Hannibal von kleines-sama (Murdoc's brother) ================================================================================ Kapitel 4: Der Diebstahl ------------------------ Kapitel 4 Der Diebstahl Die nächsten Tage vergingen, ohne dass Hannibal eine Lösung für sein Problem fand. Er mied die Straße mit dem Haus, hinter dessen Türe er den teuren Kinderwagen entdeckt hatte, und übte mit Murdoc fleißig das Krabbeln. Es war unglaublich, in welch rasanter Geschwindigkeit der Kleine sich verbesserte. War er vor kurzem mit seiner selbst erfundenen Technik, sich an irgendeinem Gegenstand festzuhalten und den Körper nachzuziehen, gerade mal in der Lage gewesen, innerhalb einiger Stunden nur wenige Meter voranzukommen, so schaffte er es jetzt Hannibal ganz schön in Atem zu halten. Hannibal hatte versucht ihm klar zu machen, dass Murdoc seine Beine benutzen müsste, um sich sicherer bewegen zu können. Er hatte ihm vorgemacht, wie man auf allen Vieren krabbelte, wie man die beiden Beine bewegen musste, und ihm geholfen, wenn er es noch nicht ganz schaffte. Was sehr selten der Fall gewesen war. Eigentlich hatte Hannibal damit gerechnet, dass Murdoc doch mindestens zwei Wochen bräuchte, bis er endlich vernünftig krabbeln könnte, ohne ständig umzukippen oder keinen Atem mehr zu haben. Er irrte sich total! Nachdem Murdoc tatsächlich einmal das grundlegende Prinzip verstanden hatte, war er binnen etwa einer dreiviertel Stunde in der Lage, absolut perfekt und ganz furchtbar schnell zu krabbeln. Dieser Erfolg hätte ihn eigentlich stolz machen sollen, schließlich war es ein Beweis für Murdocs Geschicklichkeit und Lerneifer, doch aus irgendeinem Grund war dem nicht so. Je schneller und leichter Murdoc die Schritte lernte, die Hannibal ihm zeigte, desto frustrierter wurde Hannibal. Es ging sogar so weit, dass Hannibal ein- oder zweimal aus einer Boshaftigkeit heraus, die nur große Brüder besaßen, es Murdoc besonders schwer zu machen versuchte. Er legte ihm Gegenstände in den Weg, die Murdoc umrunden musste, um weiter zu kommen oder zog ihm manchmal ganz plötzlich ein Beinchen oder ein Ärmchen weg, sodass er umfiel oder ganz schnell reagieren musste, damit dies nicht geschah. (Nachdem er dies ein paar Mal getan hatte, hatte Murdoc den Trick übrigens raus und fiel so gut wie nicht mehr hin, wenn Hannibal diese Gemeinheit auf ihn anwandte.) Er verstand nicht genau, wieso ihn Murdocs Erfolge so niedermachten. Es gab keine logische Begründung für dieses Verhalten, dieses Gefühl war einfach da und ließ sich nicht vertreiben. Hannibal verstand es selbst nicht genau, jedoch machte er sich auch nicht allzu viele Gedanken um diesen seltsamen und mit Sicherheit bösen Charakterzug von ihm. Murdoc wurde anstrengend und Hannibal wurde mit jedem Tag klarer, dass ein Kinderwagen bald absolut unumgänglich werden würde. Der Kleine bewegte sich ständig aus bloßer Freude über das neu Erlernte von einem Ort zum anderen, tat sich weh, krabbelte bis ihm die Händchen vom rauen Teppichboden wund gerieben waren und blieb mitten im Raum liegen, wenn er müde wurde. Die größte Befürchtung Hannibals war, dass er vielleicht einmal vergessen würde die Türe zu seinem Zimmer abzuschließen und Murdoc blindlings ins Wohnzimmer zu ihrem betrunkenen Vater hinkrabbeln und ihn stören könnte. Er ging so oft wie möglich raus mit ihm, auf den Spielplatz oder in den Park, um ihn auszupowern und anzustrengen, damit er zu Hause möglichst müde war und keine Kraft mehr hatte, um sich viel zu bewegen oder zu schreien. So auch heute. Er war mit Murdoc auf dem Arm –wogegen sich der Kleine ständig wehrte, doch Hannibal wagte es nicht, ihn auf den dreckigen Straßen krabbeln zu lassen- in den Stadtpark, nur einige Straßen von ihrer Wohnung entfernt, gegangen. Auf der großen Wiese konnte er ihn getrost sich austoben und spielen lassen, solange er selbst nur immer in seiner Nähe war und ein Auge auf ihn hatte. Der Tag war nicht warm, die Sonne sandte kalte Strahlen auf die Erde nieder, die sie nicht erwärmten. Im Park waren mittelmäßig viele Menschen, ein paar ältere Damen mit kleinen Hündchen und zwei oder drei Elternpaare mit Kindern. Murdoc hatte nie mit anderen Kindern Kontakt gehabt. Hannibal hatte keine Freunde mit so dermaßen jüngeren Geschwistern, und die Eltern im Park und auf den Spielplätzen zogen ihre Kinder panisch weg, wenn sie sahen mit wem der kleine Murdoc denn da unterwegs war. Der große Bruder, dreckig, in lumpiger Kleidung, und so viele schreckliche Percings. Nein, mit so einem sollten ihre lieben Kinder bloß nicht in Kontakt kommen! Hannibal schüttelte darüber nur verständnislos den Kopf mit den schwarzen Zotteln und kümmerte sich eben selbst um eine Beschäftigung für Murdoc. Er hatte sich einen hübschen, sauberen und leeren Platz auf dem Rasen ausgesucht und setzte den warm in Kleidung eingepackten Murdoc dort ab, der sofort im gleichen Augenblick einige hübsche Blumen entdeckte und eilig dorthin gelangen wollte. Hannibal beobachte Murdoc eine Weile, wie er mit den Blumen spielte, die hübsche hellgelbe Blüten besaßen, manchmal sie abriss, manchmal sie streichelte wie ein junges Kaninchen oder einen Hamster, und einmal musste er sogar dazwischen gehen, damit er nicht eine der Blüten abbiss und hinunterschluckte. Dann wurde ihm diese Tätigkeit langweilig. Er schaute sich im Park ein wenig um. Er entdeckte ein junges Ehepaar mit einen kleinen Kind, vielleicht etwas älter als Murdoc. Das Kind war ein kleines Mädchen, es trug eine rosa Jacke, die viel zu dick war für das Wetter, und blaue Jeans, die unten an einem der Hosenbeine mit einer hübschen Blume bestickt war. Der Vater, der eine modisch-praktische Kurzhaarfrisur besaß, hatte eine große, karierte Decke auf der Wiese ausgebreitet und einen Weidenkorb hingestellt. Hannibal fragte sich, was wohl darin sein mochte. Es war ein sehr großer Korb. Was konnte man denn nur für einen vielleicht zwei- oder dreistündigen Ausflug in den Park alles mitnehmen?! Er jedenfalls hatte bloß eine einzige Flasche gefüllt mit Orangensaft mit, für Murdoc, falls dieser beim Spielen Durst bekommen sollte. Die Mutter hatte die Kleine genau im Blick, die wohl auch schon krabbeln konnte, sich jedoch aus irgendeinem Grund nicht gleich los bewegte. Das verstand Hannibal nicht; wenn er Murdoc auch nur für einen kleinen Moment losließ, machte dieser sich sofort auf und davon zu dem nächsten Etwas, das sein Interesse weckte. Bei diesem Gedanken warf er einen kurzen Blick zu Murdoc hinüber, dem die Blumen mit den hellgelben Blüten wohl bereits langweilig geworden waren und zu welchen mit rosafarbenen übergewechselt war. Er stellte fest, das alles in Ordnung zu sein schien, dann beobachtete er weiter die kleine Familie. Endlich bewegte sich das kleine Mädchen. Nicht schnell, sondern langsam und vorsichtig, fast ängstlich. Sie war kaum bis zum Rand der karierten Decke gekommen, steuerte wahrscheinlich die kleine Löwenzahnblume an, die nicht weit entfernt ganz einsam auf der Wiese wuchs, als die Mutter das kleine Mädchen packte, hochhob und wieder auf die Decke setzte. „Nein, nein“, meinte Hannibal zu verstehen und spitzte die Ohren. „Du sollst da nicht hin, Kathleen, Erde ist dreckig und ungesund. Davon wirst du nur krank!“ Hannibal warf wieder einen Blick zu Murdoc. Der saß noch immer zwischen den vielen bunten Blumen, riss eine unten beim Stängel ab, legte sie dann auf den Boden, um etwas abgerissenes Gras über sie zu streuen und lachte und klatschte in die Hände, als er sein sinnloses Werk betrachtete. Erde ist ungesund, sicher, dachte Hannibal ironisch und schaute wieder zu der kleinen Familie. Das kleine Mädchen, Kathleen hatte die Mutter es genannt, tat ihm sehr leid. Bestimmt durfte sie nie richtig spielen und keinen Spaß haben, weil ihre Eltern alles, was sie anfasste, als zu gefährlich befunden. Dieser Gedanke machte Hannibal sehr traurig, als er Kathleen mit Murdoc verglich, doch er sah keinen Grund, einzugreifen oder mit den Eltern zu sprechen. Dieses Kind war nicht seines, er hatte nicht die Verantwortung. Und selbst wenn er versuchen würde zu helfen: Diese spießigen Eltern würden doch sofort weglaufen, wenn er auf sie zulief! Dieser Gedanke machte Hannibal noch trauriger. Er dachte ein bisschen über diese Familie nach und über sich selbst und Murdoc, als etwas an seinem rechten Hosenbein spürte. Murdoc war zu ihm hin und bot ihm zwei Blumen an, die er gepflügt –oder, wenn er an Murdoc dachte, wohl eher ausgerupft- hatte. Hannibal lächelte und nahm beide an, schnupperte einmal an ihnen und versicherte Murdoc dann, dass dies die schönsten und am besten duftenden Blumen seien, die er jemals in der Hand gehalten hätte, und streichelte Murdoc über den dunklen Haarschopf. Die Eltern von Kathleen spielten nicht mit ihr. Sie redeten nur Worte mit ihr, die sie nicht verstand, und lobten sie, wenn sie zufällig etwas tat, was ihnen gefiel, und schimpften mit ihr wegen Dingen, die nicht schlimm waren. Hannibal beobachtete dieses Bild noch einige weitere Zeit aus sicherer Entfernung, während Murdoc neben ihm sitzen blieb und fröhlich vor sich herbrabbelte und ab und an die Aufmerksamkeit seines großen Bruders verlangte bei seinen Spielen. Er nahm jedes Detail auf und versuchte sie sich einzuprägen. Die karierte Decke, der Vater mit den kurzen Haaren, das Kind in der zu dicken Jacke, den großen Weidenkorb und die scheltenden Worte der Mutter. Die Familie saß gleich neben einem großen Baum, dessen Äste hoch lagen, und wüsste man nichts über sie und würde man nur dieses Bild sehen, dann würde man sicherlich denken, dass es sich um eine glückliche, perfekte Familie handelte wie es sie in dieser Gegend nur selten gab. Was tat solch eine Bilderbuch-Familie nur in diesem heruntergekommenen, verwahrlosten Stadtteil? Hinter dem dicken Stamm des Baumes stand halb versteckt ein Kinderwagen aus dunkelblauem Stoff. Hannibal stockte der Atem. Ein blauer Kinderwagen mit ausklappbarem Sonnenschutz und einem Netz unten für Kleinigkeiten. Er dachte an die Flasche Orangensaft, die er in seiner Jackentasche mit sich herumtrug, dachte an Murdoc, der inzwischen längst wieder weiter weg mit einem kleinen Bäumchen beschäftigt war, und er dachte an Kathleen und ihre Eltern. Es würde doch niemandem schaden, wenn er dieses blöden Kinderwagen stahl. Oder? Hannibal schaute sich um. Es war etwas kühler geworden, seit sie hier hingekommen waren und er sah weit und breit keinen Menschen. Oder, doch: Weit hinten im Park, von seinem Standpunkt aus kaum mehr als ein paar bunte Flecken zu erkennen, ein altes Ehepaar, das spazieren ging. Aber das würde sicherlich nicht stören. So schnell rennen oder gar eingreifen würden die beiden Alten doch gar nicht können. Also gab es jetzt tatsächlich nur ihn und die kleine Familie. Keinen Ehemann mit Pistole, keine Nachbarn, keine Türe, die er einschlagen müsste. Hannibal schluckte. Ein Problem gab es trotz all der günstigen Umstände dennoch: Diese beiden erwachsenen Menschen. Sie waren größer als Hannibal, der Mann sicherlich auch stärker. Er musste hier mit viel Taktik vorgehen und unüberlegtes Handeln vermeiden, das war eindeutig! Am Besten er lockte die Eltern irgendwie weg. Aber, halt nein. Selbst wenn etwas Ungewöhnliches geschah, würde bestimmt nicht sofort die gesamte Familie nach der Ursache sehen, und noch weniger würde die Familie dann all ihre Habseligkeiten inklusive dieses teuren Kinderwagens einfach zurücklassen. Wahrscheinlich würde der Mann vorgehen, und seine Frau auf das Kind und die Sachen achten lassen. Das reichte auch schon; der Mann war die größte Gefahr, mit der Frau, die sowieso sehr ängstlich und übervorsichtig zu sein schien, würde er leicht fertig werden. Das war ein guter Plan. Jetzt brauchte er nur noch etwas, das den Mann fortlockte. Vielleicht irgendein Geräusch? Nein, in einem Park gab es viele Geräusche. Die Familie würde sicherlich glauben, es stamme von einem Vogel oder einem Fuchs und es dabei belassen. Und es musste absolut sicher sein, sonst war seine einzige Chance für immer vertan, das wusste Hannibal. Er dachte scharf nach. Was würde den perfekten Vater einer kleinen, spießigen Familie in jedem Fall dazu veranlassen, nachzusehen, was geschehen war? Hannibal versuchte sich in die Situation hineinzuversetzen. Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie er mit seiner lieblichen Ehefrau und seiner kleinen Tochter fröhlich im Park picknickte. Er war stolz auf seine Familie, und auch auf seinen Job und sein Ansehen. Er war ein guter Mensch, besser als all die Sozialschmarotzer, die sich hier auf Kosten des Staates ein schönes Leben machten und sich nicht um ihre Nachbarn und ihre Familie scherten! Hannibal öffnete die Augen wieder. Er hatte eine Idee. Eine idiotensichere Idee, die jedoch viel Rücksichtslosigkeit und Egoismus forderte. Hannibal war bereit, dieses Opfer zu bringen. Das alte Ehepaar von vorhin war näher gekommen. Die Frau hatte ihr graues Haar zu einer prachtvollen Frisur hochgesteckt, die ihr faltiges Gesicht seltsam klein und schmal erscheinen ließ, sie war sehr dünn und schmächtig und das enge Kostüm, das sie trug, betonte ihre Schmächtigkeit noch. Als sie näher kam, sah Hannibal, das ihr Gesicht stark geschminkt war, ihr roter Lippenstift stach ihm sofort in die Augen. Wie viele alte Frauen schien sie dazu bereit zu sein, eine Menge Geld zu investieren, um jünger auszusehen als sie in Wirklichkeit war, anstatt ihr Alter ganz einfach zu akzeptieren und sich nicht so fürchterlich lächerlich zu machen. Nun gut, wenigstens hatte sie keinen dieser kleinen Hündchen bei sich. Hannibal hasste diese Köter. Die kläfften immer ganz schrecklich und zogen wie wild an der Leine, wenn man ihrem Frauchen zu nahe kam, das nervte ihn. Aber diese Hündchen hatten eher die alten Frauen, die allein spazieren gingen. Wahrscheinlich, dachte Hannibal, sind deren Männer gestorben und deshalb suchen sie sich etwas anderes, das ihnen Gesellschaft leistet. Der Ehemann der Frau wirkte wie ein Sargverkäufer. Er schien den Mut zur Farbe nicht mit seiner Frau zu teilen, sondern war in einen einfachen, grauen Anzug gekleidet und hatte sein spärliches Haar genau in der Mitte gescheitelt. Er lächelte nicht, er wirkte, als könne ihn nur die Aussicht, bald wieder zu Hause zu sein und seine Zeitung in Ruhe zu Ende lesen zu dürfen, trösten. Bestimmt bedankt der sich noch, wenn er sieht, was ich mit seiner Frau mache, dachte Hannibal wieder und dieser Gedanke lockte ihm trotz dessen grausigen Boshaftigkeit und Taktlosigkeit ein Grinsen auf die Lippen. Das Ehepaar lief auf einem schmalen, kiesbestreuten Nebenweg des Parks entlang, der direkt an der Wiese, auf der sich Hannibal und die kleine Familie befanden, vorbeiführte und nur durch einiges wildes Gesträuch und Gestrüpp von diesem getrennt war. Absolut perfekt! Hannibal schaute noch einmal sicherheitshalber kurz nach Murdoc, der spielmüde geworden war und ruhig auf dem Rasen lag, als wäre er eingeschlafen, dann kehrte er diesem den Rücken zu und machte sich auf, in einem augenscheinlich unnötig großen Bogen möglichst unauffällig auf den Weg zu gelangen. Die Frau und ihr Mann gingen nun einige Meter vor ihm, ganz furchtbar langsam war ihr Tempo, wie bei allen alten Leuten, als sähen sie am Ende ihres Lebens keinen Sinn mehr darin, sich zu beeilen, und hatten Hannibal nicht bemerkt. Sie erreichten nun das hohe Gebüsch, das den Weg von der Wiese und der kleinen Familie trennte. Es war mannshoch, und der Vater würde nichts sehen, nur die Geräuschkulisse würde zu ihm hinüberwehen. Jetzt musste Hannibal handeln, sehr schnell, und alles richtig machen, genauso wie sein Plan es vorsah. Der kleinste Fehler könnte für sein Unternehmen fatale Folgen haben! Hannibal überwand rennend die letzten paar Meter, die ihn von der alten Frau trennten, und ohne weiter darüber nachzudenken, warf er sich, mit all dem Schwung, den er angesammelt hatte und seinem ganzen Köpergewicht gegen den zierlichen Leib der alten Dame, die sofort, ohne zu schreien und ohne sonst irgendeine Abwehrreaktion zu zeigen, nach vorne hinfiel und längs auf dem steinigen Boden landete. Sie bewegte sich nicht, versuchte nicht einmal, sich wieder aufzurappeln, sie atmete nicht schwer, sie tat überhaupt gar nichts; ihr Mann stand geschockt neben ihr, sein Mund war weit aufgerissen, doch auch er sagte nichts. Es war, als wäre ein alter Stummfilm abgespielt worden, mit einem hässlichen Inhalt. Doch all dies nahm Hannibal nur am Rande wahr, er hatte kein Zeit dazu, nachzudenken oder zu bereuen oder sich überhaupt irgendein Urteil zu bilden; er ging nahtlos und schnell wie eine Raubkatze in den nächsten Teil seines Plans über. Erst, als er hinter einem dichten Busch in der Nähe der Familie seine Position bezogen hatte, fiel ihm der Fehler auf. Es hatte niemand geschrieen. Weder die alte Frau noch ihr geschockter Ehemann. Der Vater konnte gar nichts mitbekommen haben! Hannibal sah nervös zu der kleinen Familie hinüber, die noch immer sorglos und unbekümmert auf ihrer karierten Decke saß, während nur wenige Meter von ihnen entfernt, auf der anderen Seite der wilden Hecke, eine alte Frau bewusstlos, vielleicht leblos, auf dem Boden lag. Der Vater mit der Kurzhaarfrisur hob seine kleine Tochter auf den Arm und strich ihr vorsichtig über den Kopf, als sei sie eine zerbrechliche Puppe, und lächelte glücklich. Die Frau war zum Weidenkorb hinüber gegangen und hatte ihm zwei Brotdosen entnommen, von denen eine geschälte Möhren und die andere Apfelstücke enthielt. Die Dose mit den Möhren hielt sie Kathleen hin, die zögerlich eine herausnahm und an ihr zu knabbern beginn. Sein Plan war völlig gescheitert, schon im ersten Schritt! Hannibal musste die Tränen zurückhalten. Er zog laut die Nase hoch, ob er damit seine geheime Position verriet oder nicht, das war jetzt ja auch nicht mehr wichtig, und ein Gefühl der Verzweiflung und Hilflosigkeit, das ihn wie eine große Welle überschwappte, schien ihn fast fortzureißen. Alles war umsonst gewesen! Genau in dem Augenblick, in dem er beschloss, seinen Plan aufzugeben und hinter dem Strauch hervorzukommen, hörte er wildes Geschrei von der anderen Seite der Hecke. „Hilfe!“ Das war der Ehemann! Hannibal fiel eine Wagenladung Steine vom Herzen. Vielleicht würde ja alles doch noch gut werden? Und er bekäme diesen wundervollen, teuren Kinderwagen! „Hilfe! Meine Frau! So hilf doch jemand! Bitte! Sie ist überfallen worden, bitte! Hilfe!“ Der war wohl doch nicht so froh über das Schicksal seiner Frau. Hannibal beobachtete, wie der Vater von Kathleen seiner eigenen Frau noch kurz etwas ins Ohr flüsterte, und sich dann sofort auf den Weg machte, um zu helfen und seine Ehre als Bürger dieser Stadt zu beweisen. Was für ein Idiot, dachte Hannibal. Er konnte hören, wie die beiden Männer kurz über irgendetwas diskutierten, doch sie taten es leise, sodass Hannibal die Worte nicht verstehen konnte. Dann warf er einen Blick zur Frau. Sie war aufgeregt und hatte ihre Tochter fest in eine Umarmung geklammert, gegen die sich das kleine Mädchen nicht wehrte, obwohl ihm der Griff gar nicht zu gefallen schien. Hinter den beiden, hinter dem dicken Baumstamm, sah er den dunkelblauen Kinderwagen. Hannibal wartete noch einen kurzen Augenblick, maß die Entfernung von ihm bis zum Kinderwagen ab. Dann sprintete er los. Die Mutter mit ihrer Tochter tat nichts. Er hatte den Überraschungsmoment auf seiner Seite; sie war überhaupt nicht in der Lage, irgendeine Reaktion zu zeigen. Ihr hübsches Gesicht wirkte nicht einmal geschockt, höchstens ein wenig verwirrt. Als hätte sie im Lexikon nachgeschlagen und herausgefunden, dass ein Wort ihr Leben lang eine völlig andere Bedeutung hatte, als sie es gedacht hatte. Das war der einzige Vergleich, der Hannibal in der Schnell einfiel. Er griff nach dem handlichen Lenker des dunkelblauen Kinderwagens, und rannte in Richtung einer kleinen Anhäufung von Kastanien, nicht um sich dort zu verstecken, sondern um von dort aus eine andere Richtung einzuschlagen. So konnte die Mutter von Katleen nicht mehr erkennen, wohin er gegangen war, und es würde ihr nichts bringen, ihrem Mann zu zeigen, in welche Richtung er verschwunden war. Hannibal lief noch eine Weile weiter, bis er wirklich ganz sicher war, dass ihm niemand gefolgt war. Er war außer Atmen, und er kam sich vor wie einer der Diebe in den Krimis, die sein Vater samstagabends gerne anschaute. Aber es war kein schlechtes Gefühl. Ganz im Gegenteil, Hannibal fühlte sich stark. Er hatte es tatsächlich geschafft! Er hatte sich diesen Plan ausgedacht und es hatte geklappt! Er hätte einen Freudentanz aufführen können, so viel Glück pumpte sein Herz gerade in jede kleine Zelle seines Körpers! Das Umwerfen der alten Dame, der Diebstahl des Kinderwagens, das lange Laufen eben hatten ihm viel Atem gefordert, und Hannibal suchte sich einen versteckten, kleinen Platz zwischen zwei dicken Bäumen und setzte sich zwei Minuten hin, um neue Kraft zu sammeln, ehe er wieder zu der großen Wiese zurückkehren und Murdoc abholen würde. Er rechnete damit, dass die Familie den Park schnell wieder verlassen hatte. Nach zwei solchen Ereignissen innerhalb nur weniger Minuten sehnten sie sich sicherlich nach ihrem trauten Heim mit der abgeschlossenen Haustüre. Jedenfalls hoffte Hannibal das. Als er schließlich endlich den Rand der Wiese entdeckte –den Kinderwagen hatte er zuvor sehr gut hinter dichtes Gebüsch versteckt- sah er, dass er Recht behalten hatte. Von der kleinen Familie war keine Spur, nicht einmal etwas Abfall oder Reste von irgendwelchen Verpackungen hatten sie hinterlassen. Murdoc hatte sich, wie es schien, schnell wieder aufgesetzt und saß längst unbekümmert und allein in der Nähe eines kleinen Rosenbusches. Gerade noch rechtzeitig konnte Hannibal ihn dort wegziehen, ehe sich der Kleine die winzigen Hände an den Dornen aufschlitzte. Murdoc verstand nicht, wieso er nicht mit diesen hübschen Blumen spielen durfte, wo er doch sonst alles andere, jede Blume, jeden Baum, jeden Strauch, in diesem Park hatte anfassen dürfen. Er zappelte wild in Hannibals Griff und quengelte. Hannibal ließ sich nicht davon beeindrucken, packte Murdoc einfach noch ein wenig fester, war froh, dass diese Zeiten bald vorbei sein würden, und ging hinüber zu dem Gebüsch, hinter dem sicher und unbemerkt der dunkle Kinderwagen stand. Er legte Murdoc auf die freie Fläche, und die Decke, die sich im Kinderwagen befand und die Hannibal als sauber befand, über ihn. Murdoc wehrte sich heftig gegen diese Behandlung, trat in alle Richtungen, (was ihm rein gar nichts brachte, wie Hannibal grinsend feststellte) und erst als er einige Minuten durch die Gegend geschoben worden war, wurde er endlich ruhig und schlief ein. Hannibal beschloss, mit seinem neuen Besitz direkt nach Hause zu fahren. Es konnte nichts Gutes dabei herauskommen, wenn er mit einem gestohlenen Kinderwagen an dem Ort des Verbrechens blieb. Das klang gut. „Ort des Verbrechens“. Hannibal hatte diese Wendung aus einem der Samstagabend-Krimis seines Vaters, und ihm gefiel sie. Er fühlte sich wie der größte Meisterdieb des ganzen Landes, und er pfiff den gesamten Weg bis nach Hause „What Will We Do With A Drunken Sailor“. Zum Glück führte keine kleine Treppe zum Eingang des Hauses hoch, in dem er wohnte, sondern lag ebenerdig. Im Hausflur jedoch kam das erste Hindernis auf ihn zu: Sollte er den Kinderwagen mit nach oben in ihre Wohnung nehmen, oder ihn hier im Flur stehen lassen? Hannibal wusste, dass es anstrengend werden würde, diesen Kinderwagen mitsamt Murdoc allein in den zweiten Stock zu tragen. Auf der anderen Seite wohnten in diesem Haus sicherlich auch genug Familien, die diesen schicken Kinderwagen ebenso brauchen könnten wie er. Und in dieser Hinsicht ebenso skrupellos waren wie er. Hannibal versuchte sich daran zu erinnern, ob in diesem Haus viele Familien mit kleinen Kindern wohnten. Er kannte nur die wenigsten seiner Nachbarn; man mied den Blickkontakt, wenn man sich im Flur begegnete, und grüßte sich nicht. Viele zogen nach wenigen Monaten oder Wochen auch schon wieder aus. Das Haus, in dem er wohnte, war größer als die meisten anderen Häuser in dieser Gegend, doch Hannibal würde es trotzdem nicht als Hochhaus bezeichnen. Es gab ja nicht einmal einen Aufzug. Es lagen immer drei Wohnungen in einem Stockwerk. Alle waren klein, meist bestanden sie nur aus zwei oder höchstens drei Zimmern. Eine Wohnung lag direkt gegenüber der Treppe, die man hochkam, und dann gab es jeweils noch eine links und eine rechts. Nur in den höheren Stockwerken, wo die Apartments und Ein-Zimmer-Wohnungen lagen, gab es vier oder ganz oben sogar manchmal fünf Haustüren auf ein Stockwerk gelegt. Die Türe, die zu Hannibals Wohnung führte, lag im zweiten Stockwerk links. Er wusste, dass in eine der anderen beiden Wohnungen eine Mutter allein mit ihrer Tochter wohnte. Es war ein recht hübsches Mädchen, mit langen blonden Haaren, ein oder zwei Jahre jünger als Hannibal, und Hannibal sah ihr gerne hinterher, wenn er ihr im Hausflur begegnete. In der Wohnung, die noch übrig blieb, lebte ein alter Mann, der sich zu wenig wusch und immer fettiges Haar hatte. Hannibal sah ihm im Flur immer nur mit Einkaufstüten oder Bierkästen beladen, und er nahm an, dass er allein lebte. Dann wusste er noch, dass im Stock über ihm eine Familie mit zwei Kindern wohnten, beide im Grundschulalter, und im Erdgeschoss lebte ein Ehepaar mittleren Alters, das er ständig sich streiten und anschreien bis in seine zweite Etage hörte. Über die anderen Bewohner des Hauses wusste er nicht viel. Er sah sie manchmal, wenn sie die Treppe hinunter oder hinaufkamen, aber mehr hatte er mit keinem von ihnen zu tun. Ein Baby oder Kleinkind hatte er in ihrem Haus noch nie gesehen. Abgesehen natürlich von Murdoc. Hannibal beschloss, dass es ungefährlich sein würde, den Kinderwagen im Hausflur stehen zu lassen. Er stellte den Wagen in eine Ecke des übersichtlichen Hausflures und achtete darauf, dass er weder die Treppe noch die Briefkästen versperrte. Einen Keller gab es in diesem Haus nicht. Gerade, als er Murdoc sanft, um ihn nicht zu wecken, aus dem Wagen heben wollte, bemerkte er, dass das Netz unter dem Kinderwagen mit einigen Gegenständen gefüllt war. Er hatte bisher nicht darauf geachtet, war zu sehr mit seinen Problemen und dem Diebstahl beschäftigt gewesen. Hannibal ließ Murdoc noch ein paar Minuten friedlich schlummern und bückte sich stattdessen, um den Inhalt des Netzes zu untersuchen und nachzusehen, ob sich darin nicht etwas finden ließ, was er gebrauchen könnte. Er fand eine Packung Windeln, jedoch eine Nummer zu groß für Murdoc, doch die würde er sich trotzdem auf jeden Fall aufheben, bis er sie gebrauchen konnte. Murdoc wuchs ja schließlich so unglaublich schnell. Dann fand er noch zwei Flaschen mit Mundstück zum Saugen, gefüllt mit einer durchsichtigen Flüssigkeit, wahrscheinlich Wasser; einen Teddybär aus angenehm weichen Stoff und eine Puppe; Wechselkleidung, jedoch natürlich für Mädchen; ein buntes Halstuch und eine zweite Decke. Hannibal steckte alles ein, was er zu fassen bekam. Er nahm Murdoc nun tatsächlich aus seinem Kinderwagen, hatte für ihn jedoch nur eine Hand frei, weil er mit der anderen schließlich das ganze Packen Sachen tragen musste, und machte sich langsam auf den Weg in seine Wohnung. Auf der Treppe vom ersten in den zweiten Stock fiel ihm eine der beiden Flaschen aus der Hand, die zum Glück aus Plastik waren, und er musste noch einmal zurücklaufen, als er endlich oben war, um sie zu holen. Sein Vater war nicht zu Hause. Hannibal wusste nicht, wo er war. Sie schrieben sich gegenseitig nie Zettel oder hinterließen eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter; wenn der andere nicht zu Hause war, war er eben nicht zu Hause. Dann kam er heute Abend wieder. Wenn er heute Abend nicht wiederkam, dann eben morgen. Und wenn er morgen nicht wiederkam, dann eben irgendwann. Oder nie. War ja auch egal. Hannibal beeilte sich, Murdoc, der nicht aufgewacht war, schnell auf das Bett zu legen. Danach konnte er endlich die Beute aus dem Kinderwagen ebenfalls ablegen. Hannibal räumte alles an seinen Platz, die Packung Windeln zu den anderen Windeln, die er bereits gekauft hatte, und die Puppe und den Teddybären zu der grün und blau bemalten Rassel, und so weiter. Er schüttete die beiden Plastikflaschen aus und spülte sie. Als alles erledigt und an seinem Platz war, ging Hannibal hinüber in das Wohnzimmer. Es stank und war unaufgeräumt. Auf dem Boden lagen ausgedrückte Kippen und Müll. Die Couch, auf der sein Vater den größten Teil seines Lebens zubrachte, war übersät mit Flecken. Der Fernseher staubig. Hannibal öffnete alle Fenster weit, räumte den Abfall weg und fegte den ganzen Raum gründlich durch. Er wischte die Fenster und den Tisch. Dann wandte er sich der kleinen Kochnische zu und putzte den Herd und die Spüle und den Kühlschrank. Nur die oberen beiden Fächer, die mit Bier und Wodka und Wein gefüllt waren, ließ er aus. Er räumte alle Schränke aus, putzte sie innen und räumte den Inhalt dann wieder fein säuberlich ein. Im kleinen Badezimmer, in dem man sich kaum drehen konnte, schrubbte er Waschbecken, Dusche und Toilette. Und wo er gerade dabei war, noch den Spiegel, der so fleckig und dreckig war, dass man kaum sein Spiegelbild darin erkennen konnte. Ohje, tut mir leid, dass ich letzten Dienstag einfach übersprungen habe; aber jetzt ist mein Kapitel-Vorrat erst einmal aufgebraucht und ich muss schnell neue schreiben. ;) Also, erfreut euch hieran! xD bye sb Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)