Hannibal von kleines-sama (Murdoc's brother) ================================================================================ Kapitel 6: Die Familie von der Müllkippe oder Die Raben ------------------------------------------------------- Kapitel 6 Die Familie von der Müllkippe oder Die Raben Der Winter ging entgegen Hannibals Erwartungen doch sehr schnell zu Ende. Bereits wenige Tage nach Weihnachten war das Wetter wieder so weit in Ordnung, dass er mit Murdoc hinausgehen konnte, ohne von heftigen Windböen oder Schneestürmen einige Meter nach hinten befördert zu werden. Kalt war es zwar trotzdem, doch mit den neuen Winterschuhen war es erträglich. Natürlich hielten sie nicht wirklich warm –Hannibal überraschte es nicht sonderlich, als ihm die billige Qualität auffiel- doch es war definitiv besser als barfuss oder mit dünnen Sommerschuhen auszuhalten, und weil er nichts für die Schuhe bezahlt hatte und sie nicht hatte stehlen müssen, beschwerte er sich nicht. Das Dreirad war noch nicht zum Einsatz gekommen. Hannibal hatte Murdoc zwar auf den Sitz gesetzt, noch am gleichen Tag, an dem er es geschenkt bekommen hatte, und Murdoc hatte sich auch ohne Hilfe halten können, doch kamen seine Beinchen noch nicht ganz an die Pedale heran. Er würde wohl noch etwas warten müssen, bis er damit würde fahren können. Hannibal fand das sehr schade, doch als er daran dachte, wie schnell Murdoc wuchs, tröstete ihn dieser Gedanke. Hannibal ging wieder so oft es ihm möglich war, nach draußen. Sein dreckiges Zuhause und seinen Vater –der sich inzwischen wieder ununterbrochen zukippte- hielt er nicht mehr aus. Damit Murdoc nicht fror, zog er ihm mehrere Kleidungsstücke übereinander an. Das klappte zwar recht gut, doch trotzdem hätte sich Hannibal eine Jacke für Murdoc gewünscht. Er stahl immer mal wieder Kleidung, auch Schuhe für Murdoc –das war unumgänglich, so schnell wie der Kleine größer wurde-, doch eine Jacke hatte er niemals mitgehen lassen können. Es war Februar, als Hannibal beschloss, endlich einmal wieder sein Versteck zu besuchen. Seit er sich um Murdoc kümmern musste, hatte er nur sehr selten Zeit für sein Versteck und seine Gedanken an Traum-Mum. Er war insgesamt höchstens ein halbes Dutzend mal dort gewesen, und man durfte nicht vergessen, dass er sich seit Anfang Juni, also seit knapp neun Monaten, ununterbrochen um Murdoc kümmerte. Hannibal selbst dachte jedoch niemals darüber nach. Für ihn waren neun Monate eine unvorstellbar lange Zeit, obgleich er sie selbst durchlebt hatte. Es hatte sich viel geändert, seit Murdoc da war. Er rauchte weniger –sowohl Zigaretten wie auch Gras-, ging abends fast gar nicht mehr weg. Zu dem Großteil seiner alten Freunde hatte er inzwischen gar keinen Kontakt mehr. Wie hätte er ihn auch halten können? Er konnte den kleinen Murdoc nicht allein lassen, nicht einmal für ein paar Stunden, und mitnehmen konnte er ihn auch nicht. Sein Versteck lag so verlassen da wie immer. Niemand würde jemals auf den Gedanken kommen, dass sich unter dem riesigen Berg alter Autos und Motorräder ein Hohlraum befand, selbst Hannibal hatte das Versteck nur zufällig entdeckt, als er sich schnell vor einer Bande Jugendliche, die ihn verfolgte und verprügeln wollte, hatte verstecken müssen. Er legte Murdoc auf die Wiese aus alten Kissen und Decken, und als Hannibal sie näher betrachtete, sah er, dass auf ihnen eine dicke Staubschicht lag. Murdoc musste husten, als auf ihr herumzukrabbeln begann, weil er den Staub aufwirbelte. Das machte Hannibal traurig. Wieder dachte er an die alten Zeiten. Er dachte an seine Freunde, an die gemeinsamen Abende, den Joint, der in der Runde umging. Er dachte an die vielen verschiedenen Leute, die ihm seine Piercings gestochen hatten, weil er ihnen irgendeinen Gefallen getan hatten oder einfach bloß, weil sie ihn mochten. Ihm fiel wieder ein, dass er sich zu seinem fünfzehnten Geburtstag eigentlich eine Tätowierung hatte stechen lassen wollen. Einen Adler, mit einer Blume im Schnabel. Hannibal fiel plötzlich auf, dass er das Tattoo und auch seinen fünfzehnten Geburtstag –den dreizehnten November- komplett vergessen hatte; auch sein Vater hatte nicht daran gedacht. All diese Gedanken stimmten ihn traurig. Er fragte sich, wie sein Leben ohne Murdoc verlaufen wäre. Wahrscheinlich hätte sich nicht viel geändert. Er hätte weiter die Schule geschwänzt, hätte Gras und Zigaretten geraucht und sich mit irgendwelchen Leuten geprügelt. Wahrscheinlich hätte er auch das erste Mal Sex gehabt. Hannibal erinnerte sich daran, wie er in der sechsten Klasse einmal Miranda Lewis unter den Rock gefasst hatte. Nicht absichtlich –er hatte damals noch kein richtiges Interesse an Mädchen gehabt, und hatte es auch jetzt prinzipiell noch nicht-, sie war im Flur gegen ihn gelaufen und sie waren hingefallen. Dabei war seine Hand zwischen ihre Beine gerutscht. Nun gut, gab Hannibal zu, vielleicht hatte er es auch herausgefordert, weil er neugierig gewesen war, doch er hatte ihr nicht wehtun oder sie verletzen wollen. Hannibal versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wie sich Mädchen zwischen den Beinen anfühlten. Es war feucht gewesen. Nicht nass, bloß feucht. Aber nicht von Wasser. Die Flüssigkeit war ein klein wenig dickflüssiger gewesen, fast schon glibberig. Und sie hatte sich in einer Spalte befunden. Hannibal wusste, dass der Mann beim Sex seinen Penis in diese feuchte Spalte steckte. Doch was ein Mann und eine Frau beim Sex fühlten und warum sie überhaupt Sex hatten, wusste er nicht. Es interessierte ihn zum gegeben Zeitpunkt auch nicht. Hannibal ging zum Schubladenschrank hinüber, weil er sich eine Zigarette gönnen wollte. Als er die Schublade aufzog, war keine da –er musste unweigerlich wieder an Weihnachten denken-, obwohl er sich hundertprozentig sicher war, noch mindestens fünf dort gelagert zu haben. Hannibal wurde nicht wütend, nur misstrauisch. Jemand musste in seiner Abwesenheit in sein Versteck eingedrungen sein. Irgendjemand hatte sein Versteck gefunden! Jetzt wurde Hannibal doch wütend. Dieser blöde Hohlraum zwischen alten Lastern und Motorhauben war der einzige Rückzugsort in seinem Leben, er war sein Versteck gewesen, sein Zuhause, sein Land der Träume. Und nun war hier irgendjemand eingedrungen und hatte seine Zigaretten gestohlen. Seine gottverdammten Zigaretten! Hannibal stieß ein wütendes Knurren aus und trat gegen den Schrank, dessen Schublade sich prompt aus der Halterung löste. Er beschloss, hier zu bleiben und zu warten, bis die Person noch einmal auftauchte, um sie zu verprügeln. Niemand durfte ungestraft sein Versteck betreten. Niemand! Wegen seines plötzlichen Wutanfalls blickte Murdoc, der bisher versuchte hatte, den Staub von den Kissen abzuwischen, um ihn zu essen, verwirrt zu ihm hinüber. „Glotz nicht so scheiße!“, schrie Hannibal ihn an. Seine Wut wurde immer größer. „Es ist sowieso alles nur deine Schuld! Es ist alles deine Schuld! Deine Schuld, dass ich nicht mehr rauche, deine Schuld, dass ich so viel stehlen muss, deine Schuld, dass ich all meine Freunde verloren habe! Du bist verdammt noch mal schuld daran, dass ich kein eigenes Leben mehr habe! Weil du Windeln und was zu Fressen brauchst, und weil ich mich als einziger um dich kümmern muss! ICH HASSE DICH, MURDOC!“ Murdoc begann leise zu schreien und dann zu weinen. Hannibal hatte ihn seit ihrem ersten Tag nicht mehr so laut angeschrieen. Er hatte stets versucht, sich in Murdocs Gegenwart ruhig zu halten und seine Wut zu kontrollieren. Er hatte sich immer eingeredet, dass Murdoc nicht Schuld war, dass er doch nichts für seine armselige Existenz konnte. Hannibals Wut verflog so schnell, wie sie gekommen war. Er ging zu Murdoc hinüber, der ihn erschrocken anstarrte und nahm ihn auf den Arm. „Du armer kleiner Wurm“, sagte er, und wiegte Murdoc langsam hin und her. „Tut mir leid, dass ich dich angeschrieen habe. Es ist nur so schwierig“, flüsterte er, als wäre es eine Entschuldigung. „Aber“, fügte er leise hinzu, „stell dich schon einmal darauf ein, dass ich in nächster Zeit nicht mehr immer für dich da sein werde. Du musst langsam lernen, allein klar zu kommen. Sei mir nicht böse. Aber ich will auch wieder ein bisschen leben. Okay?“ Er beugte sich zu Murdoc hinunter und schaute ihm in die Augen. Murdoc hob eine Hand und berührte seine krumme Nase. Hannibal dachte wieder an den 6. Juni, an den Tag, an dem er Murdoc zum ersten Mal gesehen hatte. Auch damals hatte er mit seiner winzigen Hand seine Nase berührt. Er hatte es als ein Abkommen gedeutet. Ein Abkommen, das ihr Verhalten zueinander regelte. „Gut, dass du damit einverstanden bist.“ Als Hannibal mit Murdoc im Arm sein Versteck verließ –auch nach einigen Stunden des Wartens war niemand Verdächtiges aufgetaucht, sodass Hannibal sich fast schon peinlich berührt fragte, ob er die Zigaretten nicht irgendwann selbst einmal geraucht und es bloß vergessen hatte- als er hinter einem riesigen Berg Müll eine schmale Rauchschwade aufsteigen sah. Wahrscheinlich von einem kleinen Lagerfeuer. Hannibal hatte niemals erlebt, dass auf dieser Müllhalde jemals Müll verbrannt oder abgeholt wurde. Hier veränderte sich nicht viel. Nur ab und an kamen ein paar Laster vorbei und luden neuen Dreck ab. Alles Mögliche. Abfall aus Privathaushalten, kaputte Möbel, unbrauchbare Elektrogeräte, Fernseher mit eingeschlagenen Bildschirmen und manchmal fand Hannibal zwischen drin auch einen ertränkten Hundewelpen oder eine kleine Katze. Hannibals Wut wurde wieder größer. Der widerliche Penner, der dort saß, würde mit hundertprozentiger Sicherheit derjenige sein, der in sein Versteck eingedrungen und sein Eigentum gestohlen hatte! Hannibal sprintete los, und während er rannte, stellte er sich vor, wie ein alter Mann mit löchrigen Schuhen dort hinter dem Haufen aus Müll saß und seine Zigaretten rauchte. Er machte sich nichts daraus, dass seine Theorie wahrscheinlich vollkommner Blödsinn war. Und er machte sich auch nichts draus, dass Murdoc in seinen Armen leise zu wimmern begann. Hannibal wollte sich mit irgendjemandem prügeln, er wollte seine verdammte Wut loswerden! Er erklomm den Unrat-Berg, der ihn und den Obdachlosen voneinander trennte. An kalten Motorhauben und durchgebrochenen Federbetten zog Hannibal sich hoch und versuchte dabei, Murdoc nicht fallen zu lassen. Ein Sturz aus einer solchen Höhe würde ihn das Leben kosten. Doch das war im Augenblick nicht wichtig! Wichtig war nur das Zucken in seinen Fingern, die sich um eine Kehle schließen und zudrücken wollten. Wer würde irgendeinen Obdachlosen von einer einsamen Müllkippe denn schon vermissen? Niemand. Ebenso wenig wie ihn jemand vermissen würde, wenn er stürbe. Oder wenn Murdoc hier hinunter fallen würde. Am Gipfelpunkt des Berges angekommen, verpuffte Hannibals Wut mit einem einzigen Mal. Als er nach unten blickte, sah er ein kleines Häuflein Menschen, augenscheinlich eine Familie. Er erkannte zwei erwachsene Frauen, einen Mann, einen Jungen, der vielleicht zwei oder drei Jahre älter als er war, und ein kleines Mädchen. Wahrscheinlich waren sie nicht blutsverwandt –nur das Mädchen und die jüngere der beiden Frauen hatten eine ähnliche Haarfarbe-, doch sie verhielten sich so, wie Hannibal sich eine Familie immer vorgestellt hatte. Die ältere Frau befand sich in dem alten, dreckigen Wohnwagen, um den sich die ganze Familie sammelte, und flickte ein paar alte Hosen. Die junge Frau spielte mit ihrer kleinen Tochter ein Spiel; Hannibal erkannte nicht welches, doch beide lachten. Der Junge und der Mann saßen auf zwei Klappstühlen links neben dem Eingang des Wohnwagens und rauchten Zigaretten. Hannibal ahnte, dass sie beide die Diebe waren, doch das interessierte ihn im Augenblick nicht. Er sank auf die Knie und drückte Murdoc an sich. Dieser Anblick bewirkte ein sehr schmerzhaftes Ziehen in seiner Brust und er konnte Tränen in seinen Augen spüren. Als er das merkte, stand er wieder auf und schüttelte stumm den Kopf. Nur Mädchen weinten, Schwächlinge. Es tat weh, doch Hannibal würde sich nicht von dieser glücklichen, bettelarmen Familie zu Tränen rühren lassen. Stattdessen beschloss er, den Berg wieder hinabzuschlittern. Er war gerade in Begriff sich umzudrehen, als er hörte, wie eine Stimme laut brüllte. Der Junge war von seinem klapprigen Stuhl aufgesprungen und machte irgendeine Geste. Er wirkte aufgewühlt, als drohte Gefahr, doch als Hannibal sich umblickte, sah er niemanden. Die junge Frau nahm ihre Tochter und flüchtete mit ihr in den Wohnwagen zu der älteren. Der Junge trat schnell das kleine Feuer aus, und er und der Mann positionierten sich draußen vor der Türe. Endlich erkannte Hannibal den Grund für die plötzliche Angst der Familie. Zwischen einigen großen Haufen Unrat waren drei Jugendliche aufgetaucht. Sie hatten zwei große Hunde bei sich. Hannibal wusste, dass sie nur gekommen waren, um jemanden zu verprügeln. Die Müllhalde wurde nicht bewacht, und schon gar nicht von tätowierten Halbwüchsigen! Hannibal wollte der Familie sofort zur Hilfe eilen, stoppte dann jedoch. Er hatte Murdoc bei sich. Bei dem Gedanken, er könnte von einem der Jungen einen Schlag abbekommen oder gar von einem der Hunde gebissen werden, wurde ihm ganz klamm und kalt. Also bückte er sich, schob schnell ein paar dreckige Lappen und zwei henkellose Eimer zur Seite, und legte Murdoc in die freigewordene Mulde. „Warte hier“, flüsterte er, obwohl es komplett unsinnig war. Murdoc war noch viel zu klein, um ihn zu verstehen. Trotzdem bewegte sich dieser keinen Millimeter. „Ich bin sofort wieder da. Mach keinen Lärm. Sonst kommen die Hunde und bringen dich schneller um, als du „Hoppla“ sagen kannst!“ Dann sprintete Hannibal den hohen Berg aus Müll hinunter, und landete schließlich mitten im Kampfgetümmel. Die drei Halbstarken hatten sich auf den Mann und den Jungen gestürzt, die beiden Hunde umkreisten sie bellend. Zwei der Jungen prügelten auf den Mann ein, der sich so gut es ging zu wehren versuchte, und der dritte nahm es mit dem Jungen auf. Hannibal trug jederzeit ein scharfes Messer bei sich –früher war es dringend notwendig gewesen und bereits öfters zum Einsatz gekommen-, das er nun mit lautem Kampfgeheul zückte. Er stach es einem der Jungen brutal in den Arm. Blut floss und er konnte Schmerzensschreie hören. Plötzlich war alle Aufmerksamkeit bei ihm. Hannibal gefiel das. Er genoss es, seine Wut auslassen zu dürfen. Es war wie ein Rausch. Hannibal wirbelte mit dem Messer wild um sich. Die Jugendlichen wirkten eingeschüchtert, sie schienen unbewaffnet. Was für ein glücklicher Zufall! Hätten sie alle drei Messer oder gar Pistolen bei sich gehabt, hätte es sehr schlecht um Hannibal gestanden. Hannibal erwischte noch einen anderen Jugendlichen am Rücken, er spaltete dessen Hemd und hinterließ einen sauberen Schnitt in der Haut. Die Halbstarken schienen einzusehen, dass sie keine Chance hatten. Also schickten sie ihre beiden Köter vor. Hannibal hasste Hunde. Und er hatte Angst vor ihnen. Diese beiden waren besonders groß und fletschten die Zähne. Als sich einer auf ihn stürzen wollte, kam ihm der Junge der Obdachlosen zur Hilfe. Er warf sich seitlich gegen das schlanke Tier. Natürlich machte es dem Hund nicht viel aus, doch zumindest ließ er von Hannibal ab. Der Junge blickte Hannibal an. Hannibal blickte den Jungen an. Im gleichen Augenblick stürzten sie nach vorne. An den Hunden vorbei, auf die drei Halbstarken zu, von denen zwei verletzt waren und bluteten. Noch ehe sie bei ihnen angekommen waren, nahmen die Drei reißaus. Die Hunde folgten ihnen widerwillig. „Wow“, meinte der Junge dankbar und anerkennend, als die Gefahr vorüber war. Hannibal sah zum kleinen Fenster des Wohnwagens hinüber. Die zwei Frauen und das kleine Mädchen schauten hinaus. Ihre Minen drückten zugleich Entsetzen und Entzücken aus. Als der Mann ihnen ein Zeichen machte, kamen sie ins kalte Sonnenlicht. Hannibal wischte die blutverschmierte Klinge seines Messers an einem alten Fetzen ab, den er auf dem Boden liegen sah. Dann schaute er zur Familie, die wie zum Verles in einer Reihe nebeneinander stand und ihn anstarrte. Schließlich fiel ihm die junge Frau schluchzend um den Hals. „Vielen Dank“, gluckste sie unter Tränen und drückte Hannibals Kopf an ihren großen Busen. Hannibal wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er hatte sich niemals in einer solchen Situation befunden. Normalerweise hassten ihn alle. Sein Vater, die Lehrer, die kleine Familie aus dem Park, die Ladenbesitzer. Hannibal gefiel dieses Gefühl. Dieses Gefühl, alle gerettet zu haben und nun wie ein Held gefeiert zu werden. Schließlich sagte er irgendetwas wie „Nichts zu danken“ oder „Kein Problem“. Die Familie lud ihn ein, noch eine Weile bei ihnen zu bleiben. Hannibal tat es gerne. Sie setzten sich zu sechst in einen engen Kreis. Jemand zündete das kleine, wärmende Lagerfeuer wieder an. Sie begannen sich zu unterhalten. Niemand fragte ihn nach seiner Herkunft oder seinen Eltern, seinen Vater. Als er abends wieder bei sich im Zimmer saß, konnte er sich gar nicht mehr genau erinnern, worüber sie die ganze Zeit geredet hatten. Doch er erinnerte sich daran, dass er sich wohl und geborgen und gewollt gefühlt hatte. Hier war er kein Sohn, den man bis auf Weihnachten komplett vergaß und nur des Kindergeldes wegen nicht aus der Wohnung warf, hier war er kein Ladendieb, der vom Kaufhausdetektiv misstrauisch beäugt wurde, hier war er kein Schüler, der die Schule schwänzte. Hier war er Hannibal Niccals, und er war ein Teil der Familie von der Müllkippe! Irgendwann verengten sich die Augen der alten Frau –als Mary hatte sie sich vorgestellt, doch alle hier nannten sie Old Mary; seit Hannibal dies aufgefallen war, tat er dies auch- und sie setzte einen misstrauischen Gesichtsausdruck auf. „Was ist los?“, fragte der Junge, Robert, alarmiert und blickte in die gleiche Richtung wie Old Mary. Es waren hoffentlich nicht die drei Halbstarken wieder aufgetaucht?! Auf dem Gipfel des riesigen Bergs Unrat hinter ihnen sah man in der Dunkelheit eine Schar großer Vögel kreisen. Plötzlich sprang Hannibal auf. „Murdoc!“, kreischte er entsetzt. Oh Gott! Er hatte ihn völlig vergessen! Hannibal machte sich eilig auf den Weg und kletterte so schnell ihn seine Arme und Beine den Hügel hinauf. Robert folgte ihm treu. „Was ist los?“, fragte er, „was ist ein Murdoc?“ „Mein kleiner Bruder!“, gab Hannibal mit schriller Stimme zurück. „Ich habe ihn oben zurückgelassen, als ich euch zur Hilfe kam. Oh Gott, hoffentlich haben ihn diese Krähen nicht schon tot gepickt!“ Normalerweise hätte Hannibal seine Ängste niemals einer anderen Person mitgeteilt –wem hätte er seine Sorgen auch schon anvertrauen können? Seinem Vater?!- doch bereits nach wenigen Stunden vertraute Hannibal Robert und der Familie so weit, dass er sich sicher war, sie würden ihn nicht verhöhnen oder sich desinteressiert wegdrehen. Am Gipfel –am Gipfel sank Hannibal zum zweiten Mal an diesem Tage ehrfürchtig auf die Knie. Er konnte hören, wie Robert neben ihm scharf die Luft aus dem Mund blies bei dem gewaltigen Anblick, der sich ihnen beiden bot. Murdoc hatte Hannibals Worten gehorcht und sich in all den Stunden, die vergangen waren, kein Stückchen aus seiner Mulde bewegt –Hannibal tat es umso mehr leid, dass er ihn vergessen hatte- und eine riesige Schar großer, schwarzer Vögel lagerte um das kleine Nest. Es waren Krähen oder Raben, Hannibal kannte den Unterschied nicht. Die Vögel standen und saßen in einem Kreis um den kleinen Murdoc herum; ein besonders großes Viech hatte es sich genau neben seinem winzigen, ausgestreckten Ärmchen bequem gemacht und lagerte seinen Kopf auf der Handfläche. Dann bemerkte Hannibal, dass Murdoc unversehrt schien. Die Haut in seinem Gesicht war nicht von vielen kleinen Löchern durchbohrt, seine Hände nicht blutig aufgerissen, wie er es befürchtet hatte. Stattdessen lachte er. Als er seinen großen Bruder erblickte, hob er die Hand, -und verscheuchte damit den Raben, der seinen schwarzen Kopf darauf gebettet hatte- und ballte die Faust, um sie gleich danach wieder zu schließen. Er winkte Hannibal zu. „Unglaublich“, keuchte Robert neben ihm, und Hannibal stimmte ihm in Gedanken zu. „Ich hab in meinem ganzen Leben noch nie so was gesehen. Und ich hab sogar schon mal gesehen, wie es ein Mädchen für einen Zwanziger mit einem Hund getrieben hat!“ Hannibal erhob sich und ging mit langsamen, vorsichtigen Schritten auf Murdoc zu. Die Raben beäugten ihn misstrauisch, unternahmen jedoch nichts. Hannibal kam es vor, als wären diese Raben die Beschützer seines kleinen Bruders, doch als Hannibal merkte, wie gruselig dieser Gedanke war, verdrängte er ihn schnell und suchte sich eine realistischere Erklärung. Ein Haufen dreckiger Raben, dachte er also, na und? Es gab mit Sicherheit auf jeder Müllkippe im ganzen Land blöde Raben. Und die hier hatten Murdoc entdeckt. Wahrscheinlich weil sie ihn fressen wollten. Hannibal hob Murdoc aus seiner Mulde und drückte ihn sich an die Brust. Der Kleine war tatsächlich komplett unverletzt. Plötzlich flog Hannibal ein Schauer über den Rücken, und die feinen Härchen auf seinen Armen und in seinem Nacken stellten sich auf. Er schlitterte mit Murdoc im Arm schnell den Berg hinunter, Robert folgte ihm, und sie beide waren froh, als sie wieder unten bei ihrer Familie waren. Die junge Frau, Reggie, freute sich über Murdoc. Sie schien überhaupt sehr kinderfreundlich zu sein und bat Hannibal darum, ihn einmal halten zu dürfen. Und Hannibal gewährte es ihr. Er drückte ihr Murdoc in die Hände –nicht einmal der Kampf-Omi hatte er es erlaubt, Murdoc auch nur in den Einkaufswagen zu setzen- und war aus irgendeinem Grund unglaublich froh, dass er ihn nicht mehr halten musste. Hannibal und Robert warfen einen Blick zurück auf den Berg. In der Dunkelheit konnten sie nicht viel erkennen, doch sie waren sich beide sicher, dass die Kolonie von Raben verschwunden war. Hannibal blieb bis weit nach Mitternacht bei der Familie. Nur einmal kehrte er kurz zu seinem Versteck zurück, um Murdocs Kinderwagen zu holen. Unten im Netz befanden sich ein paar mit Apfelsaft gefüllte Fläschchen und frische Windeln. Mit jeder Minute, die verging, wurde er wehmütiger. Am liebsten wäre er gar nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Er stellte sich vor, wie er mit seiner Familie in dem hässlichen Wohnwagen um die Welt zog. Von einem Ort zum nächsten, doch immer gemeinsam. Reggie würde sich mit ihm zusammen um Murdoc kümmern, sodass er mehr Zeit für sich hätte. Eve wäre seine kleine Schwester und Robert sein großer Bruder, Reggie wäre seine Mutter und Greg sein Vater, Old Mary seine Großmutter oder –ganz so alt war sie nun doch wieder nicht- seine Tante. Irgendwann sah Hannibal ein, dass er nicht mehr länger bleiben konnte. Ihm wurde ganz kalt in der Brust bei dem Gedanken an seinen Vater, der besoffenen auf der Couch im Wohnzimmer lag und sich Pornos anschaute, an sein kleines, eisig kaltes Zimmer. Er verabschiedete sich liebevoll von der Familie. Noch niemals hatte er irgendwen so sehr gemocht. Und vermisst. Ihm stiegen fast die Tränen in die Augen, doch Hannibal war noch Mann genug, um sie mit aller Kraft zu unterdrücken. „Komm doch morgen wieder!“, meinte Reggie freundlich, als sie ihn an sich drückte. „Wir werden bestimmt noch etwas länger hier bleiben.“ „Und was ist, wenn die drei Kerle wieder zurück kommen?“, fragte Hannibal. Er wollte nicht, dass seine Familie verletzt wurde. Reggie lächelte gequält. „Solche Leute gibt es überall, Hans. Hier ist es nicht besser und nicht schlechter als anderswo. Also, wenn du es willst, dann bleiben wir gerne noch länger da.“ Hannibal wollte es. Auf dem weiten Weg nach Hause summte er eine fröhliche Melodie, die ihm spontan eingefallen war, und fühlte sich wundervoll. Er nahm sich vor, gleich morgen wieder zu seiner Familie zurückzukehren. Kein Ort auf der Welt schien ihm zu dieser Zeit reizvoller und glücklicher als die alte Müllkippe. Als er um fast drei Uhr morgens in seiner Wohnung ankam, schlief sein Vater auf der Couch. Hannibal konnte sein lautes Schnarchen hören. Er betrachtete ihn eine Weile, und ging dann in sein Zimmer. Wahrscheinlich hatte der Alte nicht einmal bemerkt, dass er verschwunden gewesen war. Aber dieser Gedanke machte Hannibal nicht mehr traurig. Er musste nur an seine Familie denken, dann fühlte er sich wieder warm und geborgen. Er bemerkte die kleine Schar großer Raben nicht, die außen auf dem Fenstersims wartete und ihn dabei beobachtete, wie er Murdoc zum Schlafen umzog und sich schließlich selbst neben ihn auf die Matratze legte. Er schlief sofort ein. Und wie versprochen: Kapitel 6. ;) Ich dachte mir, nach den ganzen mehr oder weniger handlungslosen Kapiteln sollte mal ein klein wenig Äktschön kommen. xD Hoffentlich gefällt es euch trotzdem! :D bye sb Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)