Perlmutt von Hepho ================================================================================ SILVESTER (VI): »Woher kommt eigentlich das plötzliche Interesse?« ------------------------------------------------------------------ »Mr Cobbald reißt dir den Kopf ab.« Matts düstere Prophezeiung galt meinem letzten Suchbegriff. Nach mir hatte auch er sich bei Solweig eingefunden, damit wir beratschlagen konnten, wohin es heute Nacht gehen sollte. Ich beteiligte mich nur halbherzig an den Überlegungen; mein Hauptaugenmerk lag auf den Ergebnissen, die das Internet auf meine Suchanfrage hin zutage förderte. »Ich dachte, du wolltest recherchieren?«, bemerkte Matt. Ich öffnete mehrere Artikel zugleich. Zwischen den Seiten meines aufgeschlagenen Physikbuches versteckte sich das atlantinische Pamphlet »Natürlich, aber ich habe nicht gesagt: für Physik«, erwiderte ich, während ich die Zeilen durchkämmte. Eine leere Phrase, die ich nur kloppte, weil Matt sie von mir erwartet hätte. Er erwartete meistens Widerspruch von mir. Hinter meinen Schläfen hielt sich hartnäckig ein dumpfer Schmerz, der beständig an- und abschwoll, als wollte er mich daran erinnern, dass er insgeheim auf seinen nächsten Freigang wartete. Die kalte Winterluft hatte mich erfrischt, als ich ein weiteres Mal zu Solweig aufgebrochen war, aber das Pochen hatte sie nicht ganz abtöten können. Matt schenkte mir ein Zischen – ein für ihn typischer Laut, der irgendwo zwischen Tadel und Belustigung anzusiedeln war – und ließ mich machen. Seit unserem Streit am Vortag hatte er eine Drehung von Einhundertachtzig Grad hinter sich gebracht. Ich musste ihn gar nicht erst fragen, wie sein Gespräch mit Mr Cobbald verlaufen war. Offensichtlich war sein guter Ruf wiederhergestellt, denn sein Groll gegen mich war rückstandslos verraucht. So einfach verhielt es sich manchmal mit ihm. In der Regel brachte mich seine Wankelmütigkeit zum Rasen. Im Moment kam sie mir allerdings sehr gelegen. »Was liest du da eigentlich?« Solweig beugte sich über meine Schulter. Ihre Hände waren auf die Stuhllehne gestützt, aber durch den Pulloverstoff fühlte ich ihre Fingerspitzen an meinem Rücken. Ich rutschte ein Stück vom Bildschirm zurück, sodass die beiden den Bericht in Augenschein nehmen konnten. »›Papierregen überflutet Innenstadt‹«, zitierte Matt. Er schnalzte geringschätzig mit der Zunge. »Wie reißerisch.« »Ich war dabei«, gab ich kund und zupfte das Flugblatt zwischen den Buchseiten hervor. Matt starrte zuerst den Bogen Papier, dann mich aus großen Augen an, und auf seinem Gesicht breitete sich wie in Zeitlupe ein entgleistes Lächeln aus. »Da, wo du dein Veilchen bekommen hast?« »Genau da.« Ich verdrehte die Augen und spürte prompt das Ziehen im Unterlid. Die Wahrheit hatte ich ihm verschwiegen. Solweig konnte man solche Dinge erzählen. Ihm besser nicht. Kopfschüttelnd wandte er sich wieder dem Artikel zu. »Wieso wundere ich mich eigentlich?« Er fand nämlich, ich würde Ärger magisch anziehen, was ich für absoluten Blödsinn hielt. Laut den Berichten, die ich bisher gelesen hatte, war meine Haltestelle einer von drei Hochbahnhöfen gewesen, an denen Atlantis die Papiere in Umlauf gebracht hatte. Auch in der Tube hatten sie sie massenweise verteilt. Polizei und Congregatio hatten die »Unruhestifter«, wie mehrere Artikel sie bezeichneten, angeblich quer durchs Schienennetz verfolgt und schließlich den einen oder anderen verhaften können. Die Festgenommenen beriefen sich auf den Präsidenten Phinæus Sheldon und seine Principia, doch bisher wartete man noch auf eine offizielle Stellungnahme des atlantinischen Vorstandes. Außerdem war Sheldon Gerüchten zufolge seit Wochen nicht in London gewesen. Wenn das stimmte, konnte Adlard suchen, bis er umfiel. Wenn, hielt ich mir vor Augen. Die Berichte nannten neben Sheldon noch andere Mitglieder der Principia. Unter ihnen waren zwei hochangesehene Geschäftsleute und ein viel zitierter Politiker. Doch der Name, den ich suchte, fiel nicht. »Willst du den Zettel etwa behalten?«, warf Solweig plötzlich ein. Ich zuckte die Achseln. »Warum nicht?« »Weil das Volksverhetzung ist, auch wenn deine Mutter das nicht einsehen will«, erwiderte Matt und kam sich dabei sehr profund vor. Mein Blick ließ ihn verstummen. Seine Worte hätten genauso gut von seinem Vater stammen können; eine siegelechte Kopie, hätte man sie niedergeschrieben. »Entschuldige«, lenkte er ein, als ihm das plötzlich bewusst zu werden schien. »Nichtsdestotrotz ist es gefährlich«, gab Solweig zu bedenken. Besonders jetzt, wo ihr unter Beobachtung steht, fügte ihre strenge Miene hinzu. »Wer soll das denn bei mir finden?«, erwiderte ich, betont selbstsicher. Matt hatte ich nichts über Lestard und den Schlüssel erzählt, und ich hatte auch nicht vor, das in nächster Zeit nachzuholen. An der Gordon Stout war er ein umsichtiger, treuer Gefährte. Aber im Angesicht seiner Eltern war ich mir seines Schweigens nicht so sicher. Ich bemerkte, dass Solweig mit sich kämpfte. »Naja, ich dachte nur …«, sagte sie unschlüssig. Aus einem Impuls heraus strich ich mit der Hand über ihren Unterarm und sah, wie sich die dünnen Haare auf ihrer Haut bei der Berührung aufstellten. Demonstrativ kehrte ich ihr und Matt den Rücken und tippte den Namen, den ich in den Artikeln vergeblich gesucht hatte, in das Begriffsfenster ein. »Lestard Calhoun« erzielte mehr als zwölf Millionen Treffer in der Textsuche. Die Videoportale hatten ganze Playlists zu bieten. Einer Eingebung folgend, schwenkte ich zur Bildsuche um. Vier Millionen Fotografien und Videostandbilder, sagte die Anzeige. Ich klickte mich durch das erste Dutzend Seiten. Keines der Bilder zeigte Lestard Calhoun allein; es gab nicht mal eines, auf dem man ihn eindeutig hätte identifizieren können. Die meisten waren offensichtlich aus der Menge heraus von Laien geschossen worden. Gliedmaßen ragten in den Bildfokus. Bewegungsunschärfe zeugte von Begeisterung oder Verfolgung. Zahlreiche Ablichtungen zeigten in Brand gesteckte Congregatioflaggen, die Grenzmauer im Norden oder Flüchtlinge beim Versuch, auf die andere Seite zu kommen – aber keinen Lestard. Einige dieser Bilder kannte ich aus dem Politikunterricht, wo wir den Bürgerkrieg angerissen hatten. Seit der Nord-Süd-Spaltung waren gerade so viele Jahre vergangen, wie ich alt war, und im Unterricht wurde das Thema – da es totzuschweigen unmöglich war – nach Kräften heruntergespielt. »Du hast aber nicht vor, den ganzen Abend auf diesem Stuhl vor dem Computer zu verbringen, oder?«, bemerkte Matt. Der Richtung nach zu urteilen, aus der seine Stimme kam, hatte er sich auf Solweigs Schlafsofa niedergelassen. Da ihre Eltern am Morgen eingewilligt hatten, dass ich über Silvester bleiben dürfe, hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, es wieder zusammenzuklappen. Ich überhörte Matts Einwurf, wenngleich mein Gewissen sich nicht scheute, mir die Verfahrenheit dieser Situation vor Augen zu führen. Wäre ich mit Solweig alleine gewesen, hätte ich weitersuchen und mit ihr über meine Funde sprechen können. Aber wir waren zu dritt. Und auf Matt, der nicht eingeweiht war, musste mein Verhalten schlichtweg ignorant wirken. »Woher kommt eigentlich das plötzliche Interesse?«, fragte er neugierig. »Das hab ich seit dem Politikreferat über Phinæus Sheldon«, sagte ich kurzangebunden und rang mich dazu durch, das Bildschirmfenster zu schließen. Das Schlagwort »Referat« schien sich zu meiner ultimativen Notlüge aufgeschwungen zu haben. Keine Bilder! »Von wegen«, knurrte ich für mich. Ich hätte schwören können, dass die Zeitungen und Sender in ihren Archiven oder im Intranet über scharfe Abzüge von Lestard Calhoun verfügten. Mit wie viel Geld musste man all die Journalisten wohl schmieren, damit sie die Fotografien und Videoaufzeichnungen nicht veröffentlichten? Konnte ein Mann wie Lestard solche Unsummen aufbringen? Er war mächtig, zugegeben, und Atlantis verfügte über zahlreiche Sponsoren. Allerdings kontrollierten diese sehr gründlich, wohin ihr liebes Geld verschwand. Die karitativen Einrichtungen und Veranstaltungen, die Atlantis mit den Spendengeldern beständig ins Leben gerufen hatte, waren wohl das einzige Hindernis, das die Congregatio noch davon abhielt, die Organisation ganz zu verbieten. Ich warf einen Blick zum Sofa. Matt hatte sich gemütlich zurückgelehnt. Solweig hatte sich neben ihn gesetzt und die Beine untergeschlagen, eine Reihe Flyer und Leporellos vor sich ausgebreitet. Ich schlurfte zu ihnen und ließ mich ihnen gegenüber in die Kissen fallen. »Jungs, gehen wir nach Camden?«, fragte Solweig, noch ehe ich das Polster berührte. Augenscheinlich wollte sie die Gelegenheit nutzen, bevor Matt oder ich das Thema »Atlantis« erneut anschneiden konnten. Matt verzog das Gesicht. »Was ist in Camden?« Ich schwieg. Eigentlich musste ich ihm zustimmen – die Märkte schlossen um sechs Uhr, und anschließend gab es nur noch Pubs und Nachtclubs, die ihr Publikum penibel nach Alter und Aufmachung aussortierten. Solweig schüttelte energisch den Kopf. »Garreth hat mir erzählt, dass so eine Kneipe den Antrag für ein eigenes kleines Feuerwerk durchgebracht hat«, erklärte sie unbeirrt. »Der Inhaber ist, glaube ich, ein Deutscher. Oder seine Vorfahren waren es.« »So eine Kneipe«, wiederholte Matt in gutmütigem Spott. Solweig überhörte den Einwurf. »Die organisieren zusammen mit ein paar anderen Lokalen jedes Jahr zu Silvester ein riesiges Straßenfest. Da laufen alle möglichen Leute herum, da gibt es keine Altersgrenze.« Seit dem Bürgerkrieg war Camden ein aufstrebendes Viertel, weil reiche Investoren das Stadtbild restaurierten und seine Märkte sowohl Londoner als auch einheimische und ausländische Touristen gleichermaßen anlockten. Camden war, in gewisser Weise, der Ort, an dem alle Menschenschläge Londons zusammentrafen. Bis auf einen – Matts. Camden mochte das Pflaster sein, das die Oberschicht in Aussicht auf Profit vergoldete, nicht aber das Pflaster, auf dem sie sich normalerweise bewegte. Er sprach es nicht aus, doch genau darum ging es für ihn. Die Versuchung war groß. Und der Druck nicht minder. Es fiel mir schwer, mich auf etwas Anderes zu konzentrieren als auf die verwischten Bilder von Lestard Calhoun. Der eine oder andere Artikel dazu wäre sicherlich einen Blick wert gewesen. Breca hatte gesagt, ich sollte alles tun, um auf andere Gedanken zu kommen. Um ehrlich zu sein, hatte ich auch nicht wenig Lust dazu. Und je mehr Leute ich traf, desto größer war die Ablenkung. Solweigs Idee begann mir zu gefallen. Jedenfalls gefiel sie mir deutlich besser als die Aussicht, ihr und Matt bei einem längeren Hin und Her zuhören zu müssen. »Haben wir Alternativen?«, brummte Matt. »Haben wir nicht«, sagte ich und nickte zu Solweig hinüber, die uns ihrerseits aus leuchtenden Augen stumm anbettelte. »Sie hat sich schon entschieden, siehst du das nicht?« Solweig rutschte näher an ihn heran. »Komm schon! Da ist es proppenvoll, da fischt uns keiner raus. Garreth war schon zweimal dort und geht diesmal auch wieder hin. Das kann gar nicht schlecht sein!« »Garreth ist achtzehn«, erwiderte Matt, wissend, wie schwach sein Argument in Solweigs Ohren war. »Aber nicht vor zwei Jahren«, gab sie zurück. »Da war er sechzehn«, unternahm Matt einen letzten Versuch. »Wir gehen locker als sechzehn durch«, sagte ich. »Fall du mir in den Rücken!« Matt wehrte sich gegen das Schmunzeln, das sich auf sein Gesicht stehlen wollte. Er war noch nicht ganz überzeugt. Solweig lachte nur. Ich ertappte mich dabei, dass ich sehnsüchtig in Richtung des Pamphletes blickte, das noch immer auf ihrem Schreibtisch lag. Matt hatte mir meine einzige sinnvolle Beschäftigung bis zum Abend genommen. Ich konnte die Gedanken an Lestard nicht ausblenden, egal wie sehr ich mich anstrengte. Die Nachrichten machten mich kribbelig. Ich spürte, dass ich gereizt war; wenn Matt jetzt noch eine falsche Bemerkung machte, wäre es mir eine Freude, ihn auseinanderzunehmen. Solweigs Miene verwandelte sich in ein einziges Paar großer, unterwürfiger Kulleraugen, ein Meisterwerk des wohlgeplanten Kalküls. Einen Moment lang schaffte Matt es tatsächlich, sich ihrer Wirkung zu entziehen. Dann brach sein Widerstand unter einem tiefen Seufzer und einem unterdrückten Fluch ein. Solweig genoss den Moment ihres Triumphes in vollen Zügen. Matt zu etwas zu überreden, war im Grunde ein Leichtes, sobald man wusste, wo man den Hebel anzusetzen hatte. »Und wie heißt diese Kneipe?«, fragte er. Das Millenium Wheel stand wie in Flammen über der Themse. Flussnebel und erleuchteter Pulverdampf umschlangen die gewaltige Silhouette; ein zur Erde gestürzter Regenbogen, der sich über Londons Dachfirste hinweg gen Himmel aufbäumte. Die Uferpromenade, die nahen Brücken, die umliegenden Straßen hoben wie auf ein unsichtbares Kommando in zahllosem Stimmengewirr zu einem tiefen Summen an. Über der Menschenmenge wogte Kamerablitzlicht; ein schimmerndes Gegenstück des Feuerwerks hoch über ihren Köpfen, und vielmehr noch ein Abbild ihrer zahllosen Erwartungen und ihrer gemeinsamen Verzauberung. Abseits der Menschen stand ein einzelner Mann im Schatten eines Hauses. Die Augen geschlossen, lauschte sein Geist der wilden Einheit, die Londons Mitte pulsieren ließ. Einem rauschhaften Taumel erlegen, betasteten seine Sinne die Ausläufer der verzückten Masse. Hier, jenseits der Lichter und verborgen vom Mauerwerk, war er ihnen näher, als wenn er mitten zwischen ihnen gestanden hätte. Die ockerfarbene Kapsel in seinen Fingern hatte er vergessen. Millimeter um Millimeter entglitt sie dem vernachlässigten Griff und fiel zu Boden, wo halbgeschmolzener Schnee sie verschluckte. In den Kanon aus Stimmen und Feuerwerkskörpern mischte sich ein nahes Schmatzen. Widerwillig horchte der Mann auf. Vor ihm patschten Schritte über den matschigen Asphalt, offensichtlich darauf abzielend, gehört zu werden. »Sieh an, wer sich einsam in den dunklen Ecken herumdrückt«, sagte eine vergnügte Stimme. »Hat Urian Adlard die Party verlassen, oder hat die Party Urian Adlard verlassen?« Als er endlich aufblickte, flackerte über das Gesicht der jungen Frau die Andeutung eines Lächelns. Einen Moment lang konnte Urian nur starren. Sie fasste das als Einladung auf, sich zu ihm zu gesellen. Das Feuerwerk färbte den Dampf ihrer Atemluft, zeichnete feine Lichtsprenkel auf ihre Lippen und umkränzte ihre dunklen Haare mit einem Leuchten. Ein leichtes Parfüm streifte seine Nase, als sie den Mantel enger um ihren Körper schlang. »Was machst du im Süden?« Die Frage schlüpfte ungewollt über seine Lippen. Ein bitterer Zug streifte ihr Lächeln. »Mireille ist in guten Händen«, sagte sie. Urian zuckte zusammen und schaute weg. »Es tut mir Leid«, presste er zwischen den Zähnen hevor. »Das stand mir nicht zu.« »Der Blick oder die Bemerkung?«, erwiderte sie unschuldig. Demonstrativ fasste Urian die Menschen weiter oben auf der Straße ins Auge, die den Rand der Menge bildeten. »Du siehst nicht gut aus«, stellte sie fest. »Es sind harte Zeiten.« Er hörte ihr Schnauben und zwang sich zu einem Lächeln. Sie berührte seine Hand; kaum spürbar. Der Stoff ihrer Handschuhe war mit eisigen Tropfen benetzt. Halb geschmolzener Schnee, der auf seiner Haut prickelte. Unwillkürlich schaute Urian auf ihre Hand hinab. Sie hielt ihm ein kleines Kuvert hin. »Mireille sagte, an einem Abend wie heute bist du bestimmt nicht zu Hause. Also …« Urian spürte einen Stich in der Brust. Seine Finger zitterten, als er nach dem Umschlag griff. Das Papier war dünn und glatt. Er wagte kaum, richtig zuzufassen, als könnte es unter seiner Berührung zerfallen. Im Widerschein des Feuerwerks zeichneten sich die Worte auf der Innenseite undeutlich ab. »Bist du allein hier?« Seine Stimme kam einem Krächzen gleich. Urian räusperte sich. »Wer sagt das denn?« Sie zwinkerte ihm zu. »Jean hat in der Regel nichts daran auszusetzen, dass ich ab und an unter vier Augen mit alten Freunden rede.« Urians Magen machte einen Satz. »Ist Lestard auch hier?« Die Frau schüttelte überrascht den Kopf. »Ich habe ihn seit Monaten nicht gesehen.« »Seit Monaten.« Die Worte hallten in Urians Gedanken nach. Das erste Gefühl, das sich einstellte, war Erleichterung, das zweite die Enttäuschung über eine verpasste Chance. Mit einem unterdrückten Fluch auf den Lippen sackte er gegen die Mauer. »Jean hatte in letzter Zeit mit ihm zu tun, nicht wahr?«, fragte er. Sie presste die Lippen zusammen. Eine Welle fremder Sorge streifte sein Bewusstsein. Ihre Sorge. Urian ertappte sich dabei, wie er ihre Geste nachahmte, und straffte sich. »Wenn ich ihn richtig verstanden habe, hat Lestard wieder eine Menge fixer Ideen im Kopf«, gab sie mit belegter Stimme zu. »Um ehrlich zu sein, ist mir die Sache nicht ganz geheuer.« Urian schwieg für einige Sekunden, in Überlegungen versunken. Seine Augen ruhten auf dem Kuvert in seinen Händen, ohne es anzusehen. Als er sich dessen plötzlich gewahr wurde, steckte er den Umschlag in die Innentasche seines Mantels, sorgsam darauf bedacht, ihn nicht an dem Tablettenheft zu zerknicken. »Kannst du mich zu Jean bringen?«, fragte er fest. Sie hob eine Augenbraue. »Du bist unverbesserlich. Es ist Neujahr!« »Und?« »Urian, ich komme nur selten in den Genuss deiner Gesellschaft.« Sie lachte ob seines argwöhnischen Blickes. »Ich tu das für eine Freundin«, gab er forsch zurück. »Für wen?«, fragte sie sanft. Sie kannte ihn zu gut, als dass er sie mit seiner Bemerkung hätte verletzen können. »Charlotte.« Der Name kam geschnappt wie ein Biss. »Charlotte Furlong?« Sie senkte die Stimme. Ihre Miene war undurchdringlich, während sie sich wohl vor ihrem geistigen Auge Stück für Stück ein Bild zusammensetzte. »Lestard hat viel von ihr gesprochen, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe.« »Er war gestern Abend bei ihr«, erwiderte Urian. »Er ist wieder in London.« Sie stockte und nahm sich Zeit, ihn eingehend zu mustern. Urian erwiderte ihren Blick. »Wenn du dich da einmischst, kommst du in Teufels Küche«, befand sie. Urian bleckte die Zähne. »Mein Süppchen kann ich überall kochen.« Sie rümpfte die Nase. »Du kannst es nicht lassen, mir die Worte im Mund herumzudrehen, oder?« Er zuckte bloß die Achseln und erntete dafür einen resignierenden Seufzer. »Ich schlage dir etwas vor«, sagte sie. »Ich überlasse dir Jean für dein Gespräch unter vier Augen. Später. Und unter der Bedingung, dass du dich einladen lässt und die Arbeit für heute Nacht niederlegst.« Urian wandte sich ab. Ihre Sorge rührte ihn, ihr Angebot winkte mit Seidentüchlein. Ging er darauf ein, hatte sie ihn früher oder später im Sack. Irgendwie würde sie es schaffen, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten. »Wer Lestards Rat sucht, wird gefunden werden«, rezitierte er nachdrücklich. Sie fasste ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich herum. Ihr Blick war bohrend, und ihre nächsten Worte nicht minder. »Als seine Schwester sollte ich das nicht sagen, ich weiß. Aber lass dich nicht noch einmal mit ihm ein. Schau dich an. Und denk an Mireille!« Urian zwang sich erfolgreich zum Schweigen. Als er nicht reagierte, fasste sie nach seiner Hand und zog ihn hinter sich her. »Lestard kennt kein Silvester«, sagte sie bestimmt. »Aber wir sind nicht Lestard, nicht wahr?« Urian stemmte sich gleichsam gegen ihren Griff und gegen die Fröhlichkeit, die wider ihre Worte in ihrer Erscheinung blühte. »Ich habe nicht die Ruhe dafür«, stieß er hervor. Er wollte sie nicht vor den Kopf stoßen. Allerdings war ihm genauso wenig nach Feiern zumute. Ausnahmsweise waren sein Gewissen und sein Egoismus einer Meinung. Sie wandte sich zu ihm um. In ihrem Gesicht stritten Bitte und Tadel um die Vorherrschaft. »Ist es dir wirklich so wichtig?« Er musste nicht nicken. Sein Blick schien alles zu sagen. »Weshalb?«, fragte sie ernst. Urian fuhr sich mit der Hand übers Kinn, schindete Zeit. Seine Gesichtshaut kribbelte, als seine Finger über winzige Bartstoppeln schmirgelten. Er hätte sich rasieren sollen, redete er sich ein, bis der unnachgiebige Blick seiner Gesprächspartnerin seine Barriere zum Einsturz brachte. »Ihr Sohn«, murmelte er. »Sie haben so viel zu verlieren.« »Du kannst wirklich nicht aus deiner Haut heraus, was?« Ihre Worte klangen wie ein Eingeständnis an sich selbst. Sie seufzte schwer und musste sich abwenden, um die Information sacken zu lassen. Als sie ihn wieder ins Auge fasste, war ihr Gesicht wie überschattet. Verstohlen tastete Urian nach der Heiterkeit, die sie ausgestrahlt hatte. Sie war fast erloschen, glomm träge vor sich hin wie ein Kohlestück im Aschebett. Sie hatte sich vor ihm zurückgezogen. »Wollen wir gehen und ein paar alte Kontakte aufleben lassen?« Ihre Stimme klang wie von Ferne zu ihm. »Alte Kontakte«, wiederholte Urian. »Heißt das, wir schließen einen Kompromiss?« Sie betrachtete ihn schweigend. Er schluckte. Sie würde ihn nicht zu Lestard führen. Sie wusste nicht, wo er war, das glaubte er ihr. Diesbezüglich hätte sie ihn niemals angelogen. Aber womöglich würde er nicht einmal Jean zu Gesicht bekommen; diese Finte traute er ihr ohne Weiteres zu. Er fuhr sich durchs Haar. Vielleicht war das Sammeln von Gerüchten heute Nacht tatsächlich seine einzige Alternative. »Und woran hattest du gedacht?«, brachte er hervor. Da lachte sie triumphierend auf, und im selben Moment barst die Luft um sie herum vor Licht. Ein tiefes Grollen erhob sich über der Themse vor ihnen. Das Feuerwerk war auf seinem Höhepunkt. Urian kniff die Augen zusammen. Er konnte nicht hören, was sie sagte, aber die zwei Worte waren ihm so vertraut, dass er sie gegen die grellen Schattenrisse auf ihrem Gesicht deutlich von ihren Lippen ablesen konnte. Das Deutsche Viertel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)