Perlmutt von Hepho ================================================================================ SILVESTER (IV): »Ich will das schnell und schmerzlos über die Bühne bringen.« ----------------------------------------------------------------------------- Wütend pfefferte ich meinen Rucksack aufs Bett. Urian Adlards Plan sah vor, dass Mum mich aus dem Haus schaffte, bevor der Trupp der Congregatio eintraf. Sein Plan sah auch noch Anderes vor, aber sie hatten mich vor die Tür geschickt, damit ich nichts mitbekam. Also gab ich mir Mühe, beim Packen einen Lärm zu veranstalten, der meine Unzufriedenheit gebührend widerspiegelte. Die Quittung war, dass Mum zuerst meine Zimmertür und dann die Küchentür schloss und mein Gehabe einfach ignorierte. Ich machte trotzdem weiter. Ich musste mich abreagieren – zumindest musste ich so tun als ob. Und wenn ich dafür den verzogenen Bengel zu spielen hatte, sollte es eben so sein. Solange ich noch Gelegenheit dazu hatte, wollte ich Adlard zeigen, was ich von ihm hielt. Natürlich würde mein provokantes Getue Mum ärgern. Hätte ich aber plötzlich widerstandslos eingewilligt, wäre sie misstrauisch geworden. Sie hatte Breca ohnehin einer genauen Musterung unterzogen, als er nach unserem kurzen Gespräch im Wohnzimmer mit unschuldiger Miene wieder zu ihnen gestoßen war. Jetzt lag es bei mir, seine diplomatische Vorarbeit fortzusetzen. Immerhin hatten sie mir die Wahl gelassen: Matt oder Solweig. Angesichts der Umstände keine besonders schwierige Wahl. Zwar waren Solweigs Eltern nicht gerade vor Begeisterung in die Luft gesprungen, als sie am Telefon hörten, dass ich über Neujahr bei ihnen einziehen würde. Aber als Solweig ihnen versicherte, dass es wirklich ungeheuer wichtig sei, vertrauten sie ihr. Meine Schranktür schlug scheppernd gegen den Rahmen. Mit spitzen Fingern packte ich mein Physikbuch obenauf. Ein drohendes Mahnmal. Am liebsten hätte ich es sofort wieder hinausgeworfen, aber das Referat erwartete mich mit geiferfeuchten Zähnen. Das hatte mir gerade gefehlt. Allerdings wäre ich eher aus der Hochbahn gesprungen als zu kneifen. In voller Fahrt, meine ich. Den Rucksack geschultert, pochte ich schließlich an die Küchentür. Es ist ein seltsames Gefühl, in seiner eigenen Wohnung anzuklopfen und auf Einlass zu warten, aber ich wollte den Bogen nicht überspannen. In meinem Zimmer konnte ich herumkrakeelen. Anderswo lieber nicht. »Ich bin fertig«, sagte ich einfach. Mum, die sich bei meinem Eintreten erhoben hatte, schaute unschlüssig auf den Rucksack in meinen Händen. Adlard räusperte sich vernehmlich. Ich starrte ihn so böse an, wie ich konnte. Mum nahm das zum Anlass, mich wortlos mit sich in den Flur zu ziehen. Als ich abermals einen vernichtenden Blick in Adlards Richtung schickte, zerrte sie mich herum und stieß mir meine Jacke in die Arme. Dann riss sie die Tür zum Treppenhaus auf und stiefelte ohne einen Blick zurück hinaus. Über die Schwelle zog die kalte Dielenluft in die Wohnung. Eine Hand legte sich auf meine Schulter. »Halt die Ohren steif«, knurrte Breca verhalten. »Wir werden das auch tun.« Ich nickte ihm zu und ignorierte Adlard. Dass Mum mich persönlich bei Solweig absetzen wollte, hatte zwei Gründe: Der erste war mütterliche Sorge. Der zweite war das Donnerwetter, das auf dem Fuße folgen würde, sobald ich im Automobil saß. Das Haus, in dem wir unsere Wohnung hatten, lag ein gutes Stück abseits der großen Straßen. Als ich die Außentreppe betrat, brandete ein Hauch des Lärms an meine Ohren, der mehrere Blocks entfernt von den Silvestervorbereitungen in der Innenstadt verursacht wurde. Mum schritt schnell aus, was allerdings besser zu hören als zu sehen war. Der Autoschlüssel klirrte bei jedem Schritt in ihrer Hand. Von den Wänden der niedrigen Unterführung, die zu den Anwohnerparkplätzen führte, schepperte sein Echo ungeduldig zurück. Mums Füße gaben kaum einen Laut von sich. Das taten sie fast nie, egal, wie unwegsam die Straße auch sein mochte. Wie so oft, versuchte ich ihren Gang zu imitieren, aber der Hall lachte mich im trommelnden Rhythmus meiner Schritte aus. Mum hatte die Unterführung bereits zur Hälfte durchquert; ich musste laufen, um sie einzuholen. Auf dem Parkplatz hielt ich Ausschau nach Adlards Wagen, fand aber kein Automobil, das mir unbekannt vorkam. Also hatte er die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt. Selbst heute waren sie bei Weitem der schnellste Weg, den man wählen konnte. Sicherlich hatte er sich eine Schneise durch die Bahnfahrer und Fußgänger schlagen müssen. Deswegen sah er so zerknittert aus. Geschieht ihm ganz Recht! Ich schloss die Autotür und lümmelte mich mit Genugtuung auf den Beifahrersitz. Neben mir schnappte die Fahrertür unheilvoll ins Schloss. »Du wirst Urian nicht länger behelligen«, befahl Mum unterkühlt und drehte den Zündschlüssel. Der Motor röhrte auf und verschluckte sich an seinem eigenen Röcheln. Im Winter hatte er das manchmal, dann wurde er behäbig. Als wir die Unterführung erneut passierten, husteten die Wände zurück. Ich wartete, bis wir die Straße erreicht hatten. »Warum tanzt du nach seiner Pfeife?« »Weil es der richtige Rhythmus ist.« Mum knüppelte den Wagen in den nächsten Gang und der Motor überwand seinen Schluckauf. »Solange du nichts weißt, hast du dich nicht einzumischen. Unsere Lage ist schwierig genug. Ich will nicht auch noch zusehen müssen, wie die Congregatio dich auseinandernimmt.« »Das müssen ja mörderische Gestalten sein«, murmelte ich sarkastisch. »Ich will das schnell und schmerzlos über die Bühne bringen«, sagte sie nachdrücklich. Ich schnaubte. »Und dann fällt der Vorhang wieder«, ergänzte ich grimmig. Mum wollte die Hand auf mein Knie legen, aber ich zog das Bein weg. »Reiß dich zusammen, Yuriy!« »Du machst es dir leicht!« Sie warf mir einen schnellen Blick zu, bevor sie sich wieder auf die Straße konzentrieren musste. »Hinter dem Vorhang spricht man erst, wenn die Zuschauer gegangen sind.« Ich vermied es, sie anzusehen, und hielt mich stattdessen an die Aussicht aus dem Fenster. London flog in seinen Vorbereitungen für den Abend vorüber. Zwei Tage feiern und faulenzen für sie. Drei Tage harren für uns. Den Moment, in dem wir reden konnten, sehnte ich herbei. Doch gleichzeitig – dessen wurde ich mir plötzlich bewusst – war ich froh, dass Mum ihn für uns beide aufschob. »Warum vertraust du Adlard so sehr?«, fragte ich noch einmal, als wir die Hälfte der Fahrt hinter uns gebracht hatten. Mums Augen verengten sich zu Schlitzen. »Er und ich haben da gewisse Dinge zusammen ausgestanden«, sagte sie mahnend. Weil ich für ihren Geschmack wohl noch immer zu rebellisch dreinschaute, fügte sie hinzu: »Sollte ich etwa vergessen haben, zu erwähnen, dass er ein guter Freund von mir ist?« Ich vergrub das Gesicht im Jackenkragen und beschloss, das Thema fürs Erste fallen zu lassen. Alles, was ich sagen konnte, würde Mum als anmaßend empfinden. Letztendlich hatte sie Recht. Ich mit meiner Wissenslücke war nicht in der Position, über Adlard zu urteilen. »Du musst mich nicht beschützen«, sagte Mum unvermittelt. Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf. Sie wirkte fast amüsiert. »Du verheimlichst mir etwas. Seit ein paar Wochen.« Mein Magen zog sich zusammen. Ich hob zu sprechen an, brachte aber kein Wort heraus. Den Kloß in meinem Hals zu schlucken, kostete mich einige Sekunden. »Du machst es doch genauso!«, schindete ich Zeit. Mums Blick haftete auf einer Ampel vor uns, die gerade auf grün umsprang. »Hätte ich dich lieber zwingen sollen?« Sie hatte mich ohne Unterlass gelöchert, wohl wahr. Aber mein Entschluss stand fest. »Lass uns noch drei Tage warten«, schlug ich ihr vor. Mum lächelte die Windschutzscheibe an. »Vielleicht ist das vernünftig«, sagte sie bitter. Im Nachhinein dachte ich, dass Adlards Plan gar nicht so übel gewesen war. Zumindest der Teil, der mein Verschwinden beinhaltete. Leider scheiterte die Umsetzung. Wir waren zwei Kreuzungen von Solweigs Haus entfernt, als der erste Anruf einging. Mum, die das Übel schon kommen sah, überhörte das Handyklingeln geflissentlich. Aber der Anrufer dachte nicht daran, aufzugeben. Das Freisprechsystem sandte den Rufton über die Radioboxen aus, sodass er sich zu einer minutenlangen Endlosschleife auswuchs. »Mum«, stöhnte ich schließlich. Mit einem unverständlichen Fluch auf den Lippen bedeutete sie mir, den Anruf anzunehmen. »Charlotte«, sagte Brecas Stimme. »Ist Yuriy noch bei dir?« Mum zögerte. »Charlotte?« »Ja, ist er.« »Ihr sollt zurückkommen.« »Ich packe gerade meine Tasche aus«, erklärte ich in das Brummen des Motors hinein. Breca überging meinen Einwurf. »Charlotte, Lord Belzac ist angekommen.« Er klang fahrig. Zu meiner Rechten erbleichte Mum am Steuer. »Eustace Belzac?«, platzte ich heraus. »Der Erste Sekretär?« Plötzlich wurde ich mir bewusst, dass ich das Handy in seiner Vorrichtung anstarrte. Eustace Belzac hatte den Oberbefehl über die Garde der Congregatio Magica inne, und seit knapp sechs Jahren auch den Posten des sogenannten Ersten Sekretärs. Der volle Amtstitel lautete »Erster Sekretär des Senators des Vereinigten Königreiches, Repräsentant der Congregatio Magica im Auswärtigen Amt und Oberster Gardekommandant«, oder so. Unser Politiklehrer hatte ihn einmal in voller Länge an die Tafel geschrieben. Ein Titel, den sich niemand merken konnte, und den man der Einfachheit halber abkürzte. Er war einer von zwölf Sekretären, die im Präsidialkabinett der Congregatio tagten. Genaugenommen, war er als Erster Sekretär der Stellvertreter des Senators. Über ihm stand tatsächlich nur noch der Mann, der Großbritannien im Europakabinett der Congregatio vertrat. Zusammengefasst sei also gesagt: Am Vortag hatte der Mythos Lestard Calhoun uns beehrt und nun würde ich dem zweitmächtigsten Mann der britischen Congregatio leibhaftig gegenübertreten. Wenn ich das im Politikunterricht an der Gordon Stout verlauten ließ, würde man mich als schamlosen Lügner deklarieren und mich ohne mit der Wimper zu zucken vor die Tür setzen. Vielleicht sollte ich sie beide um ein Autogramm bitten, schoss es mir durch den Kopf. Am liebsten wäre ich im Polster versunken. »Wir haben schon umgedreht«, knurrte Mum und beendete die Verbindung, bevor Breca irgendetwas erwidern konnte. Tatsächlich bogen wir eben in die Einfahrt vor Solweigs Haus ein. Mum ließ mir gerade genug Zeit, um meinen Rucksack zu hinterlegen und meine Freundin an der Türschwelle mit der halbherzigen Erklärung abzuspeisen, dass uns etwas Wichtiges dazwischengekommen sei, bei dem ich nicht fehlen dürfe, und dass ich später wirklich kommen würde. Solweig war nicht zufrieden mit meiner Ausflucht, aber etwas an meinem Erscheinungsbild bewog sie dazu, nicht weiter nachzufragen. Die Rückfahrt verbrachten Mum und ich schweigend Die Wut quoll ihr förmlich aus den Poren, also zog ich es vor, meinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Wenige Minuten von unserem Haus entfernt, nahm sie beinahe einem anderen Autofahrer die Vorfahrt und musste sich erst einmal für einen Moment an den Straßenrand stellen, bis das Zittern ihrer Hände nachgelassen hatte. Erst als sie den Wagen endlich auf dem Anwohnerparkplatz abgestellt hatte, atmete sie auf. Es schnürte mir die Kehle zu, Mum so zu sehen. Bevor ich ausstieg, schaute ich durch die Windschutzscheibe zu unserer Wohnung auf. Ich hatte keine große Lust auf die Begegnung mit dem Ersten Sekretär. Hinter dem Küchenfenster erblickte ich zwei Gestalten. Eine von ihnen war Adlard, seine Miene eine ausdruckslose Maske. Er schien überhaupt nicht wahrzunehmen, dass ich ihn beobachtete. Der Mann, der neben ihm stand, bemerkte es sehr wohl. Er schien kaum älter als Adlard, was ihn eindeutig als zu jung für den Posten des Sekretärs auswies. Ein dünnes Lächeln spielte um seine Lippen. Er sagte etwas zu Adlard, der sich daraufhin kopfschüttelnd zurückzog. Als ich die Wagentür zuschlug, bemerkte ich, dass Mum die Arme auf dem Dach des Automobils verschränkt und den Blick auf mich geheftet hatte. Ihr Starren machte mich nervös. »Irgendetwas, das ich beachten sollte?«, bot ich an. »Du musst mir etwas versprechen.« Ich nickte erwartungsvoll. »Was ich sage, wird ohne Hinterfragung und ohne Widerspruch akzeptiert und sofort umgesetzt.« Ich seufzte. »Du traust mir nicht über den Weg.« »Du willst mir helfen, sagst du! Nur so geht es!« Ich musterte die Autotür. »Yuriy!« Ihre Stimme war einschneidend. Da gab ich mir einen Ruck. »Ich verspreche es.« Sie stieß sich vom Wagen ab. »Einverstanden.« Es war mehr ein Seufzer denn ein Wort. Mum marschierte durch die Unterführung. Diesmal ahmten die Wände den Rhythmus ihrer Schritte donnernd nach. Ich schlurfte hinterdrein und lauschte dem Schmatzen, das sich um mich herum erhob, während meine Füße die Matschspur durchpflügten, die die Wagenreifen hinterlassen hatten. Ich ließ mir Zeit. Entsprechend ungeduldig erwartete Mum mich im Treppenhaus an der Wohnungstür. Ihre Hand verharrte in der Luft, den Wohnungsschlüssel auf mich gerichtet. Sie war eindeutig noch nicht fertig mit mir. »Was muss ich tun?« »Sei höflich.« Der Schlüssel wippte einmal auf und ab. Ich nickte folgsam. »Rede nur – nur! – wenn du angesprochen wirst.« Nur. Nur. Angesprochen. Der Schlüssel wippte gleich drei Male. Allem Anschein nach sah sie in meinem Zusammentreffen mit Lord Belzac ein Malheur katastrophalen Ausmaßes. »Ja, Mum.« »Und fang nicht an zu schwatzen.« Sie musterte mich argwöhnisch. Offenkundig hatte sie regen Zweifel daran, dass ich die Bedingungen, die sie mir auferlegt hatte, tatsächlich einhalten konnte. »Mum, ich werd’s schon hinkriegen!«, protestierte ich. Da endlich hatte sie Erbarmen und schloss die Wohnungstür auf. Wir gaben uns keine Mühe, leise einzutreten. Der Klang mehrerer Stimmen, die ihre Unterhaltung ob unserer Ankunft nicht unterbrochen hatten, dirigierte uns Richtung Wohnzimmer. Je näher wir ihm kamen, desto kleiner schienen Mums Schritte zu werden. Bevor wir den Raum betraten, drückte sie den Rücken durch und knöpfte ihre Jacke auf. Ich hielt mich dicht hinter ihr und wappnete mich innerlich für die Begegnung. Dann folgte ich Mum über die Türschwelle. Das Tageslicht warf unsere Schatten in den Flur zurück und wir standen Seite an Seite, erhobenen Hauptes und unter wehendem Banner. Bereit, uns Lord Eustace Belzac zu stellen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)