Unforgivable Sinner von xRajani (Remake) ================================================================================ Kapitel 9: Célian Beaumont -------------------------- Haruka hatte gewonnen. Sie hatte tatsächlich gewonnen und ihre beste Freundin geschlagen. Mit knapper Not war es ihrem Enekoro gelungen, Snobilikat als eine Illusion zu erkennen und seine wahre Gestalt – die eines mächtigen Zoroarks – zu enttarnen. Dem Siegestaumel verfallen vermochte Haruka ihren Triumph nicht zu begreifen. Sie drohte, ihren Emotionen zu erliegen, die sie nicht als Freude oder Erleichterung zu benennen wusste. Gleichzeitig aber tat sich eine gähnende Leere in ihrem Inneren auf, die jegliches Gefühl in sich aufnahm und nichts als einen tiefen Abgrund hinterließ. Erst als ihr Blick zum Monitor glitt und sie die Gewissheit erhielt, wurde ihr die Realität bewusst und jenes Taubheitsgefühl verebbte. Ein Drittel von Aikas Punkten waren einem tristen Grau gewichen, während Haruka etwas weniger als die Hälfte ihres Punktestandes innehatte. Dies bedeutete unweigerlich ihren Sieg, den sich die Koordinatorin nun endlich eingestehen konnte. Obwohl ihre Augen feucht waren und Tränen über ihre Wangen rannen, war die Freude groß, und Haruka lachte ausgelassen. Als sie für einen Herzschlag lang die Augen vor Erschöpfung schloss, schien ihr Bewusstsein Karussell zu fahren, stets im Kreise drehend schien es ihr zu entgleiten, und doch geschah es nicht. Ergriffen vom Gefühl des Triumphes ließ sie ihren Blick ruhelos über das Publikum schweifen, suchend nach einem vertrauten Gesicht, welches sie nach einer gefühlten Ewigkeit erkannte. Wie ein funkelnder Edelstein, in dem sich das Licht brach, stach das smaragdgrüne Haar aus den Menschen hervor. Siehst du, wie ich hier stehe, Shuu? Ich habe gewonnen!, durchfuhr es Haruka, und die Gewissheit ließ sie erschaudern. Zahllose, ebenbürtige Gegner erwarteten sie – und ein Pokal. Jetzt gebe ich nicht auf! Entschlossen ballte sie die Faust. „Das müssen wir feiern!“ Erschöpft sah Haruka ihre Freundin an. Das Finale hatte sie müde gemacht, ihr jegliche Kraft entzogen, aber die Erleichterung, das Wissen, dass sie gewonnen hatte, munterte sie auf. Wenigstens etwas. Jetzt, da sie sich mit Aika in das Center zurückgezogen hatte, nachdem sie Anemonias violettes Band entgegengenommen und sich den Journalisten gestellt hatte, genoss sie die Ruhe in vollen Zügen. Dass die Blonde, trotz ihrer Niederlage, noch voller Elan war, missbilligte Haruka zutiefst. Sie hatte sich bereits auf einen entspannten Abend, eingehüllt in einer warmen Decke und einer heißen Tasse Tee, vor dem Kamin gefreut. „Klar, holen wir ein paar Sektflaschen und verkrümeln uns wieder in unser Zimmer“, erwiderte das Mädchen reserviert. Haruka spürte förmlich wie die Unlust sie einnahm; sich anfühlend wie eine dunkle Wolke, die ihre Laune rapide ins Bodenlose sinken ließ. Aikas stahlblaue Augen sahen sie entsetzt an. Entsetzt? Deutete Haruka es richtig? „Bist du doof?“, empörte sich die junge Frau und versetzte Haruka einen liebevollen Knuff. „Wir gehen abrocken! Du weißt schon – da wo man natürlich tanzt, du Nuss.“ „Ich weiß nicht“, zierte sich Haruka und wich dem durchdringenden Blau aus. „Du weißt, dass ich Partys nicht mag.“ „Wer sagt, dass wir auf eine Party gehen, die sowieso immer langweilig sind?“ Eine dunkle Vorahnung ergriff Haruka, als sie das Grinsen, welches auf Aikas Lippen lag, bemerkte. „Ich kenn einen guten Schuppen hier in Anemonia. Heute legt ein ganz guter DJ in der Disko auf.“ „Disko?“ Ihre Demotivation kannte keine Grenzen mehr. Haruka stöhnte unwillig, murmelte etwas von „Kein Bock“, während sie das Gesicht verzog und die Arme vor der Brust verschränkte. „Muss das sein? Ich möchte nicht.“ „Spaßbremse. Ich schleppe dich notfalls auch ins ‚Empire‘.“ „Du weißt, dass ich Diskos nicht mag.“ „Na und? Du magst vieles nicht. Sport beispielsweise. Trotzdem gehst du mit mir joggen.“ Guter Konter, verdammt. Darauf wusste sie jetzt kein akzeptables Argument. Oder doch, schließlich war sie ein Mädchen. „Ich hab aber keine Klamotten für Diskos!“, widersprach Haruka, versuchend sich mit allen Mitteln, die ihr zu Verfügung standen, gegen den Vorschlag zu wehren. „Dann zieh halt irgendein Kleid an, das du mal zu einem Wettbewerb angezogen hast.“ „Das ist unprofessionell.“ Aika seufzte. „Ist doch egal. Du hast es gerade noch ins Festival geschafft. Du solltest froh sein und es feiern. Etwas mehr Begeisterung hätte ich mir da schon vorgestellt. Dann erträgt es sich auch besser gegen eine zweitklassige Koordinatorin zu verlieren.“ Ein Kissen flog quer durch den Raum, direkt in Aikas Gesicht. Genugtuung war ja schon toll, als die Blonde lachend das Gleichgewicht verlor und aus dem Bett kippte, begleitet von Teras verärgertem Grollen, die sich in ihrem Schlaf gestört fühlte. Als zweitklassige Koordinatorin bezeichnet zu werden hasste Haruka so sehr wie Tentachas sie anekelten. Aika wusste darum Bescheid und zeigte großes Vergnügen, sie damit aufzuziehen. „Das hast du davon“, stellte Haruka fest. Ein belustigtes Grinsen konnte sich das Mädchen nicht unterdrücken. „Ach komm schon. Das wird sicher ganz nett werden“, bemühte sich Aika ihre Freundin umzustimmen. „Ich wollte dir einen guten Freund vorstellen.“ Haruka schwieg eine gefühlte Minute lang. Sie wusste, dass sie sich zu sehr zurückzog und weder Bekanntschaften machte noch Freundschaften schloss. Heutzutage schien es, dass Jugendliche nur noch beim gemeinsamen saufen, Bekanntschaften machten. Vielleicht lag es auch daran, dass sie Diskos nicht mochte. Ebenso wie sie kein Partymensch war, wie eine Vielzahl ihrer Freunde und Bekannte. Gewöhnlich mied sie solche Einrichtungen. Sich von Freunden und Bekannten abzuschotten, weil sie eine Disko besuchten, und jegliches Feiern zu vermeiden, war nicht das Wahre. Möglicherweise war es der einzige Weg, um nicht zu vereinsamen. Natürlich hatte sie eine Handvoll gute Freunde, aber eben nur eine Handvoll. Abgesehen von Kouki und Aika waren ihre Freunde aus der Nachbarschaft und Schule in Hoenn oder waren selbst irgendwo auf Reisen, meilenweit entfernt. Kontakt über soziale Netzwerke wie Facebook oder Skype ersetzte nicht eine persönliche Begegnung. Satoshi und die anderen waren… Wo waren sie nochmal? Von ihnen hatte sie auch schon länger nichts mehr gehört. Jedenfalls hatte es noch niemandem geschadet, sich einen Abend darauf einzulassen, obwohl dieser Gedanke Haruka missfiel. Die einengenden Menschen waren das geringste Problem, vielmehr Sorgen bereitete ihr der Alkohol, den sie zwar in Maßen trank, aber bisher nur zu feierlichen Anlässen. Sonderlich viel vertrug sie sowieso nicht. Ob sie sich vor Aikas besagtem Kumpel damit nicht lächerlich machte? „Und?“ Aufmerksam sah Aika, welche sich mittlerweile vom Bett erhoben und sich zu Haruka gesellt hatte, ihre Freundin an Ergeben stieß Haruka einen tiefen Seufzer aus und warf die Arme von sich. „Na gut.“ Eine andere Wahl hatte sie nicht. Zumindest akzeptierte Aika kein einfaches „Nein“. „Yes!“ Fröhlich jauchzte Aika und stieß Haruka kameradschaftlich an. „Und jetzt“, sie zupfte an Harukas Pullover, „schauen wir mal, was du anziehst.“ Haruka wusste, dass sie es bereuen würde, nachgegeben zu haben. Ihre Abneigung gegenüber Diskos bestand schließlich nicht grundlos. Bereits nach wenigen Minuten dröhnten ihr die Ohren, und sie bildete sich ein, allmählich Kopfschmerzen zu bekommen. Den hunderten Menschen, die sich um sie herum drängten, schien der Lärm nichts auszumachen. Mochte wohl am Alkohol liegen, der an diesem Abend reichlich floss. Sein Geruch war abstoßend, schwer. Überallher schlugen ihr die Fahnen unzähliger Jugendlicher entgegen, die zu tief ins Glas geschaut hatten. Suchend sah sich Haruka um und betrachtete alles neugierig, obwohl die zuckenden, bunten Lichter ihre Augen schmerzen ließ. Als sie Aika in den Massen nicht ausfindig machen konnte – sie war vermutlich irgendwo auf der Tanzfläche verschwunden, um sich die Seele aus dem Leib zu tanzen und hatte darüber hinaus Harukas Anwesenheit vergessen -, zog die Koordinatorin vor, sich an die Bar zurückzuziehen. Zuvor hatte sie ebenfalls etwas getanzt, allerdings nicht mit sonderlichem Eifer. Etwas abseits von den Personen, die leicht angeheitert an der Theke saßen und Cocktails tranken, nahm sie auf einem Hocker Platz. Dann suchte sie den Blickkontakt zu dem Barkeeper, der sie mit einem knappen Nicken zur Kenntnis nahm. Sie sagte etwas, aber der Bass war so einnehmend, dass Haruka ihr eigenes Wort nicht verstand. Obwohl sie ungewohnt laut sprach – sie schrie beinahe schon, um sich Gehör zu verschaffen – verschluckte der Lärm jede Silbe des Getränkenamens. Erwartungsvoll schaute sie dem Barkeeper in die Augen, der ihr den Rücken zugekehrt hatte. Scheinbar waren seine Ohren sensibel genug, um dem Lärm zu trotzen. Die trommelnde Technomusik, die stinkenden Menschen, die Erschöpfung des Tages und alles andere, war mit Alkohol gewiss erträglicher. Während Haruka wartete, glitten ihre Blicke und Gedanke ins Nichts. Sie starrte auf einen belanglosen, aber doch bedeutungsvollen Punkt, den nur sie auszumachen vermochte. Eine flüchtige Berührung spürte Haruka an ihrem Rücken, die sie leicht zusammen zucken ließ. Zuerst vermutete sie, dass es Aika war, aber dann… „Zwei davon bitte.“ Irritiert sah sich Haruka um und blickte in braune Augen ihres Gegenübers, der mit den Fingerspitzen durch sein Haar fuhr und es mit einer plötzlichen Bewegung zur Seite strich. Einzelne Strähnen schienen sich dem zu widersetzen, kräuselten sich leicht und beschatteten seine Augen. Er beugte seinen Oberkörper nach vorne und raunte nah an ihrem rechten Ohr, die Hand auf ihren Rücken gelegt: „Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Die charmante Stimme, die in ihrem leisen und ruhigen Tonfall im Kontrast zu dem andauernden Lärm stand, klang sehr angenehm in ihren Ohren. Als auf Harukas Schweigen hin seine Mundwinkel zuckten und sich zu einem amüsierten Lächeln verzogen, erregte ein silbernes Piercing an seiner Lippe ihre Aufmerksamkeit. Beeindruckend wie Menschen auf andere zugehen konnten. Sie hätte sich das niemals getraut. Ihre Faszination wuchs zunehmend, während sie ihn neugierig musterte. Sein Äußeres erweckte einen anständigen und gepflegten Eindruck, der Haruka gefiel. Er trug ein schwarzes Jackett, darunter ein weit ausgeschnittenes, graues T-Shirt, und eine dunkle Jeans. Wie gebannt schaute sie ihn an. Er sah anziehend aus. Dennoch, sie fühlte wie sich ihr Herzschlag leicht beschleunigte. Es fühlte sich irgendwie falsch an. Ihr Verstand sträubte sich vehement, sich einfach hinzugeben; ihr leise ins Ohr flüsternd, dass ihr Herz bereits jemand anderem verfallen war. Doch an diesem Abend war die Zuneigung, die sie Shuu entgegenbrachte, bedeutungslos. Als sie an ihn dachte, fühlte sie nichts. Lag es vielleicht an dem Alkohol, der bereits ihre Sinne benebelte? Leise lachte ihr Gegenüber. Ein raues Lachen, dass seine Gesichtszüge zu erhellen schienen. Es war ein ehrliches und aufrichtiges Lachen, welches Haruka aber ungewöhnlich reizte. „Was ist so witzig?“ „Nichts, ich habe nur gedacht, ob du mich weiterhin so lüstern anschauen willst“, erwiderte der Blonde charmant lächelnd. „Ich? Lüstern?“, war die schnippische Gegenfrage, die den Jungen abermals erheiterte. Sie war entrüstet über diesen Vorwurf. „Wer bist du überhaupt?“ „Célian. Célian Beaumont“, sagte er gelassen, doch nicht ohne ein Lächeln auf seinen Lippen. „Und du bist-“ Der Junge brach ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Barkeeper, der sich mit dem Oberkörper leicht vorbeugte und die Cocktailgläser servierte. Haruka vergaß ihren Ärger und betrachtete das Glas, dessen Inhalt gelblich-orange bis orangerote Farbabstufungen innehatte. Etwas unbehaglich fühlte sich das Mädchen, als es sich auf einen ungezwungenen Drink einließ. Und vermutlich auch auf einen Flirt? Zögerlich ergriff sie das Cocktailglas, in der Hoffnung, sich bald lockerer zu fühlen, und nahm den ersten Schluck. Célian tat es ihr gleich, hob das Cocktailglas und trank in großzügigen Schlucken. Er stellte es beiseite und sah Haruka aufmerksam wieder an, vollendete: „Und du bist Haruka.“ Erstaunt erwiderte das Mädchen seinen Blick. Dass sie kein unbeschriebenes Blatt in ihrem Business war, hatte sich Haruka ja irgendwie schon dran gewöhnt, aber trotzdem war es… befremdlich. „Bin ich so bekannt?“ „Oh ja, die ganze Stadt spricht von dir. Hab dich heute kämpfen sehen im Stadion“, begann Célian. „Ich hab ja schon gehört, dass du eine hervorragende Koordinatorin bist, aber die Show heut‘ Mittag hat mich echt umgehauen. Wahnsinn!“ Verlegenheit ließ ihre Wangen sanft rot glühen. Verdammt, das war der Alkohol, aber eigentlich… Egal! Es schmeichelte ihr, dass jemand ihre Arbeit anerkannte. Wenigstens einer wusste ihr Können wertzuschätzen. Wehmütig dachte sie einen winzigen Moment an Shuu. Wenn er doch zumindest mal so etwas Nettes zu ihr sagen würde! Rasch aber verdrängte sie den lästigen Gedanken an den Schnösel, der ihr jeden Tag mies zu machen vermochte. „Oh, danke“, stieß Haruka überrascht aus und lächelte, „du interessierst dich für Wettbewerbe?“ „Ich interessiere mich nicht nur dafür, ich bin selbst Koordinator. Toll, oder?“ Ein begeistertes Leuchten lag in seinen glasigen Augen. Anscheinend war der Tequila nicht das erste Getränk gewesen. Vermutlich floss durch seine Venen bereits ein gewisses Maß Alkohol, der den Jungen kaum beeinträchtigte. Klar und verständlich waren seine Worte, nur etwas belegt vom Alkohol. „Wenn ich nur an das Festival denke, werde ich schon nervös. Geht’s dir auch so?“ „Was? Du nimmst am Festival teil? Hab‘ dich noch nie gesehen…“ Moment mal… Kannte sie sein Gesicht nicht? Die blonden Haare, die braunen Augen und das Piercing an der Lippe kamen ihr irgendwie… bekannt vor. Und doch wusste sie nicht so recht, diese Erinnerung zuzuordnen. Sie beiseite zu schieben, gelang ihr jedoch auch nicht. Stets kehrte das vertraute Gefühl zurück und nagte an Harukas Gedanken. Fieberhafte überlegte sie, woher sie diesen Jungen kennen könnte. Außer die Gelegenheiten bei flüchtigen Begegnungen auf ihrer Reise oder die manchmal nicht erfreulichen Treffen bei Wettbewerben wollte ihr einfach nichts einfallen… Vielleicht war es doch… Wettbewerbe! Wie hätte es auch anders sein können? Die meisten Bekanntschaften machte sie in der Lobby eines Contest-Stadions. Vielleicht hatte sie Célian schon in Dukatia bei einem Wettbewerb gesehen? Oder vielleicht war es doch bei einer Live-Übertragung gewesen? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Sie wusste nur, dass Aika und Célian sich kannten. Und Aika wollte ihr doch einen Kumpel vorstellen. Célians Schweigen irritierte das Mädchen. Ihr wurde bewusst, wie unfreundlich ihr Tonfall geklungen haben musste. Peinlich berührt errötete sie und wich seinen Blicken verlegen aus, als Haruka ihre Schroffheit bemerkte. Verdammt! Hoffentlich konnte sie die Sache retten! „I-Ich... Eigentlich hab ich darüber noch nicht nachgedacht. Irgendwie.“ Sie lächelte, etwas krampfhaft wie ihr auffiel, hoffend, dass sie die angespannte Situation lösen konnte. Ihre unbedachte Impulsivität hatte ihr diesen unangenehmen Moment beschert! Wenigstens entsprach es der Wahrheit. Sie hatte kaum die Gelegenheit gehabt, sich die Bedeutung des Sieges bewusst zu machen. Zuversichtlich war sie schon, aber nicht hochmütig. Im Festival traten nur talentierte Koordinatoren an, eine Auslese der Besten. Die Augen vor sich auf den Boden gerichtet nippte sie an ihrem Strohhalm. Behutsam fasste Célian ihr an den Arm. „Gehen wir tanzen?“ Aufgewühlt schaute Haruka auf, die Augen auf den Jungen gerichtet, der sie ebenso intensiv aus seinen rehbraunen Augen anblickte. „Ich weiß nicht“, zierte sich Haruka erneut, „bin nicht so eine gute Tänzerin, zwei linke Füße.“ Célian stieß ein raues Kichern aus und verzog die Lippen zu einem belustigten Grinsen. „Schwache Ausrede, weißt du? Gib doch einfach zu, dass du dich nicht traust.“ „Das hat nichts mit trauen zu tun, sondern…“ Sie stockte und zupfte nervös an einer Haarsträhne, denn inzwischen zweifelte sie selbst, ob sie nicht tanzen wollte, nur weil ihr die Situation unangenehm war. Bekam sie nun doch Bedenken, sich dem Flirt hinzugeben, wenigstens für diesen Abend? „Sondern?“, harkte Célian und sah nicht davon ab, amüsiert zu lächeln. Haruka seufzte. Warum ließ er nicht endlich locker? Einerseits gefiel es ihr ja, beachtet und angeflirtet zu werden, aber andererseits weckte es doch eine Furcht, die ihr beinahe lächerlich erschien. „…will ich nur deine Füße schonen.“ Wie albern sie sich vorkam, so kindisch und ängstlich. Erneut lachte Célian, so liebenswert, dass Haruka ihm nicht zu widerstehen vermochte, und zwinkerte ihr aufmunternd er zu. „Lass dich nicht ärgern, Süße. Darf ich dir wenigstens noch einen Drink ausgeben?“ Intuitiv schüttelte Haruka den Kopf. „Nein, ich glaube nicht“, sie tippte an ihr Glas, „zwei Tequila vertrag ich nicht.“ „Du kannst ja auch was anderes trinken“, wandte er ein und grinste erneut so bezaubernd wie er es zuvor getan hatte. „Ein Wasser oder so?“ „Nein, danke“, beharrte das Mädchen und erhob sich unter Célians aufmerksamen Blicken stattdessen, „ich dachte, du willst tanzen gehen? Sonst latsch‘ ich dir noch auf die Füße.“ Warum sollte sie sich nicht auf ihn einlassen, wenigstens für diesen Abend? Célian war nett, gutaussehend und charmant – all das, was Shuu nicht war. Gut, gutaussehend war Shuu schon, jedoch war er keinesfalls nett und charmant, eher arrogant, selbstverliebt und egoistisch. Und ein Arschloch. „Ach, jetzt doch?“ Die Lippen zu einem schiefen Lächeln verzogen und die Brauen erhoben sah er sie erheitert an. Haruka warf ihr Haar zurück und wandte sich mit einem charmanten Schmunzeln um. „Ja, warum nicht?“, neckte sie ihn lachend und schritt auf die Tanzfläche zu, während Célian, noch immer vergnügt grinsend, nach ihrer ausgestreckten Hand griff und Haruka folgte. Auf der weiten Fläche, die in bunte Lichter getaucht war, drängten sich zahlreiche Menschen dicht an dicht, und sie stieß gewiss an gefühlt hundert Personen. Der unangenehme Geruch von Schweiß und Alkohol ließ Haruka einen Herzschlag lang zögern. Da spürte sie jäh Célians Hände auf ihrer Hüfte, bemerkte seinen warmen Atem, der ihren Nacken streifte, und nahm den kräftigen Geruch seines Männerparfüms wahr. Haruka hielt verwundert inne und blickte auf seine kräftigen Hände hinab, die bestimmt ihre Taille hinaufglitten. Locker legte Célian seine Arme um sie, sanft schmiegte er sich hernach an ihren Leib. Da blendete Haruka alles aus. Es gab nur noch sie, die Musik und Célian. Alles andere war bedeutungslos geworden. Sie fühlte nur noch seine federleichten Berührungen an ihrer Taille; die Hände, die sanft hinabwanderten und kurz auf ihrer Hüfte verweilten. Hernach tasteten seine Finger ihren Rücken hinauf. Haruka schloss einen Herzschlag lang die Augen und erschauderte. Gänsehaut überzog ihre Haut, und es fühlte sich an, als ebbten elektrisierende Wellen durch ihren Leib. Doch es war kein Ekel, das sie heimsuchte, oder die Scheu, von einem Fremden berührt zu werden. Immerhin dachte sie zuvor an ihre Sehnsüchte, Shuu in einer derartigen Nähe um sich zu haben. Dieser Moment… Es war ein wohliges Kribbeln, das unter ihre Haut ging und sich überallhin ausbreitete. Noch nie hatte sich Haruka so lebendig gefühlt wie in diesem Augenblick. Und dies brachte das Mädchen zum Ausdruck. Erheitert lachte Haruka, vollkommen hypnotisiert von Célians Auftreten. Dabei vergaß die junge Koordinatorin gar ihren Groll, den sie zuvor gegen das Vorhaben, den Abend in einer Disko zu verbringen, gehegt hatte. Alle Eindrücke gingen in ihrem Rausch unter, und sie wusste nicht, ob dieser Junge, der über alles hinweg dröhnende Bass oder der Alkohol dafür verantwortlich gemacht werden konnte. Irgendwann nahm Haruka nur noch die Musik wahr, den Rhythmus, den sie unweigerlich im Blut fühlte. Und Célian. Als er seinen rechten Arm um sie legte und sie an sich zog, roch Haruka seinen würzigen Eigengeruch und den schweren Alkohol und Rauch, der seinen Klamotten anhaftete. Nichts davon aber störte das Mädchen allzu sehr. Irgendwie gefiel ihr der Geruch. Dann aber beugte sich Célian zu ihr hinab. Wenige Millimeter voneinander entfernt, streichelte sein warmer Atem ihre Wangen. Bevor Haruka zu realisieren vermochte, spürte das Mädchen die sanften Lippen des Jungen auf sich und den Druck, den er vorsichtig ausübte. Doch war da kein Herzklopfen und auch kein angenehmes Kribbeln, das unter ihre Haut gekrochen war. Eher fühlte es sich an, als wäre sie soeben aus einem Traum erwacht und hätte mit der Wucht eines Hammerschlags die Realität begriffen. Unwillkürlich versteifte sich Haruka und schubste Célian grob von sich weg. Dabei stieß er mit der Schulter gegen jemand anderen, der ihn herablassend ansah, aber auf eine Bemerkung zu verzichten schien. In diesem Augenblick fühlte sich Haruka elend, als Célian sie anstarrte und seinen Ausdruck nicht deuten konnte. Es war überraschend einfach gewesen, auf Célian zuzugehen, sich von ihm mitreißen zu lassen und den Abend zu genießen. Jetzt aber war der Zauber wie eine Seifenblase zerplatzt, der sie glauben ließ, dass alles, was sie tat, in Ordnung gewesen sei. Nun zerbrach sie sich den Kopf, was sie sich dabei gedacht hatte. Dass sie einen unbeschwerten Abend zu genießen vermochte, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben? Oder wollte sie über Shuus Demütigung hinwegkommen, die ihr jedes Mal einen schmerzhaften Stich versetzten? „Tut mir leid, ich…“, versuchte das Mädchen zu erklären, wurde aber jäh mit einer raschen Handbewegung seinerseits unterbrochen. „Dir muss nichts leidtun.“ Lässig strich sich der Blonde eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte. „Du wärst sowieso nicht mein Typ. Vermutlich hab‘ ich einfach zu viel getrunken.“ Sollte die Erklärung sie etwa zufriedenstellen? Wenn sie nicht sein Typ war, warum flirtete er mit ihr? Zumindest entspannte sich das Mädchen nicht, trotz des scheinbar durchdachten Arguments. „Du tanzt gut“, sprach Célian, um die Situation zu lockern. Er hatte die Stimme etwas erhoben, denn der lärmende Bass und das Grölen mancher Menschen erschwerten Unterhaltungen. „Magst du etwas trinken? Ich lad‘ dich ein.“ Beiläufig deutete er mit einem knappen Kopfnicken in Richtung Bar. Haruka zögerte. Ihre Wangen brannten jetzt schon und ihr war etwas schwindelig. Sie hatte zwar keinen sitzen, aber angetrunken war sie schon. War es ratsam, sich noch auf einen Drink einzulassen? Immerhin hatte sie an diesem Abend schon genügend toleriert und nachgegeben, aber… Aber sie war gern in Célians Gesellschaft. Bekanntlich war das Alkoholtrinken in guter Gesellschaft leichter. „Okay“, ließ Haruka schließlich verlauten, „aber nur ein Drink! Sonst kannst du mich ins Center tragen.“ Célian lachte leise. „Wäre mir eine Ehre, wenn ich das tun dürfte.“ Mit diesen Worten schritten sie an die Theke und setzten sich zwischen angeheiterte und betrunkene Menschen, die nach Alkohol und Schweiß rochen. Der Barkeeper, der soeben ein Glas blank geputzt hatte und es hinter sich ins Regal stellte, nahm Blickkontakt zu Célian auf. Er grüßte, obwohl Haruka seine Worte nicht zu verstehen vermochte. Der dröhnende Bass der Musik vibrierte in ihrer Brust. „Ein Gin Tonic“, nickte er dem jungen Mann zu und wandte sich hernach an Haruka. „Was möchtest du trinken?“ Sie überlegte nicht lange. „Einen Flying Peach“, erwiderte Haruka an den Barkeeper gerichtet, der sich sogleich seinen Verpflichtungen nachkam und verschiedene Flüssigkeiten zusammen mischte. Die Koordinatorin achtete nicht mehr darauf, welche Utensilien er dafür verwendete. Viel verstand sie von dem Werk nicht. Bloß einzelne Begriffe wie Pourer, dieser Ausgießer, und den Shaker kannte Haruka, weil Aika sie mal erwähnt hatte. Den genauen Zusammenhang vermochte Haruka aber nicht mehr zu rekonstruieren. „Hast du was von Kyra gehört?“ Kyra? Einen Moment war die Koordinatorin irritiert, bis sie sich besann. Kyra war Aikas zweiter Name. Manche Freunde nannten sie bei jenem Namen. „Nein“, Haruka schüttelte den Kopf, „schon eine ganze Weile nicht.“ „Hat sie sich vielleicht über What’s App gemeldet?“, fragte Célian. Erneut verneinte Haruka und schüttelte den Kopf. „Nein, hab‘ mein Handy verloren.“ Genauer gesagt hatte sie es in einem Sturm verloren, bei dem sie beinahe drauf gegangen wäre. Und all das geschah, weil es Lugia so wollte. Doch die Wahrheit verschwieg Haruka. Womöglich hielt Célian sie für bescheuert, wenn sie ihm die Sache zu erklären versuchte. „Blöd.“ Eine schlichte Antwort, mit der Haruka nichts anzufangen wusste. Irgendwie nahm sie die Situation noch immer als sehr angespannt wahr. Vorher war sie so ungezwungen gewesen, fühlte sich aufregend und fremd an und jetzt? Jetzt schauten sie aneinander vorbei und wussten kein Gespräch anzufangen. Glücklicherweise schob der Barkeeper die Getränke ihnen zu. Haruka griff nach dem Cocktailglas, welches mit einer Zitronenscheibe versehen war. Damit ließ sich die Anspannung besser ertragen. Mittlerweile war ihre Hemmschwelle gesunken, und sie machte sich über den Alkohol kaum mehr Gedanken. „Woher kommst du eigentlich?“ Eine unbeholfene Frage. Vielleicht entspannte sich die gegenwärtige Situation durch das Gespräch wieder etwas. „Ich?“ Überrascht schaute Célian sie an, als er vermutlich abrupt aus seinen Gedanken gerissen wurde. Der Blonde lehnte sich etwas vor, um dem Gespräch besser beiwohnen zu können. „Aus Kalos. Bin in Illumina geboren.“ „Aus Kalos? Ist deine Muttersprache Französisch?“ Fahrig strich er sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Oui“, erwiderte er grinsend, „mes parents sont de Kalos." Verwirrt sah Haruka ihn mit einer Mischung aus Bewunderung und Verständnislosigkeit an, als er unerwartet in seiner Muttersprache redete. Als ob er einfach so einen Schalter umgelegt hätte. Faszinierend. „Was hast du gerade gesagt?“ „Ja, meine Eltern sind aus Kalos“, rezitierte der Blonde lächelnd und warf mit einer lässigen Bewegung seines Kopfes eine Strähne aus dem Gesicht. „Beeindruckend“, gab sie erstaunt zurück. „Dafür aber kannst du ziemlich gut japanisch. Bist du hier aufgewachsen?“ Célian schüttelte den Kopf. „Nein. Mit dreizehn bin ich von zu Hause weg.“ Nervös tippte er mit dem Zeigefinger am Glas seines Gin Tonics und sah sich mit erhobenem Blick in der Disko um. Mochte er nicht erzählen und wich ihr aus? Sie wusste nicht, ob sie ihn drängen oder es dabei belassen sollte, aber… aber ihre Neugierde war einfach zu groß. Die Koordinatorin wollte mehr über den sympathischen Jungen erfahren. Nicht weil sie ihn attraktiv fand, sondern sie mochte ihn ganz einfach. „Hast du denn noch Kontakt zu deinen Eltern?“, fragte sie beiläufig, ohne sich anmerken zu lassen, sich ihm aufdrängen zu wollen. Célian wandte sich ihr wieder zu und lächelte – oder grinste – verschlagen. Vermutlich verkniff er sich eine spöttische Bemerkung ob ihres Wissendrangs. „Manchmal. Nicht sehr oft. Halt dann, wenn sich mal ein Gespräch ergibt. Meist skypen wir. Sie haben mir auch als ich klein war, mein Kapuno geschenkt. Da war ich fünf oder so.“ „Kapuno?“, war das erste, was ihr dabei in den Sinn kam. Dabei war die eigentliche Sache – dass er sein erstes Pokémon bereits mit fünf Jahren bekommen hatte – unwichtig. Haruka hörte bloß den Namen des unbekannten Pokémons und wollte mehr wissen. Sie wusste zwar, dass es ein Pokémon aus Isshu sein musste, denn Aika hatte ihr mal von einem solchen Pokémon erzählt und ihr es grob beschrieben, ihr aber nie einen Dexeintrag gezeigt. „Ein Drachen-Pokémon, das ursprünglich aus Isshu kommt. Vielleicht hab‘ ich ja noch ein Foto von meiner werten Dame als sie noch klein war.“ Bei diesen Worten holte Célian sein iPhone aus der Tasche, drückte die Home-Taste und entsperrte das Handy mit einem eleganten Wisch nach rechts. Eilig tippte er auf seinem Handy herum, während Haruka still da saß und ihm dabei zuschaute. Irgendwie fühlte sie sich währenddessen furchtbar fehl am Platz. Nervös zwirbelte sie eine Haarsträhne um den Finger „Ich hab‘s!“, stieß er nach einer gefühlten verstrichenen Ewigkeit aus und zeigte hernach auf seinem Handy ein Foto eines schwarzblauen, vierbeinigem Pokémons, dessen Haarschopf so tief ins Gesicht gewachsen war, dass es kaum etwas zu sehen vermochte. Es sah cool aus. Und stark vermutete Haruka. „Das ist meine Morana!“, fügte er hinzu, nicht ohne Stolz in seiner Stimme. „Da war sie aber noch klein. So“, er wischte mit dem Finger über den Display, „sieht sie jetzt aus.“ Das Wort „Bestie“ kam Haruka als erstes in den Sinn, als sie das Foto betrachtete. Besonders auffallend war der zartrosafarbene Federschmuck am Haupt des Drachens, den sie gleichzeitig aus irgendeinem Grund furchterregend empfand. Das Foto war schlecht belichtet. Details konnte Haruka nicht besonders gut erkennen. Dennoch erkannte das Mädchen, einen dunklen Umriss, der in die Kamera blickte und die Zähne fletschte. „Sie mag Fotos nicht besonders. Da tut sie immer so schlecht gelaunt.“ Haruka erschauderte und beschloss, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. „Und wo hast du so gut japanisch gelernt? Bestimmt nicht im normalen Unterricht.“ Célian lachte, während er das iPhone zurück in die Hosentasche schob. „Nein, ich war auf einer Privatschule. Meine Eltern haben mich dort hingeschickt. Freiwillig wäre ich wohl dort nicht hingegangen. War halt auch ein Jahr im Ausland.“ „Dann muss deine Familie ganz schön Geld haben.“ Es klang weder neidvoll noch bewundernd. Sie versuchte, neutral zu klingen. Haruka wollte ihn nicht kränken. „Ich weiß“, sagte er schlicht, fügte dann aber rasch hinzu: „Aber sonderlich viel mache ich mir nicht aus Geld. Als ich von zu Hause weg gegangen bin, haben meine Eltern mir natürlich finanzielle Hilfe angeboten, wollte aber auf eigenen Beinen stehen und mein Geld selbst verdienen. Hier ein Preisgeld absahnen, da ein Preisgeld kassieren eben. Das ‚wahre‘ Leben spüren.“ Obwohl Haruka ihn mit ihrer Bemerkung nicht hätte kränken wollen, klang es nun wie eine Rechtfertigung in ihren Ohren. Jetzt wusste sie keine Antwort auf seine Erzählung. Was sollte sie auch schon antworten? Vielleicht war sie mit ihrem Eifer zu weit gegangen. „Wir haben jetzt so viel über mich gesprochen, aber über dich weiß ich nichts“, machte Célian ihre Sorgen zunichte. Scheinbar hatte der Blonde ihre Fragerei nicht als unangenehm empfunden. Er stützte seinen Arm auf die Theke, während er den Kopf interessiert auf seinen Handrücken stützte. „Erzähl‘ mir etwas über dich, Haruka.“ „Über mich gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen.“ Célian runzelte die Stirn und kicherte. „Gar nichts?“ Manchmal hasste sie ihr Leben. Sie war ein ganz normales Mädchen mit ganz normalen Eltern und einem jüngeren Bruder. Vielleicht war das ‚normal‘ auch etwas übertrieben… Immerhin war sie die Tochter eines Arenaleiters. „Mein Vater ist in Blütenburg Arenaleiter, und ich wohne dort, wenn ich mal zu Hause bin.“ „Dein Vater ist Arenaleiter?“ Wortlos nickte Haruka. Célian stieß daraufhin einen einen anerkennenden Laut aus und sah sie beeindruckt an. „Cool. Dann hast du es ja erst recht drauf.“ Ein verschmitztes Lächeln zierte seine Lippen, als diese lieblichen Worte seinen Mund verlassen hatten. „Du weißt schon: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm und so.“ Haruka lächelte und wickelte sich erneut eine Strähne um den Zeigefinger. „Jup“, erwiderte sie und unterdrückte den starken Impuls, sich deshalb besonders zu fühlen. „Aber besonders mochte ich Pokémon als Kind eigentlich nicht. Ich kann mich kaum dran erinnern, aber als wir mal an der Küste in Seegrasulb City Urlaub gemacht haben, hatte ich eine nicht so angenehme Begegnung mit einem Tentacha.“ „Tentacha sind ja auch hartnäckig. Ständig hast du die an den Beinen kleben.“ Sie kicherte. „Das ist wahr. Ich mag sie heute immer noch nicht.“ „Geht mir auch so.“ „Wir sind jedenfalls oft umgezogen“, kam Haruka schließlich wieder auf das vorherige Thema zurück. „Eigentlich gibt es deswegen keinen wirklichen Ort, den ich wirklich als mein zu Hause bezeichnen kann.“ „Und woher kommst du dann ursprünglich? Ich mein, bevor deine Eltern nach Hoenn gezogen sind.“ „Ich bin schon in Hoenn geboren, aber ich war eins oder zwei, als wir weggezogen sind. Mein Vater hatte - wie soll ich sagen? – Probleme mit manchen Politikern. Daher sind wir weg.“ Haruka stoppte abrupt und besann sich einige Herzschläge lang. Sie haderte mit sich, ob es klug war, Details über die Vergangenheit ihres Vaters mit jemandem zu besprechen, den sie vielleicht mal zwei Stunden kannte. Immerhin wussten wenige Menschen die wahren Gründe, warum ihr Vater damals überstürzt sein Hab und Gut zusammen geklaubt und mit der Familie Hoenn verlassen hatte. Nicht jeder musste wissen, dass gegen Senri einst Vorwürfe der Steuerhinterziehung von staatlichen Geldern erhoben worden waren. Wegen mangelnder Beweise hatte die Liga die Anklage fallen lassen müssen. In Hoenn bleiben und weiterhin Arenaleiter sein wollte Senri nicht. Details aber wusste Haruka selbst nicht. Sie war damals noch zu klein, um zu verstehen. Jetzt, nach fast fünfzehn Jahren, sprach ihr Vater nicht über die Vergangenheit. Célian betrachtete Haruka eine Weile schweigend. Hoffentlich sah er in dem flirrenden Licht nicht, wie gerötet ihre Wangen waren. Da war der Alkohol schuld. Und Haruka merkte wie allmählich die Cocktails ihr zu Kopf stiegen. Einen leichten Schwindel fühlte das Mädchen und würde es gewiss am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen erwachen lassen. „Wohin seid ihr dann gezogen? In eine andere Stadt?“ Haruka schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte das Mädchen, „wir sind nach Engernia gezogen. Irgendwann hat mein Vater halt von der Liga in Hoenn ein gutes Angebot bekommen, da sind wir dann wieder nach Blütenburg gezogen. Da war ich zehn oder so. In dem Sinne bin ich mehr in Engernia zu Hause als in Hoenn, aber als reisende Koordinatorin bin ich jetzt sowieso dauernd an einem anderen Ort.“ Genauer gesagt stellte das Angebot eine Art Versöhnung dar, um die angespannte Situation zwischen Senri und der Regierung zu lösen. Ihr Vater vermochte die lukrative Empfehlung nicht auszuschlagen. Der damalige Champ hatte seine Fähigkeiten als Arenaleiter nahezu angepriesen und machte ihm somit ein Angebot, das Senri nicht ablehnen konnte. „And what about your English, sweet‘eart?“, grinste Célian sie mit einem charmanten Lächeln an. Haruka brauchte nicht lange nach Vokabeln suchen. Natürlich war Englisch nicht ihre Muttersprache, aber seit sie sprechen kann – mit zirka zwei Jahren hatte sie angefangen unverständliche Wörter zu brabbeln -, hatten ihre Eltern darauf geachtet, sie mit der englischen Sprache aufwachsen zu lassen. Ihr Vater konnte gut Englisch. So gab es hier kaum Probleme, denn Senri hatte sich angewöhnt, mit ihr und Masato, ihrem Bruder, Englisch zu sprechen, während ihre Mutter nach wie vor die japanische Sprache vorzog. „It’s okay, I guess, thanks. English is not my mother tongue, but my father speaks a lot with us in English. My mother is Japanese, though.” „Us?“Célian blickte sie aufmerksam an. „You ‘ave siblings?“ Haruka lächelte. „Yes, a brother, he’s younger than me. Do you have any siblings?” Der Junge schüttelte sein blondes Haar. „No. I only ‘ave two younger cousins, seventeen and thirteen. But they’re right enough for me to care for.” Haruka nahm einen großzügigen Schluck ihres Cocktails. Die Flüssigkeit rann ihre Kehle herab, und sie glaubte, bereits den stärker werdenden Schwindel des Alkohols zu spüren. Doch tat sie es rasch als Einbildung ab. „It seems you speak English as well as French, could this be?” „Not really“, antwortete Célian und verzog die Lippen. „I’ve learnt it in school and I was in Isshu for about a year, but it’s not my favourite language. So, could we talk in Japanese again, please?“Beinahe verzweifelt klang Célians Bitte. Dafür, dass er bloß ein Jahr in Isshu war, sprach er ziemlich gut Englisch. Natürlich hörte man den feinen, französischen Akzent heraus, aber das war absolut nicht schlimm. Es gefiel ihr sogar. Würde ihr Herz nicht schon vergeben sein, dann hätte sie sich sicherlich für Célian begeistern können. Schließlich war er attraktiv, gebildet und freundlich. „In Ordnung“, Haruka nickte zustimmend. „Aber dafür kannst du ziemlich gut Englisch.“ Célian lachte in sich hinein. „Yay, das ist Aikas Schuld. Sie zwingt mich… hey, hörst du mir überhaupt noch zu?“ Haruka hörte nicht mehr zu. Etwas Anderes erregte ihr Interesse. Sie schien Célians Gegenwart vollends zu vergessen. Sie hatte sich zwei Mädchen zugewandt, die bloß vier oder fünf Meter von ihnen entfernt an der Bar saßen. Ein Kerl sprach sie an und berührte leicht dabei den Rücken der Mädels, die sich daraufhin zu ihm umdrehten. Er beugte sich vor, um mit ihnen zu tuscheln. Im vorherrschenden Halbdunkel vermochte Haruka nicht ihre Mimik zu deuten. Unauffällig starrte die Koordinatorin in jene Richtung, angestrengt um dem Gespräch zu lauschen. Dabei schnappte Haruka nur einzelne Wörter auf, die zunächst kaum Sinn ergeben wollten. Dann erhoben sie sich unerwartet, und Haruka blickte ihnen enttäuscht hinterher, als sie aus ihrer Sichtweite verschwanden. Unwillkürlich merkte sie wie die Stimmung kippte. Haruka konnte nicht erklären, aus welchem Grund die Veränderung zu spüren vermochte. Als sie einen kurzen Blick zur Tanzfläche warf, sah sie, dass deutlich weniger Jugendliche den Platz eingenommen hatten, um sich ihren Kummer, die Sorgen oder was auch immer sie bewegte, von der Seele abzutanzen. Nun verließen die jungen Menschen den stickigen Raum und strömten hinaus ins Freie. Erneut schnappte sie dabei Gespräche von Jugendlichen auf. Dabei nahm sie Geflüster, Gelächter und Entsetzen wahr. Entsetzen? Abrupt stand Haruka auf und wurde von Célian sogleich festgehalten, der sie am Arm packte und irritiert ansah. „Was hast du, warum stehst du auf?“ „Ich glaube, Aika ist in Schwierigkeiten.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)