Alptraumfabrik von Skeru_Seven ================================================================================ Kapitel 1: Mit dem Tod beginnt es --------------------------------- Die Klassenfahrt war der pure Horror: Die Jugendherberge lag mitten im Wald, weit und breit gab es gar nichts außer Bäume, Sträucher und ein paar Tiere, die Zimmer sahen fürchterlich aus – ein Bett war innerhalb der ersten zehn Minuten schon zusammengekracht – und vom Essen redete man erst gar nicht. Zwar hatte Pavel befürchtet, dass es schlimm werden könnte, das hatte man schon am geringen Preis der Herberge erkennen können, aber das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe hatte sogar seine Vorstellung übertroffen. Da fragte man sich wirklich, wie man die nächsten fünf Tage unbeschadet überstehen konnte, ohne am liebsten schreien wegrennen zu wollen. Jede Sekunde in dieser unzumutbaren Bruchbude mit ihren papierdünnen Wänden und sagenhaft durchgelegenen Matratzen fühlte sich grauenhaft an. Aus diesem Grund war er ganz froh, dass er sich ein paar Leuten aus seiner Klasse ausschließen konnte, die den Abend anders verbringen wollten als in dem trostlosen, heruntergekommenen Gebäude festzusitzen und sich von schlecht gelaunten Lehrern herumkommandieren zu lassen, nebenbei stundenlang Geschirr spülen zu müssen und bei jedem Windstoß die Balken knacken zu hören. Maciej, das selbsternannte Oberhaupt dieses zusammen gewürfelten Grüppchens hatte bei einem kleinen Streifzug am Nachmittag ein leer stehendes Fabrikgelände nicht weit von hier entdeckt und würde es mit seinen Freunden Kamil und Patrycja direkt nach dem Abendessen besuchen; da durfte sich Pavel sicher mit anschließen, obwohl er sonst eigentlich weniger mit den dreien zu tun hatte. Sie waren nicht unbedingt auf einer Wellenlänge und Maciej ging ihm doch öfter mit seiner Großkotzigkeit auf den Geist. Das Abendessen, eine lauwarme Brühe mit Karottenstückchen und sicherlich einer Horde Drosophila, die sich dort hineinverirrt hatte, schmeckte ungefähr so wie es aussah – scheintot und schleimig –, weswegen Pavel schon nach drei Bissen den Teller zur Seite schob und beschloss, bis auf weiteres eine Zwangsdiät einzulegen, um sich keine Lebensmittelvergiftung einzufangen. Seine zwei Zimmerpartner Eliasz und Romek wirkten eher erheitert als verzweifelt über den Zustand ihres Essens, ließen es aber auch vorsichtshalber stehen. Zum Schluss lebte es vielleicht doch noch. „Ich geh schon mal hoch“, verkündete Pavel den beiden und floh vor dieser absoluten Zumutung in ihr gemeinsames Zimmer, um dort auf Maciej zu warten, der ihn abholen sollte. Zumindest hatte er das vorhin mit ihm an der Essensausgabe ausgemacht und Maciej hielt eigentlich immer ein, was er sagte. Obwohl er manchmal ein Idiot war und ihn absichtlich übersah. Und manchmal tat er genau das Gegenteil. Damit er ohne richtiges Abendessen nicht doch vielleicht verhungerte, suchte Pavel sich seine Brotdose aus seinem Rucksack heraus und aß die darin klebenden zwei Stück Kuchen, die er sich für die Hinfahrt eingepackt und schließlich doch vergessen hatte, zog sich eine Regenjacke und Turnschuhe an, um nicht unvorbereitet vom nächsten Regenschauer ertränkt zu werden. Das brauchte er wirklich nicht als absoluten Tiefpunkt des Tages. Nun hieß es warten, bis jemand kam und ihn mitnahm, ansonsten saß er noch in drei Stunden hier herum. Inzwischen hatten auch Eliasz und Romek sich von der Faszination des Essens befreien können und betraten das Zimmer, wobei sie der Tür fast die Klinke abrissen. „Du bist ja immer noch da“, stichelte Eliasz grinsend, da er sich kaum vorstellen konnte, dass Pavel freiwillig mit diesen drei gestalten durch die Gegend zog, er mochte sie nämlich gar nicht. Gerne hielten sie sich nämlich für etwas Besseres als der Rest ihrer Mitschüler. „Nicht mehr lange.“ Zumindest hoffte Pavel das, alles andere wäre ihm extrem peinlich, besonders vor Eliasz und auch Romek, wobei Eliasz eher derjenige war, der sich eine dumme Bemerkung dazu nicht verkneifen konnte. Langsam fragte er sich allerdings schon, wieso die anderen so ewig lange auf sich warten ließen. Entweder hatten sie ihn vergessen oder Kamil hatte sich doch noch in letzter Sekunde geweigert, ihn mitzunehmen. Aus irgendeinem Grund war er nämlich öfter dagegen, wenn Pavel bei einer ihrer Aktionen – und sei sie noch so unbedeutend – dabei sein wollte, nur wusste keiner von ihnen so genau, wieso überhaupt und woher diese Abneigung kam. Zum Glück blieben Pavels Sorgen dieses Mal unbegründet, denn nur wenige Minuten später kam Kamil in den Raum geschneit, warf Pavel und den beiden anderen Anwesenden einen nicht sehr netten Blick zu und forderte ihn auf, ihm nach draußen zu folgen. Dort würden die anderen auf sie warten. Hastig verabschiedete sich Pavel von den zwei, die seine Versuche, Anschluss an die kleine Gruppe zu finden, einfach nicht verstanden, und eilte Kamil hinter her, der gar nicht einsah, auch nur eine Spur Rücksicht auf ihn zu nehmen. Auf der Rückseite der Jugendherberge, die von hinten noch ranziger und verkommener wirkte, standen wirklich Maciej und Patrycja; sie fror eindeutig und zog sich den Schal enger um den Hals, während er dauernd auf sein Handydisplay sah und unruhig die Umgebung beobachtete. „Da seid ihr ja endlich“, begrüßte Patrycja sie etwas eingeschnappt und rieb sich ihre kalten Fingerspitzen. „Noch etwas länger und wir wären festgefroren.“ Sie hakte sich bei Maciej unter und zog ihn zu sich. „Übertreib es mal nicht“, brummte Kamil; er fühlte sich keiner Schuld bewusst, immerhin hätte auch sie zu Pavel gehen können und nicht er. „Können wir losgehen?“ Pavel hatte sich nicht für das unnötige Gezanke von Kamil und Patrycja bereit gemacht – das konnte man sich auch sonst dauernd anhören – sondern für den Besuch dieser alten Fabrik. Er war sehr gespannt, wie sie wohl aussah und ob man dort problemlos hineinkam. Aber schlimmer als diese Drecksbude namens Jugendherberge wäre sie auf keinen Fall. Maciej ging mit Patrycja, die sich immer noch an ihn hängte, als könnte sie ohne ihn nicht leben, voraus, Kamil schlurfte etwas genervt hinter ihnen her und auf Pavel gab keiner von ihnen so richtig acht. Er war einfach dabei, ein geduldeter Gast, aber deutlich spürbar nicht mehr. Der Weg durch den Wald bis zum Gelände schien ewig zu dauern, weil sie sich mindestens einmal verliefen und das Wetter immer unangenehmer wurde, aber nach über einer halben Stunde und vielen kleinen Streitigkeiten, die wieder zwischen Patrycja und Kamil entbrannten, erreichten sie den Zaun, der eigentlich ungebetene Besucher abhalten sollte. Wenn nicht ein riesiges Loch darin geklafft hätte, das fast danach rief, das man sich nicht an die gängigen Regeln halten sollte. Vorsichtig kletterten sie einzeln durch die Öffnung, um sich nicht an den rostigen Drahtenden zu verletzen, und kamen nach knapp dreißig Metern an das nächste Hindernis, dieses Mal eine Mauer aus bröckeligen Stein, die auch schon bessere Tage gesehen hatte. Wie so einiges hier in der Umgebung, ein auffälliges Merkmal. „Ich glaube, einer sollte hier warten und uns warnen, falls jemand kommt“, schlug Kamil plötzlich wie nebenbei vor; automatisch sahen die übrigen Pavel an, der sich ziemlich hintergangen fühlte. Das war sicher nicht der Grund gewesen, wieso er hatte mitkommen wollen. „Das ist doch idiotisch, hier kommt sicher keiner vorbei, das Ding steht bestimmt schon seit Jahren leer. Wen interessiert, was da drin passiert?“, versuchte er sich gegen den Vorschlag, hier vorne sinnlos Wächter zu spielen, zu wehren, aber der Rest blieb bei seiner Überzeugung; er sollte Wache halten. Geknickt ergab sich Pavel der erdrückenden Mehrheit. Wenn er sich noch mehr gegen den Vorschlag gewehrt hätte, hätte er die anderen ziemlich unnötig gegen sich aufgebracht, besonders Kamil; das wusste er und das wollte er nicht, immerhin plante er, sich noch öfter ihnen anzuschließen. „Und was soll ich machen, wenn jemand kommt?“ Nach ihnen rufen wäre so ungefähr das dümmste, was er tun könnte, da stellte er sich lieber gleich den Leuten in den Weg und winkte ihnen zu. „Hast du dein Handy dabei? Dann kannst du mich anklingeln“, schlug ihm Maciej vor. „Zur Not bekommst du meinst und rufst dann Patrycja an. So kompliziert ist das nicht.“ Aber wenn man Maciej Glauben schenken durfte, war ja sowieso vieles im Leben angeblich so leicht und machbar. „Ich hab deine Nummer nicht.“ Obwohl er sie gerne gehabt hätte. Aber das stellte auch kein Problem für Maciej dar; er nahm ihm sein Handy aus der Hand, tippte seine Nummer ein und gab es ihm zurück. „Jetzt schon.“ Er grinste Pavel aufmunternd an. „Wir bleiben nicht lange weg und wenn wir wieder kommen, kannst du dich ja auch noch mal kurz umsehen.“ Damit war für ihn das Thema erledigt. Während die drei über die Mauer stiegen – Patrycja bestand auf Maciejs Hilfe und Kamil ließ sich wieder negativ darüber aus – und aus seiner Sicht verschwanden, hockte sich Pavel auf die kalten Steinplatten und seufzte leise. Warum ließ er sich das jedes Mal gefallen? Wahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem er sich immer wieder ihnen anschloss. Maciej. Es war fast peinlich, dass er ihm seit knapp drei Jahren hinterherlief und es trotz besserem Wissen immer wieder tat. Am Anfang, weil er unbedingt Aufmerksamkeit bei anderen gesucht hatte, dann weil er Maciej für sein Auftreten und Verhalten bewunderte, obwohl er manchmal echt ein Vollidiot sein konnte, und schließlich weil er gemerkt hatte, dass er wohl schon von Beginn an ziemlich in ihn verschossen gewesen war. Und dieses Gefühl einfach nicht mehr verschwinden wollte. Pavel fand es alles andere als lustig, besonders da er wusste, dass Maciej seit über einem Jahr glücklich an Patrycja vergeben war, aber er konnte nicht anders. Gewohnheiten ließen sich schwer ablegen und Gefühle irgendwann nicht mehr leugnen. Bestimmt hatte Kamil ihn inzwischen durchschaut und wollte ihn deshalb so vehement loswerden; er befürchtete wohl, Pavel würde sich zwischen Maciej und Patrycja drängen und das musste Kamil als Maciejs bester Freund mit allen Mitteln verhindern. Die drei waren – bis auf kleinere Komplikationen – seit Jahren ein eingespieltes Team und da kam Pavel als einzelner nicht durch, das stellte er jedes Mal aufs Neue fest, wenn man ihn auf unterschiedlichste Art und Weise umging, ignorierte oder wie in Kamils Fall regelmäßig fertig machte. Und trotzdem ließ er nicht locker. Langsam wurde es dunkel, im Wald rauschte es beunruhigend, der Wind stach ihm immer schärfer in die Haut und Pavel fragte sich immer öfter, wo die anderen so lange blieben. Wenn sie noch länger brauchten, um sich in der Fabrik umzusehen, fanden sie in der Dunkelheit – an Taschenlampen hatte natürlich keiner gedacht – vielleicht den Weg in die Jugendherberge nicht wieder zurück; auf eine ungemütliche Nacht mitten im Wald ohne Orientierung und Decken verzichtete Pavel dankend. Ungeduldig klingelte er Maciej an, aber es passierte nichts, keiner nahm ab, selbst nach dem dritten Versuch meldete sich niemand. Das machte Pavel doch ziemlich nervös. Vorsichtig, um nicht abzurutschen und sich überflüssigerweise zu verletzen, überquerte Pavel die Mauer und landete auf der anderen Seite zwischen zwei Dutzend blauen Fässern, die überall an der Wand standen. Einige schienen nicht mehr dicht und ausgelaufen zu sein und hastig trat Pavel aus der undefinierbaren Pfütze, in der seine Schuhe zu versinken drohte. Hoffentlich lagerten die hier keine chemischen oder krankheitserregenden Abfälle, sonst wäre er vielleicht verseucht oder fing sich eine seltsame Infektion ein. Am besten dachte er gar nicht darüber nach, in was er eben gestanden hatte und setzte stattdessen seinen Weg fort. Draußen auf dem großen Vorplatz des Areals waren die drei nicht anzutreffen – zumindest entdeckte Pavel sie nicht –, also hielten sie sich sicher in einem der zwei Gebäude auf, die in der Mitte des Platzes standen und keinen besonderes vertrauenserweckenden Eindruck machten; niedrige, langegezogene Kästen, in die viel zu viel grauer Beton und inzwischen rostige Metallstreben verbaut worden waren. Vielleicht hatten sie dort drin etwas gefunden, was auf den ursprünglichen Zweck der Fabrik hindeutete, ein Schild mit einem entsprechenden Hinweis sah er nämlich nicht und außer die löchrigen Tonnen gab es nur den Gebäudekomplex zu betrachten. Sicher hatten sie drinnen etwas Interessantes gefunden und kamen deshalb noch nicht heraus. Sie waren einfach schrecklich neugierig und mussten diesen Ort erst intensiv erkunden. Die erste Metalltür schwang fast von selbst auf, als Pavel dagegen drückte; sicher ein gutes Zeichen, dass er sie hier finden konnte, nur wäre es ihm lieber gewesen, wenn er mehr Licht gehabt hätte – ständig hatte er das Gefühl, gleich irgendwo dagegen zu laufen oder zu stolpern. Aber es geschah nichts, irgendwo weiter vorne raschelte es nur leise und Pavel gelangte ohne Zwischenfälle in einen anderen Raum, indem es nur geringfügig heller war. Die Fenster waren überall zu weit unterhalb des Dachs angebracht, sodass das Mondlicht nicht richtig bis zum Boden durchkam. Außerdem vermutete er stark, dass sie durch die jahrelange Vernachlässigung so verdreckt waren, dass auch kaum etwas dadurch zu sehen sein konnte. „Maciej? Hallo, ist da jemand? Wir müssen zurück!“ Seine Stimme hallte in diesem großen, fast leeren Raum verzerrt wider und am liebsten wäre Pavel auf der Stelle nach draußen gerannt; diesen Ort empfand er als extrem unheimlich und auch verstörend. Alleine hier herumzulaufen erschien ihm fast wie eine bewusste Quälerei der anderen. Aber er unterdrückte den Drang zu flüchten und wartete auf eine Reaktion. Im hinteren, noch schwächer beleuchteten Teil bewegte sich etwas und näherte sich ihm, zögernd und schleppend. „Patrycja? Kamil? Seid ihr das?“ Automatisch trat er einen Schritt vor, um besser sehen zu können, wen von den dreien es hier in diese recht trostlose Halle geführt hatte. War derjenige verletzt oder warum bewegte er sich so seltsam wankend auf ihn zu? Derjenige kam ihm immer näher und als er soweit in sein Blickfeld geraten war, dass man Einzelheiten erkennen konnte, schien Pavels Herz vor Entsetzen einige Schläge lang still zu stehen; damit hätte er im Leben nicht gerechnet. Damit konnte man gar nicht rechnen, wenn man nicht davon ausging, direkt in einem grausigen Alptraum festzusitzen. Was er im ersten Augenblick für einen von den anderen gehalten hatte, war nicht menschlich; oder besser ausgedrückt eher nicht mehr. Das einzige, woran man noch erkannte, dass das bis vor zwei Stunden Kamil gewesen war, war die schmale Silberkette mit dem Kreuzanhänger, die er noch heute Mittag um sein linkes Handgelenk gebunden getragen hatte. Nun baumelte der Schmuck an einem von vier gekrümmten Armen eines völlig grotesken Wesens, das sich mit jedem Schritt ihm unaufhaltsam näherte. Eigentlich wollte Pavel weglaufen, schreien, sich verstecken, aber seine Beine schienen damit überhaupt nicht einverstanden zu sein, sie bewegten sich keinen Meter, deshalb blieb er, wo er war, und musterte verängstigt das, zudem Kamil geworden war. Die Größe stimmte noch überein, der Rest hatte sich grundlegend verändert; die vier Arme mit den sechsfingrigen Händen, die in spitzen, dunkelblauen Krallen endeten, waren noch das harmloseste, die pupillenlosen Augen oder die schwarzglänzende Haut jagten Pavel deutlich mehr Angst ein. Zum Glück erahnte er die übrigen Gliedmaßen nur, sonst wäre er vielleicht sofort völlig panisch in sich zusammengesunken. Aber was ihn am meisten wunderte, was er überhaupt nicht verstehen konnte, war, dass er den Anblick dieses eigentlich völlig entstellten Jungens nicht absolut hässlich und abstoßend fand, sondern in erster Linie bizarr und furchteinflößend. Lag möglicherweise am Schock, den er durch diesen Anblick erlitten hatte, denn fürchten und ekeln sollte er sich auf jeden Fall. Das Etwas bemerkte nun seine Anwesenheit und zischte ihn böse an, wie ein Schwan in Abwehrhaltung; dann stürmte es auf ihn zu und stieß ihn mit einem Schlag seiner Arme zu Boden, sodass Pavel mit dem Kopf auf den Metallfliesen aufschlug und benommen dort liegen blieb. Das hatte er nicht kommen sehen und selbst wenn er es vorher bemerkt hätte, seine zitternden Beine hätten ihm den Dienst versagt und er wäre statt wegzulaufen hilflos umgeknickt. Eine von Kamils Hand schloss sich fest um Pavels Unterschenkel und zerrte ihn in seiner liegenden Position hinter sich durch eine weitere Tür am anderen Ende des Raums in absolute Dunkelheit. Man sah nichts, nicht einmal die Hand vor Augen oder den Boden unter sich. Pavel schrie verzweifelt und versuchte sich zu befreien, aber es brachte nichts, er wurde weiter mitgeschleift, immer weiter abwärts, bis Kamil plötzlich stehen blieb, sein Bein endlich losließ und auf etwas zu warten schien. Pavel war vor Angst wie gelähmt, weder seine Arme noch Beine gehorchten ihm, sodass er die Gelegenheit zur Flucht nicht nutzen konnte und sich erst halbwegs rührte, als es schon zu spät war und Kamil sich schon wieder auf ihn zubewegte. „Bitte, lass mich gehen“, bettelte Pavel halb wahnsinnig vor Angst und machte sich so klein wie möglich, um Kamil nicht noch mehr auf sich aufmerksam zu machen, obwohl er genau wusste, dass es nichts half. Was auch immer er mit ihm vorhatte, er würde es durchziehen. „Ich will nach Hause.“ Kamil reagierte überhaupt nicht auf sein hilfloses Gejammer, sondern kniete sich umständlich, da er mit seinem neuen Körper noch nicht gut umgehen konnte, vor ihn, hakte seine spitzen Krallen in den Stoff seiner Jeans und riss ihm rücksichtslos diese kaputt; dabei hinterließ er blutige Kratzer an Pavels Beinen, doch der Junge stand so unter Schock durch das Geschehene, dass er es kaum spürte. Seine Aufmerksamkeit war auf das gerichtet, was mit großer Wahrscheinlichkeit gleich folgte. Eigentlich war es keine logische Konsequenz, aber da sich bisher alles von schlimm zu schlimmer gewendet hatte, musste nun das Unausweichliche kommen. Ein verräterisches Wimmern verließ seine Kehle; er wollte weinen vor Angst, doch selbst das schaffte er nicht. . Zwei deformierte Hände packten seine zerkratzten Oberschenkel und drückten sie gewaltsam auseinander, eine Hand umfasste grob seinen Penis und die vierte zwang drei Finger nacheinander in sein Loch. Pavel schrie gellend auf und wollte sich aus Kamils Fängen winden, ihm notfalls davon kriechen, aber je heftiger er sich bewegte und nach ihm trat, desto mehr tat Kamil ihm weh, sodass Pavel schließlich unter Schmerzen seinen Widerstand aufgab und still vor sich hinleidend liegen blieb. Er hoffte einfach, dass Kamil schnell genug das Interesse an ihm verlor und ihn in Frieden ließ. Sein Wunsch blieb unerfüllt, Kamil schien richtig Spaß daran zu entwickeln, ihn so grausig zu quälen; zuerst dehnte er ihn grob und so stark, dass Pavel befürchtete, er könnte ihn auseinanderreißen, doch stattdessen verschwanden schließlich Kamils stechende Finger aus ihm, dafür stieß nun mit aller Gewalt sein unförmiges Glied in ihn. Am liebsten hätte Pavel sich übergeben, so sehr widerten ihn die Situation und die Handlungen, die Kamil an seinem Loch durchführt, an. Aber das schrecklichste war mit Abstand, als Kamil sich nach einem heftigen Stoß aus ihm zurückzog und ein fürchterlicher Schmerz durch Pavels Unterleib jagte, als würde man sein Innerstes mit Schleifpapier bearbeiten. Vermutlich befanden sich an Kamils Glied Widerhaken, die ihn von innen her aufrissen, denn an seinen Beinen spürte er sein Blut entlanglaufen und auf den Boden tropfen. Jeder weitere Stoß war eine Qual und Kamil steigerte sich immer mehr in seine Gier hinein, bis er seinen Höhepunkt erreichte, während Pavel halb bewusstlos vor Schmerz unter ihm lag und betete, dass er ihn endlich von diesem Grauen erlöste. Zum Glück war Kamil nicht in ihn gekommen, falls seine neue Gestalt dazu überhaupt in der Lage war, sonst wäre er vor Ekel und Scham am liebsten auf der Stelle gestorben. Irgendwo fragte ihn in seinem Kopf eine flüsternde Stimme, ob er durch die innere Verletzung vielleicht verbluten könnte. Es klang absolut makaber, wie aus einer schlechten Zeitungsüberschrift - Schüler von genetisch mutiertem Klassenkamerad zu Tode vergewaltigt – und wäre der demütigenste Tod, den sich Pavel vorstellen konnte; so wollte er nicht enden, lieber litt er noch eine Weile. Er musste irgendwann durch diese Qualen ohnmächtig geworden sein, denn als er zu sich kam und bewusst wieder seine Umgebung wahrnahm, lag er allein auf den kalten Fliesen inmitten einer Blutlache; Kamil hatte wohl das Interesse daran verloren, ihn so brutal zu misshandeln, und suchte sich einen neuen Zeitvertreib. Trotzdem hatte Pavel weiterhin panische Angst, dass Kamil doch noch zurückkehrte und ihn ein zweites Mal vergewaltigte. Und ihn dabei sogar tötete. Mühsam rollte er sich vom Rücken auf den Bauch und kroch auf allen vieren so schnell sein geschundener Körper es ihm erlaubte vom Ort des Grauens weg, in die entgegengesetzte Richtung, um bloß nicht Kamil in die Arme zu laufen. Wer wusste, was er dann als nächstes Abnormales mit ihm anstellte. Wenn er Glück hatte, gab es für diesen Bereich noch einen zweiten Ausgang, durch den er fliehen konnte. Ein letzter Funke Hoffnung lebte noch in Pavel, allerdings drohte er vor Schmerz, Angst, Verzweiflung und Fassungslosigkeit über die Wendung ihres kleinen Ausflugs langsam zu erlöschen. Für Pavel zählte im Moment an meisten, dass Maciej kein ähnliches Schicksal wie Kamil ereilt hatte, das wäre einfach zu schrecklich für ihn, allein die Vorstellung verursachte ein Stechen in seinem Herzen. Es gab wirklich noch einen Ausgang, aber der Weg, den er danach nahm, um hinauszugelangen, wollte nicht enden und ihn endlich in die Freiheit entlassen. Pavel konnte kaum noch eine Hand vor die andere setzen und sich weiterschleifen, ihm war grauenhaft schlecht, der Blutverlust machte ihm zu schaffen, und sein Körper bestand aus einem einzigen ewig pochenden Gefühl, als würde er bald auseinanderfallen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sein Verstand wie verrückt damit beschäftigt war, dass eben Erlebte zu verdrängen, es als Traum, wahnsinnige Fantasie abzustempeln und die Vergewaltigung auf andere Art zu erklären. Im Grunde seines Herzens wollte sich Pavel nur noch auf den Boden legen und sterben, damit es alles ein Ende fand. Mit letzter Kraft schleifte er sich in den nächsten Raum und blieb dort schluchzend und zitternd auf dem Mettaluntergrund liegen. In seinem Kopf schwirrte weiterhin die Frage, wieso Kamil ihm das angetan hatte, und bereitete ihm Übelkeit. Er zwang sich, den Gedanken fallen zu lassen und konzentrierte sich zur Ablenkung auf seinen Herzschlag, der unnatürlich schnell war, ihm aber signalisierte, dass er noch lebte. Irgendwo vor sich hörte Pavel ein bedrohliches Schaben, so wie vorhin, als Kamil aufgetaucht war, und vor Schreck rollte er sich so klein wie möglich zusammen und traute sich kaum hinzusehen, was nun auf ihn zukam. Als er wieder etwas unnatürlich Schwarzes in seinem Augenwinkel wahrnahm, kniff er die Augen zu und wünschte, dass es ihn nicht bemerkte. Aber mit was für einer Art Wesen er es hier zu tun hatte, sie sahen entweder erstaunlich gut in der Düsternis oder erkannten Dinge auf anderen Weise, nicht mit den Augen; zwei Gestalten umringten Pavel nun und musterte ihn eingehend. Ob sein Anblick sie erschreckte oder völlig kalt ließ, konnte er nicht deuten. Pavels Hoffnung, dass Maciej nicht genauso mutiert war wie Kamil, zerbrach in tausend Splitter und er konnte nur mit Mühe die Tränen unterdrücken, die in ihm aufstiegen. Den Jungen, in den er so verliebt gewesen war, gab es nicht mehr und dafür stand ein fremdes Wesen, das mit Maciej nur die angenehmen blauen Augen gemeinsam hatte, vor ihm. Ansonsten fielen ihm diverse Ähnlichkeiten mit Kamil auf, wie die Hautfarbe, die Anzahl der Arme und die Krallen, allerdings erinnerten Maciejs Hände eher an die Tatzen einer Raubkatze, er wirkte insgesamt besser proportioniert und seine Züge hatten wenigstens noch ansatzweise etwas menschliches an sich. Trotzdem war er vom menschlichen Dasein nie weiter entfernt gewesen. Bei Patrycja war das Ergebnis deutlich anders verlaufen als bei ihren Freunden; statt Arme hingen an ihren Seiten ein paar dünne, grün schimmernde Flügel herunter, ihr Körper war eher wie der einer übergroße Kartäuserkatze aufgebaut und Pavel glaubte hinter ihre einen mit kleinen Fischschuppen überzogenen Schwanz ausschlagen zu sehen. Sie wirkte nicht unbedingt wie ein Monster, eher wie ein Sammelsurium an unterschiedlichen Tierarten, die man wahllos durcheinander geworfen hatte. Was hatten die drei nur getan, damit ihnen so etwas widerfahren war? Pavel hatte sie doch höchstens eine halbe Stunde aus den Augen gelassen, da konnten sie sich nicht einfach in groteske Monster verwandeln, das stimmte vorne und hinten nicht überein. Und warum geschah dann mit ihm nicht das gleiche? Warum blieb er ein Mensch und musste zusehen, wie sie ihn quälten? Maciej ging in die Hocke, auch bei ihm sah es unsicher und ungewohnt aus, was er tat; er klemmte Pavels Oberkörper zwischen zwei seiner Pfoten ein und hob ihn dadurch an, um einen besseren Blick auf ihn zu erhalten, ihn genauer studieren zu können. Die ganze Zeit über hielt Pavel den Blick gesenkt, auf die Fliesen unter sich, er konnte Maciej nicht mehr ansehen, es tat einfach zu weh in seiner Seele. Eigentlich wäre es nur eine logische Konsequenz, nun sterben zu müssen, denn nach diesen Vorkommnissen wollte er gar nicht mehr am Leben sein, ohne Maciej, auf den er doch sein ganzes Dasein mehr oder weniger ausgerichtet hatte. Ein Kreischen kam von Patrycja, ein unangenehmer Ton, der Pavel zusammenzucken ließ, aber es schien wohl eine Art Kommunikation zu sein, durch die sich Maciej und sie verständigten, denn Maciejs Druck auf seine Seiten wurde härter und der Blick seiner Augen automatisch stechender. Was auch immer Patrycja ihm mitgeteilt hatte, es gefiel ihm nicht. Hoffentlich hatten sie nicht die Spuren der Vergewaltigung richtig gedeutet, es wäre zu beschämend, von den beiden unter diesem Aspekt näher betrachtet zu werden, es genügte, das er hier halb nackt vor ihnen in der Luft hing. Ohne Vorwarnung zuckte Maciejs Kopf nach vorne und drückte sich gegen Pavels Hals, als wollte er ihm jede Sekunde in die Kehle beißen, aber es blieb bei der Berührung. Pavel wusste nicht, was er davon halten sollte, da er dem menschlichen Maciej nie so nah gekommen war wie jetzt und im Moment gar nicht wollte, dass er sich ihm näherte. Im schlimmsten Fall hatte er dasselbe wie Kamil vor und ging es nur auf andere Art an. Immerhin wusste er nicht, ob sich nicht nur das Aussehen, sondern auch der Verstand und die Psyche geändert hatten. Hinter ihm knurrte Patrycja leise auf, schlug mit ihren Flügeln Maciejs Pfoten zur Seite – Pavel hatte keine Chance mehr, rechtzeitig zu reagieren, fiel auf die Knie und schlug sie sich auf – und versenkte ihre spitzen Zähne tief in seinem Hals. Die Erkenntnis traf ihn erschreckend spät: Sie wollte ihn umbringen, weshalb auch immer. Vielleicht weil sie durch die Veränderung nicht mehr wie ein Mensch dachten oder sie sich durch seine Anwesenheit bedroht fühlte. Vielleicht tat sie es auch ohne solche Motive, sondern nur, weil sie töten wollte. Mit aller Kraft riss sie ihn nach hinter, wo er regungslos und von neuen Schmerzen geplagt liegen blieb, spürte, wie immer mehr Blut aus den verschiedenen Wunden an seinem Körper strömte, und sich mit letzter Kraft fragte, warum er so dumm gewesen war und sich aus Liebe zu einem Jungen, für den er sowieso nie jemand Besonderes gewesen war, in solch einen kranken Alptraum hatte mitreißen lassen, den er als einziger nicht überlebte. Es schien sein Schicksal zu sein, in dieser Viererkonstellation immer auf der Strecke zu bleiben. „Warum hast du das getan?“ Maciej zog seine Krallen ein, hob den leblosen Pavel hoch und drückte ihn an sich, als ob er ihn vor ihr schützen musste. „War das deine Rache an ihn?“ „Natürlich nicht, das weißt du ganz genau“, knurrte Patrycja ihn aufgebracht an. „Ich hatte nie ein Problem mit ihm, auch wenn ich immer Angst hatte, dass du dich vielleicht irgendwann für ihn entscheidest.“ Ihre Flügel schlugen heftig auf und ab und ihre in einem intensiven grün leuchtenden Augen versuchten ihn in Grund und Boden zu starren. „Aber sieh ihn dir an. Er ist sowieso schwer verletzt, vielleicht bis an das Ende seines Lebens traumatisiert, das kann man ihm nicht zumuten.“ „Aber deswegen muss man ihn nicht umbringen.“ Vorwurfsvoll bedachte Maciej sie mit seinen Blicken. „Wenn nicht ich, dann hätte Kamil das irgendwann getan, es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen. Und du weißt genau, dass Pavel dann viel mehr und länger gelitten hätte. Allein was er vorhin mit ihm gemacht hat ist nicht normal. Er hat ihn einfach vergewaltigt, vielleicht hatte er schon da vor, ihn umzubringen.“ Sie schüttelte den Kopf über Kamils unglaubliches Verhalten. „Natürlich, aber dass du ihn stattdessen umbringst ist so...“ Maciej suchte nach den richtigen Worten, aber keins schien ihm der Situation gerecht zu werden. „Unmenschlich? Das kannst du auch über uns sagen.“ Einer ihrer Flügel berührte zur Unterstreichung ihrer Worte alle seine vier Arme. Für sie beide fühlte es sich alles neu und ungewohnt an, besonders ihre Körper. In ihren Köpfen spukte die ganze Zeit über die Gewissheit, dass nie wieder alles so wie früher werden würde. „Komm, begraben wir Pavel draußen im Wald und dann suchen wir Kamil, bevor er sich seine nächsten Opfer sucht. Immerhin hat er eine ganze Klasse zur Auswahl.“ Sie drehte sich um und verließ auf ihren acht spinnenartigen Beinen etwas ungelenk den Raum, Maciej folgte ihr mit etwas Verspätung. Ihn berührte Pavels trauriges Ende sehr, auch wenn er versucht hatte, es vor Patrycja nicht allzu stark nach außen zu tragen. Unbestritten war er nämlich schuld, dass Pavel in das alles mit hineingezogen worden war und deshalb nicht mehr lebte. Er hing tot in zwei seiner Arme, während sie dieses unglückselige Gelände hinter sich ließen. Zurück blieb nur eine große rote Pfütze auf grauschwarzen Platten und einige hell schimmernde Schuppen. Kapitel 2: Die Realität ist mörderisch -------------------------------------- Eliasz war sich sicher, noch nie im Leben so eine furchtbare Unterkunft erlebt zu haben, doch statt sich ununterbrochen darüber aufzuregen, fand er es ziemlich witzig, alle möglichen Macken des Zimmers herauszufinden und auszutesten, wie weit er gehen konnte, ohne sich eine Verwarnung wegen Sachbeschädigung einzuhandeln. Der Wasserhahn am Waschbecken in der Ecke wackelte bedenklich, wenn man ihn auf und zu drehte; kippte man das Fenster, quietschte es immer fürchterlich und ließ sich manchmal erst wieder mit Gewalt schließen. Das vierte Bett im Zimmer, das keiner belegen wollte, weil die Matratze darauf schon wie mit Schimmel überzogen aussah, bog sich viel zu weit durch, wenn man sich auch nur mit einem Fuß auf den Rand stellte. Insgesamt fühlte er sich wie in einem kleinen Abenteuerland voller Gefahren, das man unbedingt ausgekundschaftet haben musste, bevor man wieder nach Hause und ins vertraute, gut eingerichtete Leben zurück kehrte. Romek hingegen interessierte sich nicht dafür, ob man jetzt das Bett zum Einsturz bringen konnte oder nicht; er lag lieber auf seinem eigenen Bett, das nicht ganz so wackelig in der Weltgeschichte herumstand und blätterte in einer Zeitschrift, die er sich von zuhause mitgenommen hatte. „He, willst du mal was anderes machen außer dich zu bilden? Komm her und lass dich auf mein Niveau herab.“ Für Eliasz' Geschmack las und dachte Romek nämlich eindeutig zu viel; nicht dass er ihn in seinem intellektuellen Verhalten beeinträchtigen wollte, aber er wollte auch mal Beachtung erhalten. „Ja, gleich.“ Nicht unbedingt begeistert von der Aussicht, sich nicht mehr seiner Lieblingstätigkeit widmen zu können, riss Romek sich von dem Artikel über die Zellmembran los und legte das Heft neben sich auf den gefährlich schwankenden Nachttisch, bevor er sich erhob und zu Eliasz ging, der breit grinsend in der Mitte des Zimmers stand, wie ein Weltherrscher über sein Königreich. „Weißt du was? Ich hab noch nie so einen gammligen Raum gesehen“, verkündete Eliasz stolz und zeigte auf die Decke, an der ein früherer Wasserschaden deutliche Flecken hinterlassen hatte. „Wollen wir mal die anderen besuchen und nachsehen, ob es bei ihnen genauso schlimm aussieht?“ Seine Hand packte schon wie selbstverständlich Romeks Arm; er wollte gar keine Antwort, für ihn stand sie schon fest. „Nein, warum denn? Das bringt uns doch gar nichts. Außer du willst einen genau Bericht darüber verfassen, wo in welchem Zimmer welche Mängel auftreten und uns auf die Nerven gehen.“ Genervt verdrehte Eliasz die Augen; Romek war so schrecklich unspontan und schwer zu begeistern, ganz im Gegenteil zu ihm. Er mochte ihn ja, aber diese Charakterzüge störten ihn doch öfter als dass er sich über sie lustig machen konnte. Kein Wunder, dass Romek außer ihm kaum Freunde hatte, wenn er alles immer sofort abblockte. Was natürlich im Umkehrschluss bedeutete, dass er ihn nicht mit tausend anderen Menschen teilen musste, was er auch nicht schlecht fand. Es gab immerhin so wenig Dinge auf der Welt, die man nur für sich besitzen durfte. „Dann halt nicht, bleiben wir halt hier und langweilen uns.“ Der Rest ihrer Klasse feierte bestimmt schon eine kleine Feier in einem der Zimmer und sie wären die einzigen, die sich nicht anschlossen, nur weil Romek sich mal wieder nicht integrieren wollte. Entweder durfte Eliasz das dann wieder übernehmen oder es ganz sein lassen. „Du kannst ja zu den anderen gehen, ich hab kein Problem damit, aber ich will halt nicht“, stellte Romek klar und machte sich wieder auf den Weg zurück zu seinem Lieblingsplatz. „Pavel wird sowieso bald wieder kommen, ich werde also nicht ewig alleine bleiben.“ Romek wusste nämlich genau, dass Eliasz es nicht guthieß, wenn er sich ständig nur ohne Gesellschaft irgendwo aufhielt. Und ganz besonders, wenn er versuchte, sich von ihm abzukapseln. „Wenn du meinst.“ Toll fand Eliasz diese Aussicht nicht, ohne ihn durch die Gänge zu geistern, aber die Hoffnung auf Spaß und Belustigung durch betrunkene Mitschülerinnen klang besser als Langweile ertragen mit einem schweigenden, sich über Cytoplasma, Neuronen und GABA informierenden Jungen an der Seite. Wann hatte man denn sonst die Möglichkeit auf etwas Party vor der eigenen Tür? Eliasz machte sich auf die Suche, wo denn die meisten der Klasse, die kaum zwanzig Leute umfasste, herumhingen; das Wetter war zu schlecht, um draußen mehr zu tun als zu rauchen, weshalb er von Zimmer zu Zimmer schlich und dort fragte, wo denn jetzt etwas passierte. Schließlich saß er mit einem Großteil ihm Zimmer von Jerzy, der es sich eigentlich noch mit Maciej und Kamil teilte; die waren allerdings noch verschwunden. Böse Zungen behaupteten, Maciej und Patrycja wären gerade dabei, Sex zu haben, und Kamil würde sich in der Zwischenzeit Pavel widmen und ihn gehörige fertig machen. Es war ein offenes Geheimnis, dass die beiden nicht miteinander auskamen und Kamil ihn permanent von Maciej entfernen wollte. Genauso viel Stoff für Tratsch bot da die Tatsache, dass Kamil sich mit Patrycja nicht unbedingt besser verstand, sie aber dudeln musste, weil Maciej schließlich sein bester Freund war. Wieder einmal war Eliasz froh, solche Probleme wie diese merkwürdige Gruppierung nicht zu haben; zu seinen Freunden zählten zwei der hier Anwesenden und irgendwie auch Romek, mit dem Rest kam er gut klar. Jerzy zauberte unter seinem Bett, das deutlich mehr aushielt als die in ihrem Zimmer, zwei Flaschen Wodka hervor, die in kurzer Zeit geleert wurden. Man wollte schließlich Spaß haben und den bekam man nur durch Alkohol. Da machte Eliasz keine Ausnahme, aber wenigstens gab er es offen zu, nicht so wie viele andere der hier Anwesenden. Irgendwie war das Treffen sinnlos; man saß nur herum, trank eine nach Desinfektionsmittel schmeckende Flüssigkeit, machte dumme Sprüche zu allem und jedem und fing an, plötzlich seine Mitschülerinnen anzugraben. Was er natürlich nicht tat, erstens konnte so was übel enden, wenn man es mit dem Alkohol übertrug und zweitens war hier sowieso keine, für die er sich interessierte. Gegen zehn kam eine der Lehrerinnen, die eigentlich als Hauptaufgabe auf die Schüler aufpassen sollte, in Wirklichkeit sich aber um alles Mögliche, nur nicht um sie kümmerte, und versuchte autoritär mitzuteilen, dass nun langsam die Nachtruhe begann und alle sich auf ihre Zimmer begeben sollten. Nur unter Protest löste sich die Versammlung schleppend auf, einige kicherten dämlich, andere konnten nicht mehr richtig gerade laufen. Eliasz gehörte zu keiner dieser Sorten, aber ihm war doch etwas schlecht, vielleicht hätte er weniger trinken sollen. Mitleid durfte er sich deswegen auf keinen Fall von Romek erhoffen. „Da bin ich wieder“, murmelte er, als er die Tür aufschob und sich gleich in sein Bett fallen ließ. Klamotten ausziehen wollte er jetzt nicht, dazu war er zu faul. Nachher, wenn es ihm wieder etwas besser ging. „Wo ist Pavel? Ist er noch nicht da?“ Romek zuckte mit den Schultern, schaute aber nicht von den bedruckten Seiten auf. „Keine Ahnung, er war noch nicht hier. Ich dachte, er wäre vielleicht gleich zu euch gegangen und deshalb nicht hier gewesen.“ Aus diesem Grund hatte Romek es nicht für nötig gehalten, sich um ihn Sorgen zu machen oder ihn zu suchen. Was konnte er dafür, wenn Pavel nicht pünktlich zur Nachtruhe wieder heim kam. „Vielleicht hat er inzwischen Maciej Patrycja ausgespannt und macht jetzt mit ihr rum“, überlegte Eliasz laut und lachte selbst über seinen dummen Einfall. Das lag nur am Alkohol, das stand fest. „Oder er und Kamil haben plötzlich gemerkt, dass sie sich doch gar nicht so scheiße finden, wie sie immer tun. Oh nein, Bilder in meinem Kopf… verdammt, ist das krank.“ Er lachte noch mehr; das tat ihm nicht gut, ihm wurde dadurch noch schlechter. „Was ist mit dir los?“ Verwirrt warf Romek ihm einen skeptischen Blick zu. „Bist du betrunken oder was soll das affige Gekicher? Du bist doch sonst nicht so drauf. Oder hab ich was verpasst?“ „Nein, hast du nicht.“ Langsam nahm das Gespräch seltsame Dimensionen an, das beste Anzeichen, es sein zu lassen. Vielleicht sollte er auch mal schlafen gehen, die Uhr zeigte zwar noch keine so späte Zeit an, aber morgen wäre bestimmt ein anstrengender Tag, wenn sie die nächstgrößere Stadt erkunden und im schlimmsten Fall noch wandern gehen mussten. Hoffentlich war bis dahin die Jugendherberge nicht in sich zusammengefallen. „Ich glaub, ich geh pennen.“ Eliasz gähnte demonstrativ, um Romek von seiner Absicht zu überzeugen; wenn er nämlich weiterhin lesen wollte, ließ er das Licht an und dann konnte er nicht schlafen. „Gehst du auch? Wäre echt nett, du weißt, ich kann nicht mit Licht schlafen.“ „Wenns sein muss. Les ich halt morgen weiter, auch kein Ding.“ Sie zogen sich beide um, machten sich am absturzgefährdeten Waschbecken fertig und schlüpften dann unter die Decken. Draußen auf dem Flur hörte man nur ganz leises Murmeln, die anderen hielten sich wohl ebenfalls an die Regeln, um nicht frühzeitig von der Klassenfahrt verwiesen und das Geld umsonst bezahlt zu haben. Nun konnte Eliasz allerdings nicht mehr einschlafen; ihn wunderte es nämlich extrem, wo Pavel blieb, und er machte sich doch etwas Sorgen um ihn. Und er hatte gerade wieder dieses seltsame Bedürfnis, sich aus seinem Bett zu schleichen und sich zu Romek zu legen. Wahrscheinlich fand er wieder den Gedanken, allein einschlafen zu müssen zu unschön, um sich mit ihm anfreunden zu wollen. Leise, um Romek nicht zu wecken, wechselte Eliasz seinen Schlafplatz und kroch zu seinem Freund. Eigentlich sollte er so etwas nicht machen, das wusste er, Romek mochte es nicht, wenn man ihn ungefragt anfasste, aber manchmal überkam ihn das starke Bedürfnis danach und das durfte man nicht einfach verdrängen; oder besser gesagt, Eliasz schaffte das einfach nicht. „Eliasz, ich weiß, dass du da bist.“ Romek drehte sich zu ihm um und schüttelte resigniert den Kopf. „Wenn du dich wenigstens geschickt dabei anstellst… aber so ist das echt witzlos.“ Peinlich berührt, weil er ihn schon wieder auf frischer Tat ertappt hatte, antwortete Eliasz nicht. Jedes Mal das gleiche Theater und immer flog es auf, weil Romek entweder davon aufwachte – dabei gab er sich Mühe, sich leise zu bewegen – oder noch gar nicht geschlafen hatte. „Komm, geh wieder in dein Bett, dann haben wir beide mehr Platz.“ Romek legte wirklich keinen Wert darauf, ihn so nah bei sich zu haben; Eliasz vermutete, dass Romek gar nicht wusste, wie er damit umgehen sollte und ihn deshalb immer gleich rauswarf. „Ist ja gut.“ Er musste die Lage nicht noch hochschaukeln und ergab sich Romeks Wünschen. Solange dieser es dann nicht bei den anderen an die große Glocke hängte, machte es Eliasz auch nicht so viel aus. „Pavel ist immer noch weg.“ Zwar war das einerseits als radikaler Themawechsel gedacht, andererseits sollte sie dieser Fakt wirklich beschäftigen. Pavel klebte zwar gerne und vor allem lang an Maciej und seinen Freunden, aber über Nacht quartierte er sich auf keinen Fall bei ihnen ein, das ließ Kamil keine Sekunde lang zu. „Ja und? Er ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Vielleicht ist er wirklich noch bei denen drüben im Zimmer.“ Romek sah in Pavels Abwesenheit keine Katastrophe, er wollte lieber etwas schlafen, wenn sein Freund ihn schon dazu gezwungen hatte, das Lesen auf morgen zu verschieben. „Ich guck mal nach.“ Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig nachgesehen. Noch etwas wackelig vom Wodka zog sich Eliasz seine Jeans über – in Schlafklamotten musste er nicht unbedingt dort drüben auftauchen – und machte sich auf den Weg. Jerzy öffnete ihn erst die Tür, als er schon so oft geklopft hatte, dass ihm die Finger weh taten; sein Blick ging durch Eliasz durch und in einem seiner Ohren steckte ein blauer Kopfhörer. Kein Wunder, dass er ihn zuerst überhört hatte. „Hm, was ist? Party ist nicht mehr, ich hab keinen Bock auf Ärger.“ „Sind Maciej und Pavel da?“ Denn wo Maciej steckte, war Pavel auch nicht weit entfernt, wenn er wieder in dieser Phase hing, in der er ohne Maciej einfach nur unerträglich wurde. „Nee, irgendwie nicht. Ich dachte, die wären vielleicht bei euch. Kamil ist auch nicht hier. Ich hab echt keinen Plan, wo die sein könnten, vielleicht probieren sie gerade alle drei aus, wie Patrycja so im Bett ist.“ Sein Grinsen wirkte nicht halb so überzeugend, wie er es wohl gerne hätte, aber es war ein offenes Geheimnis, dass er Maciej die Beziehung zu Patrycja nicht gönnte. „Okay.“ Das beruhigte ihn überhaupt nicht, auch Jerzys alberne Vorstellung ließ es nicht besser erscheinen. Die drei – und wohl auch Patrycja – waren wie vom Erdboden verschwunden und sie würden morgen ziemlichen Ärger mit den Lehrern bekommen, wenn sie dann ihr Verschwinden bemerkten. Zum Glück wurde heute Nacht noch nicht so streng kontrolliert. „Romek, ich glaube, wir müssen sie suchen“, meinte Eliasz ziemlich durcheinander, als er durch die Tür stürmte. „Sie sind auch nicht bei Jerzy.“ „Ähm, bist du wahnsinnig? Es ist nachts, dunkel, kalt wie im Winter, wir haben keine Ahnung, wo sie sein könnten und wenn wir erwischt werden, sind wir dran. Aber ansonsten klingt dein Plan richtig gut.“ Romek setzte sich in seinem Bett auf; in seiner Haltung erkannte man leichte Skepsis und Unzufriedenheit über den Vorschlag. Er war niemand, der sich für ungeplante Suchaktionen in einem Waldgebiet begeistern lassen konnte. „Dann bleib hier, geh ich halt allein.“ Zwar fand Eliasz die Vorstellung, allein durch einen fremden Wald mit einer schwachen Taschenlampe in der Hand zu hasten gruselig, aber jetzt konnte er sowieso nicht mehr schlafen, bevor er nicht wusste, was da los war. Er streifte sich noch einen Pullover und seine Jacke über und wollte schon seine Turnschuhe zubinden, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. „Ich komm ja mit, bevor du dich da draußen verläufst und mich dann dafür verantwortlich machst.“ Seufzend ergab sich Romek seinem Schicksal; im schlimmsten Fall kam Eliasz nämlich erst am nächsten Morgen zurück, vollkommen fertig mit den Nerven und permanent am Jammern, während die Gesuchten schon seit Stunden wieder eingetroffen waren. „Danke, Romek, du bist der beste.“ Schon hob sich Eliasz' Laune wieder ein bisschen; zu zweit ließ sich so etwas doch viel besser bewältigen als allein. Außerdem wäre es dann nicht so unheimlich. Nachdem sich auch Romek umgezogen hatte, schlichen sie sich leise aus dem Zimmer und den Flur entlang, lauschten ab und zu an Türen, um zu hören, ob Pavel vielleicht dahinter dabei war, aber entweder war alles stumm oder die Stimme gehörte nicht zu ihm. Zu ihrer eigenen Überraschung kamen sie ganz leicht aus der Jugendherberge heraus, da die Tür schon so schief in den Angeln saß, dass man sie gar nicht mehr richtig verschließen konnte. Zum ersten Mal heute hatte diese Bruchbude etwas Gutes an sich. „Und, weißt du, wo wir lang wir müssen?“, erkundigte sich Romek flüsternd bei Eliasz, der die Leitung übernommen hatte und auch die Taschenlampe in der Hand hielt. „Hm, ich nehm mal an, sie sind entweder immer noch bei dieser Fabrik oder irgendwo im Wald. Diese hässliche Jugendherberge kann man ja gar nicht übersehen, die hätten sie sonst längst gefunden.“ Es gab noch etliche andere Möglichkeiten, wo sich die vier aufhalten konnten, angefangen bei der großen Rasenfläche, die nicht wie der Wald hinter der Herberge verlief, sondern davor und sich auch über einige Kilometer erstreckte, bis hin zu den paar Häusern, die man zwar nicht als Dorf, aber immerhin als Verbindung zur Zivilisation ansehen durfte. Trotzdem sollten sie im Wald anfangen, denn dort hatten sie sich theoretisch zuletzt aufgehalten. „Gut, dann geh mal vor und leuchte uns.“ Sonst standen sie in einer Stunde immer noch hier herum. Eliasz war das Ganze hier nicht so geheuer, obwohl er nicht allein durch den Wald stapfen musste; man sah kaum etwas, der Mond leuchtete zu schwach, um ihnen behilflich zu sein, der Wind wechselte unregelmäßig zwischen lautem Rauschen und zarten Wispern, das aus allen Richtungen zu kommen schien. Es gab einen schmalen Pfad, dem sie folgen konnten; Eliasz verteufelte schon nach kurzer Zeit, sich als Anführer aufgespielt zu haben, denn nur mit der funzeligen Lampe in einer völlig fremden Umgebung einen finsteren Wald absuchen war Stoff für Horrorgeschichten, nicht für einen dämlichen Schultrip. Außerdem ließen ihn die letzten Reste des Alkohols noch hinter jedem zweiten Schatten eine potentielle Gefahr lauern, sodass er eigentlich permanent in Abwehrstellung den Weg entlang trabte und sich nichts sehnlicheres wünschte, als guten Gewissens umdrehen zu können. Ging nicht, die Sorge um Pavel trieb ihn trotz allem weiter. „Hey, Romek, willst du nicht vielleicht vorne gehen?“ „Nein, danke, du machst das sehr gut.“ Eliasz schien Körbe aller Art von Romek zu sammeln, jeder dritte Satz beinhaltete ein nein oder ähnliches. Natürlich hätte er ihm sagen können, dass er sich gerade fürchtete und gerne gehabt hätte, dass er nicht an der Spitze allein ins Ungewisse rannte, aber sein letzter Rest stolz verbat ihm so etwas einfach. Die peinliche Bettaktion hatte gereicht, die nächste dumme Geschichte hatte Zeit bis morgen. „Meinst du, wir sollen mal rufen? Vielleicht sind sie in der Nähe und wir laufen dran vorbei, das wäre echt ärgerlich. Und die Jugendherberge ist weit genug weg, die hören uns sicher nicht.“ „Wenn es sein muss.“ Mit wenig Begeisterung stimme Romek zu, aber Eliasz hatte gar nicht mehr erwartet, von daher konnte er froh sein. Abwechselnd schrien sie einen Namen in die Nacht, Eliasz leuchtete mit der Lampe zwischen die Baumstämme und hinter sie, aber nirgends regte sich etwas, keiner antwortete, ihre Bemühungen liefen ins Leere. „Das ist doch schwachsinnig. Lass uns umdrehen, die sind hier nicht.“ „Und wo denn dann? Mann, wir können doch nicht so tun, als wär alles in bester Ordnung, wenn wirklich was passiert ist… ich würde dich auch suchen gehen, also können wir das auch bei Pavel machen.“ Romek grummelte genervt etwas, folgte ihm allerdings weiterhin, denn umdrehen und sich im Dunkeln den Weg bahnen kam nicht infrage. Plötzlich blieb Eliasz stehen; etwas hatte sich im Strahl der Taschenlampe ganz leicht vom Hintegrund abgehoben. „Hey, das ist ein Zaun. Was soll das denn?“ „Zäune stehen meistens da, wo keiner hinsoll. Also auch wir nicht. Los, Eliasz, bitte, es wird langsam echt nervig. Ich möchte gerne zurück in unser Zimmer, mir frieren die Finger ab.“ „Also wenn ich einen Zaun sehe, der dann auch noch so abgefuckt aussieht, würde ich erst recht drüber… was ist das?“ Er richtete die Lampe auf ein paar Spritzer am Boden. Romek ging an ihm vorbei und betrachtete die dunklen Flecken. „Sieht verdächtig nach Blut aus. Und es scheint noch nicht allzu alt zu sein.“ „Oh scheiße! Wenn das jetzt von einem von den anderen ist…“ „Eliasz, reg dich ab, es kann auch von einem verletzten Tier sein.“ Wie immer ging Romek nicht vom allerschlimmsten aus, weil es keine Hinweise darauf gab. „Und wenn es das nicht ist? Ich kann jetzt bestimmt nicht zurück gehen, mich ins Bett hauen und pennen, als wär nichts los, ich geh nachsehen. Kannst ja hier bleiben, wenn du dir so sicher bist.“ Die Sache machte ihn wirklich wahnsinnig; besonders Romeks offensichtliches Desinteresse. Würde er genauso reagieren, wenn er seit Stunden unauffindbar irgendwo verschollen war und solche Spuren auftauchte? Eliasz hoffte es nicht. Er achtete gar nicht mehr auf seinen Freund, sondern folgte der Spur, die ihn auf ein Fabrikgelände führte. Hier nahm die Stärke der Spuren zu, vor Nervosität zitterten seine Hände leicht und erschwerten es ihm, den Boden zu beleuchten. „Warte kurz.“ Etwas außer Atem kam Romek hinter ihm her; durch seine eher unsportliche Lebensweise hatte ihm das Überqueren der Mauer, die als zweiter Absperrwall dienen sollte, mehr angestrengt als Eliasz. „Denkst du jetzt doch, dass da was dran ist?“ „Nein, aber ich lass dich besser nicht allein gehen. Am Ende machst du auch irgendwas Dummes.“ „Danke für dein Vertrauen in mich.“ Beleidigt wandte sich Eliasz wieder den Blutflecken zu. Es war so typisch, er war kurz vor dem Ausflippen und bei Romek regte sich keine Emotion oder zumindest gab er es nicht offen zu. Manchmal kam er sich richtig dumm vor. Er hatte mit viel gerechnet, was auf sie wartete, angefangen vor der Vierergruppe mit mindestens einem Verletzen bis hin zu gar nichts. Als Eliasz im Taschenlampenlicht die riesige Blutlache sah, wurde ihm ganz anders und er dachte, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Es war nicht die Tatsache, dass es Blut war, sondern das Problem, dass er denjenigen wahrscheinlich kannte, der es verloren hatte. Er bezweifelte, dass man das überleben konnte. „Ach du Scheiße.“ Sogar Romek war vor Überraschung deutlich blasser geworden. „Das sieht nicht gut aus.“ „Verdammt, was ist hier denn los?“ Der Tag hatte so harmlos angefangen mit dieser schäbigen Herberge, warum musste ihnen nun so etwas passieren? „Wir sollten den Spuren folgen, wenn wir Glück haben und sie durchgängig sind, dann wissen wir, wo derjenige ist.“ „Wenn wir Glück haben? Der ist dann tot, wenn er soviel Blut auf einmal verloren hat!“ Eigentlich wollte Eliasz seinen Freund nicht anschreien, aber er konnte nicht verstehen, wie man so gefasst und beinahe teilnahmslos über etwas redete, in dem Menschen verwickelt waren, die man kannte, die man sogar irgendwie mochte. Er verstand dieses Verhalten nicht, denn er selbst stand kurz davor, einfach durchzudrehen. Romek schwieg lieber, nahm Eliasz die Taschenlampe ab und folgte den Spuren in einen anderen Teil des Gebäudes, kam aber nach kurzer Zeit wieder. „Die enden dort, wir müssen ihnen also vom Gelände weg hinterher gehen.“ Eliasz hatte furchtbare Angst, was ihnen am Ende des Wegs auflauern konnte, ob er einem schwerverletzten Klassenkamerad gegenübertreten musste oder sich das alles als ganz übler, makaberer Scherz herausstellte. Deswegen ergriff er trotz seinem Versprechen mit sich selbst Romeks Handgelenk. Sein Freund tat ihm den Gefallen und sprach ihn weder darauf an noch schüttelte er ihn ab; ausnahmsweise schien er zu verstehen, dass Eliasz das gerade brauchte, weil er ansonsten keinen Meter mehr vom Fleck gerührt hätte. Es schien immer kälter zu werden und die Blutreste waren nur noch vereinzelt aufzufinden, was ihnen die Sache erschwerte, besonders, weil sie auch nicht den Weg entlang verliefen, sondern hinter dem Zaun im Gras verteilt waren. „Warum sind sie nicht den Weg zurück?“ „Vielleicht haben sie im Dunkeln den Weg nicht erkannt“, mutmaßte Romek, zuckte im nächsten Moment aber mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, Eliasz, keine Ahnung.“ Die Suche nach der nächsten Fährte war zeit- und nervenraubend, besonders da Eliasz permanent die Angst im Nacken saß, dass sie zu spät kamen. Zur Jugendherberge kehrte man auf diesem Weg querfeldein nicht zurück; wenn ihn sein Orientierungssinn nicht trog, bewegte sie sich immer weiter davon weg. „Das ist doch alles verrückt!“, hörte er Romek neben sich murmeln, der seine freie Hand tief in seine Jackentasche vergraben hatte, um sie vor dem Absterben zu bewahren. Es musste inzwischen schon weit nach elf Uhr sein, sie kamen einfach nicht schnell voran. Sie waren beide müde, unterkühlt und trotzdem viel zu aufgekratzt, um einfach den Rückweg anzutreten. Die letzten roten Blutflecken entdeckten sie vor einem Hügel, dessen frisch aufgeworfene Erde ihnen bis über den Knöchel reichte. „Romek, was ist das?“ Eliasz packte seine Handgelenk so fest, dass er ihm fast die Knochen brach. Eine böse Ahnung stieg in ihm auf, aber sie war so schrecklich, um tatsächlich wahr zu sein. „Sieht aus wie ein Grab“, sprach Romek schließlich das aus, was sie beide dachten. Eliasz zuckte zusammen, als hätte sein Freund ihn geschlagen und nicht nur seine Gedanken in Worte gepackt. „Vielleicht ist es wirklich nur ein Tier“, versuchte er sich selbst zu beruhigen, „Sie haben es ausversehen getötet und dann hier versteckt, damit es keiner erfährt.“ Romek schüttelte kaum sichtbar den Kopf. „Deswegen hätten sie sich nicht solche Mühe gegeben.“ Unter Aufbietung seiner Kräfte befreite er sich aus Eliasz‘ Umklammerung. „Bleib hier, ich seh nach.“ Seinen Freund in dieser Situation vorzuschicken wäre die denkbar schlechteste Idee. „Nein, tu es nicht.“ Eliasz‘ Stimme war nur noch ein jämmerliches Krächzen. Auf diese Bitte ging Romek nicht ein; er kniete sich auf den Boden und trug mit den Händen die Erde ab. Die Taschenlampe lag neben ihm und beschien die gespenstische Szene nur dürftig von der Seite. Nach einigen Schichten trafen seine Finger auf etwas Kaltes, Romek zuckte erst überrascht zusammen und wischte die restlichen Überbleibsel hinfort, bis er ein vertrautes Gesicht unter dem Dreck enthüllte. Pavels Gesicht. Ihm wurde schlagartig ganz anders und er stolperte von seinem Fund weg, hin zu Eliasz, um wenigstens ihn davon abzuhalten, dieses Grauen mit eigenen Augen zu sehen, aber es war zu spät, das Offensichtliche ließ sich nicht mehr verheimlichen. „Sie haben ihn umgebracht!“ Eliasz‘ Stimme überschlug sich fast, während er auf seinen Freund einschlug, der ihn von Pavels Grab wegzerrte, um ihm weitere Einzelheiten zu ersparen „Warum haben sie das getan? Warum? Er hat ihnen doch nichts getan?“ „Ich weiß es nicht!“ Romek drohte die Kontrolle über die Situation zu entgleiten und nun stieg auch langsam in ihm Panik auf. Ein Gefühl, dass ihm völlig unbekannt war und ihn unnötig verunsicherte. Das in Kombination mit Eliasz‘ Gewaltausbruch, ausgelöst durch seine Hilflosigkeit, und sein wahnsinniges Geschrei war einfach zu viel. Romek wusste sich nicht anders zu helfen als ebenfalls auszuholen und seinem Freund so heftig zu schlagen, dass der zurücktaumelte, in die Knie ging und auf der harten Erde in Tränen ausbrach. Im selben Moment überkam Romek das Bedürfnis zu fliehen, den toten Pavel und seinen verzweifelten Freund einfach sich selbst zu überlassen und in die Dunkelheit zu rennen, bis er Seitenstechen hatte und darüber vergaß, mit was er gerade konfrontiert wurde. Einem gewaltsamen Mord unter Klassenkameraden. Eliasz hatte die Arme um die Knie geschlungen und weinte weiterhin wie ein verängstigtes Kind; Romek hatte keine Ahnung, wie er ihn beruhigen sollte, weshalb er es lieber sein ließ, stattdessen seine Gedanken darauf richtete, was sie tun sollten. Es gab nicht viele Optionen. Zurückgehen, als sei nichts geschehen, was er mit einem wimmernden und traumatisierten Eliasz kaum glaubhaft vermitteln konnte; zurückgehen und allen ihre erschreckende Vermutung aussprechen, was eine allgemeine Panik auslösen würde; hierbleiben und darauf warten, dass sie aus einem Albtraum aufwachten, was wohl nicht passieren würde. Vor allem wäre das fatal, wenn die drei potentiellen Täter zurückkehrten und mitbekamen, dass ihr Mord entdeckt worden war, am Ende lagen sie selbst ebenfalls schlecht verscharrt in dieser Erde und so schnell würde sie keiner finden. Es wäre wohl am besten, wenn sie mit der Wahrheit zur Jugendherberge zurückgingen, jedoch erst, wenn Eliasz sich soweit beruhigt hatte, dass er eigenständig laufen konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)