Perlmutt von Hepho ================================================================================ SILVESTER (VII): »Du siehst aus, als wärst du schon länger tot.« ---------------------------------------------------------------- Der Schankraum des Deutschen Viertels war nahezu verlassen. Nur vereinzelt saßen an den Tischen noch Gäste, die vor der Winterkälte zurückschreckten. Und auf einer Bank in einer Nische, möglichst verborgen vor den Blicken der anderen, kauerte ich. Auf der Straße vor dem Lokal bestaunten die Leute das Feuerwerk, das der Wirt gezündet hatte. Der erste Schuss hatte mir in die Ohren geschnitten, als wäre neben mir Wasserstoff in die Luft gegangen. Plötzlich war das Gemisch aus Schwefel-, Schweiß- und Alkoholgeruch, das von der Menge ausging, für mich zu einem beißenden Odem geworden. Das Licht der Explosion am Himmel hatte mich geblendet, als hätte ich aus einem dunklen Zimmer heraus in die Sonne gestarrt, und ich – verwirrt, unter Schmerzen und gestützt von Solweig – war taumelnd ins Innere des Wirtshauses geflüchtet. Als ich an den anderen Gästen vorübergestolpert war, hatten sie mich nur eines kurzen, missbilligenden Blickes gewürdigt: So jung und schon so besoffen. Ihre Ablehnung war gegen mich geprallt wie ein Granitstein, und für einen Moment hatte ich mich sogar vor mir selbst geekelt. Du bist nicht betrunken, redete ich mir zu. Wenn die wüssten! Ich hatte tatsächlich nichts getrunken. Nicht zu viel, zumindest. In einer Nische des Raumes war ich auf einer Bank zusammengesackt und versuchte seither, Gedanken und Sinne zu betäuben. Den Rücken gegen die Wand gedrückt, zwang ich mich, langsam und tief zu atmen. Das Pfeifen der Raketen und die staunenden Ahs und Ohs der Menge schienen unter der massiven Holztür hindurchzusickern und auf mich zuzukriechen. Vom Gestank und von der Helligkeit brannten mir noch immer die Augen in den Höhlen und ich blinzelte mehrmals in der Hoffnung auf Linderung. Selbst an meinem Platz, von schweren Holzpfeilern verborgen und möglichst weit von der Tür entfernt, hatte ich das Gefühl, in vorderster Front zu stehen. Mein Kopf drohte zu platzen. Ich hörte jemanden aufstöhnen. Dass ich selbst dieser jemand war, begriff ich erst nach Sekunden. Mechanisch fuhr ich mir mit dem Arm über die Stirn; als ich ihn wieder zurückzog, war mein Handrücken mit einem Schweißfilm überzogen. Auf der Straße war der Lärm des Feuerwerks inzwischen verklungen. Stattdessen hörte ich, wie eine Band aufspielte. Die Musik gefiel mir, aber ich hörte sie so laut, als stünde ich direkt zwischen den Boxen. Der Bass ging mir durch Mark und Bein. Solweig war zum Tresen hinübergegangen, um mir etwas zu trinken zu besorgen. Ich hatte sie nach Kräften bearbeiten müssen, damit sie der Bedienung nicht mitteilte, wie schlecht es mir ging. Jetzt nutzte ich den einsamen Moment, um fahrig meine Jackentaschen nach den Kapseln zu durchsuchen, die Adlard mir zugesteckt hatte. Ich brauchte mehrere Versuche, um eine von ihnen zu greifen, doch als ich endlich eine in der Hand hielt, zögerte ich. »Einfach schlucken«, hatte Adlard gesagt. Meine Fingernägel drückten sich in die Haut der Kapsel, die wie eine Membran nachgab. Als ich die Hand aus der Tasche zog, spürte ich, wie die Kapsel aus meinen Fingern rutschte. Das sollte nicht passieren, sagte der theoretisch veranlagte Teil von mir. Der pragmatische schaute teilnahmslos zu, bis die Kapsel endlich fiel. Automatisch streckte ich den Arm aus, um sie wieder aufzufangen, doch als ich mich vornüberbeugte, drehte sich der ganze Raum mit mir. Ächzend vergrub ich das Gesicht in der Armbeuge. Die Kapsel war verloren … irgendwo unter dem Tisch oder der Bank. Frohes neues Jahr, Yuriy, beglückwünschte ich mich selbst. »Bist du wach?« Solweigs Stimme erklang direkt neben mir. Ich hatte das Gefühl, angeschrien zu werden; mein Gehör spielte immer noch verrückt. Ich rang mir ein Lächeln ab. »Trink das«, befahl sie und hielt mir ein Glas mit Wasser hin. Ich versuchte, ihre Finger zu fokussieren, doch sie verwischten in Schwaden mit dem Glas und dem Hintergrund. Ich schloss die Augen wieder. Weil ich meinen zitternden Händen nicht mehr vertraute, bedeutete ich Solweig mit einem Nicken, dass sie das Wasser auf dem Tisch abstellen sollte. Ein dumpfes Geräusch direkt neben mir sagte mir, dass sie sich ebenfalls auf die Bank gesetzt hatte. Ich spürte ihren Oberschenkel an meinem, als sie sich zu mir hindrehte, um mir das Glas an die Lippen zu halten. »Ich komme mir vor wie ein Krüppel«, murrte ich. »Was du nicht sagst«, erwiderte sie. Also ergab ich mich und ließ mich tränken. »Du siehst aus, als wärst du schon länger tot.« Dem Klang der Stimme nach zu urteilen, kam dieser mitfühlende Kommentar von Matt. Ich blickte auf und sah seinen Umriss vor unserem Tisch stehen. »Bist du immer so freundlich?«, krächzte ich gereizt. »Nur, wenn Leute sich wirklich dämlich aufführen«, erklärte er ungerührt. »Ich kann es nicht fassen, dass du deiner Mutter immer noch nichts gesagt hast!« Ich glaubte zu bemerken, dass die Musik leiser wurde. Sicher war ich mir nicht, deshalb beschloss ich, noch ein wenig zu warten. »Mum hat im Moment viel um die Ohren.« Ich hoffte, er konnte meine Antwort überhaupt verstehen, denn ich selbst hörte ein Gebrabbel aus meinem Mund kommen, das sehr nach »Mamatchimommenwiumioan« klang. »Im Moment?«, wiederholte Matt skeptisch. Noch vor Sekunden wäre ich mir sicher gewesen, dass er mir ins Ohr gebrüllt hätte, doch mittlerweile nahm ich seine Stimme fast wieder durchschnittlich leise wahr. Meine Sinne stumpften tatsächlich wieder ab – genauso rasant, wie sie vom Feuerwerk geschärft worden waren. Vor Erleichterung nahm ich einen tiefen Atemzug, den Matt als Seufzer missdeutete. Er hatte sich über mir aufgebaut, die Jacke aufgeknöpft und den schiefgelegten Kopf halb im Schal vergraben, sodass das einzig Sichtbare von seinem Gesicht seine Augen waren. Zu Schlitzen verengte, verständnislose Augen. »Matt hat Recht«, sagte Solweig. »Du kannst nicht immer nur Rücksicht auf sie nehmen.« Vehement schob ich das Glas weg und starrte sie an. Ich war mir fast sicher, dass sie nicht nur auf das Leuchten anspielte. Doch Matt ließ mir keine Zeit, das herauszufinden. »Du bist da draußen fast zusammengebrochen«, setzte er nach. »Das tut nichts zur Sache«, verfügte ich und konnte nicht umhin, ihn für sein exzellentes Gehör zu bewundern. »Dahunischurache.« Matt wollte schon zu Sprechen ansetzen, um mir gehörig den Kopf zu waschen, entschied sich jedoch im letzten Moment anders. Sicher dachte er, er würde mich damit überfordern. »Spuck’s aus«, forderte ich, was schon deutlich verständlicher über meine Lippen kam. Matt schüttelte geschlagen den Kopf. »Außerdem wird es schon wieder besser«, verkündete ich. Demonstrativ nahm ich Solweig das Glas aus der Hand, doch Matt versäumte es, Zeuge meiner Wiedererstarkung zu werden. Seine ganze Aufmerksamkeit schenkte er der Ladentür, die soeben mit einem Knall gegen die Wand des Windfangs geschlagen war. »Grundgütiger«, hauchte Solweig, die seinem Blick gefolgt war und erst jetzt nebenbei bemerkte, dass ich ihr das Wasser weggenommen hatte. Aber ihre Fassungslosigkeit galt nicht mir. Zur Hälfte beleidigt und zur anderen Hälfte neugierig, wer mir da die Show gestohlen hatte, schaute ich über ihre Schulter. Soeben drückte ein schlanker Mann die Tür wieder hinter sich ins Schloss. Auf den letzten Zentimetern lehnte er sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen, als könnten seine Beine ihn nicht länger aus eigener Kraft tragen. Unter der schwarzen Jacke hoben sich Brust und Bauch in stockenden Atemzügen. Sein dunkler Zopf hatte sich halb aufgelöst, die freigewordenen Strähnen klebten ihm schweißnass in Gesicht und Nacken. Mir rutschte das Herz in die Hose. »Verdammt«, stieß ich hervor. »Noch so eine Schnapsleiche«, bemerkte Matt abfällig. Adlard stolperte die niedrige Treppe am Eingang hinunter und zwischen den Tischen hindurch auf das andere Ende des Gastraumes zu. Um ihn herum war die Luft in Bewegung. Aus seinen halb geschlossenen Augen blitzte das Leuchten auf; er tastete sich mit den Händen an den Stuhllehnen entlang, als wäre er blind. Nach ein paar Metern schwenkte er nach rechts ab und stützte seinen Gang, indem er sich an der Wand entlangschob. Ich erkannte, dass er auf einen offenen Türsturz in der rechten Ecke des Gastraumes zuhielt. Ein Holzschild, das man darüber angebracht hatte, verwies auf die Gästetoiletten. Adlard taumelte noch einmal gegen die Backsteinmauer, dann schleppte er sich über die Schwelle und war außer Sicht. Ich sprang auf. Von der plötzlichen Bewegung knickten meine Beine ein. Reflexartig fasste Matt über den Tisch nach meinem Arm, aber ich schaffte es, mich selbst an der Wand abzustützen. Innerlich fluchte ich; ich hatte mich wohl doch überschätzt. Einen Moment lang kämpfte ich um mein Gleichgewicht, dann konnte ich mich aufrichten. »Wohin gehst du?«, fragte Solweig streng. »Das ist er«, sagte ich bedeutungsschwer zu ihr, während ich mich auf der anderen Seite zwischen der Wand und der Tischplatte hindurchzwängte. Ein Anflug von Verwirrung flackerte über Solweigs Gesicht, dann fiel der Groschen. »Wer ist er?«, fragte Matt. »Er ist wie ich«, sagte ich geistesgegenwärtig. »Auch Patient. Er ist nicht betrunken.« »Patient!?«, echote Matt. Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine steile Falte. Er war noch nicht fertig mit mir, doch ich ließ ihn mitten im Satz stehen und heftete mich an Adlards Fersen. Wenn mir das Schicksal schon so in die Hände spielte, durfte ich die Gelegenheit nicht verstreichen lassen! Sobald ich durch den Türsturz getreten war und den Schankraum hinter mir gelassen hatte, stand ich direkt vor der braunen Backsteinmauer. Dafür erstreckte sich links von mir ein enger Flur, der sich in seiner Länge über die komplette Rückseite des Gebäudes ziehen musste. Ich dämpfte meine Schritte und folgte seinem Verlauf. Zu meiner Rechten zweigten in unregelmäßigen Abständen mehrere Türen ab. Die zu den Herrentoiletten stand halb offen; weißes Licht flutete in den abgedunkelten Flur. Ich hörte Wasser aus dem Hahn rauschen, was mir das Anschleichen erleichterte. Mums Fähigkeit, sich vollkommen lautlos zu bewegen, wäre mir in diesem Augenblick sehr recht gewesen. Adlard stand tief über das Waschbecken gebeugt und hielt das Gesicht unter den Strahl. Die Jacke hatte er aufgeknöpft und über die Schultern zurückgeworfen, damit sie nicht nass wurde. Mich überkam der Gedanke, dass sie zu groß für ihn wirkte. Die Arme verdeckten sein Gesicht, und neben seinen Händen, die kraftlos um den Wasserhahn geschlungen waren, lag ein schmales weißes Tablettenheft. Die Kapseln. Drei hatte er mir gegeben. Das Heft fasste zehn. Ich ertappte mich dabei, dass ich zählte, wie viele er schon verbraucht hatte, und unterbrach mich mittendrin. Angenommen, es wäre eine pro Tag vonnöten … dann hatte ich über Neujahr nichts zu befürchten. Das wird schon wieder, sagte ich mir. Man hörte von Magiern nicht, dass sie an ihren Fähigkeiten zugrunde gingen. Ich hoffte inständig, dass meine Gebrechen nur eine Art Startschwierigkeiten darstellten. Plötzlich vernahm ich Schritte hinter mir. Augenblicklich zuckte ich von der Tür zurück, doch es war nur einer der Kellner, der einige Meter von mir entfernt in einen abzweigenden Raum abbog. Er würdigte mich keines Blickes. Als er den Flur verlassen hatte, herrschte für Sekunden eine Stille, die mir Schauer über den Rücken trieb. Adlard hatte das Wasser abgedreht. Ich wagte nicht zu atmen. Aus der Richtung des Schankraums brandete ein aufkommendes Stimmengewirr heran; das Wirtshaus füllte sich wieder. Langsam zog ich mich zurück. Als ich auf Höhe der Tür ankam, durch die der Kellner verschwunden war, öffnete sich diese wieder und knallte mir beinahe gegen den Kopf. Erschrocken zog der Kellner sie zurück. »Du liebe Güte, verzeih! Hab ich dich getroffen?« Ich schluckte die Erwiderung herunter und hoffte, ein freundliches Kopfschütteln meinerseits würde es tun. Es tat es. Der Kellner eilte in den Schankraum zurück, um die heranströmenden Leute in Empfang zu nehmen. An letzte Hoffnungen geklammert, passte ich mich dem Rhythmus seiner Schritte an, den Blick auf die Herrentoilette gerichtet. Nichts. Adlard gab kein Geräusch von sich. »Urian?« Ich zuckte zusammen, als ich die Frauenstimme im Schankraum hörte. Sie rief zweimal, und beim zweiten Mal klang sie schon wesentlich näher. Adlard hatte sie bestimmt auch gehört. Ich hätte einfach weitergehen und an ihr vorbeischlendern können. Teilnahmslos. Zufällig. Mein Blick flog zu der Tür zurück, die der Kellner nicht abgesperrt hatte. Kurzentschlossen zog ich sie einen Spalt weit auf und schlüpfte hinein. Ich war gerade aus dem Flur, als sich von beiden Seiten Schritte näherten, hastige aus der Richtung des Schankraums und bedächtige von der Herrentoilette her. Sie trafen sich nicht weit von meinem Versteck entfernt. Ich atmete flach in den Bauch. »Du bist weiß wie eine Wand«, wisperte die Frau bestürzt. Der Stimme nach zu urteilen, war sie ungefähr im selben Alter wie Adlard, aber sicher sein konnte ich nicht. Wie gerne hätte ich Röntgenaugen gehabt! Adlard antwortete nicht. »Ich hatte fast befürchtet, du wärst gegangen«, sagte die Frau. Da ich mich bei den beiden nur aufs Lauschen verlassen konnte, nahm ich zeitgleich mein Versteck näher in Augenschein. Der Raum lag im Dämmerlicht; Helligkeit drang nur über ein schmales, hohes Fenster von den Laternen und Lichterketten herein, die über der Straße und in den Hinterhöfen der teilnehmenden Gaststätten aufgehängt worden waren. »Wir hatten doch eine Abmachung«, erwiderte Adlard. »Man weiß nie, ob du nicht etwas Interessanteres findest«, gab sie zurück. Ich glaubte, dass sie zu scherzen versuchte. Adlard reagierte überraschend kühl. »Habe ich denn etwas Interessantes verpasst?« Rechts neben mir standen zwei Tische für je vielleicht vier Personen Platte an Platte übereinandergestapelt, umringt von ebenfalls ineinander gestellten Stühlen. Die Wände waren kahl bis auf eine hölzerne Lade, die mir gegenüber an der Wand hing. Sie war bestückt mit abschließbaren Schubladen, in deren Fronten Schlitze gesägt worden waren. Ein Sparfach, um Geld für spätere Zeiten zu hinterlegen. Kurz fragte ich mich, ob die hiesigen Angestellten es wohl mitbenutzten, dann schob ich den Gedanken beiseite und widmete meine Aufmerksamkeit wieder dem Gespräch zwischen Adlard und der Frau. »Für dich wurde etwas abgegeben«, sagte sie. Ihre Stimme klang belegt – war sie unglücklich? Ich hörte, wie sich jemand in Bewegung setzte, und nahm an, dass es der wortkarge Adlard war. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, als mir bewusst wurde, dass seine Schritte nicht leiser wurden. Sondern näher kamen. »Urian, überdenk das noch einmal«, sagte die Frau. »Noch kannst du die Anfrage zurückziehen.« Aber die Schritte blieben nicht stehen. Adlard hatte keine Muße, seine Entscheidung zu überdenken – worin auch immer die bestehen mochte. Mein Blick heftete sich auf die Lade an der Wand. Plötzlich wusste ich, dass sie kein Sparfach sein konnte, und ich wusste auch, weshalb der Kellner hier gewesen war. Über mein Glück gefror mir das Blut in den Adern. Mir blieb nicht viel Zeit. So leise wie möglich, schob ich eine Stuhlreihe beiseite und zwängte mich durch die Lücke unter den Tisch. Ich rutschte bis an die Wand zurück, damit kein Licht auf mich fiel, und verhielt mich mucksmäuschenstill. »Urian – sehe ich dich gleich?« Die Stimme der jungen Frau klang gehetzt. Vor der Tür stoppten die Schritte. Ich wartete mindestens genauso gespannt auf die Antwort wie Adlards Gesprächspartnerin. »Das kann ich nicht sagen«, erwiderte er mit dünner Stimme. Ich hatte fast bildlich vor Augen, wie die Silhouette der Frau traurig nickte und kehrtmachte. Im nächsten Augenblick hörte ich, dass sie sich tatsächlich entfernte. Mir blieben noch ein paar Sekunden, ehe Adlard den Raum betrat, und ich nutzte sie in dem Versuch, mich zu beruhigen. In meinem Mund sammelte sich Spucke, aber ich traute mich nicht, zu schlucken. Als Adlard eintrat, hielt ich unwillkürlich den Atem an. Offenbar hatte er sich auf dem Flur gesammelt, denn er ging ohne Umschweife und gemessenen Schrittes auf die Lade zu. Die Tischplatte und die Stühle schränkten mein Sichtfeld erheblich ein, sodass ich mir fast den Hals ausrenkte, um zumindest bis zu Adlards Oberkörper sehen zu können. Ohne lange vor der Lade zu verweilen, zog er einen winzigen Schlüssel aus seiner Hosentasche, schloss zielgerichtet eines der Fächer auf und griff hinein. Er hatte es nicht eilig, aber seine Handlungen waren bestimmt. Nachdem er das Fach wieder verschlossen hatte, stand er völlig reglos. Was auch immer er in Händen hielt, es fesselte seine Aufmerksamkeit. Werd’ fertig, dachte ich. Allmählich ging mir die Luft aus. Ich kämpfte gegen die Versuchung an, für eine bessere Sicht ein Stück vorwärts zu rutschen. Augenblicklich ging mein Puls an die Decke und ich schüttelte mich unter Gänsehaut. Um ein Haar hätte ich geräuschvoll die Luft eingesogen. Vor der Lade erschauerte Adlard. Er streckte den Arm von sich und schob den Jackenärmel zurück. Die Haare auf seinen Unterarmen hatten sich aufgestellt. Er wandte sich um, bis seine Füße lotrecht in meine Richtung zeigten. Ich hatte das Gefühl, sein Blick ginge direkt durch die Tischplatte hindurch. Meine Hände hatten sich wie eisige Zangen um meine Unterarme geschlossen. Ich presste die Lippen aufeinander. Irgendwie gelang es mir, in Zeitlupe eine Hand aus ihrer Verkrampfung zu lösen. In meinen Jackentaschen fingerte ich nach irgendeiner Münze, damit ich Adlard zumindest eine unglaubwürdige, aber charmante Notlüge auftischen konnte, wenn er mich gleich unter dem Tisch hervorzerren würde. Doch Adlard machte keine Anstalten, sich meinem Versteck überhaupt zu nähern. Nach einigen Sekunden banger Stille meinerseits wandte er sich ab und verließ den Raum. Die Münze umklammert, wartete ich unter dem Tisch, bis seine Schritte längst in den vielstimmigen Gesprächen der Gäste draußen untergegangen waren. Ich ließ mir Zeit dabei, mich zwischen den Stühlen hervorzuschälen. Bevor ich auch nur einen Schritt tat, streckte ich mich ausgiebig. Wegen meiner verkrampften Haltung schmerzten mir die Glieder, als hätte ich Stunden dort unten zugebracht. Schlagartig wurde mir bewusst, dass all dies nur wenige Minuten gedauert haben konnte. Sobald ich wieder einigermaßen gerade stehen konnte, schlüpfte ich zur Tür. Ich wollte nicht zufällig noch jemandem über den Weg laufen, dem man in diesem Raum etwas hinterlegt hatte. Vorsichtig schob ich die Tür einen Spalt weit auf und wollte gerade in den Flur hinausspähen, als sie mir plötzlich mit einem Affenzahn wieder entgegenkam. Ich zuckte zurück, aber zu spät. Das Holz traf mich mitten ins Gesicht. In meiner Nasenwurzel explodierte der alte Schmerz und ich sackte mit einem langgezogenen Heuler zu Boden, den Kopf in den Armen verborgen. Draußen auf dem Flur entfernten sich schnelle Schritte. »Adlard … du Scheißkerl«, fauchte ich in meine Handflächen. Blut rann mir aus der Nase und zwischen den Fingern hindurch. Er war zurückgeschlichen, um seinen heimlichen Beobachter an der Tür zu überrumpeln, keine Frage! Mit einem Mal machte mein Herz einen Satz. Adlard wusste, dass es einen Zeugen gab. Aber er hatte nicht einmal versucht, mich auszuschalten – also ging es ihm nur um einen Vorsprung. Das hieß, er würde bald handeln. Und ich musste schneller sein! Ich raste zur Herrentoilette zurück, zerrte aus dem Papierspender eine Reihe Tücher, die ich mir unter die Nase hielt und als Vorrat in die Taschen stopfte, und hastete auf den Schankraum zu. Auf halbem Wege kam mir Matt entgegen. Bei meinem Anblick zuckte er fluchend zurück. »Ich komm klar«, näselte ich schroff, bevor er Fragen stellen konnte. Matt schaltete unglaublich schnell. »Der Kerl ist eben ganz lässig nach draußen gegangen«, erklärte er und ließ mich aus eigener Kraft an sich vorüber in den Schankraum stampfen. Solweig wartete immer noch an dem Tisch, an dem ich sie zurückgelassen hatte. Als sie Matt und mich erblickte, lächelte sie – als sie meine Verfassung erkannte, riss sie entsetzt die Augen auf. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und wir bahnten uns durch die Menge einen Weg aufeinander zu. Kaum dass ich sie erreicht hatte, streckte sie die Hände aus, um meine Nase zu untersuchen. »War er das?« Ich schüttelte den Kopf. Für Erklärungen blieb keine Zeit. Ich spitzte die Ohren, in der Hoffnung, die Stimme von Adlards früherer Gesprächspartnerin noch einmal zu hören, doch ich wurde enttäuscht. »Wen suchst du?«, fragte Matt. »Ich sage doch, er ist weg! Weißt du wenigstens, wie er heißt? Damit du ihn anzeigen kannst, meine ich.« »Nein«, fiel ich ihm ins Wort. »Es war anders, ich …« Mit meiner verstopften Nase musste ich im Sprechen innehalten, um Luft zu holen. »Mir ist gerade was Wichtiges klargeworden. Aber das …« Ich stockte und setzte neu an: »Ich muss sofort nach Hause.« Solweig fasste nach meinem Jackenärmel. »Was denn?« »Später«, stieß ich hervor und machte mich los. Bevor einer von ihnen mich aufhalten konnte, hatte ich sie schon zwischen den Feiernden stehen gelassen. »Ich glaub's nicht«, hörte ich Matt hinter mir stöhnen. Ich wandte mich noch einmal um. Matt hatte die Arme missmutig vor der Brust verschränkt. Solweig war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. »Ich melde mich bei euch«, rief ich zurück, was Solweig mit einem verstörten Nicken und Matt mit einem entnervten Kopfschütteln quittierten. Sie folgten mir beide nicht; sie wussten, dass ich nicht auf sie gewartet hätte. Hals über Kopf stürzte ich auf die Straße hinaus. Mein Blick suchte die Gegend ab, fand aber keinen Adlard. Matt hatte zwar gesagt, er wäre beim Hinausgehen nicht weiter aufgefallen, doch nachdem er das Deutsche Viertel verlassen hatte, hatte er es sicherlich eilig gehabt. Wegen des regen Nachtverkehrs zu Silvester hatte die Bahngemeinschaft in der Innenstadt zusätzliche Züge eingesetzt. Mir kam das sehr zugute – Adlard, da er wie ich die öffentlichen Verkehrsmittel benutzte, allerdings auch. Für meine blutige Nase fing ich mir ein paar mitleidige und noch mehr abfällige Blicke ein, die ich ignorierte. In den beiden U-Bahnen, die ich für meinen Weg nach Hause benutzen musste, trat ich neben den Waggontüren von einem Bein aufs andere und sprintete, sobald der Zug hielt, so schnell ich konnte weiter. Als wir die Kensington High Street erreichten, stürmte ich über die Rolltreppe an den übrigen Passagieren vorbei nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und rannte beinahe ein Mädchen über den Haufen, das sich bei seinen Freunden eingehakt hatte und bedenklich schwankte. Die High Street war noch immer von zahlreichen Automobilen in Beschlag genommen, weil die Innenstadt für das große Feuerwerk abgesperrt worden war, doch sobald ich in die abzweigenden Seitenstraßen einbog, herrschte Ruhe. Jetzt, mitten in der Nacht, mied ich den vereisten Bürgersteig und rannte stattdessen auf der Straße. Schnaufend bog ich in unsere Einfahrt ein. An der Haustür verfehlte ich das Schlüsselloch beim ersten Versuch und musste mich zur Ruhe zwingen. In der Diele übersah ich die Sauberkeitsregeln des Hausmeisters großzügig und schlitterte die wenigen Stufen zu unserer Wohnung hinauf. Auf dem Treppenabsatz atmete ich tief durch; gleich würde ich Luft und Spucke brauchen. Meine Hände umklammerten den Schlüssel noch fester. Doch just in dem Moment, da ich unsere Wohnungstür aufschließen wollte, wurde sie von innen aufgezogen und ich fand mich Auge in Auge mit Urian Adlard. Ich erstarrte auf der Schwelle. Den Blick in seinen gebohrt, spürte ich kaum das Zittern, das mich überlief. Bei meinem Anblick stahl sich ein Ausdruck der Erkenntnis auf Adlards Gesicht. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem entschuldigenden Lächeln. Ohne ein Wort schob er sich an mir vorbei und huschte durchs Treppenhaus nach draußen. Einen Moment lang starrte ich wie hypnotisiert hinter ihm her. Dann gewann ich meine Klarheit zurück. Ich warf die Wohnungstür hinter mir zu und stolperte durch den Flur und das Wohnzimmer auf die hell erleuchtete Küche zu. Mum saß allein am Esstisch, in einen alten Pullover gehüllt und den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Als sie mich heranhasten hörte, wandte sie sich halb um. »Urian?« Mir war, als hätte ich einen Schlag in den Magen erhalten. »Nein«, keuchte ich bitter. Beim Klang meiner Stimme wirbelte sie ganz zu mir herum. Stimmlos formten ihre Lippen meinen Namen. Zwei Sekunden lang starrte sie mich einfach an, eine davon verdutzt über mein Erscheinen, die andere bestürzt über meinen Zustand. Dann, als hätte sie jemand angestoßen, sprang sie ruckartig von ihrem Stuhl auf und flog mir entgegen. Ihre Finger waren steif und zitterten, als sie beruhigend über meine Wange zu streichen versuchten. Ich fasste ihre Hand und führte sie behutsam von meinem Gesicht weg. »Hat Adlard dir etwas getan?«, stieß ich hervor. »Was ist mit dir passiert?«, platzte sie im selben Moment heraus. Zuerst wollte ich darauf beharren, dass es doch gefälligst an der Zeit war, meine Fragen zu beantworten, doch nach der ersten Silbe brach ich ab. »Mum, ich bin okay«, sagte ich. »Das war er … also, er wusste nicht, dass ich da war.« »Dass du wo warst?«, fragte sie verdutzt. »In Camden. Silvester feiern!« Ich stockte. So wurde das nichts. In Mums Gesicht flackerte eine Spur von Begreifen auf. Nichts überstürzen, ermahnte ich mich und klammerte mich stattdessen an die Idee, dass Mum die ganze Geschichte vielleicht aufklären konnte. Aber dazu musste ich anders vorgehen. Also erzählte ich ihr, was sich zugetragen hatte – von dem Moment an, da Adlard die Kneipe betreten hatte. »Das Deutsche Viertel?«, wiederholte Mum, als ich fertig war. Sie wirkte alarmiert. Vielleicht hatte sie tatsächlich ihren Teil beizusteuern? »Mum, hat er dir etwas getan?«, fragte ich noch einmal. Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Er ist gekommen, um mich zu warnen.« Ich hatte das Gefühl, in Eiswasser zu fallen. Wortlos starrte ich sie an – eine einzige Anklage, und die wollte ich sie spüren lassen. Mit jedem Augenaufschlag wurden Mums Augen glasiger und ihre Miene härter. Sie kämpfte mit sich. Wie lange wir uns so gegenüberstanden, weiß ich nicht. »Charlotte?« Brecas Stimme war kaum mehr als ein Ächzen. Wann war er dazugekommen? Ich warf mich herum und sah ihn gekrümmt im Türrahmen stehen, den Arm stützend gegen das Holz gestemmt. Schweiß stand ihm auf der Stirn und seine Augen waren tief in die Höhlen gesunken. Die Finger seiner freien Hand umschlossen zitternd eine glänzende Kugel von der Größe einer Murmel. Fassungslos stammelte ich seinen Namen. »Ich glaube, wir dürfen nicht länger warten«, brachte er hervor. Sein erschöpfter Blick fixierte Mum, die beschämt den Kopf senkte. »Du musst die Karten auf den Tisch legen.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)