Alptraumfabrik von Skeru_Seven ================================================================================ Kapitel 2: Die Realität ist mörderisch -------------------------------------- Eliasz war sich sicher, noch nie im Leben so eine furchtbare Unterkunft erlebt zu haben, doch statt sich ununterbrochen darüber aufzuregen, fand er es ziemlich witzig, alle möglichen Macken des Zimmers herauszufinden und auszutesten, wie weit er gehen konnte, ohne sich eine Verwarnung wegen Sachbeschädigung einzuhandeln. Der Wasserhahn am Waschbecken in der Ecke wackelte bedenklich, wenn man ihn auf und zu drehte; kippte man das Fenster, quietschte es immer fürchterlich und ließ sich manchmal erst wieder mit Gewalt schließen. Das vierte Bett im Zimmer, das keiner belegen wollte, weil die Matratze darauf schon wie mit Schimmel überzogen aussah, bog sich viel zu weit durch, wenn man sich auch nur mit einem Fuß auf den Rand stellte. Insgesamt fühlte er sich wie in einem kleinen Abenteuerland voller Gefahren, das man unbedingt ausgekundschaftet haben musste, bevor man wieder nach Hause und ins vertraute, gut eingerichtete Leben zurück kehrte. Romek hingegen interessierte sich nicht dafür, ob man jetzt das Bett zum Einsturz bringen konnte oder nicht; er lag lieber auf seinem eigenen Bett, das nicht ganz so wackelig in der Weltgeschichte herumstand und blätterte in einer Zeitschrift, die er sich von zuhause mitgenommen hatte. „He, willst du mal was anderes machen außer dich zu bilden? Komm her und lass dich auf mein Niveau herab.“ Für Eliasz' Geschmack las und dachte Romek nämlich eindeutig zu viel; nicht dass er ihn in seinem intellektuellen Verhalten beeinträchtigen wollte, aber er wollte auch mal Beachtung erhalten. „Ja, gleich.“ Nicht unbedingt begeistert von der Aussicht, sich nicht mehr seiner Lieblingstätigkeit widmen zu können, riss Romek sich von dem Artikel über die Zellmembran los und legte das Heft neben sich auf den gefährlich schwankenden Nachttisch, bevor er sich erhob und zu Eliasz ging, der breit grinsend in der Mitte des Zimmers stand, wie ein Weltherrscher über sein Königreich. „Weißt du was? Ich hab noch nie so einen gammligen Raum gesehen“, verkündete Eliasz stolz und zeigte auf die Decke, an der ein früherer Wasserschaden deutliche Flecken hinterlassen hatte. „Wollen wir mal die anderen besuchen und nachsehen, ob es bei ihnen genauso schlimm aussieht?“ Seine Hand packte schon wie selbstverständlich Romeks Arm; er wollte gar keine Antwort, für ihn stand sie schon fest. „Nein, warum denn? Das bringt uns doch gar nichts. Außer du willst einen genau Bericht darüber verfassen, wo in welchem Zimmer welche Mängel auftreten und uns auf die Nerven gehen.“ Genervt verdrehte Eliasz die Augen; Romek war so schrecklich unspontan und schwer zu begeistern, ganz im Gegenteil zu ihm. Er mochte ihn ja, aber diese Charakterzüge störten ihn doch öfter als dass er sich über sie lustig machen konnte. Kein Wunder, dass Romek außer ihm kaum Freunde hatte, wenn er alles immer sofort abblockte. Was natürlich im Umkehrschluss bedeutete, dass er ihn nicht mit tausend anderen Menschen teilen musste, was er auch nicht schlecht fand. Es gab immerhin so wenig Dinge auf der Welt, die man nur für sich besitzen durfte. „Dann halt nicht, bleiben wir halt hier und langweilen uns.“ Der Rest ihrer Klasse feierte bestimmt schon eine kleine Feier in einem der Zimmer und sie wären die einzigen, die sich nicht anschlossen, nur weil Romek sich mal wieder nicht integrieren wollte. Entweder durfte Eliasz das dann wieder übernehmen oder es ganz sein lassen. „Du kannst ja zu den anderen gehen, ich hab kein Problem damit, aber ich will halt nicht“, stellte Romek klar und machte sich wieder auf den Weg zurück zu seinem Lieblingsplatz. „Pavel wird sowieso bald wieder kommen, ich werde also nicht ewig alleine bleiben.“ Romek wusste nämlich genau, dass Eliasz es nicht guthieß, wenn er sich ständig nur ohne Gesellschaft irgendwo aufhielt. Und ganz besonders, wenn er versuchte, sich von ihm abzukapseln. „Wenn du meinst.“ Toll fand Eliasz diese Aussicht nicht, ohne ihn durch die Gänge zu geistern, aber die Hoffnung auf Spaß und Belustigung durch betrunkene Mitschülerinnen klang besser als Langweile ertragen mit einem schweigenden, sich über Cytoplasma, Neuronen und GABA informierenden Jungen an der Seite. Wann hatte man denn sonst die Möglichkeit auf etwas Party vor der eigenen Tür? Eliasz machte sich auf die Suche, wo denn die meisten der Klasse, die kaum zwanzig Leute umfasste, herumhingen; das Wetter war zu schlecht, um draußen mehr zu tun als zu rauchen, weshalb er von Zimmer zu Zimmer schlich und dort fragte, wo denn jetzt etwas passierte. Schließlich saß er mit einem Großteil ihm Zimmer von Jerzy, der es sich eigentlich noch mit Maciej und Kamil teilte; die waren allerdings noch verschwunden. Böse Zungen behaupteten, Maciej und Patrycja wären gerade dabei, Sex zu haben, und Kamil würde sich in der Zwischenzeit Pavel widmen und ihn gehörige fertig machen. Es war ein offenes Geheimnis, dass die beiden nicht miteinander auskamen und Kamil ihn permanent von Maciej entfernen wollte. Genauso viel Stoff für Tratsch bot da die Tatsache, dass Kamil sich mit Patrycja nicht unbedingt besser verstand, sie aber dudeln musste, weil Maciej schließlich sein bester Freund war. Wieder einmal war Eliasz froh, solche Probleme wie diese merkwürdige Gruppierung nicht zu haben; zu seinen Freunden zählten zwei der hier Anwesenden und irgendwie auch Romek, mit dem Rest kam er gut klar. Jerzy zauberte unter seinem Bett, das deutlich mehr aushielt als die in ihrem Zimmer, zwei Flaschen Wodka hervor, die in kurzer Zeit geleert wurden. Man wollte schließlich Spaß haben und den bekam man nur durch Alkohol. Da machte Eliasz keine Ausnahme, aber wenigstens gab er es offen zu, nicht so wie viele andere der hier Anwesenden. Irgendwie war das Treffen sinnlos; man saß nur herum, trank eine nach Desinfektionsmittel schmeckende Flüssigkeit, machte dumme Sprüche zu allem und jedem und fing an, plötzlich seine Mitschülerinnen anzugraben. Was er natürlich nicht tat, erstens konnte so was übel enden, wenn man es mit dem Alkohol übertrug und zweitens war hier sowieso keine, für die er sich interessierte. Gegen zehn kam eine der Lehrerinnen, die eigentlich als Hauptaufgabe auf die Schüler aufpassen sollte, in Wirklichkeit sich aber um alles Mögliche, nur nicht um sie kümmerte, und versuchte autoritär mitzuteilen, dass nun langsam die Nachtruhe begann und alle sich auf ihre Zimmer begeben sollten. Nur unter Protest löste sich die Versammlung schleppend auf, einige kicherten dämlich, andere konnten nicht mehr richtig gerade laufen. Eliasz gehörte zu keiner dieser Sorten, aber ihm war doch etwas schlecht, vielleicht hätte er weniger trinken sollen. Mitleid durfte er sich deswegen auf keinen Fall von Romek erhoffen. „Da bin ich wieder“, murmelte er, als er die Tür aufschob und sich gleich in sein Bett fallen ließ. Klamotten ausziehen wollte er jetzt nicht, dazu war er zu faul. Nachher, wenn es ihm wieder etwas besser ging. „Wo ist Pavel? Ist er noch nicht da?“ Romek zuckte mit den Schultern, schaute aber nicht von den bedruckten Seiten auf. „Keine Ahnung, er war noch nicht hier. Ich dachte, er wäre vielleicht gleich zu euch gegangen und deshalb nicht hier gewesen.“ Aus diesem Grund hatte Romek es nicht für nötig gehalten, sich um ihn Sorgen zu machen oder ihn zu suchen. Was konnte er dafür, wenn Pavel nicht pünktlich zur Nachtruhe wieder heim kam. „Vielleicht hat er inzwischen Maciej Patrycja ausgespannt und macht jetzt mit ihr rum“, überlegte Eliasz laut und lachte selbst über seinen dummen Einfall. Das lag nur am Alkohol, das stand fest. „Oder er und Kamil haben plötzlich gemerkt, dass sie sich doch gar nicht so scheiße finden, wie sie immer tun. Oh nein, Bilder in meinem Kopf… verdammt, ist das krank.“ Er lachte noch mehr; das tat ihm nicht gut, ihm wurde dadurch noch schlechter. „Was ist mit dir los?“ Verwirrt warf Romek ihm einen skeptischen Blick zu. „Bist du betrunken oder was soll das affige Gekicher? Du bist doch sonst nicht so drauf. Oder hab ich was verpasst?“ „Nein, hast du nicht.“ Langsam nahm das Gespräch seltsame Dimensionen an, das beste Anzeichen, es sein zu lassen. Vielleicht sollte er auch mal schlafen gehen, die Uhr zeigte zwar noch keine so späte Zeit an, aber morgen wäre bestimmt ein anstrengender Tag, wenn sie die nächstgrößere Stadt erkunden und im schlimmsten Fall noch wandern gehen mussten. Hoffentlich war bis dahin die Jugendherberge nicht in sich zusammengefallen. „Ich glaub, ich geh pennen.“ Eliasz gähnte demonstrativ, um Romek von seiner Absicht zu überzeugen; wenn er nämlich weiterhin lesen wollte, ließ er das Licht an und dann konnte er nicht schlafen. „Gehst du auch? Wäre echt nett, du weißt, ich kann nicht mit Licht schlafen.“ „Wenns sein muss. Les ich halt morgen weiter, auch kein Ding.“ Sie zogen sich beide um, machten sich am absturzgefährdeten Waschbecken fertig und schlüpften dann unter die Decken. Draußen auf dem Flur hörte man nur ganz leises Murmeln, die anderen hielten sich wohl ebenfalls an die Regeln, um nicht frühzeitig von der Klassenfahrt verwiesen und das Geld umsonst bezahlt zu haben. Nun konnte Eliasz allerdings nicht mehr einschlafen; ihn wunderte es nämlich extrem, wo Pavel blieb, und er machte sich doch etwas Sorgen um ihn. Und er hatte gerade wieder dieses seltsame Bedürfnis, sich aus seinem Bett zu schleichen und sich zu Romek zu legen. Wahrscheinlich fand er wieder den Gedanken, allein einschlafen zu müssen zu unschön, um sich mit ihm anfreunden zu wollen. Leise, um Romek nicht zu wecken, wechselte Eliasz seinen Schlafplatz und kroch zu seinem Freund. Eigentlich sollte er so etwas nicht machen, das wusste er, Romek mochte es nicht, wenn man ihn ungefragt anfasste, aber manchmal überkam ihn das starke Bedürfnis danach und das durfte man nicht einfach verdrängen; oder besser gesagt, Eliasz schaffte das einfach nicht. „Eliasz, ich weiß, dass du da bist.“ Romek drehte sich zu ihm um und schüttelte resigniert den Kopf. „Wenn du dich wenigstens geschickt dabei anstellst… aber so ist das echt witzlos.“ Peinlich berührt, weil er ihn schon wieder auf frischer Tat ertappt hatte, antwortete Eliasz nicht. Jedes Mal das gleiche Theater und immer flog es auf, weil Romek entweder davon aufwachte – dabei gab er sich Mühe, sich leise zu bewegen – oder noch gar nicht geschlafen hatte. „Komm, geh wieder in dein Bett, dann haben wir beide mehr Platz.“ Romek legte wirklich keinen Wert darauf, ihn so nah bei sich zu haben; Eliasz vermutete, dass Romek gar nicht wusste, wie er damit umgehen sollte und ihn deshalb immer gleich rauswarf. „Ist ja gut.“ Er musste die Lage nicht noch hochschaukeln und ergab sich Romeks Wünschen. Solange dieser es dann nicht bei den anderen an die große Glocke hängte, machte es Eliasz auch nicht so viel aus. „Pavel ist immer noch weg.“ Zwar war das einerseits als radikaler Themawechsel gedacht, andererseits sollte sie dieser Fakt wirklich beschäftigen. Pavel klebte zwar gerne und vor allem lang an Maciej und seinen Freunden, aber über Nacht quartierte er sich auf keinen Fall bei ihnen ein, das ließ Kamil keine Sekunde lang zu. „Ja und? Er ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Vielleicht ist er wirklich noch bei denen drüben im Zimmer.“ Romek sah in Pavels Abwesenheit keine Katastrophe, er wollte lieber etwas schlafen, wenn sein Freund ihn schon dazu gezwungen hatte, das Lesen auf morgen zu verschieben. „Ich guck mal nach.“ Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig nachgesehen. Noch etwas wackelig vom Wodka zog sich Eliasz seine Jeans über – in Schlafklamotten musste er nicht unbedingt dort drüben auftauchen – und machte sich auf den Weg. Jerzy öffnete ihn erst die Tür, als er schon so oft geklopft hatte, dass ihm die Finger weh taten; sein Blick ging durch Eliasz durch und in einem seiner Ohren steckte ein blauer Kopfhörer. Kein Wunder, dass er ihn zuerst überhört hatte. „Hm, was ist? Party ist nicht mehr, ich hab keinen Bock auf Ärger.“ „Sind Maciej und Pavel da?“ Denn wo Maciej steckte, war Pavel auch nicht weit entfernt, wenn er wieder in dieser Phase hing, in der er ohne Maciej einfach nur unerträglich wurde. „Nee, irgendwie nicht. Ich dachte, die wären vielleicht bei euch. Kamil ist auch nicht hier. Ich hab echt keinen Plan, wo die sein könnten, vielleicht probieren sie gerade alle drei aus, wie Patrycja so im Bett ist.“ Sein Grinsen wirkte nicht halb so überzeugend, wie er es wohl gerne hätte, aber es war ein offenes Geheimnis, dass er Maciej die Beziehung zu Patrycja nicht gönnte. „Okay.“ Das beruhigte ihn überhaupt nicht, auch Jerzys alberne Vorstellung ließ es nicht besser erscheinen. Die drei – und wohl auch Patrycja – waren wie vom Erdboden verschwunden und sie würden morgen ziemlichen Ärger mit den Lehrern bekommen, wenn sie dann ihr Verschwinden bemerkten. Zum Glück wurde heute Nacht noch nicht so streng kontrolliert. „Romek, ich glaube, wir müssen sie suchen“, meinte Eliasz ziemlich durcheinander, als er durch die Tür stürmte. „Sie sind auch nicht bei Jerzy.“ „Ähm, bist du wahnsinnig? Es ist nachts, dunkel, kalt wie im Winter, wir haben keine Ahnung, wo sie sein könnten und wenn wir erwischt werden, sind wir dran. Aber ansonsten klingt dein Plan richtig gut.“ Romek setzte sich in seinem Bett auf; in seiner Haltung erkannte man leichte Skepsis und Unzufriedenheit über den Vorschlag. Er war niemand, der sich für ungeplante Suchaktionen in einem Waldgebiet begeistern lassen konnte. „Dann bleib hier, geh ich halt allein.“ Zwar fand Eliasz die Vorstellung, allein durch einen fremden Wald mit einer schwachen Taschenlampe in der Hand zu hasten gruselig, aber jetzt konnte er sowieso nicht mehr schlafen, bevor er nicht wusste, was da los war. Er streifte sich noch einen Pullover und seine Jacke über und wollte schon seine Turnschuhe zubinden, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. „Ich komm ja mit, bevor du dich da draußen verläufst und mich dann dafür verantwortlich machst.“ Seufzend ergab sich Romek seinem Schicksal; im schlimmsten Fall kam Eliasz nämlich erst am nächsten Morgen zurück, vollkommen fertig mit den Nerven und permanent am Jammern, während die Gesuchten schon seit Stunden wieder eingetroffen waren. „Danke, Romek, du bist der beste.“ Schon hob sich Eliasz' Laune wieder ein bisschen; zu zweit ließ sich so etwas doch viel besser bewältigen als allein. Außerdem wäre es dann nicht so unheimlich. Nachdem sich auch Romek umgezogen hatte, schlichen sie sich leise aus dem Zimmer und den Flur entlang, lauschten ab und zu an Türen, um zu hören, ob Pavel vielleicht dahinter dabei war, aber entweder war alles stumm oder die Stimme gehörte nicht zu ihm. Zu ihrer eigenen Überraschung kamen sie ganz leicht aus der Jugendherberge heraus, da die Tür schon so schief in den Angeln saß, dass man sie gar nicht mehr richtig verschließen konnte. Zum ersten Mal heute hatte diese Bruchbude etwas Gutes an sich. „Und, weißt du, wo wir lang wir müssen?“, erkundigte sich Romek flüsternd bei Eliasz, der die Leitung übernommen hatte und auch die Taschenlampe in der Hand hielt. „Hm, ich nehm mal an, sie sind entweder immer noch bei dieser Fabrik oder irgendwo im Wald. Diese hässliche Jugendherberge kann man ja gar nicht übersehen, die hätten sie sonst längst gefunden.“ Es gab noch etliche andere Möglichkeiten, wo sich die vier aufhalten konnten, angefangen bei der großen Rasenfläche, die nicht wie der Wald hinter der Herberge verlief, sondern davor und sich auch über einige Kilometer erstreckte, bis hin zu den paar Häusern, die man zwar nicht als Dorf, aber immerhin als Verbindung zur Zivilisation ansehen durfte. Trotzdem sollten sie im Wald anfangen, denn dort hatten sie sich theoretisch zuletzt aufgehalten. „Gut, dann geh mal vor und leuchte uns.“ Sonst standen sie in einer Stunde immer noch hier herum. Eliasz war das Ganze hier nicht so geheuer, obwohl er nicht allein durch den Wald stapfen musste; man sah kaum etwas, der Mond leuchtete zu schwach, um ihnen behilflich zu sein, der Wind wechselte unregelmäßig zwischen lautem Rauschen und zarten Wispern, das aus allen Richtungen zu kommen schien. Es gab einen schmalen Pfad, dem sie folgen konnten; Eliasz verteufelte schon nach kurzer Zeit, sich als Anführer aufgespielt zu haben, denn nur mit der funzeligen Lampe in einer völlig fremden Umgebung einen finsteren Wald absuchen war Stoff für Horrorgeschichten, nicht für einen dämlichen Schultrip. Außerdem ließen ihn die letzten Reste des Alkohols noch hinter jedem zweiten Schatten eine potentielle Gefahr lauern, sodass er eigentlich permanent in Abwehrstellung den Weg entlang trabte und sich nichts sehnlicheres wünschte, als guten Gewissens umdrehen zu können. Ging nicht, die Sorge um Pavel trieb ihn trotz allem weiter. „Hey, Romek, willst du nicht vielleicht vorne gehen?“ „Nein, danke, du machst das sehr gut.“ Eliasz schien Körbe aller Art von Romek zu sammeln, jeder dritte Satz beinhaltete ein nein oder ähnliches. Natürlich hätte er ihm sagen können, dass er sich gerade fürchtete und gerne gehabt hätte, dass er nicht an der Spitze allein ins Ungewisse rannte, aber sein letzter Rest stolz verbat ihm so etwas einfach. Die peinliche Bettaktion hatte gereicht, die nächste dumme Geschichte hatte Zeit bis morgen. „Meinst du, wir sollen mal rufen? Vielleicht sind sie in der Nähe und wir laufen dran vorbei, das wäre echt ärgerlich. Und die Jugendherberge ist weit genug weg, die hören uns sicher nicht.“ „Wenn es sein muss.“ Mit wenig Begeisterung stimme Romek zu, aber Eliasz hatte gar nicht mehr erwartet, von daher konnte er froh sein. Abwechselnd schrien sie einen Namen in die Nacht, Eliasz leuchtete mit der Lampe zwischen die Baumstämme und hinter sie, aber nirgends regte sich etwas, keiner antwortete, ihre Bemühungen liefen ins Leere. „Das ist doch schwachsinnig. Lass uns umdrehen, die sind hier nicht.“ „Und wo denn dann? Mann, wir können doch nicht so tun, als wär alles in bester Ordnung, wenn wirklich was passiert ist… ich würde dich auch suchen gehen, also können wir das auch bei Pavel machen.“ Romek grummelte genervt etwas, folgte ihm allerdings weiterhin, denn umdrehen und sich im Dunkeln den Weg bahnen kam nicht infrage. Plötzlich blieb Eliasz stehen; etwas hatte sich im Strahl der Taschenlampe ganz leicht vom Hintegrund abgehoben. „Hey, das ist ein Zaun. Was soll das denn?“ „Zäune stehen meistens da, wo keiner hinsoll. Also auch wir nicht. Los, Eliasz, bitte, es wird langsam echt nervig. Ich möchte gerne zurück in unser Zimmer, mir frieren die Finger ab.“ „Also wenn ich einen Zaun sehe, der dann auch noch so abgefuckt aussieht, würde ich erst recht drüber… was ist das?“ Er richtete die Lampe auf ein paar Spritzer am Boden. Romek ging an ihm vorbei und betrachtete die dunklen Flecken. „Sieht verdächtig nach Blut aus. Und es scheint noch nicht allzu alt zu sein.“ „Oh scheiße! Wenn das jetzt von einem von den anderen ist…“ „Eliasz, reg dich ab, es kann auch von einem verletzten Tier sein.“ Wie immer ging Romek nicht vom allerschlimmsten aus, weil es keine Hinweise darauf gab. „Und wenn es das nicht ist? Ich kann jetzt bestimmt nicht zurück gehen, mich ins Bett hauen und pennen, als wär nichts los, ich geh nachsehen. Kannst ja hier bleiben, wenn du dir so sicher bist.“ Die Sache machte ihn wirklich wahnsinnig; besonders Romeks offensichtliches Desinteresse. Würde er genauso reagieren, wenn er seit Stunden unauffindbar irgendwo verschollen war und solche Spuren auftauchte? Eliasz hoffte es nicht. Er achtete gar nicht mehr auf seinen Freund, sondern folgte der Spur, die ihn auf ein Fabrikgelände führte. Hier nahm die Stärke der Spuren zu, vor Nervosität zitterten seine Hände leicht und erschwerten es ihm, den Boden zu beleuchten. „Warte kurz.“ Etwas außer Atem kam Romek hinter ihm her; durch seine eher unsportliche Lebensweise hatte ihm das Überqueren der Mauer, die als zweiter Absperrwall dienen sollte, mehr angestrengt als Eliasz. „Denkst du jetzt doch, dass da was dran ist?“ „Nein, aber ich lass dich besser nicht allein gehen. Am Ende machst du auch irgendwas Dummes.“ „Danke für dein Vertrauen in mich.“ Beleidigt wandte sich Eliasz wieder den Blutflecken zu. Es war so typisch, er war kurz vor dem Ausflippen und bei Romek regte sich keine Emotion oder zumindest gab er es nicht offen zu. Manchmal kam er sich richtig dumm vor. Er hatte mit viel gerechnet, was auf sie wartete, angefangen vor der Vierergruppe mit mindestens einem Verletzen bis hin zu gar nichts. Als Eliasz im Taschenlampenlicht die riesige Blutlache sah, wurde ihm ganz anders und er dachte, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Es war nicht die Tatsache, dass es Blut war, sondern das Problem, dass er denjenigen wahrscheinlich kannte, der es verloren hatte. Er bezweifelte, dass man das überleben konnte. „Ach du Scheiße.“ Sogar Romek war vor Überraschung deutlich blasser geworden. „Das sieht nicht gut aus.“ „Verdammt, was ist hier denn los?“ Der Tag hatte so harmlos angefangen mit dieser schäbigen Herberge, warum musste ihnen nun so etwas passieren? „Wir sollten den Spuren folgen, wenn wir Glück haben und sie durchgängig sind, dann wissen wir, wo derjenige ist.“ „Wenn wir Glück haben? Der ist dann tot, wenn er soviel Blut auf einmal verloren hat!“ Eigentlich wollte Eliasz seinen Freund nicht anschreien, aber er konnte nicht verstehen, wie man so gefasst und beinahe teilnahmslos über etwas redete, in dem Menschen verwickelt waren, die man kannte, die man sogar irgendwie mochte. Er verstand dieses Verhalten nicht, denn er selbst stand kurz davor, einfach durchzudrehen. Romek schwieg lieber, nahm Eliasz die Taschenlampe ab und folgte den Spuren in einen anderen Teil des Gebäudes, kam aber nach kurzer Zeit wieder. „Die enden dort, wir müssen ihnen also vom Gelände weg hinterher gehen.“ Eliasz hatte furchtbare Angst, was ihnen am Ende des Wegs auflauern konnte, ob er einem schwerverletzten Klassenkamerad gegenübertreten musste oder sich das alles als ganz übler, makaberer Scherz herausstellte. Deswegen ergriff er trotz seinem Versprechen mit sich selbst Romeks Handgelenk. Sein Freund tat ihm den Gefallen und sprach ihn weder darauf an noch schüttelte er ihn ab; ausnahmsweise schien er zu verstehen, dass Eliasz das gerade brauchte, weil er ansonsten keinen Meter mehr vom Fleck gerührt hätte. Es schien immer kälter zu werden und die Blutreste waren nur noch vereinzelt aufzufinden, was ihnen die Sache erschwerte, besonders, weil sie auch nicht den Weg entlang verliefen, sondern hinter dem Zaun im Gras verteilt waren. „Warum sind sie nicht den Weg zurück?“ „Vielleicht haben sie im Dunkeln den Weg nicht erkannt“, mutmaßte Romek, zuckte im nächsten Moment aber mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, Eliasz, keine Ahnung.“ Die Suche nach der nächsten Fährte war zeit- und nervenraubend, besonders da Eliasz permanent die Angst im Nacken saß, dass sie zu spät kamen. Zur Jugendherberge kehrte man auf diesem Weg querfeldein nicht zurück; wenn ihn sein Orientierungssinn nicht trog, bewegte sie sich immer weiter davon weg. „Das ist doch alles verrückt!“, hörte er Romek neben sich murmeln, der seine freie Hand tief in seine Jackentasche vergraben hatte, um sie vor dem Absterben zu bewahren. Es musste inzwischen schon weit nach elf Uhr sein, sie kamen einfach nicht schnell voran. Sie waren beide müde, unterkühlt und trotzdem viel zu aufgekratzt, um einfach den Rückweg anzutreten. Die letzten roten Blutflecken entdeckten sie vor einem Hügel, dessen frisch aufgeworfene Erde ihnen bis über den Knöchel reichte. „Romek, was ist das?“ Eliasz packte seine Handgelenk so fest, dass er ihm fast die Knochen brach. Eine böse Ahnung stieg in ihm auf, aber sie war so schrecklich, um tatsächlich wahr zu sein. „Sieht aus wie ein Grab“, sprach Romek schließlich das aus, was sie beide dachten. Eliasz zuckte zusammen, als hätte sein Freund ihn geschlagen und nicht nur seine Gedanken in Worte gepackt. „Vielleicht ist es wirklich nur ein Tier“, versuchte er sich selbst zu beruhigen, „Sie haben es ausversehen getötet und dann hier versteckt, damit es keiner erfährt.“ Romek schüttelte kaum sichtbar den Kopf. „Deswegen hätten sie sich nicht solche Mühe gegeben.“ Unter Aufbietung seiner Kräfte befreite er sich aus Eliasz‘ Umklammerung. „Bleib hier, ich seh nach.“ Seinen Freund in dieser Situation vorzuschicken wäre die denkbar schlechteste Idee. „Nein, tu es nicht.“ Eliasz‘ Stimme war nur noch ein jämmerliches Krächzen. Auf diese Bitte ging Romek nicht ein; er kniete sich auf den Boden und trug mit den Händen die Erde ab. Die Taschenlampe lag neben ihm und beschien die gespenstische Szene nur dürftig von der Seite. Nach einigen Schichten trafen seine Finger auf etwas Kaltes, Romek zuckte erst überrascht zusammen und wischte die restlichen Überbleibsel hinfort, bis er ein vertrautes Gesicht unter dem Dreck enthüllte. Pavels Gesicht. Ihm wurde schlagartig ganz anders und er stolperte von seinem Fund weg, hin zu Eliasz, um wenigstens ihn davon abzuhalten, dieses Grauen mit eigenen Augen zu sehen, aber es war zu spät, das Offensichtliche ließ sich nicht mehr verheimlichen. „Sie haben ihn umgebracht!“ Eliasz‘ Stimme überschlug sich fast, während er auf seinen Freund einschlug, der ihn von Pavels Grab wegzerrte, um ihm weitere Einzelheiten zu ersparen „Warum haben sie das getan? Warum? Er hat ihnen doch nichts getan?“ „Ich weiß es nicht!“ Romek drohte die Kontrolle über die Situation zu entgleiten und nun stieg auch langsam in ihm Panik auf. Ein Gefühl, dass ihm völlig unbekannt war und ihn unnötig verunsicherte. Das in Kombination mit Eliasz‘ Gewaltausbruch, ausgelöst durch seine Hilflosigkeit, und sein wahnsinniges Geschrei war einfach zu viel. Romek wusste sich nicht anders zu helfen als ebenfalls auszuholen und seinem Freund so heftig zu schlagen, dass der zurücktaumelte, in die Knie ging und auf der harten Erde in Tränen ausbrach. Im selben Moment überkam Romek das Bedürfnis zu fliehen, den toten Pavel und seinen verzweifelten Freund einfach sich selbst zu überlassen und in die Dunkelheit zu rennen, bis er Seitenstechen hatte und darüber vergaß, mit was er gerade konfrontiert wurde. Einem gewaltsamen Mord unter Klassenkameraden. Eliasz hatte die Arme um die Knie geschlungen und weinte weiterhin wie ein verängstigtes Kind; Romek hatte keine Ahnung, wie er ihn beruhigen sollte, weshalb er es lieber sein ließ, stattdessen seine Gedanken darauf richtete, was sie tun sollten. Es gab nicht viele Optionen. Zurückgehen, als sei nichts geschehen, was er mit einem wimmernden und traumatisierten Eliasz kaum glaubhaft vermitteln konnte; zurückgehen und allen ihre erschreckende Vermutung aussprechen, was eine allgemeine Panik auslösen würde; hierbleiben und darauf warten, dass sie aus einem Albtraum aufwachten, was wohl nicht passieren würde. Vor allem wäre das fatal, wenn die drei potentiellen Täter zurückkehrten und mitbekamen, dass ihr Mord entdeckt worden war, am Ende lagen sie selbst ebenfalls schlecht verscharrt in dieser Erde und so schnell würde sie keiner finden. Es wäre wohl am besten, wenn sie mit der Wahrheit zur Jugendherberge zurückgingen, jedoch erst, wenn Eliasz sich soweit beruhigt hatte, dass er eigenständig laufen konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)