Hannibal von kleines-sama (Murdoc's brother) ================================================================================ Kapitel 5: Weihnachten ---------------------- Kapitel 5 Weihnachten In vier Tagen war Weihnachten. Draußen schneite es nicht, es klatschte bloß eine eklige und kalte Mischung aus Hagel und Regen gegen die Fensterscheiben und ein starker Wind wehte in jeder noch so kleinen Seitenstraße. Hannibal saß in seinem Zimmer. Murdoc krabbelte auf dem Teppich umher und langweilte sich. Hier gab es keine schönen Blumen, die man ausreißen konnte und keine nasse Wiese unter den Händen, sondern bloß hohe, glatte Mauern aus Stein und Holz, mit denen er nichts anfangen konnte. Hannibal unterhielt den Kleinen so gut es ihm möglich war, kitzelte ihn oder spielte Fangen, doch er merkte schnell, dass es für sie beide nicht dasselbe war, wie wenn sie draußen im Park oder auf dem Spielplatz waren. Er mochte es nicht, den ganzen Tag in seinem Zimmer zu hocken, er hatte es nie gemocht. Lieber war er draußen und zog mit seiner Kumpane durch das Stadtviertel oder saß zumindest bei einem Freund zu Hause. In seinem Zimmer gab es nichts, was ihn lockte, nichts, womit er sich hätte unterhalten können. Er hatte keinen Fernseher, Bücher auch keine, Spiele hatte er nie besessen. Nicht einmal ein klassisches, altes Brettspiel. Hannibal seufzte und setzte sich auf den Fenstersims, der ein ganzes Stück in sein Zimmer hineinragte und sich gut zum Hinsetzen eignete, auch wenn er ahnte, dass er eigentlich nicht zu diesem Zweck erbaut worden war. Es gab keine andere Sitzgelegenheit im Raum. Draußen war es dunkel, obwohl es nicht einmal sechs Uhr abends war. Der Regen oder der Hagel oder der Graupel oder was auch immer es nun gewesen sein mochte, ließ langsam nach. Hannibal konnte den Wind pfeifen hören und zog sich instinktiv seinen Mantel ein wenig enger um den Körper. Er trug ihn auch Zuhause, weil ihr Vater die Heizungen nie anstellte, nicht einmal im Winter. Kein Geld, hieß es. Hannibal spürte, wie die Wut hochkam, wie jedes Mal bei dieser verfluchten Ausrede. Kein Geld für einen Kinderwagen, kein Geld für Bücher oder Spiele, aber Geld für Bier und Wodka und schöne Frauen, sicher! Er ließ die Fäuste, die er ohne es zu merken geballt hatte, wieder locker und seufzte einmal laut. Es hatte doch keinen Zweck. Hannibal starrte noch eine Weile aus dem Fenster, spürte wie die Zeit zähflüssig und langsam dahin floss, achtete nicht auf Murdoc, der quengelte und wieder Aufmerksamkeit wollte. Er hatte keine Lust darauf, jede Minute damit zu verbringen, sich um Murdoc zu kümmern. Wenn sie draußen waren, beschäftigte er sich meistens problemlos allein, Hannibals einzige Pflicht bestand im Prinzip nur darin, nur ab und an mal nach dem Rechten sehn und er musste auch nur mit ihm spielen oder mit ihm sprechen, wenn er Lust dazu hatte. Murdoc kam auf ihn zu gekrabbelt, das wusste Hannibal, obwohl er nicht hinsah, sondern weiter konstant aus dem langweiligen Fenster mit dem immer gleichen Bild schaute. Der Fenstersims war zu hoch für den kleinen Murdoc, und Murdoc konnte sowieso noch nicht stehen. Darum blieb er einfach kurz unterhalb des Simses sitzen und blickte still zu Hannibal hinauf, wie ein kleiner, bettelnder Hund. Hannibal konnte Hunde nicht ausstehen. Sein Magen knurrte. Hannibal hatte sich noch immer nicht vom Fenstersims wegbewegt. Eigentlich wäre er jetzt in ihre kleine Kochecke im Wohnzimmer gegangen und hätte nachgeschaut, ob sich noch irgendetwas Essbares im Kühlschrank finden ließ, doch er tat es nicht. Vor allen Dingen nicht, weil er Murdoc nicht den Sieg gönnen wollte. Sein kleiner Bruder saß noch immer ungerührt und mit einer faszinierenden Geduld unten auf dem rauen Teppich vor dem Fenstersims. Nun gut, er schaute nicht mehr zu ihm hoch, sondern auf seine zehn Finger, die wohl urplötzlich ganz furchtbar interessant geworden waren, doch er war während der ganzen Zeit nicht einen winzig kleinen Zentimeter in eine andere Richtung gerutscht. Hannibal hielt sich die Hände vor den Bauch und ignorierte das laute Brummen und Kneifen im Magen. Wenn es sein musste, würde er eben die ganze Nacht hier sitzen bleiben, ehe Murdoc nicht endlich aufgab. Insgeheim hoffte er jedoch, dass Murdoc, dieser kleine, fürchterliche Dickkopf, es nicht ganz genauso sah. Murdoc sah es ganz genauso. Hannibal hatte keine Uhr in seinem Zimmer hängen, doch er ahnte, dass bereit eine sehr lange Zeitspanne vergangen war. Noch immer saß er auf dem harten Fenstersims, sein Hintern begann langsam zu schmerzen und in seinem Rücken spürte er ein unangenehmes Ziehen, und noch immer hockte Murdoc unten auf dem Teppich. Als Hannibal einmal nach unten zu ihm schaute, schien Murdoc den Blick zu spüren und erwiderte ihn. Hätte Hannibal es nicht besser gewusst, hätte er geglaubt, Murdoc grinste siegessicher und aufschneiderisch. Jetzt war es genug! Hannibal stand endlich von seinem Thron auf, ignorierte die Schmerzen in etlichen Körperregionen und machte sich auf den Weg zum Kühlschrank. Dieser Wettkampf war doch Blödsinn! Er zog einmal schnell die Nase hoch und legte sich irgendwelche Ausreden für seine Niederlage zurecht. Murdoc hatte nur darauf gewartet, dass er wieder mit ihm spielte, das war keine Herausforderung gewesen, kein Wettkampf. So weit konnte der Hosenscheißer doch nicht denken mit seinem Kleinkinderhirn; der Kleine mit seinen paar Monaten da…! Im Wohnzimmer auf der Couch saß sein Vater, kein Wunder, gerade bei diesem Mistwetter. Hannibal hatte keine Lust auf eine Unterhaltung, er hatte schlechte Laune, und er hoffte, sein Vater würde ihn einfach in Ruhe lassen. Im Kühlschrank fand er eine Menge Bier und zwei Flaschen Hochprozentiges. Im untersten Fach lagen ein paar gekaufte Sandwichs in durchsichtigen Folienverpackungen. Er nahm sich zwei davon und steckte sich unauffällig ein Bier in die Manteltasche. „Hey, Kleiner!“ Hannibal warf einen kurzen Blick zu der Couch hin, sah den Kopf seines Vaters, den er zu ihm umgedreht hatte, und schloss leise die Türe des Kühlschranks. „Was ist?“ Er bemühte sich, deutlich und selbstsicher zu klingen. Sein Vater schien nicht sonderlich betrunken. Er mochte den Zustand des leichten Angetrunkenseins bei seinem Vater nicht, das machte ihn unberechenbar. War er besoffen, konnte er einem nichts antun, dann konnte er nur torkeln und lallen und kotzen. Bloß angetrunken konnte er allerdings noch schnell laufen und zuschlagen, und man wusste nie, was für eine Laune er hatte. In letzter Zeit war er sehr oft nur angetrunken, oder gänzlich nüchtern. (Ein Zustand, den es niemals zuvor bei seinem Vater gegeben hatte.) „Bald ist doch Weihnachten, oder?“ „In vier Tagen.“ Hannibal verstand nicht, wieso dies von Bedeutung sein sollte. Er hatte von seinem Vater noch nie zu Weihnachten oder zu einem Geburtstag oder überhaupt irgendwann etwas geschenkt bekommen. Höchstens eine Tracht Prügel. „Was wünscht du dir?“ Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Hannibal wusste nicht, was er jetzt sagen sollte. War das ein Scherz? Eine andere Möglichkeit fiel ihm kaum ein. Schließlich betonte sein Vater doch ständig und immer, dass man Geld am besten in Bier investieren sollte, statt es für irgendwelche unnützen Dinge aus dem Fenster zu schmeißen. Hatte er seine Meinung geändert? Wieso nur? „Wie meinst du das?“ Hannibal hatte keine Lust, sich vor seinem Vater lächerlich zu machen, weil er auf irgendeinen blöden Trick hineinfiel oder sich einmal mehr von der Vorstellung hinreißen ließ, er hätte sich doch nun tatsächlich geändert. So blöd und naiv war er längst nicht mehr. „Wie ich das meine? Sag mal, hat man dir in der Schule denn gar nichts in dein Hirn kloppen können?! Zu Weihnachten schenken Eltern ihren Kindern was, oder? Kannst du noch folgen oder ist das schon zu schwer für dich? Also, was willst du haben?“ Dann fügte er noch hinzu: „Aber nichts zu Teures, kapiert, so viel Geld haben wir nicht, das weißt du, Rotzlöffel!“ Er schien es tatsächlich ernst zu meinen! Hannibal schluckte einmal schwer und versuchte zu fassen, was eben geschehen war. Ein Geschenk, er würde ein Geschenk von seinem Vater bekommen! Vielleicht hatte er sich ja doch geändert… Vielleicht –nein, nein! Hannibal versuchte, einen klaren Kopf zu behalten und logisch zu denken. Nur weil sein Vater ihm ein einziges Mal in seinem Leben etwas schenkte, hieß das doch nicht gleich, dass er zum besten Vater des Monats gewählt werden würde. Wahrscheinlich hatte er einfach bloß ein schlechtes Gewissen, weil er Hannibal ganz allein um Murdoc kümmern ließ und dabei genau wusste, wie anstrengend es war, sich allein mit wenig Geld um einen kleinen Säugling zu kümmern. Schließlich war sein Vater damals in einer ähnlichen Lage gewesen, als er selbst zur Welt gekommen war. Hannibal durchforstete sein Gehirn nach irgendetwas, das er gut gebrauchen könnte und nicht zu teuer war. Hätte man ihm nach seinem größten Wunsch gefragt, hätte er sich natürlich sofort ein Bass gewünscht, doch das würde bei ihrem Budget nicht drin sein, das war ihm klar. Am besten, er wünschte sich etwas Praktisches, vielleicht etwas, was er für Murdoc gut gebrauchen konnte, gerade jetzt im Winter. Ein Spielzeug oder so etwas. Damit er bei Regen und Unwetter auch drinnen spielen konnte, ohne sich zu langweilen. „Spielzeug. Kleine Rennautos, oder vielleicht ein Schaukelpferd. Oder… kennst du diese kleinen… wie heißen die noch mal… Bobbi Cars, genau!“ Sein Vater schaute ihn zu erst ein wenig überrascht und zweifelnd an, nickte dann jedoch. „Und was wünscht du dir?“ „Das habe ich doch eben gesagt.“ „Nicht was Murdoc möchte, sondern was du möchtest, will ich wissen, Rotzlöffel!“ „Ich… ich möchte lieber die Sachen für Murdoc, statt welche für mich.“ Die Stimme seines Vaters klang nun ein wenig genervt. Er schien auf einen Punk hinaus zu wollen, den Hannibal noch nicht verstanden hatte. „Das Spielzeug für Muds kriegst du auch, das ist kein Problem. Ich hab’ da einen Kumpel, der arbeitet in einer Spielzeugfabrik, da krieg ich das Zeug billig her. Aber ich will, verdammt noch mal, dass du etwas kriegst, und nicht nur dein Bruder, endlich kapiert?“ Hannibal nickte. Er spürte, wie sein Herz in seiner Brust zu klopfen begann. Heute musste sein Glückstag sein! „Ich hätte gerne neue Schuhe. Welche für den Winter.“ Er trug nicht mehr die Sandalen, die er fast den gesamten Sommer durchgehend an den Füßen gehabt hatte, sondern ein Paar alte Schuhe von ihm, die viel zu klein waren und drückten. Andere, die man im Winter tragen könnte, hatte er nicht. „Spielzeug und Schuhe.“ Sein Vater sagte die beiden Worte langsam vor sich her, als wären es Fremdwörter, und setzte einen nachdenklichen Blick auf. Dann nickte er wieder. „Von mir aus, das krieg ich hin. Aber erwarte nicht zu viel, Rotzlöffel!“ Er wiederholte den Satz, den er eben schon gesagt hatte: „So viel Geld haben wir nicht, das weißt du! Der Staat zahlt nicht viel, auch wenn du vielleicht was anderes denkst!“ Hannibal gab seinem Vater Recht, ohne darüber nachzudenken, ob er auch der gleichen Meinung war. Das einzige, was im Augenblick für ihn zählte, waren ein Paar Winterschuhe und Spielzeug für Murdoc. Er verabschiedete sich möglichst freundlich von seinem Vater, der das Gespräch daraufhin anscheinend als beendet ansah und sofort wieder den Fernseher fixierte. Es lief ein Porno, wie immer. Hatte sich wohl doch nicht so viel geändert, wie Hannibal es sich erhofft hatte. Aber was soll’s. In seinem Zimmer wartete Murdoc. Er saß mitten im Raum auf dem Boden, lutschte seelenruhig an seinem Schnuller und schien froh zu sein, dass sein großer Bruder nicht mehr so still und böse, sondern fröhlich war. Das erste, was er tat, war Murdoc hochzunehmen und sich mit ihm in den Armen um die eigene Achse zu drehen und zu lachen, bis ihm der Kopf schmerzte. Die nächsten Tage vergingen langsam. Einerseits, weil Hannibal sich vor Vorfreude kaum halten konnte und die Zeit immer langsamer vergehen zu scheint, wenn man ein bestimmtes Ereignis erwartete, und andererseits, weil sich das Wetter nicht besserte und sie beide darum noch immer in ihren wenigen Quadratmetern Kerker festsaßen. Auf eine weiße Weihnacht konnten sie wohl kaum hoffen, aber zumindest hatten sich der Hagel und Graupel verzogen, und es gab nur noch sauberen Regen. Am Tag vor Weihnachten versiegte der Strom sogar einmal gänzlich für einige Stunden. Hannibal nahm die Gelegenheit nur zu gern wahr, packte sich Murdoc und eine Flasche Apfelsaft und setzte beides in den dunkelblauen Kinderwagen, der unten im Flur stand. Sie fuhren an keinen bestimmten Platz, nur ein bisschen ziellos durch die Stadt, und Hannibal atmete die die noch immer regennasse Luft ein, als wäre es das erste Mal seit Jahren, dass er wieder an die frische Luft kam. An einem winzig kleinen Park, den er nicht kannte, machte er eine Pause und holte Murdoc aus seinem Kinderwagen. Er freute sich über die Wiese, die nass war, und über die Blumen, die nass waren, und krabbelte fröhlich umher und untersuchte jeden Regentropfen auf jedem Grashalm. Hannibal legte sich mit ausgestreckten Armen auf die Wiese und musste lächeln. Es war lange her, dass er sich das letzte Mal so sehr auf ein bestimmtes Ereignis gefreut hatte, und er mochte dieses Gefühl. Manchmal, in Momenten wie diesem hier, glaube er, dass die Welt es doch gar nicht so böse mit ihm meinte und auch ein armes Kerlchen wie er einmal im Leben Glück haben konnte. An Weihnachten wachte Hannibal so früh auf, dass es selbst für einen Frühaufsteher wie ihn ungeheuerlich erschien, und konnte nicht mehr einschlafen, so sehr er es auch versuchte. Tausende Ameisen schienen in seinen Adern umher zu krabbeln und sein Körper fühlte sich entweder heiß oder kalt an, Hannibal konnte es nicht genau sagen, und seine Hände zitterten so stark, dass er keinen Gegenstand anfassen konnte, ohne Gefahr zu laufen, ihn fallen zu lassen. Murdoc schlief noch, und Hannibal wollte ihn auch noch eine Weile schlafen lassen. Stattdessen öffnete er die Türe seines Zimmers, die direkt zum Wohnzimmer führte, einen winzig kleinen Spalt und lugte vorsichtig hinaus. Es gab keinen Weihnachtsbaum und keine bunten Lichter und keine Tannenzweige, keine fröhlichen Lieder, keine Liebe und keine große Familie, aber das hatte er auch nicht erwartet. Sein Vater schlief noch, er konnte ihn schnarchen hören. Und für einen Augenblick kamen Hannibal Zweifel. Vielleicht hatte sein Vater sich ja doch einen bösen Scherz erlaubt, den bösesten, den man sich vorstellen konnte, zu Weihnachten. Vielleicht gab es ja gar keine neuen Schuhe und kein Spielzeug, sondern bloß Wodka und Schnaps und Bier. Vielleicht würde sich sein Vater, wenn er ihn vorsichtig nach den Geschenken fragte, vor ihm aufbauen wie ein wütender Schuldirektor und ihn auslachen, aus vollem Halse. Das würde er nicht ertragen. Hannibal schloss die Türe ebenso leise, wie er sie geöffnet hatte, und schlich zum schlafenden Murdoc hinüber. Im Schlaf hatte er noch ein hübscheres Gesicht als sowieso schon. Wieder fiel ihm die gerade Nase auf. Er weckte Murdoc, obwohl es noch viel zu früh am Morgen war. Er brauchte irgendetwas, das ihn ablenkte von seinen Gedanken und Ängsten. Murdoc war noch müde und ganz verschlafen, als er ihn weckte, und begann leise zu schreien. Hannibal nahm ihn hoch, wiegte ihn sanft hin und her und war froh, dass Murdoc lange brauchte, um richtig wach zu werden und sich zu beruhigen. Im Badezimmer verplemperte er viel mehr Zeit, als notwendig gewesen wäre. Er badete Murdoc, obwohl es nicht hätte sein müssen, weil sie die ganzen letzten Tage sowieso nur drinnen gewesen waren und es in seinem Zimmer kaum etwas gab, das dreckig machen konnte. Trotzdem tat er es, wusch ihm besonders gründlich die Haare, die ja so schnell fettig werden konnten, und ließ ihn noch ein bisschen länger im warmen Badewasser sitzen, bloß weil Murdoc das gerne mochte. Er spritze ihm aus Spaß ein bisschen warmes Wasser ins Gesicht und beobachtete Murdocs Reaktion, wie er zuerst abwehrend reagierte und die Augen fest zukniff, und es dann seinerseits selber machte und fröhlich umher planschte. Dann trocknete er ihn gründlich ab, und zog ihm frische Kleidung an, die er zuvor extra herausgelegt hatte. Wenigstens an Weihnachten sollte der Kleine doch bitte vernünftig aussehen! Er wechselte ihm sogar die Windel, obwohl er die Alte gar nicht vollgemacht hatte und der Vorrat an Windeln, den sie noch besaßen, stetig schrumpfte. Aber was soll’s, von irgendwoher würde er schon Neue herbekommen. Zur Not würde er eben irgendjemanden bestehlen und von dem erbeuteten Geld neue Windeln kaufen, das hatte er schließlich auch schon des Öfteren getan. Als Murdoc schließlich frisch gebadet und neu eingekleidet, die Windeln gewechselt und die Haare ordentlich gelegt waren, war es noch immer erst zehn Uhr morgens. Es regnete draußen, die Option fiel also schon einmal weg. Ihnen blieb wohl nichts anderes übrig, als tatsächlich wieder in ihrer beider persönlichen Hölle, das Zimmer, zu gehen und dort zu warten, bis ihr Vater aufgewacht war. Hannibal hatte sein Zimmer satt. Er hatte den rauen Teppich satt, er hatte die vergilbten Raufasertapeten satt, die durchgelegene Matratze auf dem Boden, und den Schrank hatte er auch satt! Er ging zum Fenster und öffnete es. Draußen war es wie immer. Dunkel, kalt, windig, nass. Hannibal beobachtete die gegenüberliegende Häuserfront, doch als er nach einigen Minuten einsehen musste, dass sich dort nichts regte und nichts veränderte, gab er auch diese Tätigkeit auf. Er beschloss, doch noch ein wenig mit Murdoc zu spielen. Oder eher zu lernen. Wenn der Kleine schon so früh damit begonnen hatte zu krabbeln, warum sollte er dann nicht auf früh laufen lernen, oder zumindest stehen? Das würde sie beide doch zumindest ein wenig ablenken. Hannibal setzte sich neben Murdoc auf den Boden. Sitzen ohne umzukippen war für den Kleinen längst kein Problem mehr, dabei konnte Hannibal sich gar nicht mehr genau an den Tag erinnern, an dem er das gelernt hatte. Er nahm Murdocs zierliche Hände in seine eigenen und zog den Kleinen langsam hoch auf die Beine. Das klappte soweit, doch wenn er versuchte, Murdoc selbst einmal sein eigenes Körpergewicht zu tragen, klappte er um und fiel auf seinen Hintern. Hannibal versuchte es noch einige Male, immer wieder mit dem gleichen Ergebnis. Murdoc war nicht einmal in der Lage zu stehen, vom Laufen ganz zu schweigen. Dann überlegte er sich einige Variationen dieser Technik, die es Murdoc leichter machen könnten. Er zog ihn nur mit einer Hand hoch, oder stützte ihm die Füße, damit er nicht so leicht umfiel; doch es nützte nichts. In welchem Alter lernten Kleinkinder denn eigentlich das Laufen? Das wusste Hannibal nicht. Murdoc war Anfang Juni geboren worden. Oder eher: Am 6. Juni hatte er ihn auf diesem verstaubten Kissen im Wohnzimmer gefunden, ob er nun auch an diesem Tag geboren wurde, wusste er gar nicht. Jetzt, wo er daran dachte… Er war eigentlich immer vom 6. Juni als Murdocs Geburtstag ausgegangen. Vielleicht war er ja aber in Wirklichkeit schon im Mai geboren? Nach einigen Überlegungen entschied Hannibal, dass diese paar Tage beim Alter nun auch keine große Rolle spielten. Wenn er also annahm, dass Murdoc Anfang Juni geboren worden war, und heute war Weihnachten, dann… Juni, Juli, August, September, Oktober, November, Dezember… dann war er fast sieben Monate alt. Sieben Monate. Das ließ sich so leicht sagen. Sieben Monate. Aber Hannibal schien dieser Zeitraum unendlich lang. Sieben Monate! Er versuchte sich daran zu erinnern, wie es gewesen war, ehe er an diesem 6. Juni ins Wohnzimmer gekommen war, wie sein Leben vorher ausgesehen hatte, und er musste feststellen, dass er sich nicht mehr ans Vieles erinnerte. Er erinnerte sich noch an Percy, und an George, den Jungen mit dem dümmlichen Gesicht. Er wusste, dass er damals viele ältere Freunde gehabt hatte, Erwachsene, es hatte Gras gegeben, und Anderes. Sie waren abends um die Häuser gezogen, hatten getrunken und geraucht und Mädchen, die vorbeikamen und einen hübschen Hintern hatten, hinterher gepfiffen. Aber an viel mehr erinnerte er sich auch nicht mehr. Dafür wusste er noch genau, wann er Murdoc das erste Mal gesehen hatte, wann er das krabbeln gelernt hatte und wie er für ihn diesen Kinderwagen gestohlen hatte. Er wusste, wie man ihm die Windeln wechselte und wie man ihn füttern musste, was er mochte und was nicht. Er erinnerte sich daran, wie sie oft im Park saßen oder auf dem Spielplatz gewesen waren. Hannibal sehnte sich in Momenten wie diesen, wo er sich erinnerte und verglich, manchmal nach seinem alten Leben, nach den Jungs und dem Gras und den dunklen Abenden. Er war lange nicht mehr abends draußen gewesen, weil Murdoc als Säugling früh schlafen musste. Und er hatte niemanden, der sich um Murdoc kümmern würde, wenn er einmal nicht da war. Sein Vater war endlich aufgewacht. Hannibal konnte seine schlurfenden Schritte hören, die ihn zum Bad führten. Die Vorfreude und die Ameisen und die Hitze und die Kälte und das Zittern waren mit einem Mal wieder da. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sein Vater endlich wieder das Wohnzimmer betrat, obwohl Hannibal wusste, das nicht viel Zeit verstrichen sein konnte. Sein Vater verbrachte nie viel Zeit im Badezimmer. Hannibal drückte langsam die Türklinke hinunter, um seinem Vater ein Zeichen zu geben, und betrat dann das Wohnzimmer. Er hatte Murdoc auf dem Arm, der froh zu sein schien, endlich dem Zimmer entkommen zu sein. Sein Vater sah aus, wie er immer aussah. Nicht einmal an Weihnachten hatte er sich etwas herausgeputzt. Bartstoppeln überzogen das seit Tagen nicht mehr rasierte Kinn, das Haar hing fettig bis fast zu den Schultern hinunter, und auf der Kleidung sah man deutlich Flecken, die wahrscheinlich von in der Eile verschüttetem Bier herrührten. Er war in Begriff sich auf seine geliebte Couch zu setzen, wie er es immer tat, und Hannibal hatte die Hoffnung fast schon wieder aufgegeben, bis sein Vater ihn mit einer kurzen, barschen Handbewegung heran rief. Sein Gesichtsausdruck war das eines Menschen, der sich im Moment unheimlich beliebt und cool fühlte, und Hannibal hoffte von ganzem Herzen, dass dies ein gutes Zeichen war. „Also“, begann sein Vater seine Rede und klopfte bei diesen Worten mit der Hand neben sich auf die Couch; das Zeichen, das Hannibal sich zu ihm setzen sollte. Er tat es und nahm Murdoc auf den Schoß. „Heute ist ja endlich Weihnachten und du hast dir ja Schuhe gewünscht und für Murdoc neues Spielzeug.“ Sein Vater war nie ein guter Redner gewesen. Er sprach zu schnell, undeutlich und unangemessen. Hannibal versuchte diese Tatsache für den Moment zu ignorieren und wartete darauf, dass er weiter sprach. Die Hauptsache war, dass er diese Dinge, von denen sein Vater sprach, bekommen würde. Hannibal schaute sich vorsichtig im Wohnzimmer um, hielt Ausschau nach glitzerndem Geschenkpapier oder bunten Schleifen, bis er merkte, wie dämlich das war. Selbst wenn sein Vater das Spielzeug und die Schuhe besorgt hätte, so hätte er sich doch in seiner grenzenlosen Faulheit nicht auch noch die Mühe gemacht, sie einzupacken. Aber die Verpackung war schließlich auch nicht wichtig! Hannibal versuchte sich einzureden, dass für ihn und Murdoc nur der Inhalt zählte, nur, wie viel man mit den Geschenken nun auch tatsächlich anfangen konnte, doch es fiel ihm sehr schwer. Er hätte niemals zugegeben, dass er sich über ein bunt, glitzerndes Geschenkpapier fast mehr gefreut hätte als über das Geschenk selbst. Sein Vater würde sich niemals auch nur ein winziges bisschen mehr Mühe geben als absolut notwendig, er würde sich niemals die kleinsten Umstände machen für seine beiden Kinder. Dieser Gedanke machte Hannibal traurig, doch er verdrängte ihn schnell wieder. Heute war Weihnachten! Er und Murdoc bekamen Geschenke, und Hannibal ermahnte sich dazu, nicht gierig zu sein und nicht zu viel zu erwarten. Bevor sein Vater weiter sprach, rülpste er laut und Hannibal verzog bei dem Geruch nach Alkohol und faulen Zähnen das Gesicht. „Ich hab den Kram besorgt, den du wolltest. Guck mal da drüben in den Schrank!“ Er deutete auf den niedrigen Schubladenschrank, auf dem der Fernseher deponiert war, und als Hannibal sich nicht sofort dorthin bewegte, versetzte sein Vater ihm einen heftigen Stoß in den Rücken, der Hannibal von der Couch schubste. Er musste Murdoc festhalten, damit ihm dieser nicht vor Schreck aus den Händen fiel. Er überwand eilig mit zwei Schritten die kurze Distanz bis zum Schrank und kniete sich dann davor nieder. Seine Hände zitterten, als er nach dem Griff der obersten Schublade fasste; er konnte das eiskalte Holz –auch im Wohnzimmer hatte sein Vater darauf verzichtet, die Heizung einzuschalten- an seiner Haut und die Blicke seines Vaters in seinem Rücken spüren. Nach einem kurzen Augenblick, den Hannibal nutze, um die Spucke, die sich in seinem Mundraum gesammelt hatte, hinunterzuschlucken, zog er die Schublade mit einem festen Ruck auf. Darin befanden sich ein Paar Schuhe aus dickem, schwarzem Stoff. Hannibal holte sie aus der Schublade und sah nach der Schuhgröße, die unten auf die Sohle gedruckt war. Zwei Nummern zu klein, aber Hannibal war nicht böse. Schließlich hatte er seinem Vater vergessen, seine Schuhgröße zu nennen, sodass dieser wohl hatte schätzen müssen. Die zweite Schublade war größer als die erste. Trotzdem bezweifelte Hannibal, dass ein Bobbi Car oder gar ein Schaukelpferd darin Platz gefunden hätten. Als er sie aufzog, war sie leer. Hatte sein Vater das Geschenk für Murdoc vergessen? Oder aus Geldgründen darauf verzichtet? Hannibal wusste nicht, wie er auf diese Enttäuschung reagieren sollte, als er die Stimme seines Vaters hinter sich hörte. „Sag mal, wie blöd bist du eigentlich, Kleiner? Murdocs Geschenk passt doch nicht auch in diesen Schrank. Du Idiot, die Jahre in der Schule sind wohl totale Zeitverschwendung gewesen.“ Sein Vater deutet auf seinen hohen Kleiderschrank, der neben der Couch stand. Hannibal schlurfte hinüber und öffnete ihn kurzerhand. Der Geruch nach ungewaschener, abgetragener Kleidung ließ ihm für einen kleinen Augenblick alle Sinne schwinden. Dann entdeckte er das Dreirad. Es war gebraucht –der rote Lack blätterte an vielen Stellen ab und eines der Räder war irgendwann einmal geflickt worden- doch Hannibal freute sich trotzdem. Mit einem Dreirad im Gepäck würde die nächste Zeit mit Murdoc viel einfacher sein. Er würde ihn nicht mehr andauernd tragen oder den riesigen Kinderwagen vor sich her schieben müssen, sondern konnte Murdoc einfach in das Dreirad setzen und ihn losradeln lassen. Außerdem konnte sich Murdoc mit diesem Dreirad bestimmt gut selber beschäftigen, sodass er sich nicht ununterbrochen um ihn kümmern musste. Hannibal konnte kaum in Worten zusammenfassen, wie glücklich er sich in diesem Augenblick fühlte. Er machte sich überhaupt gar keine Gedanken darum, ob Murdoc mit seinen sieben Monaten nicht noch zu jung für ein Dreirad war und ob er überhaupt die Kraft besaß, selbst in die Pedale zu treten. „Danke“, hauchte Hannibal, doch er tat es so leise, dass sein Vater das Wort nicht gehört haben konnte. Es schien ihn auch nicht zu kümmern. Als Hannibal sich umwandte, sah er, dass sein Vater sich wieder dem Fernseher zugewandt hatte, ohne ihn zu beachten. Hannibal wollte sich schon wieder mit den neuen Geschenken in sein Zimmer stehlen, als ihm eine Frage einfiel. Er betrachtete für einen kurzen Moment seinen Vater, der eisern den Bildschirm fixierte, und entschloss sich schließlich dafür, sie zu stellen: „Warum hast du die Geschenke versteckt?“ „Wenn du die sofort gesehen hättest, wär’s doch keine Überraschung gewesen, du dämlicher Rotzlöffel!“ Jaja, nach so vielen Monaten melde ich mich endlich mal wieder. Es tut mir sehr leid, dass ich euch so lange haben warten lassen, doch zumindest kann ich sagen: Ich habe jetzt endlich wieder Motivation, an "Hannibal" weiter zu arbeiten! ;) Viel Spaß beim Lesen! :P bye sb Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)