Londinium von Nao_Kirisaki ================================================================================ Kapitel 4: Tarot ---------------- Am nächsten Tag erwachte Ryou in seiner üblichen Manier in seinem Zimmer, musste sich dieses Mal ganz alleine anziehen. Seufzend ging er zu der Kleiderkammer, erkannte jedoch schnell, dass er ja keine Kleidung mehr hatte. Als es an der Tür klingelte, war er erleichtert, warf sich einen Morgenmantel über und öffnete dem Boten mit seiner neuen Kleidung die Tür. „Vielen Dank.“, war er recht höflich und bezahlte die Ware. Eilig und wie auf der Fluch verließ dieser die Gegend, weshalb Ryou die Tür wieder schloss und die Kleidung in die Kleiderkammer fein säuberlich einräumte. Danach nahm er sich eines der Gewänder und zog sich mehr schlecht als recht an. Er hatte einfach zu wenig Erfahrung, um das alleine zu können. Bisher war es auch nie nötig gewesen sich selbst anzukleiden, hatte er bis dato immer jemanden um sich herum gehabt. Ryou machte einfach einen wilden Knoten in die Schuhe und stopfte die Senkel in diese hinein. Auch der Rest verlief nicht besser, ließ ihn etwas wie Hemd in die Hose einfach vergessen. Mit anderen Worten sah Ryou einfach katastrophal aus, konnte jedoch nicht um Hilfe bitten. Das Haus abgeschlossen, trabte er heimlich die Schleichwege durch London, hatte die seltsame Karte, die auf seinem Bett gelegen hatte, mitgenommen. Vorsichtig spielte er damit zwischen seinen Fingern, fragte sich, was er nun damit anfangen sollte. Er interessierte sich zunehmend dafür, was die Karte ihm sagen sollte, oder ob in ihr vielleicht eine Botschaft steckte. Seufzend kam er an dem Puppenladen vorbei, den er gestern besucht hatte, hoffte, dass der Mann ihm als Einwohner vielleicht weiterhelfen konnte. „Guten Morgen, Sir. Ich war gestern bei Ihnen wegen der Puppen.“, fing er an. „Oh, der kleine Junge. Stimmt.“, fiel es dem alten Herrn auf. „Aber wie siehst du denn aus?“, bemerkte er Ryou's Erscheinung. „Ähm, also...“, seufzte er schwer. „Meine Diener sind gestern alle ermordet worden und ich hab mich noch nie selbst anziehen müssen.“ „Das sieht man. Aber warte, ich werde dir helfen.“, versprach der Mann und half ihm tatsächlich, dass er sich halbwegs anständig herrichtete. „Vielen Dank, sie sind wirklich nett.“, machte sein Herz nun einen Hüpfer. „Ach, Junge. Kein Problem, aber... Du solltest nicht länger hier verweilen, wenn so etwas schreckliches passiert. Fahrt heim zu eurer Familie.“, forderte ihn der alte Mann auf. „Das würde ich ja gerne, aber... Ich kann noch nicht. Sehen Sie, meine Butler wurden nicht einfach so ermordet. Sie wurden regelrecht abgeschlachtet und bei ihnen lagen merkwürdige Karten.“, erzählte Ryou. „Und als ich gestern wieder nach Hause kam, da habe ich das hier gefunden.“, zeigte er dem Mann seine Karte. Dieser nahm die Karte vorsichtig an sich, setzte sich seine Brille auf und studierte sie erst einmal gründlich. Indes wuchs die Spannung in dem Weißhaarigen, fragte sich, ob der Mann vielleicht etwas entdeckt haben könnte oder würde. Möglicherweise kannte er ja sogar die Bedeutung, war gebannt auf dessen Worte. „Nun, es ist eine Karte. Mehr kann ich auch nicht sagen. Aber ich kenne jemanden, der sich vielleicht mit so etwas auskennen könnte. Moment, ich schaue mal, ob ich die Adresse der Dame finde.“, suchte er am Tresen und schrieb schließlich etwas auf ein Blatt Papier. „Hier, das ist die Adresse der Dame. Sie wird dir sicher mehr sagen können als ich, auch wenn sie etwas verrückt wird. Lass dich von dem ersten Eindruck nicht täuschen. Sie ist sehr klug.“ „Oh, danke. Ich weiß gar nicht, wie ich das wieder gut machen kann.“, war Ryou da ehrlich. „Ich habe aber eine Idee. Kauf doch diese Puppe. Sie steht schon fast ewig lange im Schaufenster und alle ihre Freundinnen sind schon verkauft. Über das Zuhause eines so netten Jungen würde sie sich sicher freuen. Ich mache dir auch einen besonderen Preis, weil du so lieb bist.“, gab er ihm die Puppe. „Äh, sicher. Das ist schön, sie wird einen Ehrenplatz bekommen.“, versprach Ryou und bezahlte für die kleine Wachspuppe einen Sonderpreis von 750 Pfund. Freudig lächelnd, dass er nun endlich etwas Hilfe bekommen würde, ging er mit der besagten Puppe spazieren und fragte sich bis zu der Gegend vor, in der die Dame leben sollte. Ryou musste mehrere Viertel durchqueren, wohnte die Frau scheinbar weit weg von seinem Haus, was Ryou schließlich aber endlich in das Zigeunerviertel führte. Trotzdem wunderten ihn die Menschen hier, hielt er als einer, der nicht von ihrem Volk stammt, lieber etwas Abstand. Doch dann verlor sich die Spur, konnte er keine Hausnummern mehr finden, was hier in der Gegend wohl keine Seltenheit zu sein schien. Immer mehr Zigeuner starrten ihn an, als sich plötzlich eine Frau hinter ihm räusperte. „Du bist hier hergekommen um Madame Majoré zu treffen?“, fragte eine Frau mit rötlichem Haar in einem Kleid und mit einem deutlichen Akzent. „Ja, die suche ich. Der Puppenmacher meinte, dass sie mir vielleicht helfen könnte.“, erzählte er. „Ah, der Puppenmacher. Folge mir, Junge.“, verlangte sie. Etwas unsicher folgte Ryou der Frau, die ein ziemliches exotisches und tief ausgeschnittenes Kleid trug. In seiner Gegend war dies absolut untypisch, weswegen er sich fragte, ob die Frau vielleicht als Prostituierte hier arbeitete. Dies zu fragen, dazu kam Ryou nicht mehr, wurde mit in ein Haus geführt, in dem zwei Kinder herumtollten und spielten. Die Frau setzte sich an einen Tisch, der anscheinend zu ihrer Küche gehörte und drückte die Zigarre aus. „Also, Junge. Sperr deine Lauscher auf. Ich bin Madame Majoré. Und nein, ich bin keine Nutte.“, erntete er Ryou's erstaunten Blick. „Woher...? Tut mir leid, ich wollte nicht...“, tat es ihm nun leid. „Ich weiß, ich weiß. Du bist ein Junge mit großem Herz. Ich bin dir nicht böse, keine Angst. Es ist unsere Kultur hier. Und mach dir nicht so viele Gedanken, ich kenne deine Fragen schon, bevor du sie aussprichst.“, lächelte die Dame. „Sie sind nett, danke. Ich wollte nicht unhöflich sein, aber... Ich bin zum ersten Mal an so einem Ort.“, erzählte er trotzdem. „Ich weiß, ich weiß. Der Puppenmacher hat dir eine Puppe gegeben, daran habe ich dich erkannt. Seine Puppen sind ihm sehr lieb und teuer. Er gibt einer Person immer die Puppe, die zu ihm passt. Du hast eine ganz besondere Puppe von ihm bekommen. Du musst etwas ganz besonderes sein, denn weißt du... Puppen haben eine empfindliche Seele.“, brachte sie Ryou bei. „Eine Seele?“, fragte Ryou erstaunt. „Ja, eine Seele. Willst du einen Tee, bevor ich weiter erzähle?“, fragte die Dame. „Ja, gerne.“, mochte er Tee und bekam eine Tasse, wofür er sich bedankte. „Also Puppen haben eine empfindliche Seele. Wenn sie sich wohl fühlen, blühen sie auf und werden von Besuchern sehr schnell wahrgenommen. Wenn sie sich nicht wohl fühlen, gehen sie irgendwann verloren, so sagt man bei uns. Dinge, die etwas bedeuten, die hegt und pflegt man, stellt sie aus. Es macht den Besitzer glücklich und auch die Puppe. Du verstehst, was ich meine?“, wollte die Frau wissen. „Ja, ich glaube irgendwie schon. Ich bin hier hergekommen, um einen Freund zu finden. Das ist das einzige, was ich trotz des vielen Geldes nie haben konnte. Ich habe Unmengen an neuen Erfindungen und Spielzeug gehabt und immer neues bekommen. Aber irgendwie wusste ich das nie zu schätzen, weil es mir nichts bedeutete. Es war zu einfach, etwas zu bekommen, dass ich mit Geld kaufen konnte. Allerdings verband ich mit den Gegenständen nichts, weswegen sie mir immer schnell egal wurden. Diese Puppe ist da anders. Wenn ich sie ansehe, dann denke ich an den alten Mann, der so nett zu mir gewesen ist und mir geholfen hat. Es ist eine schöne Erinnerung. Deswegen ist diese Puppe etwas besonderes.“, erkannte er nun, was ihm die ganze Zeit gefehlt hatte und lächelte. „Siehst du... Aber nun genug der lieben Worte. Zeigst du mir die Karte?“, fragte die Frau ihn. Dieser sah erneut überrascht daher, holte die Karte aber heraus und gab sie ihr. Die Frau besah sich die Karte genau, holte mehrere Bücher hervor. Diese wälzte sie einige Zeit, machte mehrere Zettel in die Bücher und schrieb sich viele Dinge heraus. Auch sein Geburtsdatum musste er wohl anscheinend dafür nennen, wusste nicht wirklich, was die Frau vor hatte. Mal schien sie zu schreiben, dann rechnete sie wieder und schlug schließlich das letzte Buch zu. „Also, Junge. Was glaubst du, was diese Karte bedeutet?“, erntete sie ein fragendes Gesicht. „Ich dachte, dass würden sie mir sagen?“, war er da ehrlich. „Das könnte ich tun, aber erst mal solltest du versuchen, die Karte selbst zu interpretieren. Es gibt nicht immer nur eine Lösung für eine Karte.“, erklärte sie. „Na also, keine Ahnung. Mir fällt die Ähnlichkeit ein wenig auf. Die Frau auf der Karte schläft und ich habe auch geschlafen, als die Morde passiert sind. Was mir sonst noch auffällt ist die Laterne, aber da weiß ich nicht so viel... Ein Licht aufgehen oder ein Licht im Dunkel...“, mutmaßte er irgendwas. „In Ordnung, soviel weißt du. Also der Eremit symbolisiert die Jungfrau. Soviel ich herausgefunden habe, ist das dein Sternzeichen. Diese beschließt eines Tages, sich eine Auszeit zu nehmen, um sich um wichtigere Dinge, als ihr die weltlichen bieten können, nachzudenken. So lautet die Grundgeschichte. Du müsstest dich also sehr gut in dieser Karte wieder erkennen. Du suchst etwas, dass du hoffst hier zu finden. Wenn es positiv läuft, dann wirst du an dieser Erfahrung heranreifen.“, erzählte sie. „Und die negative Seite?“, interessierte es Ryou brennend. „Du meinst, wenn du scheiterst? Dann wirst du in der Dunkelheit bleiben. Du hörst nicht auf Ratschläge und könntest sogar in Schwierigkeiten geraten. Es liegt an dir, ob du das annimmst, was du lernst oder nicht.“, machte sie Ryou klar. „Das ist nicht so toll. Ich... Ehrlich gesagt, macht mir das Angst.“, war er ehrlich. „Keine Sorge, du bist doch gut beschützt. Deine Kette, die du um deinen Hals stammt. Sie enthält für dich doch Erinnerungen an deine Mutter. Denke daran, welche Ratschläge sie dir gegeben hat. Jetzt muss ich mich aber wieder um meine Kinder kümmern. Joska wird dich bis zum Puppenladen bringen. Du verläufst dich sonst wieder und es bringt dir nichts, wenn du nur glaubst zu wissen, wo es lang geht. Hier sehen zu viele Straßen gleich aus.“, brachte sie Ryou als letzte Lektion bei. Ryou nickte und bedankte sich noch einmal bei der Dame, ließ sich von dem jungen Mann zum Puppenmacher zurückbringen und trennte sich dort von ihm. Auf den Weg nach Hause schlenderte er und dachte über die Worte der Zigeunerin nach. Er hatte also die Möglichkeit, dass es positiv oder negativ verlief. Er suchte eben mehr als das, was er nun hatte, wusste jedoch nicht, was er finden würde und auf welche Ratschläge er hören sollte. Seine Neugierde war einfach zu groß um jetzt in sein behütetes Heim einzukehren, wollte mehr denn je wissen, wieso das alles passierte. Er fand es einfach zu aufregend, lechzte förmlich nach einem Abenteuer. Wenig später kam er zu Hause an und kümmerte sich darum, dass die Puppe den besonderen Ehrenplatz bekommen würde, die sie verdiente. Der Weißhaarige stellte sie auf das Sideboard, das nah am Fenster stand, sodass sie wenigstens ein wenig erhellt wurde und die Puppe strahlen würde. Eine Weile sah er sie einfach an, freute sich über dieses schöne Geschenk und dachte an den alten Mann, der ihm so geholfen hatte. Inzwischen war er aber durch die viele Lauferei sehr müde, ließ ihn noch im Schaukelstuhl wegschlummern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)