Perlmutt von Hepho ================================================================================ LEUCHTEN (II): »Das ist ein Arztgeheimnis.« ------------------------------------------- Doktor Graham klopfte die Testergebnisse auf der Tischplatte zu einem ordentlichen Stapel zusammen. Dieser Stapel dokumentierte knapp vier Stunden, die ich zu jenem Zeitpunkt zu den aufreibendsten meines Lebens zählte, und die sich ungefähr folgendermaßen zusammenfassen lassen: Ich hatte fast zwei Stunden im Wartezimmer gesessen, weil in der Praxis Hochkonjunktur herrschte, und war dem Ophthalmologen anschließend – mit mehreren Unterbrechungen durch andere Patienten – mehr als eineinhalb Stunden lang von einem Vorsorgetest zum anderen gefolgt. Das Ausharren an sich war dabei nur lästig gewesen. Wirklich schlimm fand ich, dass Graham mehr wusste als ich und davon einen nicht unwesentlichen Teil für sich behielt. Nun saßen wir uns gegenüber; er, ein gesetzter Mann, ein guter Arzt, die Ruhe in Person – und ich, geschlaucht, ahnungslos und zum Zerreißen gespannt. Mr Graham fasste mir noch einmal die einzelnen Tests zusammen und wofür sie da waren. Vor allem hörte ich allerlei Satzvariationen mit dem Sinngehalt: »Bei dir nicht der Fall«, und schließlich schloss er mit den Worten: »Ich kann keinen Mangel feststellen. Mit deinen Augen ist alles in Ordnung. Du bist ein bisschen weitsichtig, aber du kommst noch ohne Sehhilfe aus.« »Super«, sagte ich. Normalerweise vermied ich Arztbesuche notorisch. Da hatte ich mich einmal überwinden können, und nun das. Ich beäugte die Ergebnisse, die vor seinen gefalteten Händen ruhten. »Allerdings«, hob er an, worauf ich mich wie ein Häufchen Elend in den Stuhl zurücksinken ließ. Er runzelte die Stirn über mich. Ich beschloss, es wäre das Beste, ein scheues Lächeln zur Schau zu tragen, und er fuhr tatsächlich zu reden fort: »Wegen dieses ›Leuchtens‹, wie du es nennst, solltest du deinen Kreislauf wirklich einmal überprüfen lassen. Lass dir einen Termin bei Jeod Faraday geben, um sicher zu gehen.« Ich dachte, der Stuhl gäbe unter mir nach. »Bei dem Jeod Faraday?« Doktor Graham nickte. Ich schluckte. Faraday war Allgemeinmediziner und hatte sich einen Ruf gemacht, weil er zum Ärger der Pharmazentren bis vor knapp siebzehn Jahren nötige Medikamente günstig an die Unterschicht verteilt hatte. Sein Name gehörte zum Allgemeinwissen jedes Schülers an der Gordon Stout. Mittlerweile hatte er sich zum privaten Spitzenarzt gemausert, dem Großunternehmer und Delegierte das Kurieren ihrer Wehwehchen anvertrauten. Also hatte sich im Laufe der Jahre seine Überzeugung geändert. Das hieß, er war teuer. Zu teuer für uns. Damit zog ich einen Strich unter Grahams Ratschlag. Ich wusste, dass ich äußerlich den Eindruck machte, den gehobenen Schichten anzugehören. Alles an mir vermittelte diese Botschaft: Wir besaßen eine Eigentumswohnung. Ich trug teure Stoffe, wenn ich unterwegs war. Ich besuchte die herrschaftliche Gordon Stout und besaß zwei maßgeschneiderte Schuluniformen. Ich kam in den regelmäßigen Genuss der unvergleichlichen Mensa. Mum achtete auf all dies. Sie arbeitete ja selbst für den Staat. Zumindest tat es der Chef ihres Chefs, und somit tauchte deren Glanz auch uns in ein sanftes Leuchten. Aber wie ein Mitglied der gehobenen Klasse auszusehen, bedeutete noch lange nicht, dass man den Frack auch ausfüllte, in dem man steckte. Man musste sich nur auf der Gordon Stout umsehen. Ein Drittel der Schüler besaß ausschließlich vererbte oder gebraucht gekaufte Uniformen. Und die Hälfte derer mit neuen fuhr mit dem Bus oder der Untergrundbahn und schwänzte die Mittagspause, indem sie großspurig vorgaben, zum Essen noch auszugehen. Es gab zwei simple Erkenntnisse, die man innerhalb der ersten Wochen an dieser Schule gewann: Wer das Essen an der Gordon Stout verschmähte, war ein Geschmacksbanause. Wer aber mit dem öffentlichen Verkehr kam und das Essen an der Gordon Stout verschmähte, gehörte zu einer Familie, die schlichtweg nicht über das nötige Kleingeld verfügte. Was dachtet ihr denn, weshalb die Sabotageversuche in Mr Cobbalds Unterricht ein Bataillon vereinigt hatten, das sich über all seine Kurse erstreckte!? Das war ihre Chance, sich einen Ruf zu machen. Ich hatte das Privileg, spaßeshalber teilnehmen zu können. Viele andere nicht. Zumindest glaubten sie das von sich. Doktor Graham überging meinen Unmut. »Jeod Faraday ist der Beste«, sagte er in einem Tonfall, der an Sanftheit einem gütigen Kopftätscheln gleichkam, und drückte mir einen Umschlag in die Hand. Darauf war ein Wort abgedruckt, das mich schlucken ließ. »›Arztsache‹? Ich denke, mit meinen Augen ist alles in Ordnung.« »Das ist es auch. Aber du bist nicht der Einzige, der wegen eines ›Leuchtens‹ zu mir gekommen ist. Jeod hat Erfahrung mit den Symptomen, die du mir beschrieben hast.« Jeod. Die beiden waren auch noch per Du. »Also ist doch etwas mit mir?« Er lehnte sich geduldig zurück. »Ich weiß es nicht. Darum schicke ich dich zur Kontrolle zu ihm.« »War denn etwas mit den anderen?« Er hob die Brauen. »Das ist ein Arztgeheimnis.« Sein Blick mahnte mich zur Ruhe. Sollten seine Worte ein Rüffel gewesen sein? Ich musterte ihn einen Moment lang, wie er sich vornüberbeugte und mich wohlwollend anlächelte. Endlich begriff ich, dass ich entlassen war. Mehr würde er mir nicht sagen, also musste ich wohl oder übel noch eine weitere Arztpraxis betreten. »Gib meinen Namen an, wenn du dir bei Jeod einen Termin machen lässt. Dann kommst du schneller an die Reihe«, sagte Mr Graham, als er mir zum Abschied die Hand gab. Jeod. Ich nickte artig und dankte ihm. Nach Neujahr wollte ich mich auf der Stelle bei unserem Hausarzt vorstellig machen. »Jeod« kam nicht infrage. Selbst wenn ich Grahams Namen in die Waagschale warf, würde ein Blick auf meine Versichertenkarte genügen, um mich als unwürdig zu brandmarken. Nicht einmal die gehobene Mittelschicht hatte bei Staatsärzten etwas verloren. Das war ein ungeschriebenes Gesetz, an das sich die Leute penibel hielten. Es hatte wieder geschneit, als ich auf die Straße hinaustrat. Zu meinen Füßen lag der Schnee zerwühlt von unzähligen Schuh- und Reifenspuren. Inzwischen war es Samstagnachmittag, und ich war mitten in die Stoßzeit geraten. Vor Silvester bebte London vor Arbeitnehmern, die Überstunden geschoben hatten. Die Stadt bäumte sich in einer letzten Anstrengung auf, bevor sie zwei Tage lang feiern und die Folgen des Feierns auskurieren würde. Ich schlängelte mich in Richtung der U-Bahn-Station durch eine wabernde Masse von Familienoberhäuptern, die einen Tag vor Silvester ihren letzten Lebensmitteleinkauf tätigten, mit Tüten bestückten Nachzüglern, die auf den letzten Drücker noch etwas Passendes zum Anziehen für das Feuerwerk und ihre Kneipentour brauchten, und aufgeregten Touristen, die das nächstgelegene Restaurant ansteuerten. Ich hasste die Tage, die Feiertagen unmittelbar vorausgingen. Aus heiterem Himmel fiel London ein, dass es wieder einmal soweit war. An jeder Straßenecke wimmelte es plötzlich von Menschen, die sich gegenseitig vorwärts schoben. London selbst war der Griesgram und die Ungeduld. Der Untergrund mit seinen heimlichen Einkaufsmeilen war meist noch schlimmer dran. Heute versuchte die Masse vor allem, dem Tumult des Silvestermorgens zuvorzukommen. Auf dem Bahnsteig drängten sich die Menschen wie eine Horde zusammengetriebener Tiere, die aufs Verladen warten. Sobald man die Stationen der Innenstadt hinter sich gelassen hatte, konnte man aufatmen, und das meine ich wörtlich. Mein Problem war, dass ich lange vorher würde aussteigen müssen. Ich liebäugelte fast mit der Vorstellung, durch die kommenden Viertel bis nach Hause zu laufen. Wir lebten zu dritt in einer der gehobeneren Wohngegenden Londons: Mum, mein Großvater und ich. Seit dem Bürgerkrieg waren die meisten viktorianischen Bauten in Kensington komplett saniert worden. Das Villenviertel am Hyde Park befand sich immer noch im Wiederaufbau, aber die alten Eliten hatten sich erneut angesiedelt und die Mietpreise in die Höhe getrieben. Eine schmucke Gegend, die viel zu teuer für uns gewesen war. Aber schon ein paar Straßenzüge weiter und etwas näher am Zentrum gelegen, waren die Häuser erschwinglich und noch immer herrschaftlich genug. Dank Mums guter Bezahlung hatten wir es uns leisten können, die Wohnung im Erdgeschoss eines Reihenhauses zu kaufen und sie auf den neuesten Stand zu bringen. Die Hände in den Jackentaschen vergraben, schob ich mich durch die Menge. In Gedanken spielte ich die Szene durch, in der ich vor meiner Mutter Beichte ablegte. Von dem Leuchten hatte ich ihr nichts erzählt. In letzter Zeit war sie wiederholt für Doppelschichten eingezogen worden und beanspruchte deshalb unsere Wohnung als absoluten Ruhepol. Ich hatte ihr nicht noch mehr Sorgen bescheren wollen, deswegen war ich ihren Fragen, was ich trieb, mit Belanglosigkeiten ausgewichen. Bisweilen konnte aber mein Großvater schweigen wie ein Grab. Vielleicht konnte ich mich über ihn vorarbeiten. Seit Tagen konnte ich nirgendwo mehr entlanggehen, ohne darauf zu achten, wann das Leuchten das nächste Mal aufblitzen würde und unter welchen Umständen. Der flackernde Farbwechsel erinnerte mich an irgendetwas, doch bisher hatte ich nicht herausgefunden, an was. Ich merkte mir genau die Gesichter der Leute, überlegte, ob sie mir von irgendwo her bekannt vorkamen, analysierte die Situationen bis ins Detail und verglich sie miteinander, aber mein Ergebnis blieb immer gleich: Das Leuchten war nicht an eine bestimmte Laune gebunden. Zwischendurch dachte ich, ich würde mich in diesen Momenten einfach zu schnell bewegen. Aber es tauchte nur auf, wenn ich Menschen direkt anschaute, und ich musste nicht einmal den kleinen Finger rühren: Erst neulich hatte ich in einer überfüllten Untergrundbahn gesessen, um zu Matt zu fahren, und das Leuchten bei einer alten Frau gesehen, die auf der Suche nach einem Sitzplatz an mir vorbeiging. Als ich ganz in guter Manier aufstand, um ihr meinen zu überlassen, bedankte sie sich bei mir, ganz aus dem Häuschen über so viel jugendlichen Edelmut. Und als der Zug dann vor der nächsten Station bremste und sie den Halt verlor und erschrocken auf den freien Platz purzelte, sah ich es. Während ich nun auf dem Weg zur Untergrundbahn zwischen den Leuten hindurchschlüpfte, begann ich mich nach allen Seiten nach dem Leuchten umzuschauen. Ich wurde überraschend schnell fündig. Direkt neben mir tauchte ein heller Lichtreflex auf Höhe eines Kopfes auf. Mit klopfendem Herzen drehte ich mich um und lief einige Schritte rückwärts, um der Frau mit den Blicken folgen zu können. Bis ihr Augenbrauenpiercing erneut im Sonnenlicht aufblitzte. Grundgütiger, bist du fixiert, tadelte ich mich in Gedanken. Mit einem schweren Seufzer drehte ich mich schwungvoll wieder in die Laufrichtung um. Und rannte geradewegs in jemanden hinein. Der Aufprall war ungewöhnlich heftig und warf mich nach hinten, sodass ich hart auf dem Steißbein landete. Der andere Kerl musste blindlings drauflos gerannt sein. Obwohl mein Kopf unversehrt war, dröhnte hinter meiner Stirn ein bohrender Schmerz. Mit zusammengebissenen Zähnen unterdrückte ich ein Stöhnen. Mir kam da so eine Idee, und ich fasste prüfend mein Gegenüber ins Auge. Der Mann, der nicht minder unsanft gestürzt sein musste als ich, kam gerade wieder auf die Beine und las seinen Rucksack und sein Mobiltelefon vom Boden auf. Es war noch eins von den ganz alten sperrigen mit Farbbildschirm, die bestimmt seit über acht Jahren nicht mehr gebaut wurden. Wo hatte er das Ding bloß ausgegraben? Als sein Blick das Display streifte, blickte er missmutig drein. Ich schaute genauer hin. Und seine Augen leuchteten doch! Ich hatte Recht gehabt. Die Kopfschmerzen verschlimmerten sich. Ich unternahm einen schwächlichen Versuch, aufzustehen, sank aber wieder zusammen. Die Übelkeit klopfte von unten an meine Kehle und ich fürchtete schon, mich zu den Füßen des Mannes übergeben zu müssen. Mein Unterkiefer bebte. Ich biss die Zähne zusammen, um ihn zum Stillstand zu bringen, und hatte das Gefühl, er nähme es zum Anlass, um meinen ganzen Körper zu schütteln. Mir brach der kalte Schweiß aus. Zu einem ungünstigeren Zeitpunkt hätte es mich nicht treffen können. Meine Finger griffen nach dem Umschlag in meiner Hosentasche, auf dem »Arztsache« stand. Phantomschmerzen konnte ich nicht haben, dafür hatte mich der Ophthalmologe zu ernst genommen. Ich schluckte erneut. »… kümmere mich um ihn«, sagte jemand über mir. »Gehen Sie weiter!« »Aber ich sitze doch«, murmelte ich dumpf. Meine Stirn glühte. Mein Mund war staubtrocken. Mein Körper fühlte sich an wie durch die Mangel gezogen. Wohin sollte ich schon gehen? Ich konnte ja nicht einmal aufstehen! Irgendetwas bewegte sich vor meinem Gesicht und erregte meine Aufmerksamkeit. Es war die Hand des Mannes, mit dem ich zusammengestoßen war. »Brich mir nicht zusammen, Kleiner.« Zur Antwort blinzelte ich. Ich presste die Arme vor den Bauch und kippte fast vornüber, als ich plötzlich aufstoßen musste. Mit großer Willensstärke unterdrückte ich den Brechreiz und hoffte, das Problem würde sich über Silvester nicht noch weiter auswachsen. »Jetzt reiß dich aber mal zusammen! Wie heißt du eigentlich?« Ich versuchte mich auf seine Stimme zu konzentrieren. Durch die Ablenkung entspannte sich mein Körper ein wenig. Mechanisch nuschelte ich meinen Namen. »Also gut, Yuriy. Schau mich an.« Ich musste mich zwingen, den Kopf zu heben. Durch einen Tränenfilm hindurch erwiderte ich seinen Blick. Eventuell kann ich Mum auch dazu überreden, sinnierte ich, dass sie mir bei einem der Ärzte einen Platz besorgt, die für ihre Behörde arbeiten. Das ersparte mir zumindest die Blamage, vor Faradays Arzthelferinnen hintreten und mich mit näselnder Arroganz aus der Praxis herauskomplimentieren lassen zu müssen. Dass man bei Mums Amtsärzten nach Lust und Laune seine Familienangehörigen in Behandlung geben durfte, stand eigentlich nicht in den Papieren. Aber falls unser Hausarzt nichts feststellen sollte, hielt ich meinen Zustand doch für einen ausreichenden Grund. Vielleicht sagte ich das auch laut. »Du siehst, dezent gesagt, ziemlich erbärmlich aus«, stellte der Mann trocken fest. Der eine Satz war mir schon zu lang, um jedes einzelne Wort zu verstehen, aber ein gewisser Zusammenhang zwischen »du« und »erbärmlich« entging mir nicht. »Spinner!«, brummte ich recht deutlich. Er lachte. Meine Gedanken fuhren nach wie vor Karussell, aber über meine plumpe Wut ließ die Übelkeit nach, und ich konnte mich im Sitzen aufrichten. Bestimmt sind auf Grahams Umschlag … »... Fettabdrücke«, fügte ich laut hinzu. Im Geiste ärgerte ich mich schon darüber, ihn besudelt zu haben, obwohl ich gar nicht nachgesehen hatte. »Na also. Stehst du jetzt von alleine auf, oder willst du meine Hand haben?« Ich schüttelte entsetzt den Kopf, schaute auf meine eigenen schweißnassen Hände und murmelte todernst: »Ich habe schon zwei!« Schwankend raffte ich mich auf. Nachdem ich einige steife Schritte gegangen war, klangen auch die Kopfschmerzen ab. Mein Verstand begann wieder zu arbeiten, und siedend heiß wurde mir bewusst, was ich da vorhin gesagt hatte. Wie kam ich auf den Gedanken, dass mir jemand tatsächlich seine Hand aus Fleisch und Blut anbieten wollte, wie ein Feilscher im Ersatzteillager? Das war für mich der eindeutige Beweis, dass ich doch nicht übergeschnappt war, sondern dass in Grahams Schreiben wahrscheinlich der Befund eines fußballgroßen Hirntumors verbrieft war, der meine Wahrnehmung als Tor benutzte. Der Kerl stand noch immer am selben Ort wie zuvor und schaute mir mit einem Ausdruck nach, der auf einen ganz ähnlichen Gedankengang schließen ließ. Als sich unsere Blicke begegneten, brachte er seine Mimik unter Kontrolle. Er musste etwa Ende Zwanzig sein und war hoch gewachsen, von schlanker, athletischer Statur. Seine Jacke war aus schwerem Stoff und hatte noch den altmodischen Frackschnitt, der mittlerweile in die unteren Schichten verdrängt worden war. Wer Geld hatte und etwas auf sich hielt, hatte auf knielange, wehende Mäntel umgesattelt. Manch einer setzte sogar noch einen drauf und hüllte sich in einen Umhang, der sich in den winterlichen Böen dramatisch bauschte. Dieser Mann hier hatte trotz aller ständischer Stillosigkeit augenscheinlich auch Geld und hielt etwas auf sich – das bewies der makellose Zustand der altbackenen Jacke. Die dunklen Haare hatte er hoch am Hinterkopf zu einem gepflegten Pferdeschwanz zusammengefasst. Ein paar dünne Strähnen, die zu kurz für den Zopf waren, fielen ihm in die Stirn. Die gestriegelten Herren vom Vorstand der Gordon Stout hätten bei diesem Anblick missbilligend mit den Zungen geschnalzt. Allein deshalb war er mir sympathisch. Ich ärgerte mich gleich noch mehr über meine Unzurechnungsfähigkeit. Plötzlich wurde ich mir meines dümmlichen Grinsens bewusst. Ich ertappte meine Hände dabei, wie sie den Reißverschluss meiner Jackentaschen auf- und zuzogen, und versenkte sie in den Hosentaschen. »Ähm – 'tschuldigung, dass ich Sie umgerannt habe.« Er erwiderte meinen Blick beherrscht. »Kein Problem.« Am liebsten hätte ich mich in Rauch aufgelöst. Mit den Augen rollend, wandte ich mich wieder zum Gehen, hielt dann aber noch einmal inne. Erneut trafen sich unsere Blicke. »Wie heißen Sie eigentlich?« Einer seiner Mundwinkel hob sich zu einem schiefen Lächeln. »Urian.« Ich überlegte tatsächlich kurz, ob er die Wahrheit gesagt hatte. Dann zuckte ich mit den Achseln. Ich würde ihn ja sowieso nie wieder sehen. »Tja. Also dann … Machen Sie es gut, Urian«, sagte ich. Ein Anflug gutmütigen Spotts stahl sich auf sein Gesicht. Er schüttelte den Kopf. »Pass auf deine Hände auf, Yuriy.« Unter gewöhnlichen Umständen hätte mich diese Bemerkung zu einer Salve bösartiger Kommentare inspiriert. So überrumpelt und mit meiner Lage im Unreinen, wie ich momentan war, druckste ich jedoch bloß noch einen Augenblick länger herum, bevor ich mich endlich besann und den Mann zügigen Schrittes in der Menge zurückließ. Die Arme eng am Körper, stolperte ich auf die U-Bahn-Station zu. Die Scham saß mir im Nacken wie kalter Glibber. Nachdem ich in aller Öffentlichkeit fast zusammengebrochen war, wurde ich auf dem gesamten Heimweg das ungute Gefühl nicht los, dass die leuchtenden Augen des Mannes noch immer auf mir ruhten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)