Fog von absinthe ================================================================================ Kapitel 2: Contradictory ------------------------ Hey! Wieder da mit dem nächsten Kapitel. Wie immer vielen Dank für eure Revs :‘D --------------------------------------------------------------------------- Contradictory „Ich find‘s romantisch", meinte Alice, während sie am Herd stand und Eier in der Pfanne verrührte. Ich lächelte ihr halbherzig zu. „Würde ich auch, wenn nicht dieser leichte Stalker-Duft dranhaften würde." „Ach, komm schon. Es gibt ganz offensichtlich jemanden, der dich sehr mag, aber bisher nur zu schüchtern war, es dir persönlich zu sagen." Elanlos ließ ich meinen Kopf auf den Küchentresen sinken und vergrub mein Gesicht zwischen meinen Armen. „Findest du es nicht gruselig, dass er so viele persönliche Dinge über mich weiß? Zum Beispiel das mit der Central Station. Das wissen nur du und meine Eltern und-" Ich brach ab, während Alice ergänzte: „ ... all die, denen du deinen Traum mit leuchtenden Augen erzählt hast?" „So viele waren das gar nicht und Renée und Charlie wissen das bestimmt eh nicht mehr ... Außerdem hab‘ ich schon seit Jahren nicht mehr davon geredet." Ich bemerkte, wie ein Teller vor mir abgestellt und mit Essen gefüllt wurde. Langsam richtete ich mich wieder auf und blickte auf Rührei mit Speck und Salat. „Ich hab‘ dir bestimmt schon hundert Mal erklärt, dass du nicht so viel für mich sorgen musst, oder?" Alice lächelte. „Ja, aber ich weiß besser als du, dass du in letzter Zeit nicht besonders auf deine Ernährung achtest." „Das stimmt nicht", widersprach ich ihr. „Dein Kühlschrank ist so gut wie leer." „Wenn ich Hunger hab‘, geh‘ ich rüber ins Bistro und hol‘ mir was." „Fast Food ist keine Alternative", meinte Alice streng. Ihre Augen wurden zu Schlitzen und ich seufzte resigniert. „Du bist wie meine Mutter." Nein, eigentlich stimmte das nicht. Es müsste lauten Du bist mehr Mom als meine richtige es je sein würde. Denn die kümmerte sich kaum um mich. Als ich noch klein gewesen war, hatten sich meine Eltern scheiden lassen und ich war bei meinem Dad geblieben. Eigentlich wäre es egal gewesen, bei wem ich meine Kindheit verbracht hätte. Ich schien für beide nicht wirklich existent gewesen zu sein. Jeder von ihnen kümmerte sich um seine eigenen Dinge. Mom hatte ziemlich selten geschrieben, weil sie womöglich voll und ganz mit ihrem neuen Mann zu tun gehabt hatte, und Dad hatte nur seine Arbeit im Kopf. Alice war schon damals die einzige, richtige Vertraute für mich. Ich teilte so gut wie alles mit ihr und sie ließ es sich auch nicht nehmen, ständig nach mir zu sehen. Und nach dem Unfall war es noch extremer geworden. Sie meinte, ich hätte mich stark verändert, sei ruhiger geworden und würde ständig in Tagträumen versinken. Sie hätte keine ruhige Minute, wenn sie sich nicht wenigstens einmal pro Woche persönlich über meinen Gemütszustand vergewissern konnte. Es war also mittlerweile Routine geworden, dass sie jedes Wochenende vorbeikam. Dabei war die Entfernung von Chicago und Detroit nicht gerade ein Katzensprung. „Jasper muss sich ja ziemlich einsam fühlen, so oft, wie du hier bist. In der Armee hat er doch nur am Wochenende Zeit, nach Hause zu kommen, oder nicht?" Alice winkte ab, während sie genüßlich ihren Speck verzehrte. „Das ist kein Problem. Samstag gehört Jasper und mir, Sonntag uns beiden Hübschen. An diesem Tag trifft er sich dann ohnehin mit seinen Freunden. Optimale Zeiteinteilung, und das, obwohl ich so viel mit dem Atelier zu tun hab‘." Ich schmunzelte über ihre Argumentation, obwohl ich insgeheim bewunderte, wie sie alles unter einen Hut bekam. Seitdem sie sich als Künstlerin selbstständig gemacht hatte, arbeitete sie Tag ein Tag aus in ihrem kleinen Farbpalast. Ich beneidete sie um ihr Talent, sie war begnadet in dem, was sie tat. „Wie du meinst. Aber beschwer‘ dich nicht, wenn er dir aus Frust diesen einen Tag auch noch streicht." „Wird er nicht", meinte sie trotzig. „Jasper und ich verstehen uns. Das ist nicht so wie bei dir und ..." Mitten im Satz hielt sie inne, starrte mich kurz an und lächelte dann, bevor sie mit übertriebener Konzentration ein Stückchen Tomate betrachtete. „Merkwürdig. Findest du nicht auch, dass die Form heute irgendwie komisch aussieht?" Mit erwartungsvoll hochgezogenen Augenbrauen sah ich sie immer noch an. „Ich und wer?" „Glaubst du, die spritzen die Bioprodukte jetzt auch?" „Alice!" Sie seufzte. Sie wusste, sie hatte keine Chance, meiner Frage zu entgehen. „Du und ... dein Dad", erklärte sie dann endlich, nur um gleich darauf energisch auf mich einzureden. „Ich meine, wann hast du ihn das letzte Mal besucht, seitdem du wieder aus dem Krankenhaus raus bist? Einmal, zweimal oder überhaupt schon mal?" „Ist das dein Ernst?" Meine Augen verengten sich. „Wie oft war er denn bei mir, als ich noch drin war?" Alice blickte mich mitleidig an. „Ach, komm schon. Wie oft zählt doch nicht, sondern eher, dass er überhaupt da war. Und als ich ihm Bescheid gegeben habe, dass du aufgewacht bist, hat er auch alles stehen und liegen lassen, nur um zu dir zu fahren." „Ja, für insgesamt fünf Minuten, weil er danach wieder zur Arbeit musste." Angenervt verdrehte ich die Augen und schob meinen halbleeren Teller zur Seite. Mein Appetit war mir vergangen. Was musste Alice auch mit diesem Thema anfangen? Mein Kopf pochte. Hoffentlich blieb es dabei und ich bekam nicht schon wieder richtige Kopfschmerzen. In letzter Zeit hatten sich diese nämlich gehäuft und langsam wurde es belastend. „Bella, weißt du überhaupt noch, warum du so sauer auf ihn bist?" Natürlich wusste ich das noch! Ich war sauer auf ihn, weil er sich plötzlich in mein Leben einmischte, obwohl er es all die Jahre kein einziges Mal getan hatte. Ich war sauer auf ihn, weil - Ahhh! Heftige Schmerzen durchzuckten meinen Kopf, ich schlug mir die Hand vor die Stirn. Als wäre ich gerade von einer Abrissbirne getroffen worden oder als hätte sich ein Blitz zwischen meinen grauen Zellen verirrt. „Bella? Alles okay?", hörte ich Alice‘ besorgte Stimme. Sie stand auf und kam auf meine Seite, um mir sanft über den Rücken zu streichen. „Kann ich dir irgendwie helfen? Soll ich dir irgendwas bringen? Soll ich einen Arzt rufen?" „Kopfschmerztabletten. Im Bad", murmelte ich nur und musste mich zurückhalten, aufgrund ihrer schon leicht übertriebenen Panik die Augen zu verdrehen. Alice hastete sofort los. Als würde mein Leben davon abhängen, dabei brummte mir nur der Schädel. Als es an der Tür klingelte, dachte ich, mein Kopf würde zerspringen. Mühsam richtete ich mich auf. Drei kurze Klingeltöne folgten und ich verfluchte den Störenfried stillschweigend. „Ich bin nicht taub. Einmal kli-", sagte ich gepresst, als ich die Tür öffnete, während ich mir den Kopf hielt. Verwirrt starrte ich ins Leere. Ich bekam einen leichten Anflug von einem Déjà-vu, als ich feststellte, dass sich niemand vor meiner Haustür befand. Nur gab es dieses Mal kein Paket auf meinem Abtritt. „Was zum ..." Ich schaute nach links und nach rechts, fand aber niemanden oder gar einen Hinweis auf irgendetwas. Verärgert schloss ich die Tür wieder. „Bella?" Alice stand im Flur, die Packung Tabletten in der einen, ein Glas Wasser in der anderen Hand. „Was machst du da?" „Ich wollte nachsehen, wer an der Tür ist. Hat sich offenbar als Klingelstreich herausgestellt." Mit einem Seufzen nahm ich ihr das Glas und die Tabletten aus der Hand und schluckte gleich zwei davon herunter. „Bist du dir sicher, dass jemand geklingelt hat? Ich hab gar nichts gehört." Stinrunzelnd sah ich sie an. „Wer auch immer da war, er hat nicht nur einmal laut und deutlich den Knopf gedrückt." Wollte sie mir ernsthaft weißmachen, sie hätte dieses nervtötende Geräusch nicht wahrgenommen? Alice zog eine Augenbraue in die Höhe und blickte kurz zwischen mir und der Tür hin und her. Bis sie es mit einem Schulterzucken abtat. „Wie geht's überhaupt deinem Kopf? Immer noch so schlimm?", fragte sie nach ein paar Minuten, als wir zurück zum Küchentresen gegangen waren. „Ja, ist schon deutlich weniger geworden." Das war nur die halbe Wahrheit, denn eigentlich ebbte der Schmerz nur sehr langsam ab. Alice machte sich einfach viel zu viele Sorgen. „Willst du noch?" Ich deutete auf ihren Teller, der so gut wie leer war. Sie schüttelte ihren Kopf, also räumte ich den Tisch komplett ab und ließ heißes Wasser ins Becken, um abzuwaschen. Das Geschirr hatte sich ohne mein Wissen schon wieder zu Mount Everest-ähnlichen Türmen gestapelt. Ich konnte hören, wie Alice sich am Kühlschrank bediente und etwas zu Trinken herausholte. „Ich schau‘ mir noch mal das Paket an", erklärte sie und ging hinüber zum Erkerfenster, wo ich es seit gestern liegen gelassen hatte. „Weißt du, was ich komisch finde? Dass, wer auch immer das hier abgeschickt hat, er getrocknete Blumen statt frische reingelegt hat." Als ich mich kurz umdrehte, sah ich, wie Alice den Strauß vorsichtig herausnahm und ihn ein paar Mal langsam drehte. Man konnte ihn zwischen den Fingerspitzen zermalen, so staubtrocken war er und bei der kleinsten Unachtsamkeit wäre er vermutlich in alle Einzelteile zerbröselt. „Vielleicht hat er sich auch gedacht, dass Frische nicht mehr frisch sein würden, wenn sie bei dir ankommen?", mutmaßte sie, während sie ihn wieder zurücklegte und sich den nächsten Gegenstand nahm. „Natürlich. Wo die Post doch heute immer noch mit der Kutsche transportiert wird." Augenrollend wandte ich mich wieder meinem Abwasch zu. „Was auch immer. Wir werden es erst erfahren, wenn du ihn persönlich triffst." Niemals. „Hm ... Das mit dem Kaffee ... Du musst zugeben, dass das jeder hätte machen können, der dich ein paar Mal da drüben gesehen hat, oder?" Mein Herz pochte auf einmal unerklärlich heftig gegen meine Brust. Von dem zweiten Becher hatte ich ihr noch gar nichts erzählt und als ich mich abermals zu ihr umdrehte, erkannte ich den Gutschein in ihrer Hand. Darauf sprach sie an. Erleichterung machte sich in mir breit, ich beruhigte mich wieder. Ich konnte mir selbst nicht erklären, warum ich den zweiten Kaffee noch nicht erwähnt hatte, wo ich wegen dem Paket doch gleich zum Telefon gesprungen war. Ich hatte auch jetzt nicht vor, ihr davon zu erzählen. „Vermutlich hast du Recht", lächelte ich nervös. Sie sah mich kurz überrascht an, bevor ich den Blick abwandte und ihn wieder auf mein Geschirr richtete. Der Kaffee und das Paket mussten nicht unbedingt miteinander zusammenhängen. Ich konnte mir zwar bisher nicht erklären, wie wer-auch-immer in meine Wohnung gelangt war, doch dass das mit der Post am selben Tag passiert war, hatte ich auf einen simplen Zufall reduziert. „Hast du für den Impala denn auch so eine tolle Erklärung?", schmunzelte ich nach ein paar Minuten. „Zufall?" Ich hörte das Grinsen in ihrer Stimme. „Vielleicht wünscht er sich selbst so ein Auto und will, dass du dir eins besorgst." „Bestimmt", antwortete ich argwöhnisch, aber nicht ganz abgeneigt. „Oder ihm gehört bereits so ein Auto und er sieht euch beide schon zusammen darin herumfahren." Jetzt grinste sie definitiv noch breiter. „Stand in dem Brief nicht was davon, dass du in Zukunft damit unterwegs sein wirst?" Sie kramte im Karton herum, bis sie den Zettel gefunden hatte. Eine kurze Pause trat ein. „Ah, okay. Ich nehm‘ doch Möglichkeit Eins. Hier steht ... den du dir ganz sicher in Zukunft holen wirst. Obwohl ... Vielleicht hat er zwar selbst einen, will aber, dass du dir trotzdem deinen eigenen kaufst?" Ich fing an zu lachen. Alice‘ Fantasie war einfach nur ... wunderbar. Ich wusste, warum ich ihr davon erzählt hatte. Sie konnte all meine Sorgen zunichte machen, egal, wie abstrus ihre Ideen manchmal auch sein mochten. Dafür liebte ich sie. „Wirklich, Bella", trotzte sie. „Das war mein Ernst!" „Ich weiß." Lächelnd sah ich sie an. Erst schien sie misstrauisch, doch dann erwiderte sie es. Ich machte mich daran, die letzten paar Geschirrstücke zu waschen, als ich hinter mir ein nachdenkliches Seufzen hörte. „Hmm ... Irgendwie kommt mir die Schrift bekannt vor." „Wirklich? Woher?" Hoffnung flammte auf. Wenn Alice wusste, wem sie gehörte, konnte sie mir auch sagen, ob das Paket harmlos war oder nicht, und ob ich mich darauf einlassen konnte. Obwohl sie mich sowieso schon fast soweit überzeugt hatte. „Keine Ahnung, ich kann mich nicht mehr erinnern." Dieses Mal erklang ein frustriertes Seufzen und ich ließ die Schultern hängen. „Sagen dir die Initialen denn was?" „Natürlich", kam prompt ihre Antwort. Ich riss die Augen auf. „Ernsthaft?" „Amber Morgan. Wir sind zusammen in der Junior High gewesen. Das Biest hat mir ständig meine selbstgebastelten Voodoopuppen geklaut. Du musst dich doch auch noch an sie erinnern. Kurze, blonde Haare, Sommersprossen bis zum Zeh, blaues Auge, nachdem ich mir meine Puppen wiedergeholt hab ... Neidisches Miststück." Normalerweise hätte ich darüber gelacht, zumal sie wirklich toternst darüber sprach - Alice musste auf Außenstehende manchmal wirklich furchteinflößend wirken -, doch im Moment half es uns keine Spur weiter. Ich stöhnte. „Ich meinte eigentlich irgendeinen männlichen Bekannten oder Verwandten ungefähr in meinem Alter, dessen Schrift vielleicht der im Brief ähnelt." „Da fällt mir nur Andrew Monaghan ein. Ein Cousin dritten oder vierten Grades. Aber der ist liiert, soweit ich weiß", zuckte sie mit den Schultern. „Und wie er schreibt, weiß ich nicht, ich hab ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Aber vielleicht ist es ja gar kein Mann, der dahintersteckt." Sie grinste über beide Ohren, während ich ihren Kommentar unbeantwortet ließ. Für eine Weile blieb es still zwischen uns, jeder hing seinen Gedanken nach und ab und zu hörte ich Alice, wie sie weiter im Karton kramte, während ich die Teller und Tassen abtrocknete. „Bist du sicher, dass das alles ist, was im Päckchen war?" „Ja, bin ich. Wieso fragst du?" Ich stellte die sauberen Teller zurück in den Schrank, bevor ich mich zu ihr umdrehte. „Hast du noch was gefunden?" Sie antwortete nicht gleich, stattdessen starrte sie in den Karton, während eine ihrer Hände darin verschwunden war. „Alice?", hakte ich nach. Erst jetzt schien sie mich zu bemerken, als sie sich fragend zu mir umwandte. „Wie bitte?" „Ob du noch was gefunden hast." Eigentlich war ich mir sicher, nichts weiter entdeckt zu haben, aber wer wusste schon. Vielleicht hatte sich noch irgendwas in einer der Ecken versteckt gehabt. „Nein, nichts gefunden. Nur ein bisschen Schmutz, der sich unter dem Wattezeug versteckt hat. Ich hab's versehentlich für was anderes gehalten", winkte sie amüsiert ab. Meine Augen verengten sich. Das war nicht das Lächeln, das sie mir sonst zeigte. Ich hielt in meiner Arbeit inne und stützte mich mit beiden Händen auf dem Küchentresen ab. „Sicher?" „Sicher." Behutsam legte sie alles wieder zurück. Dann nahm sie den Karton und kam zu mir, stellte ihn vor sich ab und bettete ihre Hände auf die Öffnung. Sie atmete tief durch, bevor sie mich direkt ansah. „Darf ich mir den hier mitnehmen und Jasper zeigen?" „Wozu?" „Ihm fällt eventuell noch was dazu ein. Wer weiß." Ich überlegte kurz, weil ich absolut keine Ahnung hatte, was das bringen sollte, zuckte dann aber mit den Achseln. „Meinetwegen, auch wenn ich bezweifle, dass er da weiterhelfen kann." Alice war ja schon immer der Typ Mensch gewesen, der den unkonventionellen Weg bevorzugte. „Einen Versuch ist es wert." Sie schnappte sich das Paket und marschierte Richtung Garderobe. „Wo willst du hin?" „Oh, verdammt. Das hatte ich ganz vergessen dir zu sagen. Jasper hat mich gebeten, heute ein bisschen früher nach Hause zu kommen. Ich glaube, er hat irgendetwas geplant." Das Leuchten in ihren Augen sagte alles und ich kam nicht umhin, ein bisschen zu schmunzeln. „Verstehe." Eilig zog sie ihre Jacke über, schlüpfte in ihre Schuhe und hängte sich ihre Tasche um die Schultern, bevor sie den Karton in ihre Hände nahm. Ich legte das Geschirrtuch beiseite und umarmte sie ganz fest. Auch wenn ich wusste, dass ich sie nächsten Sonntag wieder sehen würde, so war es hin und wieder ganz angenehm, einmal die Woche ein bisschen Leben in dieser großen Wohnung zu spüren. Wenn ich allein war, schien mich die Stille manchmal erschlagen zu wollen. „Bis dann", lächelte ich, bevor sie aus der Tür trat. Als ich diese hinter ihr schließen wollte, hielt sie unerwartet mit der Hand dagegen. „Ach, und Bella. Wegen dem hier", sie deutete auf das Paket, „falls das nicht das Einzige war und noch mehr solcher Dinge auftauchen, sag mir bitte Bescheid, ja? Ich glaub‘ zwar nicht daran, aber man kann nie wissen." „Ähm, ich hätte ... das sowieso getan. Ich versteh‘ nicht ...", stotterte ich verdutzt. Alice schüttelte nur den Kopf. „Um auf Nummer sicher zu gehen, damit wir, falls nötig, rechtzeitig Maßnahmen ergeifen können." „Maßnahmen? Aber vorhin hast du doch noch alles daran gesetzt, mich von den guten Absichten dahinter zu überzeugen." Ich war es ja gewohnt, ab und zu von ihr mit Widersprüchen konfrontiert zu werden, aber so extrem und abrupt wie heute war es lange nicht mehr - wenn überhaupt. „Ja, heutzutage weiß man nie, was sich hinter solchen Dingen verbirgt. Vielleicht war ich vorhin ein bisschen zu blauäugig gewesen. Ich hab‘ nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass das auch ein Wolf im Schafspelz sein könnte. Mittlerweile gibt es so viele verrückte Leute, die sich wer-weiß-was einfallen lassen, um so unschuldige Dinger wie dich hinters Licht zu führen. Vorsicht ist besser als Nachsicht, findest du nicht auch?" Ihre blassblauen Augen bohrten sich förmlich in die meinen. „Schon. Ich bin nur etwas überrumpelt. Du hast deine Meinung in nicht einmal einer Minute um hundertachtzig Grad gedreht", erklärte ich ihr meinen Standpunkt. Alice blickte mich entschuldigend an. „Ich weiß, tut mir leid. Vielleicht irre ich mich ja auch und es ist doch jemand, der dich einfach nur kennen lernen will. Aber um das herauszufinden, sollten wir einfach abwarten, einverstanden?" „Wie du meinst." Dabei hatte sie mich vorher wirklich schon soweit gehabt, zu glauben, ich hätte einen romantischen Verehrer. Alice‘ Intuition war nur leider meistens richtig. Das einzige Problem dabei war ihre Sprunghaftigkeit. „Also dann. Wir sehen uns." Sie gab mir noch einen Kuss auf die Wange, ehe sie auf den Flur trat, mir noch einmal winkte und dann aus meinem Sichtfeld verschwand, als ich die Tür zumachte. Sobald das Schloss mit einem metallenen Geräusch einrastete, realisierte mein Körper auf der Stelle das Alleinsein. Die Trägheit ergriff wieder Besitz von mir. Wie jedes Mal, wenn Alice weg war. Langsam ging ich zurück zur Küchenzeile und trocknete das letzte bisschen Geschirr ab. Die Stille, die mich auf unangenehme Weise umhüllte, ließ mich ab und an ein paar müde Seufzer ausstoßen. Es war so ruhig hier. Es sollte hier aber nicht ruhig sein. Den Fernseher oder das Radio anzuschalten, vermochte ich aber auch nicht. Es war nicht das, was ich brauchte; was mich wieder ausfüllte. Auf unerklärliche Weise fühlte ich mich nur halb existent, als würde mir etwas Essentielles fehlen. Ich hatte das Gefühl, dass mich der Verlust meiner Erinnerungen nicht mehr zu einem vollwertigen Menschen machte. Als Alice mich wegen dem Päckchen ermutigt hatte, hatte ich etwas in mir aufflammen gespürt. Etwas, nachdem ich mich scheinbar unbewusst sehnte. War es das, weshalb ich mich manchmal so unerfüllt und verloren fühlte? Weil ich eigentlich jemanden suchte, in dessen Zuneigung ich mich verlieren konnte? Wenn dem so war, konnte ich genauso gut auch nach draußen gehen, um endlich mal neue Leute in dieser Stadt zu treffen. Bisher war ich aber nicht in der Lage dazu gewesen. Zur Arbeit zu gehen war kein Problem. Einkaufen, Besorgungen erledigen ebenfalls nicht. Doch bewusst rausgehen und Spaß haben ... Das war nicht das, wonach ich suchte. Ich wollte meine Erinnerungen zurück. Ich wollte wissen, warum sich mein Bewusstsein so herausgelöst und unbefriedigt anfühlte. Das Klingeln des Telefons riss mich aus meiner Trance. Es erklang nur zweimal, ehe sich der AB einschaltete und ich meinen selbstgesprochenen Text hörte. Hatte ich den Anrufbeantworter wirklich so eingestellt, schon nach kurzer Zeit anzugehen? Das Piepen ertönte und mit einer unerwarteten Nervosität lauschte ich, in der Hoffnung auf eine Nachricht. Mir blieb die Luft im Hals stecken, als ich die Stimme vernahm, und etwas in meinem Unterbewusstsein regte sich. Ich kannte sie und doch erkannte ich sie nicht. Hey Bella. Ich hoffe, ich überfalle dich nicht mit diesem Anruf. Wenn du dich jetzt fragst, woher ich deine Nummer habe, dann musst du dich bei deiner Freundin bedanken, deren Name mit ‚A‘ beginnt. Alice ist es allerdings nicht. - Er schmunzelte. Der Grund, warum ich dich eigentlich anrufe, ist, dass ich mich bei dir entschuldigen wollte. Mit der Aktion gestern muss ich dich ziemlich überrumpelt haben, aber du musst mir glauben, ich wollte dich damit keineswegs verletzen oder dergleichen. Auch wenn du mir vermutlich nicht glaubst, es stecken wirklich aufrichtige Absichten dahinter. Ehrlich gesagt ist das alles ziemlich neu für mich, früher hab ich solche Dinge anders gehandhabt. Bitte verzeih also diverse unabsichtliche Missverständnisse, ich habe noch nicht herausgefunden, wie ich mit dieser neuen Situation umgehen muss. - Abermals ein Schmunzeln, wenn auch ausgesprochen nervös. Als ich dich das erste Mal in dem kleinen Café gesehen habe, konnte ich meine Augen einfach nicht mehr von dir lösen. Aus dem Starren wurde ein Beobachten, das ich dann plötzlich Tag für Tag wiederholen musste, ohne zu wissen, was ich da überhaupt gemacht habe. Falls du mir also noch eine Chance gibst und mich das Ganze persönlich erklären lässt, ruf‘ mich bitte an. Meine Nummer ist (313) 496-3899. Ich würde mich wirklich freuen. Der Anrufer legte auf und das Piepen, welches das Ende der Nachricht signalisierte und nur eine Sekunde dauerte, hallte noch Stunden später in meinem Kopf wider. --------------------------------------------------------------------------- Die Nummer funktioniert nicht. Braucht ihr also gar nicht erst probieren :'O Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)