte Kagegaku und schien fast erleichtert, dass der zweite Anlauf bisher so gut verlief.

„Ich frage Euch also noch einmal. Wer seid Ihr und wo kommt Ihr her?“

Hyde zögerte kurz, bevor er mit dem selben Namen wie am Vortag antwortete.

„Toshiba Hidetori. Es tut mir Leid, Euch enttäuschen zu müssen, doch ich habe bisher nicht gelogen. Ich bin Toshiba Hidetori, ein normaler Mann aus dem Nachbardorf.“

Fukushima, der neben seinem Herren saß und alles aufmerksam verfolgt hatte, stand auf und trat energisch auf den in seiner tiefen Verbeugung kauernden Fremden zu.

„Passt auf, was Ihr sagt. Mein Herr hat offen und ehrlich mit Euch gesprochen, und Ihr wagst es trotzdem noch zu lü-“

„Wie könnt Ihr mir dann Euren kostbaren Kimono erklären“, unterbrach Kagegaku seinen Berater.

Fukushima hielt mit seinen Worten sofort inne und kehrte auf seinen Platz zurück. Ein kurzer Blickwechsel mit dem Oberhaupt bestätigte die Erzürnung, die aufgrund des eigenhändigen Handelns seines Freundes in Kagegaku aufflammte. Er mochte es nicht, wenn Fukushima unüberlegt Dinge tat, die er zuvor ausdrücklich untersagt hatte.

„Er gehört mir nicht“, antwortete Hyde auf die Frage des Klansführers.

Skeptisch über die überraschende Ehrlichkeit runzelte Kagegaku die Stirn, bevor er mit der nächsten Frage das Verhör vertiefte.

„Von wem habt Ihr ihn gestohlen?“

Hyde antwortet bewusst mit kurzen Sätzen, die nur jene Frage beantwortete, die gestellt wurde. Er wollte damit Zeit gewinnen. Zeit die er unbedingt benötigte, um sich nicht erneut in erkennbaren Lügen zu verstricken.

„Nicht gestohlen, sondern gefunden.“

„Wo?“

„Im Wald.“

Nachdenklich fuhr Kagegaku mit seiner rechten Hand über die Baumwolle seines Kimonos.

Was sollte er tun? All das, was Toshiba ihm erzählt hatte, konnte Wahrheit, aber auch Lüge sein. Weder das eine noch das andere konnte mit Beweisen widerlegt werden. Wie sollte er nun gerecht über diesen Mann entscheiden und selbst in Frieden weiterleben?

War Toshiba ein Samurai, dann hatte er sich bereits entehrt, indem er sich von seinem Schwert losgesagt hatte. Denn das Schwert war die Seele eines echten Samurai. Da er keines getragen hatte, als er von Kagegakus Männern am Fluss gefunden worden war, war bereits auszuschließen, dass es sich um einen Ronin oder Samurai handelte.

Ein Ninja verkleidete sich bekanntlicherweise oft als Wandermönch oder reisender Händler. Es war aber auch nicht auszuschließen, dass ein Spion zu einer außergewöhnlichen Verkleidung wie dieser griff. Doch war es nicht etwas zu auffällig, um als Spitzel mitten unter den Feinden zu agieren? War es nicht vorauszusehen, dass man ihn gefangen nahm und verhörte? Oder hatten seine Feinde gerade Toshiba gewählt, weil er mit seiner außergewöhnlichen Erscheinung schon oft genau das erreichen konnte, was gewollt war? War alles genau so geplant?

Kagegakus Zweifel über eine richtige Entscheidung wuchs von Sekunde zu Sekunde.

Er blickte auf den ihm gegenüber knienden Toshiba, dessen Stirn den Boden berührte. Er bewegte sich nicht, nur die zitternden Hände zeugten von seiner Nervosität, die Kagegaku nicht verborgen blieb.

Er hatte Angst, das war nicht zu verkennen. Und diese Tatsache konnte nicht einfach ignoriert werden, selbst wenn alles gegen den Fremden sprach.

Irgendetwas stimmte nicht, das wurde Kagegaku in jenen Moment deutlich bewusst. Den Fremden loswerden, ihn hinrichten, so einfach war die Sache nicht. Nein, es war sehr viel komplizierter als er dachte.

Sein Herz sagte ihm, dass er versuchen musste, diesem Mann zu vertrauen. Auch wenn es nur ein Tag oder eine Stunde war. Selbst eine Minute wäre in Ordnung, denn war er wirklich ein einfacher Mann aus dem Nachbardorf, dann hatte er ein Recht auf Vertrauen. Dann war er nichts Anderes als ein Mann seiner Provinz, die er, Kagegaku, beschützte. Jeder Bauer, jeder Bettler und jeder Mönch, der hier lebte, hatte das Anrecht auf den Schutz der Samurai. Für sie schlug er Jahr um Jahr Schlachten. Für sie tötete er andere Menschen. Für sie riskierte er jeden Tag sein Leben.

Warum sollte er das Leben eines Mannes beenden, der einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war?

„Lord Kenshin hat mir aufgetragen, darüber zu entscheiden, was mit Euch geschieht. Da ich aber nicht zu hundert Prozent vom Wahrheitsgehalt Eurer Worte überzeugt bin, ich aber auch keine Beweise gegen Euch habe, möchte ich Euch hier auf meinem Anwesen behalten. Meine Männer werden ein Auge auf Euch haben.“

„Herr“, widersprach Fukushima entsetzt. Doch Kagegaku ignorierte diesen Einwand. Für ihn war einzig und allein dieser Weg der richtige. Alles andere wäre gegen seine Prinzipien als Ehrenmann gewesen. Sogar sein Herz fühlte sich besser, was er jedoch gekonnt missachtete.

„Damit Ihr Euch nicht langweilt und auf keine dummen Gedanken kommt, möchte ich, dass Ihr für mich arbeitet. Was könnt Ihr, Toshiba-san? Seid Ihr Handwerker, Kaufmann, Bettler, Gaukler oder doch Bauer?“

Verblüfft runzelte Hyde die Stirn. Vor einer Stunde war seine Lage so noch aussichtslos gewesen, nicht weit von einem Todesurteil entfernt, und nun hatte man ihm tatsächlich angeboten, diesen Samurai zu dienen.

Und das gegen jeden Rat seiner Berater, die der festen Meinung waren, ihn so schnell wie möglich loswerden zu müssen.
 

Mit Sicherheit hatten beide Krieger das erleichterte Seufzen, das Hyde nicht hatte unterdrücken können, vernommen.

Doch das war völlig egal. Er konnte sein Glück, das er kaum fassen konnte, einfach nicht mehr verbergen. Als er sich gedankenverloren in seinem Hochgefühl nach oben beugte und schließlich versehentlich in die schwarzen Augen Kagegakus blickte, entwich ihm ein dankbares Lächeln. Es war instinktiv passiert, ungewollt. Zu spät bemerkte Hyde, dass er damit anscheinend gegen die Etikette verstoßen hatte. Doch für Reue war es bereits zu spät. Ihre Augen hatten sich getroffen. Kagegaku blickte zuerst ernst, dann einen Moment lang fast als wäre er in Panik und nun war er wie in Trance an diesen Moment gefesselt.

Hyde war aufgewühlt. Er wollte den Kopf wieder senken und so tun, als wäre nichts gewesen, doch der aufregende Blick des Samurai ließ ihn zögern.

Er zog den Blonden in einen dunklen Strudel, dem er hilflos ausgeliefert war. Doch er rief nicht nach Hilfe, denn aus irgendeinem Grund konnte er diesem Reiz einfach nicht widerstehen.

Dann überkam Hyde plötzlich eine starke Aufregung und zum ersten Mal hatte er das seltsame Gefühl, diesen Nishiyama Kagegaku schon einmal gesehen zu haben. Warum war es ihm nicht schon aufgefallen, als sie sich das erste Mal begegnet waren? Er erinnerte sich schemenhaft an diesen unnahbaren Blick, an diese Kühle und innere Ratlosigkeit, die seine Augen ausstrahlten. Aber woher und wieso? Warum fühlte er auf diese Weise, obwohl es unmöglich sein konnte, dass sie sich früher schon einmal getroffen hatten?

Woher kam diese unerklärliche Verbundenheit?

Warum tauchte die Welt in verschwommene Farben ein, wenn sich ihre Blicke trafen?

Weshalb konnte er nicht loslassen?

Erst als Fukushima die elektrisierte Atmosphäre mit einem Räuspern störte, fand Hyde die erlösende Gelegenheit des Rückzuges. Er senkte rasch seinen Blick, musterte das saubere Geflecht der Tatamimatte und versuchte seinen rasenden Puls zu ignorieren.
 

„Warum macht Ihr ihn nicht gleich zu euren Geliebten. Dann habt Ihr ihn persönlich unter Kontrolle“, murmelte Fukushima absichtlich so laut, dass auch Hyde ihn bestens verstehen konnte.

Der Zynismus hinter diesem Vorschlag war deutlich herauszuhören und doch ließ sie das Herz des Blonden vor Entrüstung im Dreieck springen.

„Bitte?“, kam es entsetzt von Kagegaku, noch bevor Hyde sich abermals dazu hinreißen ließ aufzublicken. Dafür senkte er sein Haupt in Verlegenheit noch tiefer und hoffte inständig, dass seine hitzig roten Wangen unentdeckt blieben.

Das Gerücht, dass er und Nishiyama ein Liebespaar gewesen waren, bahnte sich zurück in sein Gedächtnis. Er versuchte, es links liegen zu lassen, doch aus irgendeinem Grund fiel es ihm merklich schwer, so zu tun, als hätte er es nie gehört.

Er schüttelte den Kopf, als er schließlich versuchte, sich jene Unmöglichkeit vorzustellen.

Zugegeben, Kagegaku war mit seinem schwarzen Haar und den tiefdunklen Augen ein wunderschöner Mann, doch was unmöglich war, war unmöglich. Sie waren nicht nur von völlig verschiedem Charakter, sondern auch aus unterschiedlichen Zeitepochen. Wie sollte so etwas funktionieren?

Es war einfach unvorstellbar, dass er sich in diesen Samurai verlieben könnte.

„Mir scheint, dass Ihr einen Narren an ihm gefressen habt. Ihr seid so milde. Das ist untypisch für Euch.“ Aufmerksam lauschte Hyde der kleinen Meinungsverschiedenheit der beiden Männer.

Etwas anderes blieb ihm auch gar nicht übrig. Es schien weder Fukushima noch Kagegaku zu stören, sich vor einem Fremden zu streiten, was ein gutes aber auch ein schlechtes Zeichen für ihn sein konnte.

Im Moment schien eigentlich nur klar zu sein, dass Kagegaku völlig anders agierte, als Fukushima von diesem gewohnt war. Und diese Tatsache, warum auch immer, hatte Hyde bisher das Leben gerettet.

„Ich verurteile keinen möglicherweise unschuldigen Mann, der von anderen nur nach seinem Erscheinungsbild beurteilt wird. Er kann genauso gut auch ein normaler Bauer sein.“

Überrascht über die Art, wie Kagegaku versuchte, ihn zu verteidigen, obwohl es nicht seine Pflicht war, riskierte Hyde einen Blick nach oben.

Fukushima saß dem Oberhaupt gegenüber. Ernst blickten sie sich in die Augen. Der Berater niederen Ranges tat seine Bedenken offen kund, was mit jenen zynischen Bemerkungen nur unter Freunden funktionieren konnte. Jeden anderen Vasallen hätte das Oberhaupt wahrscheinlich schon längst in die Schranken gewiesen.

„Und davon scheint Ihr bereits mehr als überzeugt zu sein. Warum bleibt er nicht ein Gefangener? Ihn hier frei herumlaufen zu lassen, ist zu riskant.“

„Ihm kann nichts zur Last gelegt werden. Oder hast du mit eigenen Augen gesehen, wie er gegen das Gesetz verstoßen hat?“ Fukushima schüttelte den Kopf. Nicht um die Frage zu verneinen, sondern um deutlich zu machen, dass er einfach nicht fassen konnte, was hier passierte. Der wichtigste Stratege an Kenshins Seite wollte einen mutmaßlichen Spion frei unter seinem Dach leben lassen. Wie verrückt war diese Idee? War Kagegaku tatsächlich blind vor Liebe?

„Ihr wisst so gut wie ich, dass dieser Mann ein Spiel mit Euch spielen könnte. Ob er etwas getan hat oder nicht, tut nichts zur Sache.“

Verärgert stand Kagegaku auf.

„Widersprich nicht meiner Entscheidung!“, kam es barsch von ihm, während er zornig auf seinen Freund herabsah.

„Aber ...“

„Schluss jetzt. Bring Toshiba Hidetori in sein neues Quartier. Ich entscheide später, was er tun kann.“

Mit diesen Worten verließ der Stratege den Raum. Der entrüstete Fukushima blieb zurück, genauso wie Hyde, der mit gesenktem Kopf auf seinem Platz kniete und natürlich alles mitbekommen hatte.

Obwohl er wusste, dass der Klanführer nicht mehr anwesend war, wagte er nicht, sich aufzusetzen.

Er spürte regelrecht den erbitterten Blick des Beraters, der in seinen Gedanken wohl schon dutzende Flüche gegen den Blonden ausgesprochen hatte.

Doch auch wenn seine Bedenken groß waren, ohne das Wort des Oberhauptes waren Fukushima auf jeden Fall die Hände gebunden.

Selbst wenn alle gegen ihn wären, solange Kagegaku auf seiner Seite war, konnte ihm nichts geschehen.

Dieser Gedanke beruhigte Hyde erst einmal, auch wenn er immer noch nicht wusste, woher dieses Vertrauen überhaupt kam, das er von diesem Nishiyama Kagegaku erhielt.

Es war ein Mysterium, genauso unerklärlich wie seine Existenz in dieser Zeitepoche.
 

*
 

Schweigend starrte Hyde in das Orange der flackernden Kerze, die ihm ein junger Mann soeben gebracht hatte. Sie erhellte den Raum, der, verglichen mit seiner Gefängniszelle, weitaus größer war, nur geringfügig, doch es war allemal besser, als die zehrende Dunkelheit, der er in den letzten beiden Nächten ausgesetzt war.

Sein neues Quartier war genauso leer, aber sehr viel gemütlicher und freundlicher.

Eine Schiebetür mit zartem Bambusmuster trennte die Räumlichkeiten, die Hyde zur Verfügung gestellt worden waren. Leichte Shoji-Türen aus filigranen Holzrahmen, mit lichtdurchlässigem Papier bespannt, erzeugten eine wundervolle Atmosphäre. Die Wandnische im hinteren Teil des Raumes war mit einer Kakemono*******, auf der eine Schneelandschaft in Echigo abgebildet war, dekoriert.

Alles wirkte schlicht und ästhetisch klar. Ein Ort, der harmonische Ruhe ausstrahlte.

Vor der geöffneten Tür standen nach wie vor die beiden Samurai, die ihn, wie Kagegaku es gewollt hatte, bewachen sollten. Sie erinnerten Hyde daran, dass er immer noch ein Gefangener war, dem misstraut wurde. Behandelt wurde er ansonsten wie ein Gast, dem es freistand, sich innerhalb des Anwesens zu bewegen, doch niemals ohne seine beiden Schatten, die an ihm klebten wie die Angst, sich zu verraten.

Also zog Hyde es vor, sich zurückzuziehen und darüber nachzudenken, was er nun tun könnte und welche Schlussfolgerung er aus dem letzten Gespräch mit dem Klanoberhaupt schließen konnte.

Er versuchte, sich an Einzelheiten der Erzählung von Tayama zu erinnern. Was war mit dem Samurai geschehen? Wie ist die Geschichte ausgegangen? Warum hatte Tayama es ihm nicht erzählt? Und wie viel Wahrheit lag tatsächlich hinter dieser überlieferten Liebeslegende?

Hyde konnte nicht anders, als sich Sorgen zu machen. Auf zu viele Fragen hatte er einfach keine Antwort und wie er zurück in seine Zeit kommen sollte, war ihm auch völlig schleierhaft. Hinzu kam noch die Frage, ob seine Reise einen Grund haben könnte und ob dieser Grund vielleicht mit Nishiyama Kagegaku zusammenhing.

Ihre intensiven Blickkontakte jedenfalls waren mehr Anlass zur Sorge, als sein Verbleib in dieser Zeitepoche. Denn dieses bestimmte Gerücht wollte ihm einfach nicht aus den Kopf gehen. Was war, wenn es doch stimmte? Was war, wenn er sich in Nishiyama verlieben würde? Würde er dann sein Leben lang hierbleiben müssen? Gab es Hyde, L'Arc~en~Ciels Frontmann, dann nicht mehr? Wurde er vermisst? Was spielte sich gerade im zukünftigen Tokio ab? Suchten Tetsu, Ken und Yukihiro nach ihm? War sein Leben im 21. Jahrhundert vorbei? Würde er überhaupt jemals wieder zurückkehren können? Jene Gedanken ließen ihn zittern. Aber vielleicht lag es auch nur an der kühlen Luft, die in den Raum strömte und vereinzelt auch Schneeflocken mitbrachte.

Hyde zog sich seufzend den Kragen des Kimonos an den Hals und stand auf.

Schon vor Stunden hatte er vorgehabt, die mit Papier bespannte Tür zuzuziehen, doch seine Gedanken hatten ihn mal wieder viel zu weit von der Realität weggetrieben.

Ein Wunder, dass er erst jetzt die frostige Kälte bemerkt hatte, die ihm gerade um die nackten Füße wehte.

Schnell wollte er die Tür zuziehen und sich zurück in das warme Innere seines Raumes begeben, doch gerade als er seine Hand am Holz des Rahmens hatte, trat eine Person herein.

Verdutzt blickte Hyde dem Mann mit den langen, schwarzen Haaren hinterher, der sich ungebeten auf den Boden, mit dem Rücken zur offenen Tür, setzte.

„Setzt Euch“, befahl der Mann herrisch und Hyde wusste sofort, dass es sich um Kagegaku persönlich handelte. Jene klare Stimme würde er wohl unter Tausenden wiedererkennen.

Schweigend nickte der Blonde. Er packte mit seinen zitternden Händen die Schiebetür und wollte sie zuziehen, wie er es die ganze Zeit schon geplant hatte, doch der Schwarzhaarige meinte anscheinend das dies nicht nötig war.

„Lasst sie offen“, ordnete Kagegaku an, woraufhin Hyde erschrocken zuckte. Würde dieses verdammte Herzklopfen denn je ausbleiben, wenn dieser Mann mit ihm sprach?

„Nun setzt Euch endlich“, wiederholte der Samurai. Hyde, der skeptisch den sich zurückziehenden Wachen hinterhersah, nickte zögerlich. Dann trat er um den sitzenden Kagegaku herum und setzte sich einige Meter entfernt diesem direkt gegenüber.

Erst jetzt bemerkte er den braunen Krug und die zwei glasierten Schalen, die der Krieger mitgebracht haben musste.

Wenn er sich nicht irrte, war dieser Krug mit Sake gefüllt.

Misstrauisch musterte Hyde, wie Kagegaku eine der beiden Schalen mit der weißen Flüssigkeit füllte und sie ihm dann reichte. In alten Samuraifilmen war dieser Sake oft mit Gift vermischt, um unliebsame Feinde möglichst unblutig und lärmfrei loszuwerden. Würde dies nun auch mit ihm geschehen? War das Entgegenkommen des Klanoberhauptes bisher nur geheuchelt?

„Kommt näher“, forderte der Krieger und ließ Hyde abermals aus seinen Gedanken hochschrecken. Hyde tat, was Kagegaku ihm befohlen hatte.

Er rutschte etwas näher, doch das gefiel dem Mann im dunkelblauen Kimono anscheinend immer noch nicht. Er blickte unzufrieden, was Hyde nicht bemerkte, denn er vermied, es dem Schwarzhaarigen bewusst in die Augen zu sehen.

Seine Aufmerksamkeit galt mehr der grau glasierten Schale, die ihm schlanke Finger reichten. Er wusste, dass es ihm nicht erlaubt war, diese Geste abzulehnen, doch die Angst, dies könnte seinen Tod bedeuten, ließ seine Hände stärker zittern.

„Er ist nicht vergiftet“, versicherte Kagegaku, dem das Zucken in Hydes Händen nun schon bekannt war. Um seine Behauptung zu unterstreichen, führte er die Schale an seine eigenen Lippen und trank die Flüssigkeit in einem Zug.

Dann nahm er die andere Schale, füllte sie mit dem Sake und reichte sie noch einmal dem Gegenübersitzenden Blonden.

Hyde jedoch rührte sich nicht. Obwohl er wusste, dass er den Sake annehmen musste, tat er es nicht. Seine Augen hingen an der Schale, doch mit den Händen konnte er sie nicht greifen. Seine Angst, hereingelegt zu werden, war einfach zu groß.

„Meine Männer feiern unseren Sieg“, durchbrach Kagegaku die schwermütige Stille, die dank Hydes stiller Ablehnung eingetroffen war.

„Viele unserer Kameraden sind gefallen, doch wir haben überlebt und dafür danken wir den Göttern.“ Vorsichtig stellte er die Schale auf den Boden und schob sie in Hydes Richtung.

Er konnte verstehen, dass der Blonde ihm misstraute. Er selbst hätte wahrscheinlich genauso abweisend gehandelt, würde er in seiner Situation stecken.

„Ihr fragt Euch sicherlich, weshalb ich, statt Euch zu belästigen, nicht mit meinen Männern gemeinsam feiere, richtig?“, begann Kagegaku, während ihm klar war, dass er von Hidetori darauf keine Antwort zu erwarten hatte. Es würde schwierig werden, ihm Worte zu entlocken, geschweige denn wichtige Details über seine Person. Doch jedes Vertrauen brauchte einen Anfang, auf dem aufgebaut werden konnte. Reden war natürlich einer der besten Wege, dieses zu erlangen.

„Gestern wart Ihr mein Gefangener, heute mein Gast und morgen gehört Ihr schon zu meinen Vasallen. Deswegen.“

„Ein schneller Werdegang“, murmelte Hyde zynisch, um sofort entsetzt festzustellen, dass er nicht gedacht, sondern laut gesprochen hatte.

„Bitte?“, fragte Kagegaku verblüfft. Nicht über das Gesagte, sondern dass er überhaupt gesprochen hatte.

Hyde, der ratlos nach einem Ausweg suchte, schüttelte verlegen den Kopf.

„Seid Ihr über irgendetwas unzufrieden? Wenn das so ist, dann sagt es mir.“

Darauf hätte Hyde am liebsten mit lautem Gelächter geantwortet. Genau genommen war er mit so fast allem unzufrieden. Allem voran natürlich diese schreckliche Zeitreise und dass er als Gefangener inmitten von kriegerischen Samurai leben sollte, obwohl er doch nur einen Werbespot drehen wollte. Was also sollte er auf diese ziemlich dumme Frage antworten?

„Ich sehe, es fällt Euch schwer offen mit mir zu sprechen“, brachte Kagegaku die verfahrene Situation auf den Punkt.

„Wäre ich so engstirnig wie die anderen, würde ich vermuten, dass Ihr ein tiefes Geheimnis verbergt, das Ihr auf keinen Fall versehentlich preisgeben wollt.“ Auch damit hatte er irgendwie Recht. Ja, er hatte ein Geheimnis, jedoch nicht von jener Art, die der Stratege vermutete. Er war kein Spion und auch kein Feind, aber ob er ein Freund war, wusste er auch nicht.

„Ich ... ich bin kein ... Samurai“, stotterte Hyde schließlich, um den verheerenden Verdacht von sich zu lenken.

„Ich glaube Euch“, entgegnete Kagegaku mit sicherer Stimme und nickte.

„Aber eines wundert mich doch.“ Hyde schluckte hörbar, während er seine zitternden Hände ineinanderfaltete. Er konnte sich bereits vorstellen, was nun kommen würde.

„Euer Haar. Ihr seid doch Japaner.“ Hyde nickte, doch was er darauf sagen konnte, fiel dem Blonden nicht ein. Normalerweise wären ihm hunderte passende Ausreden eingefallen, doch gerade dann wenn er es am nötigsten brauchte, funktionierte sein Hirn einfach nicht so wie gewohnt.

„Ist es ein Geburtsfehler?“, fragte Kagegaku ernst nach und starrte neugierig auf das 'goldene' Haar.

Verdutzt runzelte Hyde die Stirn, als diese ahnungslose Begründung kam. Und doch hätte er es nicht besser erklären können. Auch wenn es natürlich nicht die Wahrheit war, doch der Samurai und alle anderen Menschen dieser Zeit, würden wohl nie erfahren, wie sein blondes Haar tatsächlich zustande gekommen war.

Sie konnten ruhig glauben, dass er bereits so geboren wurde.

Erleichtert, dass dieses leidige Thema nun endlich zu den Akten gelegt werden konnte, nickte Hyde mit dem Kopf und überwand sich zusätzlich noch zu eine stillen Ja.

Doch für Kagegaku selbst war damit noch lange nicht alles abgetan. Seine schlummernde Neugierde war geweckt, der Drang zu erfahren, wie sich wohl dieses seltsame Haar anfühlte. War es genauso dick und schwer wie seines? War es so weich wie es aussah? Spürte man die Wärme, die es ausstrahlte?

Er wollte es wissen, also scheute er sich nicht danach zu fragen.

„Darf ich es anfassen?“ Perplex über diese Bitte nickte Hyde wie ferngesteuert.

Was hätte er auch sonst tun sollen? Obwohl Kagegaku höflichst gefragt hatte, waren dessen Finger schneller im blonden Haar, als Hyde mit seiner Zustimmung reagieren konnte.

Er fühlte sich überrumpelt und auf eine Art auch übergangen. So hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Der Samurai, der die dünnen Strähnen zwischen seinen Fingern betrachtete, als wären sie das Erstaunlichste, was er je gesehen hatte, stürzte sich mit einer unglaublichen Unschuld in seine Intimsphäre, dass Hyde nichts anderes übrig blieb, als erstarrt jene Berührungen über sich ergehen zu lassen. Das sanfte Ziehen, wenn Kagegaku andächtig über die Strähne bis zu ihrer Spitze entlang fuhr, bescherte dem Blonden eine Gänsehaut nach der anderen.

Wirklich unangenehm war es ihm nicht. Es war eher Kagegaku selbst, der unbewusst immer näher rückte und Hyde damit noch unsicherer machte.

Das Schlimmste jedoch war das Pochen in seiner Brust, das kontinuierlich stärker wurde, je näher Kagegaku kam.

Schließlich war der Schwarzhaarige ihm so nah, dass er spüren konnte wie dessen warmer Atem auf sein Gesicht traf. Der Blickkontakt, den Hyde die ganze Zeit geschickt aus dem Weg hatte gehen wollen, war nun kaum noch zu vermeiden. Er schaute in die dunklen Augen, die nicht in seine sahen, sondern neugierig das blonde Haar betrachteten.

Der Krieger, der bisher so unnahbar und kühl gewirkt hatte, sah nun so unschuldig wie ein Kind aus. Ein warmer Blick, der nicht mehr darauf schließen ließ, dass die Lebensaufgabe dieses Mannes das Töten von Menschen war. Stattdessen strahlte er Reinheit und Neugierde aus, die Hyde regelrecht erschütterte.

Das, was er sah und was er von diesen Menschen wusste, widersprach sich auf allen Ebenen. Und Hyde wusste nicht so recht, wie er mit diesen Gegensätzen umgehen sollte.

Kagegaku selbst war sich mit Sicherheit nicht darüber im Klaren, wie sehr er ihn im Moment verwirrte.

Er ließ seine Finger unbekümmert tiefer in das helle Haar gleiten. Er wollte wissen wie es sich anfühlte. Ein naiver und kindischer Wunsch, dem er jedoch einfach nicht widerstehen konnte. Ständig hatte der Samurai sich vorgestellt dieses Gold zu ertasten, einfach nur zu berühren, das war alles.

Seit ihrer ersten Begegnung war er einfach nicht mehr Herr über sich selbst. Als wäre er verhext worden. Und je mehr er sich dagegen sträubte, desto aussichtsloser wurde seine Gegenwehr. Der feste Entschluss, nicht auf diese neuartigen Gefühle einzugehen, war in dem Moment ins Nichts verpufft, als ihm klargeworden war, dass Toshiba Hidetori auf keinen Fall ein Feind sein konnte. Er fühlte es einfach. Er sah es, er spürte es zwischen seinen Fingern.

Toshiba war anders, befremdlich und aufregend und in gewisser Hinsicht vielleicht auch gefährlich, doch das war es, was Kagegaku reizte. Er wollte herausfinden, was Toshiba für ein Mensch war. Warum er das fühlte, was er fühlte. Warum es ihr Schicksal war, sich zu begegnen.

Fukushima würde ihn rügen, könnte er ihn jetzt sehen. Er würde ihn an seine Pflicht als Diener Kenshins erinnern, wie sie es alle taten und wie es bis vor kurzen auch seine oberste Priorität gewesen war. Doch war das nun alles anders? Er verstand es selbst nicht, hatte keine Antworten, doch eines wusste er genau: Er konnte diesen Gefühlen nicht entfliehen. Er hatte es versucht, doch das hatte ihn noch viel tiefer in Verwirrungen verstrickt.

Kagegaku war sich noch nicht über den Konflikt, der sich langsam und unaufhaltsam anbahnte im Klaren. Sie lebten in einer schwierigen Zeit, in der Gefühle einfach nichts wert waren. Das wichtigste im Leben eines Klanführers war es, seinem Fürsten zu dienen. Wollte dieser, dass man sein Leben für ihn gab, dann stürzte man sich in den Tod. Nichts stand über dem Willen des mächtigsten Mannes.

Hatte sich jene Treue zu seinem Herren auch geändert?

Würde man ihn fragen, würde Kagegaku mit einen felsenfesten Nein antworten, doch in Momenten wie diesem, Momente, die er noch nie erlebt hatte, die so neu waren, so interessant, konnte er nicht von ganzem Herzen der Diener sein, als der er geboren und erzogen worden war.

Bisher hatte er noch nie gespürt, wie sein Herz vor glücklicher Aufregung schneller schlug. Noch nie hatte er das Gefühl gehabt, dass er überhaupt lebte. Bis zum heutigen Tag war er nur ein Name, leblos und kontrolliert. Zum ersten Mal dachte er, frei das tun zu können, was er wollte. So zu denken wie ein Mensch.

Und das tat er. Ein beflügelndes Gefühl, wie Kagegaku feststellen musste. Und davon wollte er einfach nicht genug bekommen. Und die Welt um ihn herum wurde unwichtig.

Er war so sehr in seiner Erkundung vertieft, dass er nicht einmal bemerkte, wie Hyde ihn verwundert anstarrte. Was diesen keineswegs störte. Hyde war froh, dass ihm die Gelegenheit geboten wurde, ungestört diese Augen zu betrachten, ohne dass sie seinen Blick erwiderten. Sie verwirrten ihn einfach zu sehr, dabei waren sie vielleicht der Schlüssel zu all seinen Fragen. Die Antwort die er suchte.

Würde ihm einfallen, wann und wo er dieses Augenpaar schon einmal gesehen hatte, dann könnte er vielleicht auch in seine Zeit zurückkehren. Dann bräuchte er keine Angst mehr um sein Leben haben, dann müsste er nicht befürchten, das sich die Legende vom ungleichen Liebespaar erfüllte. Dann wäre alles wieder so wunderbar wie vor seiner Zeitreise.

Situationen wie diese, in denen er nicht wusste, wie er reagieren sollte, würde es dann auch nicht mehr geben, denn dann lagen zwischen ihm und Kagegaku mehr als 400 Jahre. Ein unüberwindlicher Zeitgraben, wie man annehmen sollte.

Allerdings musste Hyde feststellen, wie ihm bei diesem Gedanken das Herz schwerer wurde. Eine unerklärliche Traurigkeit übermannte ihn, die sich fest in seine Seele fraß. Es war, als würde dieser Wunsch nach Abstand seinen ganzen Körper verwunden, als würde er sich selbst dafür bestrafen.

Während er zu verstehen versuchte, warum er so fühlte, dachte er, plötzlich auch im Gesicht des Samurai Verwirrung entdeckt zu haben.

Hyde spürte wie schlanke Finger zaghaft seine Kopfhaut berührten und wie die darauffolgende Gänsehaut prickelte.

Kagegaku runzelte die Stirn, als wäre ihm soeben klar geworden, was er überhaupt tat. Er war wie ein Kind, das zum ersten Mal ein junges Kätzchen streichelte und überrascht vom weichen Fell einfach noch einmal darüberfuhr, um sich zu vergewissern, dass es nicht halluzinierte, und dann bemerkte, dass das, was es tat, eigentlich schrecklich albern war.

Diese Unschuld, die hinter jenem Blick lag, wunderte Hyde. Und doch verzogen sich seine Lippen ganz automatisch zu einen Lächeln, was Kagegaku sonderlicherweise bemerkte. Er blickte auf den lächelnden Mund und schien selbst von diesem unglaublich fasziniert zu sein.

Plötzlich fühlte sich Hyde, als wäre er in die Enge getrieben worden, als hätte man ihn in eine Falle gelockt. Unerklärliche Panik überfiel ihm, als die Situation aus seinen Händen zu gleiten schien. Er wusste nicht, wovor er Angst hatte, doch irgendetwas behagte ihm einfach nicht. Es war die Nähe, die ihm einfach zu intim war. Es war die Nähe, die ihm keinen Raum zum Atmen gab, die keine Flucht zuließ.

Er wollte Kagegaku bitten, ihn los zulassen, ohne unhöflich zu klingen, was in seiner Nervosität aber schwer zu realisieren war, also fasste er seinen ganzen Mut zusammen und packte die Hand des Samurai, die sich mit seinem Haar verworren hatte.

Der Schwarzhaarige blickte überrascht, sagte jedoch nichts, obwohl man ihm eine gewisse Verlegenheit ansah. Er blickte auf Hydes Hand, die seine festhielt, und wollte etwas sagen, doch der Blonde, dem auf einmal klar wurde, dass er sich mit seinem Handeln tiefer in Beschämung gestürzt hatte, riss sich schneller wieder los, als dass Kagegaku etwas dagegen einwenden konnte.

„Entschuldigung“, murmelte Hyde unsicher. Doch wofür entschuldigte er sich überhaupt? Für die Scham, die er gerade fühlte, für die beklemmende Atmosphäre die er geschaffen hatte? Oder für seine Mutlosigkeit, nicht der Freundlichkeit des Samurai entgegen kommen zu können? Er wusste nicht einmal, warum er überhaupt freundlich behandelt wurde. Alles war noch zu fragwürdig und zu schwammig, um Vertrauen zu fassen. Er wagte es ja noch nicht einmal, normal zu reden, aus Angst, etwas Falsches zu äußern, sich fehlerhaft auszudrücken oder einfach nur zu viel zu sagen, was sich negativ auf den Verlauf der Geschichte auswirken könnte. Er brauchte natürlich das Vertrauen des Klanoberhauptes, um zu überleben, und doch hatte er bisher nichts in diese Richtung getan. Alles ging vom Samurai selbst aus, und das war es, was ihn noch zusätzlich verwirrte.

Was sah dieser Mann in ihm? Warum vertraute er, ohne sich wirklich sicher zu sein, mit wem er es zu tun hatte?

„Mir tut es Leid.“ Die klare Stimme, die wieder eine Entschuldigung äußerte, ließ Hyde aufschrecken.

„Ich muss auf Euch wie ein Verrückter wirken.“ Kagegaku lächelte scheu, zog seine Hand aus den blonden Haaren und lächelte noch einmal. Dieses Mal über sich selbst.

„Ihr habt eine außergewöhnliche Wirkung auf die Menschen.“

Hyde blickte fragend in Kagegakus Augen.

„Oder bin nur ich es, der sich in Eurer Nähe seltsam verhält?“ Am liebsten hätte Hyde diese Frage mit einem sicheren Ja geantwortet, doch wie so oft seit er hier war, behielt er seine Worte für sich und schwieg.

Anscheinend brauchte Kagegaku darauf auch keine Antwort, denn sicherlich wusste er selbst, dass es so war. Seine Augen jedenfalls strahlten jene Selbstkenntnis aus.

„Vielleicht bin ich ja verrückt“, urteilte der Langhaarige nachdenklich. Hyde runzelte überrascht die Stirn, denn irgendwie wurde er das dumme Gefühl nicht los, dass er diese Äußerung ernst gemeint hatte. Es erstaunte ihn, dass dieser Samurai, der als furchtloser Krieger und intelligenter Stratege bekannt war, von sich selbst dachte, er hätte den Verstand verloren, obwohl zu dieser Annahme grob gesehen noch kein großer Anlass bestand. Sein Verhalten ihm gegenüber war zwar außergewöhnlich freundlich, doch nur deswegen verrückt zu sein, war doch absurd.

Kagegaku seufzte ratlos, was Hyde verlegen machte.

Am liebsten wollte er etwas gegen jene Selbstunterstellung sagen. Ihn überzeugen, das er nicht verrückt war, ihm erklären, dass es ihm eigentlich fast genauso erging. Am liebsten hätte er ihm gesagt, dass er sich in seiner Gegenwart ungewöhnlich unsicher fühlte, nicht der unbefangene Mensch sein konnte, der er eigentlich war. Doch das konnte er nicht, denn diese Angst existierte doch nur, weil er nicht wusste, wie man sich in bestimmten Situationen zu verhalten hatte. Wie reagierte man am geschicktesten, wenn man 400 Jahre in der Zeit zurück reist, von Kriegern gefangen genommen und mit dem Tod gedroht wird. Da war es doch ganz natürlich, dass man kaum ein Wort über die Lippen brachte und sich unsicher fühlte, wenn einem plötzlich Güte entgegengebracht wurde. Jedenfalls sah Hyde es so.

Doch für die Menschen, die hier lebten, für Kagegaku und seine Leute war er ein normaler Mann aus einem benachbarten Dorf. Für sie musste es ungewöhnlich sein, wie er sich verhielt.

Er musste reden, er musste versuchen so normal wie möglich zu agieren.

Er musste etwas sagen.

„Ich ...“ begann Hyde zaghaft. Seine Augen suchten das Licht der Kerze, die hinter Kagegaku stand und unruhig flackerte. Und plötzlich war ihm, als hätte er im Augenwinkel einen Schatten am Türrahmen gesehen. Es musste eine Einbildung gewesen sein, denn nach einem kurzen Blinzeln war nichts an der Tür zu sehen.

Obwohl er sich auf einmal ziemlich unwohl fühlte, wollte er weitersprechen.

Er spürte den Blick Kagegakus. Er wusste, dass dieser auf seine Worte wartete. Er musste nun endlich seiner Furcht entgegentreten.

Er überwand sich und murmelte zwei Worte.

„Ich denke ...“, dann verstummte er schlagartig. Wie in Trance blickte er einem schwarzmaskierten Mann in die dunklen Augen, die widerspiegelten, was sein Ziel war. Er stürzte lautlos in den Raum, in seiner rechten Hand einen Dolch, bereit zu töten.

Er zielte auf Kagegaku, der ahnungslos mit dem Rücken zu dem Angreifer saß.

Es waren nur Bruchteile von Sekunden, doch Hydes Gedanken rasten von einem Szenario zum nächsten.

Es war zu spät. Der Schwarzhaarige würde nicht rechtzeitig reagieren können. Er würde sterben.

Dann ging alles so schnell, dass Hyde selbst nicht wusste, was er überhaupt tat. Er packte Kagegaku an den Schultern und drehte ihn herum. Schützend warf er sich auf den Samurai und verhinderte somit das Schlimmste.

Dann schloss er die Augen.

Kagegaku, der schließlich sofort begriff, was hier passierte, zog sein Kurzschwert, das er immer bei sich trug, und tötete den Angreifer mit nur einer meisterhaften Handbewegung. So lautlos wie er sich ins Innere des Anwesens geschlichen hatte, sank der Mann, der zweifelsohne ein Ninja war, leblos zu Boden. Sein Blut durchtränkte rasend schnell den Tatamimattenboden, auf dem Kagegaku selbst noch Sekunden vorher gesessen hatte.

Unzählige reuevolle Gedanken rasten blitzschnell durch den Kopf des Klanführers, während seine Hände über den kleineren Körper auf dem seinen tasteten.

Er selbst war nicht verletzt, doch was war mit Hidetori?

Der Fremde hatte ihn auf den Angreifer aufmerksam gemacht. Um ihn zu beschützen? Warum?

Was war geschehen? Alles ging so schnell. Hidetori hatte ihn plötzlich zu Boden gedrückt, er hatte den Angreifer gesehen und sofort gehandelt. Instinktiv hatte er den Blonden festgehalten und beschützend an seine Brust gedrückt, während der Ninja starb.

Doch warum bewegte sich Hidetori nicht? War er zu spät?

Er spürte warmes Blut. Es durchdrang Kagegakus Kimono und traf auf seine Haut.

Es war nicht das Blut des Killers, und auch nicht sein eigenes. Es war das Blut des Mannes, der in seinen Armen lag und sich nicht rührte.

Starr aus Angst vor der Realität blickte er auf den Blonden hinunter.

Der rechte Ärmel des hellbraunen Kimonos war dunkelrot gefärbt. Über Toshibas Hand, die sich an Kagegakus Kimono klammerte, floss das Blut auf dessen Brust. Wie flüssiges Feuer tropfte es hinab und schien dort seine Haut zu verbrennen.

Mit zitternden Händen packte der Samurai die Schultern des Blonden und drehte ihn vorsichtig herum.

Helle Strähnen klebten an seiner verschwitzen Stirn. Er atmete noch, wenn auch sehr unruhig. Doch wenigstens lebte er noch.

Neben ihm lag der kurze Dolch des Ninjas. Seine Klinge war dunkelrot. Kagegaku fasste sich verzweifelt an die Stirn. Der Ninja hatte es geschafft, seine Waffe zum Einsatz zu bringen. So etwas war noch nie passiert. Er war doch immer schnell genug, Angreifer zu töten, noch bevor sie überhaupt in seiner Nähe waren.

Warum war er so unachtsam gewesen?

Panisch suchte Kagegaku nach der Verletzung. Er fand sie sofort, als er den blutdurchtränkten Kimono auseinander zog. Seine Pupillen weiteten sich, als ihm plötzlich das Ausmaße seiner Unachtsamkeit dargelegt wurde.

Endlich schrie er nach Hilfe. Seine Stimme war brüchig und viel zu leise und doch wurde sie von seinen Leuten gehört. Gleich mehrere seiner Männer stürmten in den Raum.

Kagegaku blickte sie nur entgeistert an, während er seine Hände fest auf Hidetoris Wunde drückten, aus der unaufhörlich Blut drang.

Seine Finger zitterten immer noch. Er hatte Angst, panische Angst, dass dieser Mann sterben könnte. Noch nie zuvor hatte er eine solche Qual erlebt. Doch warum? Warum war es ihm nicht egal, was mit ihm geschah?

Weil Hidetori ihn beschützt hatte? Weil er sich todesmutig vor die Klinge des Angreifers gestürzt und somit sein Leben gerettet hatte?

Wenn er in das blasse, verschwitzte Gesicht sah, wusste er nur eins. Toshiba Hidetori durfte nicht sterben. Er durfte auf keinen Fall sterben.

Egal wie, er würde es verhindern, auch wenn er mit seinen eigenen Leben dafür bezahlen müsste.
 

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Tut mir wirklich Leid, dass es so lange gedauert hat. Wollte das Kapitel ja schon Anfang des Monats fertig haben, aber nach dem Parisurlaub und dem Vampskonzert, hat es etwas gedauert wieder in den Alttag zu finden. Ist bei mir immer so, egal wie lange ich weg war. Und dann gab es auch noch ein paar private Problemchen, weswegen ich mich nicht richtig konzentrieren konnte. Sprich, alles was ich in dieser Zeit geschrieben habe, war für den Müll... musste vieles nochmal überarbeiten oder umformulieren, was ziemlich viel Arbeit und Zeit gekostet hat. Dafür aber ist das Kapitel etwas länger als die anderen davor. Und ich hoffe das nächste Kapitel wieder etwas früher hochladen zu können. Werd mir Mühe geben, aber erst einmal muss ich ein Fanart beenden, dann bekommt die FF wieder die höchste Hobbypriorität. ^_^
 

Ach ja, was ich das letzte Mal schon erwähnen wollte. ^^

Wir besitzen kein einziges Gerät von Toshiba lol
 

Ach, äh und sorry für das böse Ende. ó.ò
 

Aber danke für eure Kommentare. Ich freu mich echt über jeden einzelnen, egal ob kurz oder lang. Danke, danke, danke... ^^
 

*#*#*
 

Erläuterungen:
 

* Kasugayama

Primärfestung des japanischen Kriegsherren Uesugi Kenshin
 

** Kawanakajima

Landstrich zwischen den beiden Flüssen Chikuma und Saigawa in der Präfektur Nagano

Von 1553 bis 1564 kam es zu ständigen Kämpfen zwischen Uesugi Kenshin und Takeda Shingen. Berühmt ist insbesondere die unentschiedene Schlacht vom September 1561, in der eine 20.000 Mann starke Takeda-Armee 18.000 Mann des Uesugi-Klans gegenüber standen.
 

*** Kagekatsu

Sohn von Nagao Masakage (der Kopf des Ueda Nagao Klans) und Uesugi Kenshins älteren Schwester. Nach dem Tod seines Vaters wurde er von Kenshin adoptiert.
 

**** Etchu

historischen Provinz Japans im Zentral-Honshu am Japanischen Meer
 

***** Kosaka Danjo

einer von Takeda Shingens 24 Generälen und sein treuester Begleiter.
 

****** Kagetora

siebender Sohn von Hojo Ujiyasu, der seinen Sohn als Geisel zu den Uesugis schickte.

Kenshin, der keine eigenen Kinder bekam, adoptierte ihn, gab ihm seinen früheren Namen und verheiratete ihn mit seiner Nichte.
 

******* Kakemono

japanisches, hochformatiges Rollbild.
 

#Miyako

früherer Name für Kyoto

bedeutet „kaiserliche Residenz"



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von: abgemeldet
2012-07-13T19:21:37+00:00 13.07.2012 21:21
WAAAAAAAAAAAAAHHHHHHHHHHHHHH ICH MUSS WIETER LESEN!!!!!!!!!!!!!es ist wunderschön....hah ich weis garnicht wie ich es beschreiben soll,ich lese einfach weiter,mein Engel!!!!!!!!^^
Von:  Jaeba
2010-11-19T18:59:33+00:00 19.11.2010 19:59
Die Story wird immer besser! *___*
Obwohl es erst so wenig Kapitel sind, hat sie mich jetzt schon vollkommen in ihren Bann gezogen!
Hoffe doch, dass es gaaaaanz schnell weitergeht! ^^

LG
JaeKang
Von:  wieprei
2010-11-17T08:48:05+00:00 17.11.2010 09:48
Dramatisch, Dramatisch!
Tolle Kapitel. Vor allem der Schluß hat mir sehr gut gefallen. Man wird ihn jetzt wohl nicht mehr verdächtigen Kagegaku umbringen zu wollen.
Ich bin gespannt, wie es mit den Beiden weitergeht.

LG Ines
Von:  Chacha
2010-11-17T03:10:19+00:00 17.11.2010 04:10
O - hayou Tenshis - San

Another great chapter. While I was reading I dreamed of this world and listened to Gackt - Sans Song "Returner".
The story is written very exciting and I alway looking forward to each chapter.
I'm sorry for Haido - San, what has happend to him, but it show what a brave heard this small man has.
If I had been in Haido - Sans situation, I would be also very afraid. Also I wouln't know, how to behave or what I should say. I can understand the uncertainty Haido - San is feeling in this situation.
It was cute to read when Kagegaku - Sama behaved like a child. It made him more human. That his consulant woun't like is strikly clear. Shoud I be now sorry with Kagegaku - Sama? I don't know.
Take time to you.

All the best wishes yours
Chacha




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