Die Chroniken von Khad-Arza - Das Blut der sterbenden Welten von Linchan (Erstes Buch) ================================================================================ Kapitel 4: Der Sohn des Jägers ------------------------------ In Kamien regnete es selten. Und wenn es regnete, machte die so eingetrocknete, schlechte Erde das Land auch nicht fruchtbarer. In der Regenzeit war die ganze Region überschwemmt, weil der Boden nicht fähig war, die Massen an Wasser aufzunehmen, die plötzlich mit grollendem Zorn vom Himmel fielen. „Ihr wolltet doch immer Regen, den ganzen Sommer über?“, spottete Vater Himmel dann, „Da habt ihr ihn, ihr Armseligen!“ Aber der Regen machte die Felder nicht besser... es gab nie fruchtbaren Boden in Kamien. Zoras Derran war davon überzeugt, dass die Menschen daran Schuld waren – Mutter Erde hatte dieses Gebiet sicher nicht grundlos zum schlechtesten, lebensfeindlichsten in ganz Senjo gemacht. Kein Mensch, der einigermaßen Verstand und Chancen auf einen guten Beruf hatte, war dumm genug, in Kamien zu bleiben. Und die, die blieben, waren der Abschaum vom Abschaum, Menschen, die keine andere Wahl hatten. Unruhestifter, Gauner, Lustmolche... von Tunichtguten gab es in Kamien mehr als genug. Manche, die blieben, waren auch einfach nur dämlich und beharrten auf einer Eingebung der Himmelsgeister... einer davon war sein Vater. Zoras zischte und umklammerte seine beiden Dolche, die er in den Händen hielt, während er den schwülen Wind des Sommers in seinem Rücken spürte. Dieser Sommer dauerte ewig... die Regenzeit würde aber kommen und wieder alles überfluten. Der Wind kam aus dem Osten... er brachte schlechte Zeichen, der junge Mann wusste das, während er nach Westen starrte in die langsam verblassende Dunkelheit der vergangenen Nacht. Aus dem Osten kam ein gewaltiger Schatten, hatten die Geister gesagt. Zoras hoffte und betete zu den Geistern, dass dieser Schatten Kamien einfach überrollen und alle Nichtsnutze und Mistkerle ermorden würde, die hier lebten... und wenn das ihn selbst einschloss, er hätte wenigstens einmal etwas richtig Nützliches getan, wenn er die Geister der Schatten auf sein Heimatdorf hetzte und es dem Erdboden gleich machte. Heimatdorf... Holia war nicht seine Heimat. Das war es nie gewesen, er war hier weder geboren noch hatte er vor, hier wirklich zu sterben. Nicht am von allen Geistern verlassensten Ort auf ganz Tharr. Es war ein dummer Zufall gewesen, der ihn und seine Eltern vor etwa acht Jahren hierher gebracht hatte... es war ein Tag gewesen, der ihr Leben für immer verändert hatte. Und das nicht zum Positiven. „Wenn die Zeit gekommen ist.“, knurrte der Mann und pustete sich die ihm wirr ins Gesicht hängenden schwarzen Haarsträhnen aus dem Blickfeld, „Dann werdet ihr alles büßen... was ihr getan habt, ihr dreckigen... unwürdigen Insekten. Eines Tages werdet ihr jene Nacht bereuen, in der ihr uns hier aufgenommen habt, weil ich... euch zerquetschen werde. Einen nach dem anderen... bis keiner von euch Scheusalen mehr übrig ist.“ Er freute sich darauf, seine Drohung wahr zu machen... eines der wenigen Dinge – vielleicht das einzige – auf die er sich tatsächlich freute. Er wandte der Finsternis den Rücken zu und ging die kleine Anhöhe hinunter, um zurück ins Dorf zu kehren. Er ließ seine Mutter ungern da unten alleine bei den Rüpeln... aber in der Nacht war sein Vater daheim gewesen, also war sie ja nicht alleine. Und ab und zu brauchte er Abstand von diesem stinkenden Ort voller Scheusale. Er verabscheute das Dorf eigentlich mehr als alles andere auf der Welt... dieses Dorf und seine Bewohner, die seine Mutter schändeten, wann es ihnen passte, was vollkommen normal zu sein schien. Dieses Dorf voller Barbaren, die wie Schweine lebten und von morgens bis abends an nichts anderes zu denken schienen als daran, ihre lüsternen Triebe zu befriedigen. Dabei war es egal, wem die Frau gehörte, die sie dafür auserkoren hatten. Allein die Gedanken daran ließen in dem Schwarzhaarigen den Zorn empor steigen... er wäre längst hier weg, wenn es seine Mutter nicht gäbe. Er traf auf ihren Gatten, als er Holia betrat. Zoras nannte Ram Derran ungern seinen Vater. Zweifelsohne war er sein Erzeuger, der Sohn war dem älteren Mann wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber ein Vater war er ihm, soweit er sich erinnerte, niemals gewesen. Und das war nicht der Hauptgrund, wieso Zoras ihn fast genauso verabscheute wie das Dorf. „Wo hast du dich herum getrieben?“, begrüßte Ram Derran seinen Sohn grimmig, als beide Männer sich am mickrigen Eingang des Dorfes im Westen trafen. Der Vater trug seine Jagdwaffen, offenbar wollte er zur Arbeit gehen. „Ich habe dich gesucht, du unnützes Gör.“ „Sag an. Plötzlich so etwas wie väterliche Beschützerinstinkte? Nachdem ich bald siebzehn Jahre lebe? Etwas spät dran, ich bin erwachsen und brauche deine Sorge jetzt noch weniger als ich sie jemals gebraucht habe. Hast du Mutter alleine gelassen? Mal wieder?“ Zoras schob seine beiden Dolche in seinen Gürtel und musterte seinen Vater argwöhnisch. Ram Derran brummte. „Ich frage auch nicht aus Sorge um dich, sei dir dessen bewusst. Nein, aber vorhin kam Loron und hat nach dir gefragt. Ich musste ihn also vertrösten, da du ja einfach verschwunden bist, und du weißt, wie der Sohn des Dorfoberhauptes reagiert, wenn er nicht das bekommt, was er will. Du solltest ihn besser suchen gehen... ich denke, ihr seid Freunde.“ Er zeigte ein sarkastisches Lächeln, ehe er sich an Zoras vorbei drängelte, um aus dem Dorf zu gehen. Der Sohn fuhr schnaufend herum. „Freunde?! Dieser Frauenschänder ist nicht mein Freund, der einzige Grund, wieso ich mich mit ihm abgebe, ist, ihn bei Laune zu halten, damit er Mutter nicht wehtut! Eine Aufgabe, die dir als ihrem Gemahl eigentlich mehr zustünde als mir... Vater! Aber ist schon in Ordnung, ich verstehe dich. Hier, in Holia, wo es außer uns keinen einzigen Magier gibt, bist du plötzlich ein toller Hecht... hier ist es egal, was für ein Versager du in Wahrheit bist. Dass deine Frau dafür jeden Tag leidet, ist es wert, sehe ich genauso.“ Er sah zu, dass er wegkam, weil sein Vater wutentbrannt herum wirbelte und mit dem Speer nach ihm zu stechen versuchte. „Sei geehrt, dass die Geister uns ein Dach über dem Kopf gewährleisten, dank deines ewigen Meckerns wundert es mich, dass sie uns nicht längst mit einem Blitz gegrillt haben! Du undankbarer Hurensohn, verfluchte Scheiße!“ So hörte Zoras ihn schimpfen, und er ignorierte die Tatsache, dass der Idiot seine eigene Frau gerade eine Hure genannt hatte – sowas geschah in blindem Zorn eben. Obwohl Ram Derran ein Idiot war, ein unglaublich untalentierter Magier und ein Rabenvater, eigentlich liebte er seine Frau. Nicht genug, um sie vor Loron oder den anderen Lüstlingen zu beschützen, aber man sollte ja nicht zu viel auf einmal verlangen... Zoras hatte nicht die geringste Lust, Loron aufzusuchen. Aber er tat besser daran, es dennoch zu tun... was tat er nicht alles für seine Mutter, wo sein Vater schon nicht fähig war, sie selbst vor den anderen Männern zu schützen... und ihn nannte Ram undankbar. Die Welt war definitiv ein beschissener Ort, hatte der Schamane gelernt. Das Haus der Familie Zinca war eine Bruchbude wie jede andere im Dorf, ein Haufen Holz, der gerade eben das Wasser der Regenzeit von oben abhalten konnte. Nichts ließ erkennen, dass hier der selbst ernannte Häuptling von Holia wohnte, Lorons Vater. Wenn es jemanden gab, den Zoras mehr verabscheute als Loron, dann dessen Vater, Arlon. Den größten Widerling von allen, der sich als Häuptling und Witwer die Freiheit nahm, jede Frau des Dorfes nach seinem Belieben auszuleihen, wie es ihm passte. Er fragte sich, ob Arlon daheim war... im Dorf war insgesamt kaum jemand zu sehen an diesem Morgen, was verblüffend war... es waren seltsame Zeiten. An manchen Tagen waren plötzlich Massen an Männern hier gewesen, an anderen – wie jetzt – keiner... Loron jedenfalls war offensichtlich zu Hause, wie der Schamane nach dem Eintreten an den wimmernden Schreien einer Frau und dem grunzenden Stöhnen eines sich paarenden Tieres erkannte. Er schauderte, als er in der offenen Haustür inne hielt, und fragte sich, ob er wieder umkehren sollte – allein die Geräusche verursachten in ihm einen fürchterlichen Brechreiz und das verzweifelte Jammern der armen Tussi, die da gerade ganz offenbar gegen ihren Willen bestiegen wurde, machte ihn rasend vor Wut... er sollte ihn einfach erschlagen, diesen Mistkerl. Zischend riss er sich zusammen, kämpfte gegen die Übelkeit an mit dem Gedanken, dem Bastard notfalls einfach ins Gesicht zu brechen wäre auch nicht weiter schlimm, und stampfte durch das Haus in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Als er das gammlige Fell zur Seite riss, das eine Tür zum Schlaflager ersetzte, fuhren dahinter zwei Menschen zusammen, einer davon war Loron, der sich gerade über seine armselige Schwester hermachte. „Himmel noch mal!“, empörte der Sohn des Häuptlings sich grantig, „Du bist zu spät, ich bin beschäftigt, Kurzhöschen!“ Zoras zischte ihn an, während er seiner Schwester einen mitleidigen Blick schenkte, die jammernd versuchte, ihren Bruder von sich zu stoßen. „Bitte, Zoras, sag ihm, dass er aufhören soll! Bitte!“ Loron schlug sie zur Strafe. „Halt's Maul, Asta, das ist mein Besuch!“ In Zoras' Richtung grinste er fröhlich. „Was denn, mach dir doch ´nen Tee und warte noch kurz, du bist gleich an der Reihe.“ „Ich warte sicherlich nicht auf dich, Loron. Sag jetzt, was du zu sagen hast, oder lass es, dann gehe ich eben. Mein Vater hat mir gesagt, du hättest nach mir geschickt. Meine Geduld kennt Grenzen, Loron.“ Der wenig ältere knurrte wie ein hungriges Tier, ehe er sich durch die Haare fuhr und seine schluchzende Schwester abermals zur Seite schlug, sich dann aus ihr zurückzog und ihr ein modriges Fell überwarf, damit er ihren Anblick nicht länger ertragen musste. Asta wimmerte, als sie sich unter dem Fell zusammen kauerte. In Zoras' Augen war sie wirklich das bemitleidenswerteste Geschöpf in ganz Holia; es gab niemanden, der sie wirklich mochte, sie war ziemlich hässlich und wurde von allen Männern nur als Ersatzmatratze benutzt, wenn alles Bessere gerade besetzt war – das schloss auch ihren eigenen Bruder und Vater ein. Lorons und Astas Mutter war gestorben, als sie dem Mädchen das Leben geschenkt hatte... seitdem hatte Arlon für seine Kinder gesorgt, mehr schlecht als recht. Und sobald Asta zu einer jungen Frau herangereift war, hatte sie nicht nur die Hausarbeit einer solchen erledigen müssen, sondern diente seit jeher auch ihrer Familie – und allen anderen, denen gerade langweilig war – als Vergnügung. Zoras mochte Asta auch nicht sonderlich, aber eigentlich konnte sie nichts für das, was sie war, und alles, was er für das arme Mädchen empfinden konnte, war Mitleid. Er konnte sie nicht beschützen, er hatte es schon mit seiner Mutter schwer genug. „Gut, du Nervensäge!“, brummte Loron ihn da an, der seine Hose suchte und sich so langsam wie möglich anzog, wobei Zoras brummend in eine andere Richtung sah. Es interessierte ihn nicht wirklich, Loron nackt zu sehen... dummerweise wusste der andere, dass ihn der Anblick abstieß, und ließ sich deswegen extra Zeit. „Asta, hör auf zu flennen! Wir sind noch nicht fertig, also wehe, wenn du versuchst, wegzurennen, dann werde ich es viel grausamer machen. Und du weißt ja, wie es ist, wenn ich es grausam mache... du wirst bluten, du hässliche Schlampe.“ Mit einem dreckigen Grinsen tätschelte er dem Fellhaufen die Stelle, wo er den Kopf seiner Schwester vermutete, und sie schlug schreiend nach ihm, ohne ihn zu treffen. Jetzt angezogen stand der Mann auf, zog den Vorhang vor der Schlafnische zu und stellte sich zu seinem vermeintlichen Freund in die Diele. „Ja, ich hab dich gesucht, weil ich dich brauche.“ „Wofür?“ „Wir werden Koraggh niederbrennen. Und das geht leichter, wenn man einen Zauberer hat, der zufällig Blitze werfen kann... wenn du verstehst, was ich meine.“ Zoras starrte ihn verblüfft an. „Ihr... wollt was?!“ „Du hast es schon gehört, Kurzer. Das Land ist zum Kotzen, findest du nicht? Von der Regierung schert sich kein Arsch darum, dass wir hier verhungern und verrecken. Die paar Beamten, die diese Provinz hat, sitzen nur auf ihrem Arsch und freuen sich, weil sie Geld haben, und wir verrecken trotzdem. Deswegen werden wir alle Beamten in Koraggh zermalmen, die ohnehin niemand hier braucht. Vater und die anderen haben aus vielen Dörfern aus der Gegend Freiwillige gesammelt, Männer, die bereit sind, zu kämpfen. Wir haben genug Speere, um dieses Kaff einzunehmen und den Teil niederzubrennen, den die Beamten bewohnen.“ „Wozu braucht ihr dann noch mich? Eure Beamten sind nur Menschen. Die zu töten braucht keine Magie.“ „Aber es wirkt furchteinflößender, wenn du dabei bist. Wir stürzen die verdammte Oberschicht, willst du dir das entgehen lassen?“ Der Größere grinste zufrieden, als Zoras unwirsch eine Braue hob. „Hey... ich habe mir sagen lassen, du tötest gerne... unwürdiges Ungeziefer, war es nicht so? Ich hab da von dem Blutbad mit Fjok gehört, erinnerst du dich? Der Sack, der mit uns in der Schule war? Komm schon, das wird ein Spaß.“ Der Schwarzhaarige hob eine zweite Braue. „Verstehe mich nicht falsch – ich hänge nicht an den hirnlosen Politikern hier, die dürfen gerne sterben. Was mich ankotzt ist, dass ich euch damit einen Gefallen täte. Nenne mir einen Grund, wieso ich das für euch tun sollte... nur, damit ihr imposanter wirkt?“ Loron hörte zu grinsen auf und schwieg einen Moment – denken war nie seine Stärke gewesen, fiel dem Kleineren dabei auf, und er zischte, ehe er einen Schritt zurücktrat. „Gut, wie du willst. Ihr schafft das auch ohne mich, ich habe besseres zu tun.“ „Warte.“, hielt der Häuptlingssohn ihn auf, „Was willst du haben? Du bekommst auch was von der Beute. Geld und so. Und ich besorge dir ein anständiges Mädchen. Ich meine, ein gutes Mädchen, das was drauf hat. Du bist wie so eine frustrierte Hausfrau, ich glaube, du musst einfach mal jemanden richtig durchnehmen, dann bist du auch nicht so grimmig, Alter.“ Er lachte dumm und Zoras brummte. „Danke, kein Bedarf. Nicht jeder regelt seine Probleme auf deine Weise, Loron. Ich interessiere mich nicht für irgendwelche Huren.“ Er drehte sich ab, um das Haus mürrisch zu verlassen – dafür hatte er nun seine Zeit verschwendet... wurde Zeit, dass er zu seiner Mutter zurückkehrte. Loron hielt ihn auf, indem er einen Satz machte und ihn packte, ihn unsanft gegen die Wand neben der Haustür rammte, sodass der Kleinere japste, und sich dann über sein Gesicht beugte, dabei höhnisch grinsend. „Was mich zu der Frage bringt... interessierst du dich denn... überhaupt für Mädchen? Ich meine, du hast noch nie eine genommen, noch kein einziges Mal... das erscheint mir wirklich komisch.“ „Lass mich los!“, fuhr der Schwarzhaarige ihn grimmig an und riss seinen Arm aus Lorons Griff, darauf griff der größere ihm unsanft in die Haare und hielt ihn abermals im Zaum. „Ich warne dich, Loron. Lass mich los, auf der Stelle!“ „Du bist so armselig, du hattest noch nie ein Mädchen... du wirst doch nicht letzten Endes auf Kerle stehen? Das wäre ja die Sensation...“ „Ich bin nicht schwul, deswegen sage ich, du sollst mich loslassen!“ „Vielleicht kannst du ja gar nicht...“, feixte der Braunhaarige weiter und sah überdeutlich auf Zoras' Hose, „Kriegst du überhaupt einen hoch?“ Der Magier zischte, ehe er seinen unfreiwilligen Kameraden von sich stieß und sich empört die Arme rieb, die jetzt durch die festen Griffe schmerzten. Ganz zu schweigen von seiner brennenden Kopfhaut. „Du irrst dich.“, war alles, was er grantig dazu sagte, „Falls es dich beruhigt und deine Gerüchte vernichtet, ich habe schon mal bei einer Frau gelegen. Im Gegensatz zu dir rede ich nur nicht darüber. Und du tätest besser daran, deine Zunge zu hüten, denn eines Tages schneide ich sie dir raus und lache dich aus... was sagst du dann, Prinz von Holia?“ Koraggh war nicht weit von Holia. Zoras sah die Rauchschwaden im Himmel, als er am Abend wieder auf der Anhöhe hockte und diesmal nach Süden sah. Die Sonne ging unter und warf seinen Schatten in bizarrer Form auf das trockene Gras, auf dem er hockte. Auf dem kleinen Hügel stand ein vertrockneter Baum, der schon seit Jahren keine Blätter mehr trug; er war verwahrlost und verreckt wie alles in Kamien. Passend zum toten Baum setzte sich eine Krähe auf einen der Äste, als der junge Mann seinen Kopf nach oben drehte. Seufzend ließ er sich rückwärts ins Gras fallen und verschränkte die Arme im Nacken, hinauf zu dem Ast und der Krähe starrend. „Ich bin noch nicht tot.“, sagte er grimmig, „Ihr Aasgeier braucht noch nicht herzukommen. Es sind schlechte Zeiten... schlechter als sonst. Die Schatten kommen... nicht wahr? Kommst du aus dem Osten, Vogel? Werden wir alle verschlungen vom Zorn der Geister?“ Der Vogel drehte seinen Kopf in seine Richtung und der Schamane war mehr oder minder verblüfft, als er die Geister des Tieres tatsächlich zu ihm sprechen hörte. „Du trägst das Schicksal in dir, etwas weit... Größeres zu sein als das, was du bist, Zoras Derran. Und die Schatten, die kommen, werden... dir zu Füßen liegen, wenn du dich rechtzeitig auf den Weg machst.“ Der Mann hustete und setzte sich sofort wieder auf. „Wie bitte?“, fragte er heiser und starrte den Vogel an, der ihn aus pechschwarzen Augen ebenfalls anstarrte, ohne seine Worte zu wiederholen. „Wieso sprichst du mit mir, Vogelgeist?“ „Weil du ein Schamane bist. Ein Mensch des Geistes... du besitzt die drei großen Gaben. Du kannst hören, ohne deine Ohren zu benutzen, und sehen ohne Augen. Und du kannst... die Macht der Geister rufen. Dein Schicksal ist größer, als du denkst.“ Zoras brummte. „Na, hoffentlich größer als mein Körper.“ Er sah grimmig an sich herab – er hatte noch nie einen Mann getroffen, der kleiner war als er. Selbst viele Frauen überragten ihn, und es machte ihn wütend, so verdammt klein gewachsen zu sein. Er gab gerne seinem Vater die Schuld, immerhin hatte er ihn gezeugt und es offenbar schlecht gemacht. Aber in Wahrheit wusste Zoras, dass Ram Derran nichts dafür konnte, dass er so klein war. Die Krähe flatterte vom Ast, um sich vor den Mann ins Gras zu setzen und ihn abermals anzusehen. Verblüfft schnappte dieser nach Luft. „Was meinst du mit deinen Worten? Was ist mit dem Schatten?“ „Sie kommen aus dem Osten, aus dem Reich hinter dem Schlangenmeer. Angeführt von einem König, der vielleicht mächtiger ist... als die Geisterjäger aus Kisara. Er ist der Meister der Schattenflamme. Vielleicht kann ihn niemand besiegen. Es sei denn, er kann dem Seelenfänger befehlen... dem Todesgeist, der sie Seelen der Sterbenden einfängt und ins Geisterreich bringt... oder sie zerschmettert, wenn sie dessen nicht würdig sind.“ Zoras senkte den Kopf bei diesen Worten und schauderte. Der Seelenfänger... der Todesgeist, ja. Er kannte ihn... er hatte das Gefühl, ihm schon einige Male begegnet zu sein. In Momenten, in denen er geglaubt hatte, er würde sterben. „Wer bist du, Vogelgeist?“, murmelte er dumpf, „Sprich! Warum sagst du sowas zu mir und nicht zu den Geisterjägern? Wenn sie diesen König nicht besiegen können, kann ich es erst recht nicht, ich bin keiner von ihnen... noch nicht.“ Und ob er jemals dorthin gelangen würde, war fraglich... aber es würde seinem Vater beweisen, dass er nicht nutzlos war. Und Karana würde es zeigen, dass er besser war als der Prinz des Lyra-Clans... besser als einer, der von Geburt an dazu bestimmt war, einmal dieselbe, tödliche Macht zu besitzen, die sein Vater inne hatte. Puran Lyra galt nicht als brutaler Mann, er war vielmehr der Diplomat unter den mächtigsten Magiern Kisaras. Und dennoch konnte er als Herr der Geister, wenn er den Willen aufbrachte, die ganze Welt zerstören, wenn es nötig wäre. Der Vogel breitete seine schwarzen Flügel aus, ehe er davon flatterte – dabei antwortete er: „Wir sprechen mit dir, weil wir Geister der Schattenvögel dir dienen, wenn du es verlangst. Die Geier des Todes... blenden diejenigen, die zu viel sehen. Lauf, Zoras, schnell, bevor das Ende der Welt kommt... und fange dein Schicksal, wenn du kannst.“ Der Magier erhob sich taumelnd, dem Tier hinterher starrend, das so verschwörerisch mit ihm gesprochen hatte. Was sollte das heißen, die Vogelgeister dienten ihm? Das hatten sie bisher zumindest nicht getan... jedenfalls nicht, dass er wüsste. Wieso auf einmal? Und was war das für ein Gefasel vom Ende der Welt und vom Schicksal? Er unterbrach seine unruhigen Gedanken, als er hörte, wie jemand seinen Namen rief. Als er sich umdrehte, sah er seine Mutter den Hügel herauf kommen. Sie hatte ihre schwarzen, langen Haare etwas notdürftig zusammengebunden und musste ihren langen Rock aus Fell etwas hochziehen, während sie den Hügel herauf kraxelte. Als sie ihren Sohn erreichte, verschnaufte sie mit einem erschöpften Lächeln. „Hier bist du... ich habe dich im Dorf nirgends gesehen und dachte mir, dass du hier bist. Du bist kaum daheim heute... was beunruhigt dich, mein Sohn?“ Zoras seufzte kurz und raufte sich die Haare. „Das kriegerische Verhalten der anderen Barbaren. Sie haben Koraggh angezündet, wusstest du das?“ Er zeigte nach Süden und seine Mutter nickte. „Asta hat es mir erzählt... ich habe dem armen Mädchen Tee gemacht. Loron hat sie wohl ziemlich übel rangenommen... das arme Ding verdient das nicht!“ „Du verdienst es auch nicht, Mutter.“, war die Antwort, und Zoras sah sie an und strich ihr auch durch die schwarzen Haare. Sie war eine bildhübsche Frau... es war kein Wunder, dass alle Männer in Holia sie am liebsten unter sich hatten, keine Frau im Dorf war annähernd so schön wie Pakuna Derran. Und sie lächelte... immer noch, nachdem sie schon so viele Jahre lang missbraucht und geschändet worden war... Zoras bewunderte sie für ihre Stärke. Eine Stärke, die er selbst nie besessen hatte... er konnte nicht mehr lächeln. Er erinnerte sich gar nicht mehr daran, wann er zum letzten Mal gelächelt hatte, aus ehrlicher Freude heraus... es musste in einem anderen Leben gewesen sein. „Ist Vater noch auf der Jagd?“ „Ja... aber lieber das als mit den anderen im Kampf, ich hätte Angst um ihn.“ Bedrückt sah sie zu Boden, als sie fortfuhr. „Mit Tieren wird er besser fertig als mit Menschen...“ Ihr Sohn brummte. „Offenbar, der elende Versager.“ „Schimpfe ihn nicht... bitte. Ram kann nichts für das, was... aus ihm geworden ist. Er ist ein liebevoller Mann, es sind die vielen, schweren Schicksalsschläge, die wir einstecken mussten, die ihn immer verbitterter gemacht haben... er macht Fehler, aber er ist kein schlechter Mensch. Es ist dieser elende Ort, der seinen Geist vergiftet, es ist dieses abscheuliche Dorf... ich sehne mich nach dem Tag, an dem wir weg können.“ „Warum gehen wir dann nicht?“ „Weil wir hier eine Bleibe haben... nirgends in Kamien haben wir die sonst. Dein Vater hat... nicht unrecht, wenn er sagt, wir sollten dankbar sein...“ „Wir können das Land verlassen.“, schnaubte Zoras aufgebracht, „Wir könnten nach Kisara gehen! Ihr beide seid doch in Kisara geboren, ihr habt ein recht, dorthin zurückzukehren!“ Pakuna schüttelte furchtsam den hübschen Kopf. „Wie gern ich das würde... zurück in die Heimat. Es ist nicht so einfach, wie du denkst...“ „Nur wegen Vaters falschem Stolz, den er dort verlieren würde? Wen schert das? Er ist kein begabter Magier, na und? Es gibt viele, die es auch nicht sind, auch in Kisara.“ Er sah seiner Mutter ins Gesicht, die offensichtlich versuchte, sich eine Antwort abzuringen – er war verblüfft, dass es darauf noch eine zu geben schien. Was sonst sprach dagegen, das Land Senjo zu verlassen? Pakuna schien nicht gewillt, die Antwort preiszugeben, sie verneigte sich nur förmlich und erzitterte im kühlen Abendwind. „Du besitzt selbst eine große Menge Stolz, Zoras...“, wisperte sie, „Ein Stolz, der dir und deinem Namen gebührt. Ich habe dich nach meinem Großvater benannt... er war ein hervorragender, großer Magier. Eines Tages wirst du verstehen, was für eine Art von Stolz es ist, die deinen Vater daran hindert, uns von hier fort zu bringen. Ich werde ihn damit nicht alleine lassen... er ist mein Gemahl und du bist unser einziges Kind. Was bleibt uns denn noch, wenn wir auseinander gehen...?“ Er hatte darauf keine gescheite Antwort. Koraggh war gefallen – wenn das der richtige Fachausdruck dafür war, dass die Kleinstadt von einer Horde wilder, zorniger Bauern mit Mistgabeln überrannt worden und die letzten, wenigen Beamten, die dort noch gewesen waren, im Feuer gebraten worden waren. Zoras fand, gefallen klang nach etwas Größerem. Ein Reich fiel, ein guter Krieger fiel... aber nicht ein Kaff wie Koraggh, schon gar nicht gegen eine Horde Mistgabeln schwenkender Wahnsinniger, die versuchten, die Schuld an ihrem Hunger irgendwem in die Schuhe zu schieben, dessen Intellekt größer war als ihr eigener – und davon gab es genug auf der Welt. Nur in Kamien jetzt vermutlich so gut wie niemanden mehr. Er war kein Rassist und glaubt nicht, dass das Land Senjo nur strohdumme Lüstlinge hervorbrachte, aber wann immer er Menschen aus seinem Dorf begegnete, wurde ihm vor Augen gehalten, dass seine eigene Familie definitiv anderer Herkunft war als diese Bastarde hier. Sein Vater war zwar auch ein Idiot, aber sein Intelligenzquotient war immer noch um ein vielfaches höher als der von Loron oder den anderen, außerdem war er kein Lustmolch. Von seiner Mutter ganz zu schweigen, die es im Gegensatz zu offenbar jeder hier geborenen Frau nicht einfach hinnehmen wollte, dass jeder, der etwas zwischen den Beinen hatte, sich einbildete, sie reiten zu können wie eine läufige Stute. Zoras selbst war nie in Dokahsan gewesen, der nördlichsten Provinz von Kisara, aus der seine Eltern stammten. Er war in Senjo geboren worden, zu seinem Glück nicht in Holia – aber sein Geburtsort war kaum besser gewesen als dieses Dorf. Er würde die Heimat seiner Eltern gerne einmal besuchen, wenn er könnte... leider war es nicht einfach, von hier weg zu kommen. In der Nacht, als die Sieger aus Koraggh zurückkehrten, gab es ein großes Festmahl. Das ganze Beamtenviertel – die wenigen Häuser, die dazu gezählt hatten – war offenbar geplündert worden, plötzlich gab es Essen im Überfluss und gegorenen Beerensaft, mit dem sich die Menschen betranken, um dann frei von jeder Tugend und jedem Gleichgewichtssinn singend und grölend um das große Feuer zu tanzen, das auf dem Dorfplatz errichtet worden war. So viel zum Intellekt, dachte der Schwarzhaarige sich verbiestert, während er abseits der Feierlichkeiten auf einer zerfallenen Mauer hockte und an einem Knochen nagte, der von dem kleinen Stück Fleisch übrig geblieben war, das er sich ergattert hatte. Er beobachtete die tanzende, betrunkene Meute in der Ferne; die Hitze des großen Feuers blies ihm entgegen und erleuchtete die finstere Nacht, während über ihnen der Himmel grollte. Hier und da fingen die Männer bereits an, sich die Kleidung vom Leib zu reißen und sich über die ebenfalls betrunkenen Frauen herzumachen, die dank ihrer Trunkenheit sogar statt panisch zu schreien lustvoll aufstöhnten, während sie sich in aller Öffentlichkeit wie Tiere begatten ließen. In Holia war das normal. Jeder machte es so, und abgesehen von Zoras schien es auch niemand abstoßend zu finden. Nein, stattdessen stellten sich mehrere Männer dazu und johlten, klatschten und feuerten ihren Kameraden an, schneller zu machen, während sie schon selbst bereit waren, als nächste die arme Frau zu nehmen, die das ausnahmsweise mal offenbar genoss. „Barbaren...“, stöhnte der Schamane und wandte pikiert seinen Blick von den Ferkeleien ab, ehe er den Knochen auf seinen Schoß legte und mit seinem Dolch aufbrach, um an das wertvolle Knochenmark heran zu kommen; das Beste am ganzen Knochen, dessen Wert die Menschen in Holia definitiv zu wenig schätzten. Besser für ihn, so hatte er mehr davon, weil es ihm niemand streitig machte. Er fuhr zusammen, als er eine lallende Stimme hinter sich sprechen hörte, die ihm wohl bekannt und verhasst war. „Du bist unnütz, Zauberer... wie du siehst, haben wir Koraggh auch ohne dich nehmen können. So wie eine willige Frau hat es sich gefügt, könnte man sagen.“ Der Kleinere drehte sich um und blickte in Lorons grinsende Fratze. Sein Gegenüber war genauso besoffen wie alle anderen, auf seinen geröteten Wangen glänzte der Schweiß von der Hitze des Feuers – oder irgendeines vorangegangenen Geschlechtsaktes. „Du solltest... vorsichtig sein, weil wenn wir... dich nicht mehr brauchen, schmeißen wir... euch vielleicht raus... haha...“ Zoras zischte. „Verpiss dich, geh irgendeine Hure nageln, Loron. Ich habe dir doch gesagt, dass ihr mich dafür nicht braucht. Aber du Klugscheißer wolltest ja nicht hören...“ Loron lachte schallend auf und kam einen Schritt näher. Zu nahe, fand der wenig Jüngere grimmig, und er erhob sich hastig, den jetzt ausgelutschten Knochen zur Seite werfend. „Du beleidigst das Dorf, Kurzer... weil du nicht mit uns feierst! Die Geister waren gnädig, uns diesen Sieg zu geben... mehr symbolisch, eigentlich, aber hey, wir haben Essen... und Schätze gab es.“ „Mich wundert, dass du ein so langes Wort wie symbolisch kennst, Loron.“ „Tja, siehst du mal, wie klug ich bin. Klug genug, um dich ein letztes Mal zu warnen... ich meine, komm, alter Freund! Ich meine es nur gut mit dir. Die anderen im Dorf verachten dich schon genug, oder? Willst du nicht mal etwas...“ Er senkte die Stimme verschwörerisch, „Respekt verdienen? Ist es nicht das, was du dir so krankhaft wünschst...?“ Der Schwarzhaarige verengte seine schalen, grünen Augen zu gefährlichen Schlitzen. „Garantiert nicht von euch Rüpeln. Wenn, dann will ich ihn von meinem Vater.“ „Oder deinem Busenfreund Karana Lyra, dem Prinzchen der Geisterjäger...“, gackerte Loron, und sein Gegenüber trat ihm unsanft gegen das Bein. „Halt dein Maul, und Karana ist garantiert der Allerletzte, den ich meinen Freund nennen würde. Wobei, vielleicht der vorletzte, den letzten Platz hast du schon für dich reserviert.“ Der Sohn des Häuptlings lachte laut auf. „Jaah...“, machte er lallend, „Karana is'... wirklich ein übler Stecher.“ „Da müsstet ihr zwei euch doch blendend verstehen.“, feixte Zoras und kehrte dem Größeren brummend den Rücken, „Lass mich in Frieden.“ „Aber er hat ´ne sehr geile Schwester...“, sagte der andere da noch und der Schamane hielt inne, „Neisa is' ´ne richtig geile, verwöhnte Bratze geworden... eines Tages schnappe ich sie mir und lache Karana aus... oh ja, das gefällt mir... das gefällt mir schon lange. Wenn ich irgendeine andere Hure knalle, denke ich dabei oft an die hübsche Neisa, und dass sie es wäre, die unter mir liegt und vor Panik schreit... ich mag es, wenn sie schreien und sich wehren.“ Eine Faust in seinem Gesicht beendete seine lüsternen Gedanken und Loron stürzte keuchend zu Boden. Zoras zischte, während er seine Faust zurückzog und wutentbrannt auf den Idioten hinab stierte, in seinem Inneren die ungebändigte Lust, ihn jetzt endlich umzubringen... er wollte ihn töten für all seine Widerwärtigkeiten, für jedes seiner Worte, jede seiner Bewegungen... bebend vor Anspannung riss er die Hände empor, bereit, vom Himmel den tödlichen Blitzspeer zu rufen, der alles besiegeln würde. Er würde ihn umbringen, und es würde gut sein... er hatte einen grausamen Tod verdient. Er sah Lorons fassungsloses Gesicht am Boden, der Schlag hatte ihn offenbar etwas nüchterner gemacht. Seine Nase und Lippe bluteten, aber er konnte nur starren, starren in die vor Zorn verzerrte Grimasse des Magiers. „Alter...“, stöhnte er dann kleinlaut, und sein gegenüber zischte ihn drohend an. „Wage es und rühre dich, du Made!“, brüllte er, „Du elender, verdammter Hurensohn! Wage es und mache nur eine... falsche Bewegung... und die Geister von Himmel und Erde werden dich in Fetzen reißen und dir geben, was du verdienst, Loron! Ich warne dich... wenn du am Leben bleiben willst, lässt du von Neisa die Finger. Du weißt, wer ihr Vater ist... und er würde vermutlich um einiges grausamer mit dir umspringen als ich es tun werde. Es gibt Grenzen... die du nicht überschreiten solltest.“ Mit diesen Worten zwang er seinen Zorn zurück und ließ die Hände sinken, um Loron und Holia den Rücken zu kehren. Er musste hier raus... raus aus der stickigen Luft des riesigen Feuers und den widerlichen Körpergerüchen aller Dorfbewohner, die sich miteinander vermischten. Dass Loron hinter ihm schallend lachte und ihm irgendetwas Sinnloses hinterher brüllte ignorierte er, er stampfte einfach geradeaus in die Finsternis. An Finsternis war er gewöhnt... sie begleitete ihn schon seit so vielen Jahren und sie kehrte immer wieder zurück. Sobald er das Dorf hinter sich gelassen hatte, rannte er. Schneller, so schnell er konnte. Unter seinen sorgsam von seiner Mutter gefertigten Schuhen spürte er das trockene Gras. Er spürte die Haut der Mutter Erde, die sich spannte wie die Haut über dem Bauch einer schwangeren Frau. Der Wind war unruhig über ihm... die Geister waren nervös. Es passierten schlimme Dinge, aber er wusste nicht, wie er sie benennen sollte. „Die Schatten kommen aus dem Osten... geh und fange dein Schicksal, wenn du kannst.“ „Das sagt ihr so einfach, Himmelsgeister!“, empörte der junge Mann sich keuchend, ehe er sich auf der kleinen, geliebten Anhöhe ins Gras warf und dort japsend im Dunkeln liegen blieb, am Fuße des knorrigen, toten Baumes. Er schnappte nach Luft, was ihm auf dem Bauch liegend schwer fiel, während er seine Hände in die dunkle, trockene Haut von Mutter Erde bohrte. Was genau war es eigentlich, das ihn so aufwühlte? Zoras wusste es nicht mehr... die Orgie in Holia? Loron, der Scheiße laberte? Die Schatten, die kamen und die außer ihm niemand zu bemerken schien? „Sprecht... mit mir, Geister!“, stöhnte er, „Was... soll ich machen? Ihr sagt... ich wäre ein Mensch des Geistes, ein... Rufer der Himmelsgeister! Was ist mit euren Worten...? Sind die nicht mehr von Belang? Ihr habt mir diese Gaben gegeben, Gaben, wie sie die Geisterjäger besitzen, die über euch gebieten können! War das nur zum Spaß?! Antwortet, Himmel noch mal!“ Doch die Himmelsgeister kicherten nur in seinem Kopf, bis er sich wütend keuchend auf die Knie rappelte und den Himmel anbrüllte mit allem Zorn, der sich in ihm aufgestaut hatte. Er hasste diese Welt... dieses grauenhafte Land, seine grauenhaften Bewohner, die Geister, die ihm nicht antworten wollten, dafür aber von Schicksal und Schatten sprachen, was ihn verwirrte... allein die Dunkelheit war da und umhüllte ihn wie ein schützender Mantel. „Wovor läufst du weg?“ Zoras fuhr herum, als er in seinem Kopf eine Stimme vernahm, die er vor kurzem erst gehört hatte – als er hinauf sah, erkannte er auf demselben Ast wie am Abend zuvor denselben, schwarzen Vogel sitzen, der durch die Finsternis auf ihn herabsah. Der Schwarzhaarige brummte. „Du schon wieder, Vogelgeist?“ „Läufst du vor dem Weg davon, den einzuschlagen dir vorbestimmt ist? Du bist ein Mensch des Geistes.“ „Das sagst du gut.“, brummte der Mensch und richtete sich auf, um dem Tier näher zu kommen. „Und wieso kommst du dann, wenn ich dich gerade nicht brauche?“ „Du brauchst uns, du weißt es nur noch nicht.“ „Sprichst du auch mit anderen Magiern? Sagst du ihnen auch immer Dinge, die sie entweder gerade nicht hören wollen oder die sie nicht verstehen?“ „Es gibt außer dir nur einen anderen Menschen, mit dem wir sprechen. Wir sind die Geister der Todesvögel. Das Privileg unserer Dienste haben nur diejenigen, die... die entsprechenden Veranlagungen haben.“ Zoras runzelte die Stirn und schwieg darauf eine Weile. Er blickte zurück auf das Feuer in Holia und hörte selbst hier in der Ferne das Grölen der Menschen, die feierten, als hätten sie eine Welt erobert. „Du hast gesagt, du dienst mir. Dienst du mir auch, wenn ich dir befehle, Holia zu zerschmettern mit allen, die darin sind? Oder Kamien?“ Der Vogel flatterte kurz mit den Flügeln, ehe der Geist wieder sprach. „Das wäre kein besonders sinnvoller Einsatz deiner Fähigkeiten, aber wenn du es mit dem nötigen Nachdruck befiehlst, werden wir dir dienen, das ist richtig. So war die Abmachung.“ „Was für eine Abmachung, ich verhandele nicht mit Piepmätzen!“ „Nein... du ganz sicher nicht... Zoras. Ein Mann mit deinem Namen wird nicht verhandeln, sondern herrschen.“ „Das beantwortet in keinster Weise meine Frage. Was für eine Abmachung, was hast du davon, wenn du mir folgst? Geister sind keine geborenen Diener der Schamanen. Es kommt auf das Gleichgewicht an.“ „Das hast du gut erkannt. Es wird ein Gleichgewicht geben, denn unsere Dienste verlangen ihren Preis.“ Ein Geräusch von schlagenden Flügeln ertönte in der Dunkelheit, als Zoras dem Tier nachrief, was für einen Preis es gäbe – aber die Krähe war bereits wieder im Schatten verschwunden und ließ den Mann verdattert zurück. Er musste auf der Anhöhe geschlafen haben – er wachte jedenfalls auf und der Tag war angebrochen. Sein Rücken schmerzte, weil er auf dem harten Boden gelegen hatte, und trotz der schwülen Luft des Sommers fröstelte er, als er sich keuchend aufrappelte. Ein Blick auf den knorrigen Baum sagte ihm, dass der Vogel nicht da war – langsam fragte er sich, ob er sich das einbildete. Mürrisch rieb Zoras sich den Schlaf aus den Augen und fuhr sich zerstreut durch die schwarzen Haare, die er im Übrigen dringend mal wieder waschen sollte. Mit diesem Gedanken rappelte er sich auf die Beine und blickte hinab auf das Dorf. Das Feuer war erloschen; aber auf dem Dorfplatz waren immer noch viele Männer versammelt, die irgendetwas Wichtiges zu besprechen schienen. Der junge Mann schauderte, als er sich widerwillig daran machte, nach Holia zurückzukehren. Wenn er flink war, war es bei seiner nicht wirklich beeindruckenden Größe nicht schwer, sich unbemerkt durch das Dorf zu schleichen bis zu der schäbigen Hütte, in der seine Eltern lebten. Auf noch eine Konfrontation mit Loron hatte er gerade keine Lust... geschweige denn mit einem der anderen Mistkäfer. Im Haus war es still – Zoras fand seinen Vater in der Wohnstube grimmig vor dem Kochfeuer sitzen und darüber den Schaft eines Jagdspeers härten. Der Mann sah zu seinem Sohn auf, als der in dem mickrigen Türrahmen stehen blieb. „Wo ist Mutter?“, fragte er lauernd und Ram Derran brummte. „Wenn sie nicht hier ist, wo wohl sonst? Wo hast du gesteckt? Schon wieder... du hast doch wohl nicht bei der Orgie gestern mitgemacht?“ „Oh, doch, jetzt wo du es sagst, ich habe gestern Nacht plötzlich meine verloren geglaubten männlichen Triebe entdeckt und dachte mir, ich passe mich mal meiner sogenannten Heimat an.“ Zoras schnaufte verächtlich. „Wo ist sie, Ram?“ Ram Derran verengte die Augen zu garstigen Schlitzen. „Arlon ist heute im Morgengrauen gekommen und hat sie sich ausgeliehen, wie er es oft tut.“ Das war der wirkliche Grund, wieso Zoras seinen Vater verabscheute. Er erzählte das, als wäre es recht, dass seine Frau von einem anderen Mann als Matratze benutzt wurde. Zoras hatte noch nie erlebt, dass sein Vater versuchte, es zu verhindern... dass er versucht hatte, seine Frau, die er angeblich liebte, vor Arlon oder anderen Widerlingen zu beschützen. Er ballte wütend die Fäuste, während sein Vater seelenruhig, wie es schien, wieder den Kopf senkte und sich seinem Speer widmete. Zoras wollte in die Glut treten und diesem Nichtsnutz den Schoß verbrennen. Wer nicht Manns genug war, eine Frau zu schützen, hatte auch keinen Mannknochen verdient... aber er würde sich bestimmt nicht auf das Niveau der anderen Schweine hier herablassen. „Warum lässt du das jedes Mal zu?!“, blaffte er ihn so nur an und sein Vater knurrte. „Weil ich keine Wahl habe. Rein körperlich ist Arlon mir überlegen und mit dem bisschen Magie, das ich beherrsche, kann ich nicht mal ein Kaninchen grillen. Was bleibt mir also anderes übrig, du tapferer Held? Misch dich nicht ein. Pakuna ist meine Frau und nicht deine.“ „Aber sie ist meine Mutter! Und als ihr Mann solltest du doch fähig sein, sie zu schützen! Ist es nicht das, was ein Mann für seine Frau tun muss?! Was ein Mann dem Vater seiner Braut verspricht, wenn er um ihre Hand anhält?! Was hast du dem Vater meiner Mutter versprochen?! Dass du sie fröhlich mit allen Raufbolden von Holia teilen wirst?!“ „Ihr Vater war bereits tot, als wir geheiratet haben. Ich habe niemandem etwas versprochen... hier in Holia ist alles anders als es richtig wäre. Wenn ich mich den Befehlen des Häuptlings widersetze, schmeißt er uns einfach raus. Und sie würden dafür sorgen, dass wir nirgendwo hin können, dann werden wir im Winter elendiglich erfrieren. Willst du das, Zoras?“ „Ich wette, dass auch Mutter lieber erfrieren würde als andauernd unter anderen Männern liegen zu müssen!“, brüllte der Sohn wutentbrannt, „Wie kannst du es wagen, so zu sprechen?!“ „Nein!“, brüllte Ram zurück, „Wie kannst du es wagen?! Du bist doch gerade eben erst ein erwachsener Mann, hast du eine Ahnung davon, was man mitunter für das Wichtigste opfern muss?! Hast du eine Frau, die du, wie du großkotzig behauptest, beschützen willst?! Ich sehe zumindest keine! Heirate ein Mädchen und zeige mir, wie du weiser, großer Magier es besser machen möchtest in diesem Kaff! Und glaube mir, wenn Arlon und Loron zum ersten Mal deine Frau ausleihen wollen, werde ich zusehen, wie du sie abgibst und dich auslachen! Wage also nicht... mir etwas vorzuschreiben, du hast keine Ahnung, wie das Leben hier läuft.“ Zoras sparte sich einen weiteren Kommentar, er schnappte nur wütend nach Luft, ehe er seinem Vater den Rücken kehrte und wieder zurück zur Tür stampfte. „Nein, Vater.“, zischte er dann noch, „Wenn ich einmal eine Frau heirate, werde ich sicherlich nicht mehr hier sein, da verlass dich drauf.“ Eigentlich wollte Zoras zu Arlon Zincas Haus, um seine Mutter abzuholen – auf dem Weg dorthin wurde er aber von der doch sehr großen Versammlung auf dem Dorfplatz aufgehalten. Es waren nicht nur Männer aus Holia, es waren auch aus den umliegenden Dörfern grimmige Bauern mit Waffen hier. Und verblüffender Weise war Arlon mitten auf dem Dorfplatz und schien eine Art Schlachtplan aufzustellen. Wenn Arlon hier war, wo war dann seine Mutter? „Ich sage, wenn wir Koraggh niederbrennen können, können wir auch mehr! Wir holen uns, was uns zusteht!“, hörte er den groß gewachsenen Häuptling gerade rufen, und der erntete zustimmendes Grölen von den bewaffneten Schurken auf dem Platz. „Wie viele Jahre – Jahrzehnte! – haben wir hier gehungert und ums Überleben gekämpft?! Hat jemals irgendjemand etwas für uns getan? Dafür gesorgt, dass wir im Winter genug zu Essen haben, dass unsere Frauen genügend Milch in den Brüsten haben, um unsere Söhne zu säugen?“ „Kein Arsch!“, brüllte ein anderer Krieger weiter hinten darauf, und alle schwenkten johlend ihre Mistgabeln. Zoras runzelte die Stirn. „Großmaul.“, knurrte er mit Blick auf Arlon, der weiter brüllte, „Was willst du denn tun? Nach Yuron rennen von hier aus und dich beim König beschweren? Dem wird das scheißegal sein. Kamien ist eben die hinterletzte Drecksprovinz... wer einmal hier war, weiß, wieso.“ Vielleicht war die ewige Dürre auch eine Strafe der Geister, weil die Männer hier so unwürdig mit ihren Frauen umgingen – das musste es sein. Eine Strafe der Mutter Erde, die aus Ärger darüber einfach trocken blieb. Arlons nächste Worte rissen ihn aus seinen Gedanken. „Ich sage, wir gehen über die Grenze nach Kisara! Wieso haben sie dort grüne Wiesen und genug Ernte? Ernte im Überfluss haben sie! Dämonen sind es, die alles Gute in Thalurien wachsen lassen und uns nichts abgeben, sage ich!“ Zustimmendes Johlen und Zoras klappte der Unterkiefer herunter. Das meinte der nicht ernst... und dann kam der Einwand, der das Schicksal von Thalurien besiegeln sollte... Zoras spürte es in diesem einen Moment schon. Es war wie ein Schatten, der sich plötzlich über das Dorf legte, und er würde erst verschwinden, wenn die Welt unterginge. „Der Schatten... bringt das Ende der Welt.“ „Es sind garantiert die Lianer, Häuptling! Sie sind immer an allem Unheil Schuld, wir sollten sie vernichten! Die Menschen vom Geistervolk verjagen die guten Erdgeister, ich bin mir sicher!“ Auf diesen Ausruf herrschte kurz Stille. Dann ging das Gemurmel los, bis Arlon gebieterisch die Hände erhob. „Männer! Wartet, nicht alles zugleich! Die Lianer sind ein Volk von bösen, weißen Geistern, das wissen wir alle. Hier in unserem Land gibt es keine mehr, seit die Sklaventreiberei begann... ein Segen, nicht wahr?!“ Er lachte schallend und erntete zustimmendes Gelächter von allen Seiten. „Es ist gut, dass sie fort sind!“, rief einer, und ein zweiter addierte: „Der Mann hat recht, wir sollten sie davon fegen, dann kehrt das Grün vielleicht zurück in unser Land! Wenn wir Koraggh nehmen konnten, schaffen wir die Lianer auch! Wenn wir schnell sind und ihnen keine Zeit lassen, ihre Bestien zu beschwören...“ „Es gibt in Thalurien dicht bei der Grenze ein Dorf der Lianer!“, fiel einem weiteren Mann ein, „Die sind es, die nehmen uns die guten Geister weg!“ Es ertönte lautes Grölen und alle schwenkten die Waffen. Auf Arlon Zincas Gesicht schlich sich ein böses Grinsen. „Das klingt gut... das ist wundervoll! Ich sage, wir bestrafen sie in Thalurien! All jene, die es wagen, uns die Erntegeister wegzunehmen und dafür sorgen, dass wir hungern! Die ganzen Zauberer in Thalurien, es gibt Massen von ihnen dort! Lianer, Schamanen... sie manipulieren die Mächte der Schöpfung zu ihren Gunsten und lassen uns verrecken!“ Die Männer grölten erzürnt. „Tod!“, brüllte der Häuptling und riss sein verrostetes Schwert in die Luft, „Ich sage, Tod!“ „Tod!“, antworteten die Männer und grölten. Als der Jubel verhallte, wagte ein etwas älterer Mann einen bedrückten Einspruch. „Aber das ist ja das Problem. Sie sind Zauberer, und wir nicht. Wie sollen wir sie besiegen, wenn sie den Zorn des Himmels auf uns lenken?“ Schweigen. Das war der Moment, in dem Arlon Zoras ihn am Rand der Versammlung entdeckte und der Jüngere das Gefühl hatte, er wäre besser vorher weggelaufen. Er war hier falsch. „Wir haben günstiger Weise ja auch... einen Zauberer. Nicht wahr, Derran?!“ Jetzt wendeten sich alle Blicke auf ihn und Zoras brummte. „Keine Chance, Arlon. Ich schulde dir nichts, ich helfe dir sicher nicht dabei, die Welt zu erobern.“ „Aber ein einziger Zauberer gegen ganz viele?“, fragte der Alte von eben und Arlon rief lauter: „Einer, der verdammt noch mal das Zeug hat, Herr der Geister zu werden, wie man munkelt! Seht, Männer, der zukünftige Herr der Geister, der Nachfolger des großen Helden Puran Lyra... reicht einer von diesem Kaliber nicht?!“ Zoras verengte die Augen, während die Männer überzeugt nickten und tuschelten. „Du kannst mich nicht locken, indem du mir schmeichelst. Du hast weder Ahnung, was für eine Macht Karanas Vater hat, noch, was ich für eine habe.“ Der Ältere grinste ihn mit seinen halb verfaulten Zähnen fröhlich an. Loron hatte seine Hässlichkeit definitiv von seinem Vater – die Mutter hatte Zoras nie kennengelernt. „Na ja...“, raunte er, „Deine Mutter pflegt aber, mich zu verfluchen und zu schwören, dass du einmal diese Macht haben würdest, um mich dann zu zerschmettern... lügt sie mich etwa an? Und woher weiß sie eigentlich so gut über den Herrn Senator Bescheid, der sie von seinem hohen Ross aus nicht mal sehen dürfte? Himmel, kein Wunder, dass dein Vater kein Interesse daran hat, sie zu schützen, wenn sie ihm ausgerechnet mit dem untreu ist...“ Das reichte. „Meine Mutter ist keine Hure! Wage es nie wieder, so über sie zu sprechen, und sie hat verdammt noch mal nichts mit Karanas Vater!“ Soweit er wusste, kannten seine Eltern den Herrn der Geister aus ihrer Kindheit, weil er genau wie sie aus Dokahsan stammte... aber das ging Arlon ja nichts an. „Vergiss es, ich arbeite nicht für euren Dreck hier! Die Geister werden nicht zurückkehren, wenn ihr alle tötet, die sie beherrschen können! Ihr werdet nur... das Ende der Welt heraufbeschwören.“ Wieder Schweigen, dann lehnte der Häuptling von Holia sich leicht zurück und reckte den Kopf in den Himmel. „Loron!“, brüllte er nach seinem hässlichen Sohn, „Komm her und bring sie mit!“ Zoras fuhr herum, als in der Ferne ein Rumpeln aus Zincas Hütte ertönte. Während die anderen Männer sich neugierig reckten, wandte Arlon sich grinsend wieder dem Schamanen zu. „Oh, du wirst für mein Ende der Welt arbeiten, Zoras. Und du wirst es gut machen... das weiß ich. Weil ich weiß, dass du gerne tötest...“ Das Grinsen wurde breiter, als Zoras erbleichte und den Kopf drehte in die Richtung, aus der Loron kam. Er hatte Pakuna bei sich, griff ihr in die langen, schwarzen Haare und stieß sie unsanft vor sich her zur Versammlung. Sie fluchte und wimmerte, er solle sie loslassen, doch Arlons Sohn kicherte nur amüsiert, während wieder alle Blicke auf Zoras gerichtet waren. Der Schamane schnappte panisch nach Luft. „Nein... das tut ihr nicht. Ich warne euch... wenn ihr meiner Mutter auch nur ein Haar krümmt...“ „Ich sagte doch, du wirst mitmachen.“, frohlockte der Häuptling, „Ich brauche dich, Derran, und wenn du willst, dass ich deine hübsche, bezaubernde Hure von Mutter am Leben lasse... solltest du vor mir knien.“ „Tu es nicht!“, schrie Pakuna und erntete eine Ohrfeige von Loron. Zoras japste und machte schon einen Schritt auf sie zu, worauf Arlons Sohn sie an sich heran presste und ihr einen Arm um den Hals schlang. „Einen Schritt näher und ich erdrossele sie...“, warnte er sein Gegenüber grantig, „Auf die Knie, Kurzhöschen. Den Augenblick wollte ich schon immer mal erleben...“ Er lachte dreckig. Zoras keuchte und fuhr zu Arlon herum. „Lasst sie in Frieden! Lasst sie frei und schwört, sie nie wieder anzurühren, dann mache ich, was ihr wollt!“ „Du bist gerade nicht in der Position, Bedingungen zu stellen.“, bemerkte der Ältere, „Wir behalten deine Mutti, damit du spurst. Wenn wir fertig sind, kriegst du sie zurück. Bis dahin wird niemand ihr ein Haar krümmen... sofern du brav mitarbeitest.“ Zoras keuchte abermals und sah zu seiner Mutter, die trotzig den Kopf schüttelte und versuchte, Lorons Griff zu entkommen. „Ihr könnt... Thalurien nicht einfach... platt machen!“, zischte sie, „Es wird euch nichts nützen! Die Geister... w-werden euch strafen!“ „Ja, ja, damit leben wir.“, gluckste Loron und packte sie fester, „Halt still, dein Gezappel erregt mich.“ Das ließ sie tatsächlich inne halten und verzweifelt japsen. „Tu es nicht, Zoras! Hör auf deinen Geist, es ist falsch! Da drüben hat uns niemand etwas getan...“ „Habe ich eine verdammte Wahl?!“, brüllte er, „Ich lasse dich nicht verrecken!“ „Selbst, wenn du die Geisterwinde rufst, d-du kannst sie nicht einfach umbringen! Es funktioniert nicht... s-sie haben ihr Netzwerk! Und ehe ihr die Grenze überschreitet, bringen... Sagals euch um.“ Das war ein anderer Punkt. Arlon stutzte und tauschte einen Blick mit Loron. „Was, Sagals?“, fragte er verblüfft. Zoras brummte. „Sie sind ein extrem großer Telepathenclan. Eigentlich gibt es überall Spitzel von ihnen und sie werden von eurem Vorhaben erfahren, ehe ihr auch nur die Waffen zieht. Der Kopf des Zweigs sitzt in Lorana, da, wo auch Karana wohnt. Sie sind Telepathen, das heißt, sie sprechen mit den Geistern und sehen Dinge im Voraus. Und es sind zu viele, wir können sie nicht alle ausschalten.“ Der Häuptling fauchte. „Oh, doch, da wirst du schon einen Weg finden. Wenn nicht... wird deine Mutter eben sterben. Überlege dir gut, was du tust, Derran... du hast nur eine Chance.“ Der Schamane ballte unmerklich die Fäuste vor Zorn, als er zu seiner Mutter blickte, die nur flehend die Lider senkte. „Bitte... tu das Richtige.“, sagte ihre Mimik, „Bitte tu es nicht um meinetwillen... nicht, wenn du die Finsternis in deinem Geist endlich loswerden willst.“ Finsternis... Er keuchte, als er den Kopf senkte, sodass ihm seine immer noch ungewaschenen Haare strähnig ins Gesicht fielen. Er hörte über sich das Krähen eines Vogels, als er langsam die Anspannung seiner Fäuste löste. Er hatte keine andere Wahl... er würde seine Finsternis nie loswerden, wenn er jetzt zuließ, dass seine Mutter starb. Sprich mit mir, Vogelgeist. Was ist der Preis, den ich zahlen soll für eure Dienste? Er hörte das Kichern in seinem Kopf und spürte einen stechenden Schmerz in seinem Körper, tief innen drin, als die Stimme erklang. „Der Preis ist deine Seele. Manche sterben, wenn sie ihre Seele so aufteilen... vielleicht hat dein Geist ja die Kraft, die nötig ist, um uns zu bezahlen und dich gleichzeitig am Leben zu halten. Du hast einen starken Namen... Zoras.“ Zoras sah seine Mutter den Rest des Tages nicht, weil Arlon sie bei sich im Haus einsperrte – vermutlich unter Lorons Bewachung. Während dessen konnte der Schamane ergriffen von Zorn und ungebändigtem Hass auf diese Maden, die es wagten, ihn derart an der Leine zu führen, beobachten, wie sich die größte Masse an Männern in der Gegend von Holia versammelte, die er jemals gesehen hatte. Es waren Männer aus ganz Kamien, die kamen; Krieger wäre gelogen, es waren Bauern und Handwerker, die zufällig Waffen halten konnten. Vermutlich hatten sie die auch in Koraggh geklaut, ebenso wie die meisten Pferde, auf denen sie saßen. Senjo war das Land der Reiter – Pferde gab es selbst in Kamien, auch wenn sie überall anders vermutlich besser ernährt und schneller waren. Zoras war nicht besonders begabt im Zählen, aber er war sich sicher, dass es weit über hundert waren – vielleicht zweihundert oder gar dreihundert. Das war eine ganze Kompanie... er war verblüfft darüber, dass so viele Menschen überhaupt auf dem trockenen, toten Land vor dem Dorf Platz fanden. Seinen Vater hatte er auch nicht mehr gesehen... eigentlich war ihm auch egal, wo er blieb. Ram Derran war Jäger und kein Kämpfer, Arlon würde sicherlich nicht darauf bestehen, dass er auch mitkam. Bei der Masse an Männern kam es nicht auf einen mehr oder weniger an, außerdem würden noch mehr Männer im Dorf bleiben müssen, irgendjemand musste ja auf die Frauen und Kinder aufpassen. Weniger darauf, dass es ihnen gut ging, sondern mehr darauf, dass sie nicht wegliefen. Als die Nacht kam, trafen noch immer kampflustige Bauern aus entfernteren Dörfern ein. Sicher waren sie selbst aus Chayneh gekommen, dem Dreckskaff im Norden, in dem Zoras einst geboren worden war. Er war bereits als Baby mit seinen Eltern von dort verschwunden, demzufolge erinnerte er sich nicht an Chayneh – es hatte nur geheißen, es wäre ein schlechter Ort gewesen. Und wenn selbst sein Vater von dort geflohen war mit einer stillenden Frau und einem Säugling, musste es um einiges furchtbarer gewesen sein als Holia. Als die letzten Männer eintrafen, war der nächste Morgen schon beinahe vorüber. Es gab ein spärliches Frühstück aus den Resten des Festmahls aus Koraggh, ehe sich die Meute daran machte, aufzubrechen. „Tod den Geistern von Thalurien!“, brüllte Arlon, „Ich sage, wir vernichten sie und ihre Länder werden uns gehören! Und diesen Winter werden wir nicht nur satt, nein, wir werden so fett sein, dass wir uns gar nicht mehr aufrappeln können, haha!“ Er erntete johlendes Gelächter von den Männern, die kampflustig ihre Waffen schüttelten. Zoras beobachtete das Heer von weitem – Heer war auch ein falscher Begriff, treffender wäre eine Horde von hirnlosen Barbaren. Er hörte das Trappeln von Hufen, die auf ihn zu kamen, und drehte den Kopf; und straffte angespannt die Schultern, als er Loron auf einem schmutzigen Gaul daher reiten kommen sah, vor ihm auf dem Rücken des Tieres saß Pakuna. „Ich wollte dich mal höflich an deine Arbeit erinnern, Kurzhöschen!“, rief der Häuptlingssohn von weitem und Zoras unterdrückte ein zorniges Zischen, während seine grünen, schmalen Augen sich in das Gesicht seiner Mutter bohrten, die nur gedemütigt den Kopf zur Seite drehte. Er wollte lieber nicht wissen, was Loron die vergangene Nacht alles mit ihr getan hatte, dass sie ihn nicht mehr ansehen konnte... der Bastard würde dafür bluten. „Das ist nicht nötig, du Scheusal!“, brachte der Schamane dann gepresst heraus, „Ich halte mein Wort, solange dein Vater eures hält. Wenn ich euch bei eurem sinnlosen Unterfangen helfe, bekomme ich meine Mutter zurück – und wenn nicht, dann Gnade euch Vater Himmel, dessen Zorn ich auf euch lenken werde!“ „Bleib mal locker.“, grinste der Ältere, „Es wäre hilfreich, wenn deren Informationsnetz einfach... weg ist, damit nicht jemand Alarm schlägt, bevor wir unsere Beute haben. Die Lianer sind zuerst dran, die sind immer an allem Schuld, so aus Prinzip.“ „Das ist ein lächerliches Argument.“ „Weißt du, wie egal mir das ist? Sie haben Essen, wir nicht! Und weil sie hier in der Gegend vor der Sklaverei immer Theater gemacht und Krieg geführt haben, ist Kamien heute das, was es ist! Also sind sie Schuld genug. Als nächstes sind dann deine Artgenossen die Zauberer dran. Freust du dich nicht darauf? Wir könnten Karana eins in die Fresse hauen, wenn wir nach Lorana kommen.“ Zoras brummte. „Das erbaut mich nicht. Karana ist zwar nicht weniger ein Arschloch als du, aber es gibt auf der ganzen Welt genug Arschlöcher, ich kann nicht jedem einzeln den Hintern versohlen. Außerdem wage ich zu bezweifeln, dass wir bis nach Lorana kommen. Der Weg dahin ist weit und es liegen einige Dörfer dazwischen.“ Loron fing zu seinem Ärgernis zu lachen an, während er Pakuna vor sich genüsslich durch die Haare strich. Im Hintergrund johlten die Männer, die sich an den Aufbruch machten, Arlon gemeinsam mit ein paar anderen Dorfchefs vorne weg zu Pferd. Zoras sah Loron sich zu ihm herab beugen, dämonisch grinsend. „Du solltest dir aber wünschen, dass wir nach Lorana kommen... ich denke, da sitzt der Kopf eures Telepathennetzwerkes? Was wärst du doch für ein großer Zauberer, wenn du eingehst in die Annalen als der Mann, der aus dem Elendsland kam und Dasan Sagal den Kopf abschlug?“ Zoras weitete die Augen wieder und Pakuna wimmerte vor Loron auf dem Pferd, als seine Hände nach vorne auf ihre üppigen Brüste fuhren. „Und wenn die Zentrale des Netzwerkes fällt... fällt auch der Rest in sich zusammen, oder, Kurzer? Dann ist das wohl die einzige Chance, die du hast, um uns zum Sieg zu verhelfen... und ohne Sieg gibt es auch keine Mutti.“ Damit lachte er erneut, sich aufrichtend und Pakuna anzüglich an sich heran drückend, bevor er sein Pferd herum zog und es antrieb. „Beeile dich besser, Zauberer, bevor wir ohne dich am Lianerdorf sind! Und vergiss dein Pferd nicht, zu Fuß holst du uns nie ein!“ Damit war er weg und Zoras fluchte die übelsten Schimpfwörter hinter ihm her, die ihm auf die Zunge kamen. Zischend fuhr er herum, um die Arme gen Himmel zu reißen, den Kopf in den Nacken werfend. Was hatte er für eine Wahl? Er verfluchte die Welt... er verfluchte den Himmel und die Erde und alle Geister, die es wagten, das zuzulassen. „Vater Himmel!“, brüllte er, so laut er konnte, und in der Ferne hörte er die Pferde wiehern, als das Heer sich aufmachte und gen Süden galoppierte. „Geist des Vogels, dann komm und halte dein Versprechen! Ihr werdet mir dienen und ich werde euch geben, was ihr verlangt! Komm, Himmelsgeist, ich rufe dich, mir zu folgen!“ Ein langes, lautes Grollen erklang aus dem Himmel, als es für die Tageszeit ungewöhnlich finster wurde und der Schamane aus den trockenen Wäldern der Umgebung die Vögel auffliegen sah, die er gerufen hatte. Es waren Massen von ihnen, Aasfresser, Todesvögel, und sie verdunkelten die Sonne, als sie sich am Firmament verteilten. Das Rauschen der schlagenden Flügel klang in Zoras' Ohren wie das Blut, das in ihm aufwallte, als er die Macht spürte, die die Geister ihm verliehen, einhergehend mit einem bekannten, süßen Schmerz in seinem Inneren. Bebend schloss er die Augen und ließ sich in die Macht der Geister fallen, als würde er sich von einer Klippe stürzen. Er spürte die Kräfte an ihm zerren, er hörte das Wispern der Himmelsgeister durch das Rauschen in seinem Kopf hindurch. Der Vogel, der mit ihm sprach, musste direkt vor ihm sein, der Mann konnte ihn vor seinen inneren Augen sehen. „Dann sprich, Herr, was sollen wir für dich tun?“ Zoras öffnete die glimmenden Augen wieder, um das Tier anzusehen, den vor Krähen schwarzen Himmel und das erzitternde Land unter seinen Füßen. Er bebte selbst ob der gewaltigen Macht, die er beschworen hatte. Es schmerzte, sie so lange festzuhalten, es fühlte sich an wie Feuer, das unter seiner Haut brannte und ihn langsam von innen heraus auffraß... so verlor er keine weitere Zeit und zeigte nach Osten. „In den Schatten, Geister!“, brachte er mit bebender Stimme hervor, „Vernichtet... das Netzwerk von Thalurien. Sorgt dafür, dass niemand vorher von dem Angriff erfährt... geht, Geister!“ Er brüllte die letzten Worte, indem er die Arme wieder hoch riss, und mit einem Krähen des Vogels vor ihm und einem Donnerschlag aus dem Himmel machte sich die Schattenwelle aus gehorsamen, schwarzen Geistern auf den Weg nach Osten. Als sie weg waren, strauchelte der junge Mann und stürzte haltlos auf die trockene Erde, um sich den Rest seiner brennenden, ziependen Seele aus dem Leib zu husten, sobald die Macht von ihm abließ und ihm wieder Luft zum Atmen gab. Keuchend beeilte er sich, wieder auf die Beine zu kommen, griff dabei stöhnend nach seinen beiden Dolchen, die in seinem Gürtel steckten. Er musste hier weg... Loron hatte Pakuna mitgenommen. Er musste ihnen nach... und er würde tun, was immer sie verlangten, wenn sie dafür seine Mutter gehen ließen. „Pferd!“, brüllte er über das verlassene Brachland, um das Tier auf sich aufmerksam zu machen, das Loron ihm gütiger Weise zurück gelassen hatte, damit er die Horde einholen konnte. Das Tier schnaubte nur und dachte nicht daran, zu gehorchen, so stampfte er wutentbrannt herüber, steckte die Waffen zurück in seinen Gürtel und schwang sich grantig auf das Tier, das darauf empört wieherte. Schnaubend packte Zoras die Zügel und rammte dem Gaul die Hacken in den Bauch. „Nach Südosten, du treulose Tomate!“ fauchte er, „Und wenn es möglich ist noch vor dem nächsten Neumond!“ Das Pferd galoppierte los und Zoras strich sich wütend die wirren, schwarzen Haare aus dem Gesicht, die er am Vortag dann doch endlich mal gewaschen hatte. „Oh, und ich werde die Lianer und Thalurien und von mir aus auch ganz Kisara in Grund und Boden stampfen, wenn sie dafür meine Mutter in Frieden lassen!“, schwor er verbittert, „Zerschmettern werde ich sie... für den einzigen Menschen, der mir verdammt noch mal noch am Herzen liegt in dieser Dreckswelt!“ Als er an Holia vorbei galoppierte, sah er Lorons Schwester Asta hinter dem Eingang hervor lugen – sie duckte sich aber sofort, als er vorbei kam, hinter den Zaun und er schenkte dem armseligen Mädchen keine Beachtung mehr. Vielleicht sollte er seine Mutter befreien und nie wieder zurückkehren... seinen Vater, den Ignoranten, konnte er wann anders hier herausholen. Pakuna zuliebe... sie war doch der einzige Mensch, der jemals etwas anderes in ihm gesehen hatte als ein Werkzeug, eine Missgeburt oder einen Nichtsnutz. ______________________________ Yeah. Ist Zoras zu emo? o_o Zu viele Charas auf einmal? Zu verwirrend? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)