Fog von absinthe ================================================================================ Kapitel 1: Caffeinated ---------------------- BIGTHX an meine tolle Beta, btw :'D ---------------------------------------------------------------------------- Caffeinated Die Sonnenstrahlen, die durchs Erkerfenster brachen, ließen das Nichts vor mir etwas heller erscheinen, die unsichtbare Luft greifbarer wirken. Gleich einem transparenten Band aus trübem Nebel. Jedes einzelne Staubkorn glänzte und tanzte vor meinen Augen und machte mir einmal mehr ihre Schwerelosigkeit klar, während sich mein Körper träge wie ein Stein anfühlte. Es war ungemein entspannend, auf der weichen Bank zu sitzen, die unter dem gesamten Erkerfenster entlangführte, der Stille zu lauschen und dem Treiben auf den Straßen und den Bürgersteigen zu folgen, ohne mit den lärmenden Geräuschen konfrontiert zu werden. Ich ließ mich schon wieder ablenken. Eigentlich wollte ich heute noch ein Dutzend Seiten von dem Buch lesen, welches mir gerade wieder in den Schoß rutschte. Das andere Eden. Ausgefallene Gartenkunst in Amerika. Ich wollte noch etwas Stoff nacharbeiten. Den Stoff, an den ich mich nicht mehr erinnern konnte. Alice hatte zwar gemeint, ich hätte meinen Abschluss bereits in der Tasche, doch wenn sie mir das Zertifikat nicht gezeigt hätte, hätte ich es ihr vermutlich niemals geglaubt. Kurz vor dem Unfall hatte ich angeblich meine Endprüfungen gehabt und während ich im Koma gelegen hatte, waren mir die Ergebnisse zugeschickt worden. Ironisch, dass ich zwar endlich den heißersehnten Titel eines Diplom-Ingenieurs besaß, mich aber nicht daran erinnern konnte, je die Abschlussprüfung geschrieben zu haben. Jeder andere Student würde sich wahrscheinlich glücklich schätzen, sein Studium ohne all diesen Prüfungsdruck erfolgreich beenden zu können. Ich aber nicht. Nachdem ich aus dem Koma wieder aufgewacht war, wurde bei mir eine retrograde Amnesie diagnostiziert. Das bedeutete, dass ich mich nicht mehr an bestimmte Dinge erinnern konnte, die vor meinem Unfall passiert waren. Also auch nicht an die Prüfungen. So gern ich mich darüber gefreut hätte, meinen Abschluss plötzlich mir nichts dir nichts zu besitzen, so sehr quälte es mich auch, mich nicht mehr an das letzte halbe Jahr davor erinnern zu können. Auch wenn mir Alice immer wieder versicherte, dass nicht besonders viel passiert war, wurde ich das Gefühl nicht los, irgendetwas Wichtiges vergessen zu haben. Damals, als ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, war ich regelmäßig zu einem Psychologen gegangen, der mir dabei helfen sollte, meine Erinnerungslücken wieder zu füllen. Ich wusste nicht mehr, wie viele Sitzungen wir gehabt hatten. Das Resultat war jedenfalls, dass ich ein schweres Trauma während des Unfalls erlebt haben musste und dass mein Gehirn mir den Weg zu meinen Erinnerungen blockierte. Zu meinem eigenen Schutz. Das musste man sich erstmal auf der Zunge zergehen lassen. Mein Kopf schützte mich vor mir selbst. Ich gab zu, dass mich der Grund dieser Blockade, der Auslöser für das Trauma, ein wenig einschüchterte. Vielleicht war es ja wirklich besser, sich nicht mehr zurück zu erinnern. Selbst Alice hatte mir nur grob erklärt, wie der Unfall abgelaufen war. Das alles hinderte mich aber nicht daran, trotzdem in jeder freien Minute zu versuchen, irgendeinen Erinnerungsfetzen wiederzuerlangen. Doch immer wieder das Gleiche. Nichts. Als hätte man mir ein blankes Tuch vor die Augen gehangen. Das Letzte, an das ich mich erinnern konnte, war ein Tag wie jeder andere gewesen, damals in Detroit. Ich hatte mir von einer der Vorlesungen frei genommen und stattdessen eines der kleinen Cafés auf der anderen Straßenseite besucht gehabt. Mein Lieblingscafé. Von dort hatte ich immer einen wunderschönen Blick auf die alten Bauten gehabt, welche die Universität umgaben. Ich hatte ihre Baustile bewundert, die meist aus der Romantik stammten und in der heutigen Zeit renoviert worden waren. Mal ein bisschen mehr, mal ein bisschen weniger. Alles, was danach geschehen war, konnte ich mir einfach nicht mehr ins Gedächtnis rufen. Alice und meine Familie hatten mir die wichtigsten Dinge aus diesem fehlenden halben Jahr vor meiner Prüfung nacherzählt. Es war komisch zu hören, was man alles gemacht hatte, wenn man sich selbst überhaupt nicht daran erinnern konnte. Wie bei einem Blackout durch zu viel Alkohol, wenn die eigenen peinlichen Momente am nächsten Tag von anderen wiedergegeben wurden. Mein Blick wanderte durch mein Apartment. Jedes Mal, wenn ich es mir ansah, wunderte ich mich, warum ich ausgerechnet diese Wohnung gewählt hatte. Eigentlich war sie viel zu groß für nur eine Person. Ich wusste noch, dass mir bei der Besichtigung die Aussicht gefallen hatte, und natürlich das Erkerfenster, in dem ich jetzt saß. Außerdem war der Weg zu meinem ersten Job auch nicht weit. Assistentin in einem kleinen Architektenbüro. Die Stelle hatte ich durch Alice‘ Connections bekommen. Mein neuer Chef war wohl ein Bekannter von ihr. Ich war ihr dankbar dafür, auch wenn ich mir viel lieber selbst etwas gesucht hätte. Doch der Arbeitsmarkt erlaubte es mir nicht, mich lange mit der Jobsuche aufzuhalten. Immerhin musste ich meine Miete und meinen Lebensunterhalt finanzieren. Während ich also fünf Tage die Woche arbeiten ging, nutzte ich meine freie Zeit, um das restliche Wissen aufzuarbeiten, das ich vergessen hatte. Meine alte Professorin Mrs. Evenson war so freundlich gewesen, mir eine Liste der fehlenden Themen zu erstellen. Das Meiste hatte ich bereits durch, mir fehlten nur noch ein paar Kleinigkeiten. Natürlich hätte ich das auch sein lassen können, aber ich würde mich einfach nicht wohl fühlen, einen Abschluss in der Tasche zu haben, ohne Kenntnis über den gesamten Stoff. Während des Lernens hatte ich immer wieder gehofft, dass mir das ein oder andere doch bekannt vorkam oder dass ich eine Art Déjà-vu-Erlebnis haben würde. Irgendetwas, das mir sagte, dass ich das wirklich alles schon einmal durchhatte. Aber Fehlanzeige. Mrs. Evensons Liste war wie Neuland für mich. Heute war Samstag. Vielleicht sollte ich eine Pause machen und in dem kleinen Bistro gegenüber einen Kaffee trinken gehen. Natürlich hätte ich mir genauso gut auch zuhause etwas zu trinken machen können. Aber draußen in einem Café zu sitzen und die Sonne zu genießen hatte ein ganz anderes Flair. Selbst wenn es nicht mal zwanzig Meter von mir entfernt war. Ich konnte die Menschen besser beobachten, die Gebäude Chicagos genauer betrachten. Inmitten all der modernen Architektur die älteren Bauwerke bewundern, die den großen Brand 1871 überstanden hatten. Chicago, die Stadt des Blues. Warum war ich noch mal hierher gezogen? Ach ja, weil sich mein neuer Job hier befand. Aber eigentlich fand ich es gar nicht mal so schlecht. Chicago hatte vieles zu bieten: Kunst, Theater, Literatur, Musik ... Musik. Interessant, dass ich plötzlich nostalgisch wurde, wo ich doch noch nie zuvor hier gewesen war. Ich sollte wirklich hinüber ins Bistro. Das Buch, welches immer noch in meinem Schoß lag, legte ich auf die Fensterbank, damit ich es später weiterlesen konnte. Ich ging hinüber zur Garderobe, holte mein Portemonnaie und meine Schlüssel aus meiner Tasche und verließ die Wohnung. Sie befand sich im dritten Stock und da es hier keinen Aufzug gab, musste ich die Treppen nehmen. Ich war kein Freund von Treppen, vor allem nicht im Sommer. Aber was tat man nicht alles für einen Moccacino und ein Baguette mit Curryhähnchen. Hunger hatte ich mittlerweile auch bekommen. Gleich vor dem Hauseingang gab es einen Fußgängerüberweg, auf dem sich zu dieser Uhrzeit glücklicherweise nicht sonderlich viele Passanten tummelten. Als ich ohne Vorwarnung von einem Auto lautstark angehupt wurde, fiel mir vor Schreck mein Schlüssel aus der Hand, während der Adrenalinstoß mein Herz fast zum Aussetzen brachte. Ich wollte dem Fahrer bereits meine Meinung sagen und ihn auf das Ampelzeichen hinweisen, doch meine Worte blieben mir im Hals stecken, als ich feststellte, dass mein Licht bereits wieder rot war. Was zum ...? Hatte ich geträumt? Dabei war ich mir sicher, noch bei Grün herübergegangen zu sein. Leise vor mich hinmurmelnd hob ich meinen Schlüssel auf und hastete auf die andere Straßenseite, innerlich diesen blöden Angeber mit seinem protzigen Volvo verfluchend. Eine halbe Stunde und gefühlte tausend Stufen bergauf später saß ich wieder auf meiner Erkerbank, aß mein Baguette und genoß meinen Kaffee, während ich von neuem die Leute auf der Straße beobachtete. Ich hatte meine Bestellung doch mitgenommen. Das Café war überfüllt mit Menschenmassen, als wäre es das einzige dieser Stadt. Ich hätte mich dort nicht wohlgefühlt. Das Klingeln an der Tür riss mich aus meiner Träumerei, in die ich abermals verfallen war. Ich legte alles, was ich in der Hand hatte, zur Seite und ging zur Tür. Erst lugte ich durch den Spion, um zu sehen, wer dort stand. Allerdings konnte ich niemanden erkennen. Merkwürdig. Selbst ein Kind würde ich durch das kleine Guckloch ausmachen können. Stirnrunzelnd öffnete ich die Tür, schaute um die Ecke und bekam in der letzten Sekunde noch mit, wie sich die Tür von Mrs. Carpenter schloss. Ansonsten war niemand da. Beinahe hätte ich meine Tür wieder geschlossen, ohne das Paket auf meinem Abtritt zu bemerken. Es war an mich adressiert. Im ersten Augenblick verstand ich nicht, warum die Post nicht bei mir geklingelt und gewartet hatte, bis ich es persönlich in Empfang nahm. Aber dann fügte sich eins zum anderen, als ich Mrs. Carpenter in meine Überlegung miteinbezog. Ich hatte diese alte Frau von Anfang an nicht leiden können. Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich in die Richtung ihrer Wohnung, während ich das Paket aufhob. Ich traute es ihr zu, es angenommen zu haben, als ich gerade nicht da war. Und nicht jeder Postbote war so ehrlich, seine Lieferungen auch wirklich bei der jeweiligen Person abzugeben, wenn ein Auge zudrücken und Fremden vertrauen einen zweiten Zustellungsversuch ersparte. Ich würde ihr den Hals umdrehen, sollte sie es gewagt haben, das Paket zu öffnen. Ich schloss die Tür hinter mir und ging wieder zum Fenster hinüber, um den Karton genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie es aussah, hatte ihn diese griesgrämige Olga wirklich nicht weiter angerührt. Das Klebeband war noch intakt, obwohl das Paket als solches schon ziemlich mitgenommen aussah. Einen Moment lang betrachtete ich das Adressfeld, einen Absender gab es nicht. Was mir dann aber zu denken gab, war meine Anschrift selbst. Es war nicht die aus Chicago, sondern die aus Detroit. Wer immer mir also etwas zuschicken wollte, wusste offenbar noch nicht, dass ich schon seit einer ganzen Weile umgezogen war. Ich fing an, an dem Klebeband herumzufummeln und eine Ecke nach der anderen langsam abzuziehen, was jedes Mal dieses schlürfende Geräusch hervorrief. Ich mochte das. So blöd, wie es klang, aber ich mochte dieses Geräusch, das dabei verursacht wurde, wirklich. Als ich es endlich öffnete, musste ich kurz blinzeln und noch genauer hinsehen, so seltsam kam mir der Inhalt vor. Vorsichtig holte ich eines nach dem anderen heraus. Ein kleiner Strauß Blumen (bis in die letzte Zelle vertrocknet), Klebestreifen, ein Gutschein für einen Moccacino, ein Miniaturmodell eines 65iger Chevrolet Impala, ein Winkelmesser, ein mechanischer Bleistift, Skizzenpapier, ein Zirkel und ganz unten auf dem Boden ... ein altes Foto von 1913, das schon einen deutlichen Gelbstich hatte und auf dem die Eröffnung der Michigan Central Station zu sehen war, der erste Bahnhof Detroits. Für einen Moment blieb ich still sitzen. Denn auch wenn all diese Dinge merkwürdig waren, so konnte ich doch mit jedem einzelnen etwas anfangen. Ich sah noch einmal in den Karton, um sicher zu gehen, auch nichts vergessen zu haben. Und tatsächlich, ich fand noch etwas. Einen Zettel, der an den Rändern ebenfalls ganz leicht vergilbt aussah. Langsam faltete ich ihn auseinander. Ich stellte fest, dass die Schrift die gleiche war wie die der Empfängeradresse. Bella-Bells Wenn du dir die einzelnen Dinge genau angesehen hast, wirst du feststellen, dass dir jedes von ihnen bekannt vorkommt. Der Klebestreifen, dessen Geräusch du so liebst, wenn man ihn von einer Oberfläche wieder abzieht. Die Wiesenblumen, gepflückt von eben der Wiese, auf der du so gerne liegst. Der Moccacino, den du jeden Tag nach oder auch während deinen Vorlesungen trinkst. Der Chevrolet Impala, den du dir ganz sicher in der Zukunft holen wirst. Die Materialien, die du als Architekt fürs technische Zeichnen benötigst (das Reißbrett hat leider nicht hinein gepasst). Und natürlich das Foto von der Michigan Central Station, in die du dich als Kind verliebt hast und seither restaurieren wolltest (Den Abrissbeschluss letztes Jahr hätte ich gern für dich verhindert). Obwohl ich so viel über dich weiß, hab ich dir nie die Chance gegeben, mich wirklich kennen zu lernen. Aber ich will mich nicht länger vor dir verstecken. Ab sofort wirst du also Stück für Stück mehr über mich erfahren und ich hoffe, dass ich mich dir mit jeder einzelnen Neuigkeit ein bisschen näherbringen kann. A.M. Das Papier, das ich zwischen meinen Fingern hielt, übernahm das Zittern, das von meinem Körper kam. Unfähig, mich auch nur ein kleines bisschen zu bewegen, starrte ich auf die handgeschriebenen Zeilen, die so romantisch und gleichzeitig so beängstigend auf mich wirkten. Allein schon die Anrede. Nur mein Vater nannte mich so, und in diesem Falle auch nur ‚Bells‘. Wer war die Person, die so viel über mich wusste? Wer besaß die Initialen A.M., die mir rein gar nichts sagten? Hatte ich einen Verehrer oder einen Stalker? Was sollte ich davon halten? Ich meinem Kopf herrschte das Chaos, ich wusste nicht, was ich zuerst denken sollte. Was ich zuerst machen sollte. Nach ein paar Minuten verzweifelter Überlegung, atmete ich erst einmal tief durch, um mich selbst wieder zu beruhigen. Anschließend legte ich alles zurück ins Paket, einschließlich dem Brief, und brachte es zum Küchentresen am anderen Ende des Zimmers. Etwas zu grob stellte ich ihn dort ab und schmiss dabei einen Becher Coffee-to-go um, wobei der Deckel absprang und die Flüssigkeit Boden und Arbeitsfläche bekleckerte. „Verdammt!", fluchte ich leise vor mich hin und machte mich bereits daran, das Unglück aufzuwischen. Aber dann wurde ich stutzig. Warum stand hier überhaupt ein Becher? Mein eigener befand sich immer noch am Erkerfenster und ich war mir sicher, nur einen gekauft zu haben. Der Kaffee war noch warm, es konnte demnach kein alter von mir sein - davon mal abgesehen, dass ich meinen immer austrank. Wo also kam dieser zweite her? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)