Unforgivable Sinner von xRajani (Remake) ================================================================================ Kapitel 6: Im Zeichen des Wassers --------------------------------- Haruka befand sich in der Finsternis, genauer gesagt in einem Tunnel. Ihre Blicke schweiften umher, aber sie konnte nichts sehen, und trotzdem erinnerte sie der Gang an einen U-Bahn-Schacht. Nur war jener dunkler und mit Wasser geflutet, und sie schwamm darin. Bei jener Erkenntnis erschauderte das Mädchen, dennoch war das Nass nicht kalt, genau genommen fühlte es sich nicht wie Wasser an. Es war warm und zähflüssig. Ein fernes Flackern erregte jäh Harukas Interesse. Dort, in der Weite, schimmerte ein heller Lichtkreis, und irgendwie wusste sie, dass sie entscheiden musste, ob sie sich darauf zubewegen oder sich umdrehen und in die andere Richtung gehen wollte, in der ebenfalls Licht leuchtete, wenngleich schwächer und weniger einladend. Es war bloß eine Frage der Wahl. Beide Wege waren möglich, und sie musste die Entscheidung treffen. Dann hörte Haruka eine Stimme. Sie kam aus der Richtung, in der das schwächere Licht strahlte. Sie konnte zwar nicht sehen, wer dort draußen war, aber sie wusste, dass ihr dort keine Gefahr drohte. Es war eine männlich klingende Stimme, die an ihre Ohren drang und immer wieder ihren Namen sprach, dennoch konnte sie nicht wahrnehmen, wer es war, der sie zu sich rief. Der Schein aber schwoll an und verformte sich zu einer Gestalt, einem Geschöpf. Sogleich keimte in ihrer Brust Hoffnung auf. Wie eine zerbrechliche Blüte gedieh die Zuversicht, die dem Mädchen Kraft und Mut schenkte. Haruka versuchte der Kreatur durch den Tunnel entgegen zu schwimmen, aber sie konnte nicht. Ihr Körper fühlte sich leer, taub, an, so als wären ihre Gliedmaßen gelähmt. Panisch strebte Haruka gegen die Paralyse anzukämpfen, aber ihre Gegenwehr erstarb rasch, als sie begriff, dass es keinen Sinn machte. Voller Furcht schrie sie um Hilfe, aber ihre Stimme versagte, wollte ihr nicht gehorchen. Entsetzt sah Haruka der aus dem Licht entstandenen Gestalt entgegen, die sie regungslos anstarre, sich jäh umwandte und in die gegensätzliche Richtung schritt. Die Koordinatorin vermochte nicht zu erkennen, was dieses Geschöpf war, aber sie spürte, dass sie das Wesen nicht aus den Augen verlieren durfte. Und plötzlich erfüllte eine schreckliche Angst das Mädchen. Angst, dass die Gestalt gehen würde und sie allein ließ. Wieso konnte sie sie nicht sehen? War sie denn blind?! Doch jetzt, ja, jetzt rief die lichtene Person nach ihr, hatte das Mädchen entdeckt, und obwohl sie noch immer niemanden sehen konnte, wusste sie, dass sie ihr helfen wollte. Und wenn sie nur eine letzte Anstrengung unternahm, einen letzten Kraftakt, dann würde ihr Körper ihr wieder gehorchen… Während seine Knie auf kalte Marmorstufen lagen, ruhte sein Blick auf einer antiken Statue, die mit geöffnetem Maul stolz ihren Kopf zum Himmel empor reckte. Die Hände auf den Oberschenkeln gebettet, verweilte der junge Mann regungslos in dieser Position und betrachtete die Skulptur nachdenklich. Wann war endlich die Stunde der Erlösung gekommen? In dem aus Mosaik zusammengesetzten Fenster brach sich das Licht und warfen es in schillernde Farben kleckerweise auf den Boden. Es ließ das Gestein so gleißend silbern strahlen, dass es schien, als würde Mondlicht lieblich die hochragenden Schwingen, die beinahe die Decke berührten, umfließen. „Warum haben wir dich erzürnt?“, murmelte der Priester, der kaum dreißig Sommer erlebt hatte, in die Leere und schlug die Augen nieder. Furcht lag in seiner Stimme, so als beschämte ihn seine Formlosigkeit. Er betete, dass seine kühne Gedankenlosigkeit den Zorn der Göttin nicht schürte. Finster war es an diesem Ort, dem eine Aura der Ruhe inne wohnte. Bizarre Schatten von lodernden Fackeln tanzten an den Wänden, die an beiden Längsseiten in den Nischen angebracht waren. Sie wirkten gleichzeitig bedrohlich und schön zugleich, aber Helligkeit spendeten sie kaum. Plötzlich zuckte ein greller Lichtstrahl am Himmel und erleuchtete die Skulptur einen vergänglichen Moment. Dem Blitz folgte nun der Donner, der verärgert grummelte. Angst umklammerte sein Herz, und er neigte ehrfürchtig den Kopf und schloss die Augen. „Verzeih mir, Lugia.“ Er schwieg. Mit gesenktem Haupt verließen Worte, die bereits vor langer Zeit aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwunden waren, seinen Mund. Wenige Menschen vermochten diese heute noch zu verstehen oder gar zu sprechen. Durchbrochen wurde diese Lautlosigkeit durch dem fortdauernden Prasseln des Regens und dem Brüllen des Sturmes, der im Freien seinen Zorn entfaltete und wütete. Es war seine Stimme, die die bleierne Stille durchbrach. Sie war ein Lied, eine wohlklingende Melodie des Sanftmutes und Dankes, welche von Frieden, Harmonie und Gleichgewicht der Mächte sang. Erneut zürnte grollender Donner, und ein leuchtender Blitzschlag erhellte jäh einen Herzschlag lang den Tempel. Aus Furcht wagte der Priester nicht den Kopf zu heben, sondern beugte sein Haupt tiefer zu Boden. Unablässig formten seine Lippen Worte, die die Wut der Göttin besänftigen sollten. Einzelne Perlen, entsprungen aus seiner konzentrierten Anstrengung, rannen seiner Stirn herab. Im fahlen Flammenschein wirkte die Haut des jungen Mannes blass und kalt, minderte jedoch nicht die Feinheit seiner Gesichtszüge. Dunkle Schatten unter seinen Augen zeugten von seiner Müdigkeit. Plötzlich nahm er einen kühlen Windhauch war, der sanft seine Haut liebkoste und mit seinen Haaren spielte, und ließ ihn respektvoll aufblicken. Nun befand sich der Priester nicht mehr in den schützenden Wänden des Tempels. Er wusste nicht, wo er war. Als etwas seine Aufmerksamkeit erregte, schimmerten die grauen Augen voller Hochachtung, während der Brustkorb sich nur schwach regte. Er traute sich aber nicht einen tieferen Atemzug zunehmen. War es die Müdigkeit, die ihm eine Illusion vor Augen hielt, oder war es die Realität? Vor seinem Antlitz schwebte Lugia, die Göttin des Wassers, deren Schuppen von hellem Silberlicht durchdrungen waren. Dunkle Platten zogen sich der Wirbelsäule entlang, die am Rumpf in einen langen Schwanz übergingen. Jener endete in dolchartigen Dornen. Lugia, von blauen Nebelschleiern umwoben, senkte ihr Haupt und starrte den Priester aus schwarzen Augen an. Dann warf die erhabene Göttin den Kopf herum und brüllte so laut als grollte ein Donnerschlag. Und in seinem Inneren vibrierte Lugias Lied und verklang in der Ferne – das Zeichen! Der Priester blinzelte und sah in die zwielichtige Dunkelheit, die bloß vom schwachen Fackelschein durchbrochen wurde. „Oh Lugia… Hab Dank“, hauchte er lautlos und verneigte sich vor der steinernen Statue der Wassergöttin. „Euer Hochwürden“, sprach eine Frau den Priester achtungsvoll an, „das Mädchen kommt zu sich.“ Dieser wandte ruckartig sein Haupt und blickte die Frau, deren Gesicht von Furchen geprägt war, mit schreckensgeweiteten Augen furchtsam an. Er hatte ihre Schritte auf dem Marmorboden nicht wahrgenommen. „Ist alles in Ordnung, mein Herr?“ Mit hämmerndem Herzen in der Brust betrachtete er die alte Frau gebannt, die ihn sorgenvoll nicht aus den Augen ließ. Dann aber senkte er rasch den Kopf und schien fieberhaft nach Worten zu suchen, die allerdings nicht über seine Lippen kommen wollten. Zu aufgewühlt waren seine Gedanken. Er vermochte das Geschehende nicht in kausale Zusammenhänge zu fassen, so als ob Lugia ansinnte, dass er jenes Wissen in seinem Herzen behütete. Besänftigend lächelte der Priester. „Tara, sei unbesorgt“, erwiderte er freundlich, konnte ihr aber die Unruhe nicht nehmen. „Das Gewitter hat mich lediglich erschreckt“, fügte er rasch hinzu und erhob sich. Mit einer hastigen Handbewegung strich er sich die Falten seines indigoblauen Kimonos glatt und zupfte die feine, golden wirkende Unterbekleidung zurecht. In derselben Farbe wie jene Seide waren die verschnörkelten Muster, die für das geübte Auge ein kunstvolles Lugia darstellten. Auf dem Steinboden gaben die Geta, traditionelle Sandalen aus Holz geschnitzt, ein regelmäßiges Klacken von sich, während der junge Priester Tara in das Studierzimmer folgte. Unter hohen Decken reihten sich unzählige Bücher und Schriftrollen, die aus einer Zeit stammten, in der die Menschen noch an alte Göttermärchen glaubten. So roch auch die Luft jenes Zimmers: Ein trockener, beinahe muffiger Duft umwehte den Priester. Zweifellos der Geruch von altem Papier. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch, über den ebenfalls zahlreiche Schriftstücke, mit verzierten und wertvollen Einbänden, verstreut waren. Daneben befand sich ein Sessel; Sitzfläche, Arm- und Rückenlehne waren mit Leder überzogen. Rotbraun war das verzierte Holz jener Möbelstücke, die einen unverkennbaren altenmodischen Stil hatten. In einer anderen Ecke des Gemaches lag ein Futon ausgebreitet, eine auf dem Boden platzierten Matratze, die tagsüber in Schranken verstaut wurde. Noch heute fanden althergebrachte Futons ihren Nutzen in modernen Haushalten. Angrenzend an diesem Schlaflager brannte eine kleine Nachttischleuchte, die mehr Helligkeit spendete als die Kerzenflammen. Der Priester kauerte sich vor dem Futon nieder, die Knie auf einem Kissen gebettet und betrachtete das Gesicht des Mädchens. Es wirkte sehr blass, die Lippen bedenklich blau und die platt gelegenen braunen Haare waren mittlerweile getrocknet. Ein schwaches Zittern rann durch die Muskeln des Mädchens. Zuerst bewegten sich zaghaft die Finger, die sich in den Stoff unter ihr krallten, schienen aber sich zu lockern, als sie merkten, dass es warm und trocken um sie herum war. Auf ihrer Stirn ruhte ein feuchter Lappen, nach dem Tara griff, um ihn erneut in kühles Wasser zu tauchen. Jenes Geräusch ließ erneut eine Regung durch ihren Leib fahren. Die Augenlider flatterten leicht, während sie wie durch einen dichten Nebelschleier, der ihren Verstand und Geist lähmte, leise Atemzüge wahrnahm und eine Hand auf ihrer Schulter ruhte, die bestimmend, aber behutsam, an ihr rüttelte. „Wach auf“, forderte der Priester das Mädchen auf, das seit einigen Stunden das Bewusstsein verloren hatte. Er konnte sich glücklich schätzen, dass es Tara und ihm gelungen war, ihren Körper zu wärmen, der durch das kalte Meereswasser rapide unterkühlt war. Sonst hätte er möglich einen Tod zu beklagen gehabt. Als sich schließlich der Nebel um ihren Verstand zu lichten begann, öffneten sich ihre schweren Lider, und sie blinzelte in die Helligkeit, die sie einige Herzschläge lang zu blenden schien. Die Tränen schossen ihr in die Augen, und das Mädchen kämpfte gegen sie an. Die Ellenbogen gegen den Boden stützend, versuchte es sich, mit all ihrer Kraft empor zu stemmen, doch ihr Körper fühlte sich so schwer wie Blei an und ihr war so furchtbar kalt. „Wo… Wo bin ich?“, hauchte sie kraftlos und keuchte zugleich schmerzerfüllt auf. Ihre Finger tasteten sich mit verzerrter Miene an den Kopf. „Langsam, Mädchen“, sagte der Priester mit gedämpfter Stimme und drückte sie mit sanfter Bestimmtheit nieder. Sie rührte sich aber nicht. „Du bist in Sicherheit“, fügte er lächelnd hinzu. Den irritierten Blick der Jugendlichen spürte der Diener Lugias auf sich ruhen. Ihre blauen Augen waren so tief wie Ozeane und strahlend wie helle Saphire. „Wer sind Sie?“ Als die kleine Lampe, die neben dem Mädchen stand, einen Moment zu flackern begann, wurde das Gesicht des Priesters in unheimliches Licht getaucht. Besorgt hob der junge Mann den Kopf und lauschte dem Gewitter, dessen zorniges Grollen langsam in der Ferne verhallte. Bloß die zuckenden Wetterleuchten erhellten noch schwach die Umgebung. Ein erneutes stummes Dankesgebet richtete er an Lugia, deren Groll besänftigt worden war. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf das Mädchen. „Nenn mich Kylah“, stellte sich der Diener Lugias vor. Ein Lächeln umspielte seine erschöpften Gesichtszüge. „Darf man auch deinen Namen erfahren?“ „Haruka“, erwiderte die Jugendliche schüchtern, die Kylahs Blicken scheu auswich und sich auf das Lager niederlegte. Kurz schloss sie die Lider über ihre Augen, dann öffnete sie wieder und hielten an der kunstvoll verzierten Decke inne, die eine Malerei eines jungen, schwarzhaarigen Mädchens zeigte. Ihr Schatten war eine Silhouette eines Geschöpfs, dessen schlangenartiger Körper bloß in vereinfachten Formen wiedergegeben war. An seinen Schultern wuchsen kraftvolle Schwingen empor und boten dem Mädchen Schutz vor Gefahren. Steinerne Säulenreihen stützten das hohe Dach, welches in drei Querschiffen geteilt war. Haruka war jene Architektur irgendwie vertraut, die sie an eine Kirche erinnerte, dennoch zweifelte sie. Bei der näheren Betrachtung des kirchenähnlichen Bauwerks bemerkte Haruka, dass das Gestein nicht grau war, sondern einen sanften Blauschimmer hatte. Kylah spürte ihren Blick auf sich ruhen, als sie ihre Augen wieder auf den wohl gebauten, aber feminin wirkende Gestalt richtete. „Wo bin ich?“, formten ihre Lippen erneut, beinahe verzweifelt. „Und was ist passiert?“ Seine einst verzogenen Lippen eines Lächelns wurden Kylah ernst. Die blauen Augen flackerten auf, während er in Harukas verschrecktes Antlitz sah. „Du erinnerst dich nicht?“ Irritiert sah Haruka den Fremden an, woraufhin Kylah leise seufzte. „Nun gut“, er wandte sich an Tara, die noch immer seinen Rücken flankierte. „Würdest du uns alleine lassen?“ Diese verbeugte sich, trat einige Schritte zurück und sagte: „Ja, mein Herr“, und zog sich langsam zurück. Kylah nahm wahr, wie sich die schweren Türen schlossen. Haruka sah ihr einen Augenblick nach, dann hob sie die Augen. „An was soll ich mich erinnern?“ Ein schwaches Lächeln erschien auf den Gesichtszügen des Mannes. Er beugte sich vor und einige Strähnen in sein Gesicht. „Du frierst“, stellte Kylah fest, als er sah, dass Haruka ihre Arme fest umklammerte. „Möchtest du Tee? Das wärmt dich auf.“ Zögernd nickte Haruka, die sich langsam aufrichtete, darauf bedacht, keine erneute Schmerzwelle auszulösen. Kylah half ihr dabei. „Du solltest dich noch etwas schonen. Dein Körper hat eine enorme Belastung aushalten müssen.“ Das Mädchen nickte nur und nahm die warme Tasse Tee entgegen, die der Priester ihr erreichte. Zu viele Gedanken schwirrten in ihrem Kopf, die sie nicht zu ordnen vermochte. Kylah beobachtete Haruka, wie sie starr in die Flüssigkeit stierte, als hätte sie vergessen, wie sie ihre Arme zu bewegen hatte. „Trink“, forderte Kylah sie bestimmt auf, „und dann werden wir reden, sobald du einige Stunden geschlafen hast.“ Und Haruka fiel in einen unruhigen Schlaf voll wirrer Träume, über deren Inhalt sie nach dem Erwachen nichts mehr hätte sagen können und von denen sie nur noch wusste, wie furchtbar sie gewesen waren. Träume, von denen nichts als Schrecken blieb. Im ersten Moment fühlte Haruka Erleichterung, als sie urplötzlich erwachte und den leuchtenden Mond im Zenit stehen sah. Zwei ungefähr gleichgroße Flecken wirkten wie ein Gesicht, das auf sie herabblickte und sie beobachtete. Dann fuhr Haruka auf, sah sich um – und dann packte sie das Entsetzen, denn es brannten keine Fackeln mehr an den Wänden, und auch Kylah und Psiana waren nirgends zu sehen. Die schützenden Tempelmauern waren einem tristen Grau gewichen, durchbrochen vom Schweigen der Stille. Sie war vollkommen allein. Haruka stand auf. Nicht einmal Spuren einer Ruine oder ihrer Lagerstätte waren zu sehen. Dort, wo bei ihrem Einschlafen die Große Halle gewesen war, stand das Gras kniehoch, dazwischen wuchsen einige Gräser, sodass dort innerhalb der letzten Wochen und Monate ganz gewiss kein Tempel erbaut gewesen sein konnte. Sie stellte auch fest, dass auch ihre Decke nicht mehr vorhanden war. Gleiches galt für ihre Halbseligkeiten, die sie neben ihren Kopf gelegt hatte, als sie einschlief. Es schien so, als hätte sie einfach im Gras gelegen. Etwas unschlüssig machte Haruka einen Schritt vorwärts. Ihre Beine fühlten sich bleiern an, und ein unangenehmes Drücken machte sich in ihrer Magengegend bemerkbar. Im ersten Moment wollte sie Psiana mit einem entschlossen, intensiven Gedanken rufen. Sie forschte mithilfe ihrer inneren Kraft nach dem Verbleib ihres Pokémon, dann aber hielt sie inne. Möglicherweise handelte es sich um eine Fortsetzung ihrer wirren Träume, und in der Realität war sie gar nicht erwacht, sondern lag noch immer auf ihrer Schlafstätte im Tempel. Wenn dies zutraf, würde ein Rufgedanke an ihre Psiana nur für Unruhe sorgen und mit Sicherheit den Schlaf der Katzenfreundin stören. Haruka machte ein paar Schritte vorwärts. Es war windstill. Kein Blatt raschelte im nahen Wald, kein Ast knackte, weil sich irgendein Pokémon dort bewegt hätte. „Kylah, Psiana?“, fragte Haruka verunsichert. „Wo seid ihr?“ Sie tat das mehr, um den Klang ihrer eigenen Stimme zu hören und sich selbst damit zu versichern, dass dies kein Traum war, als dass sie tatsächlich eine Antwort erwartet hätte. Und sie erhielt auch keine Antwort, während sie einen Fuß Schritt vor Schritt vor den anderen setzte. „Haruka!“, rief plötzlich eine helle Stimme ihre Namen, den ihre Eltern vor fünfzehn Jahren gegeben hatten. Das Mädchen wirbelte herum. Doch am Waldesrand stand niemand. Kein Windhauch ließ die Blätter rauschen, kein Rascheln der Büsche und Sträucher drang an ihre Ohren und kein Windhauch spürte sie auf ihrer Haut. Alles war still, wie in einer tödlichen Erstarrung erkaltet. Noch immer war sie allein, so schrecklich allein. Eine Tatsache, die Haruka zutiefst beunruhigte. „Komm…“, wisperte es in ihrem Geiste, leise, aber eindringlich, als ließe die Stimme keinen Widerstand zu. „Komm zu mir.“ Obwohl in trister Einsamkeit gefangen, fühlte sie, wie ihr Puls sich beschleunigte, die Hände feucht wurden und die Atmung sich verlangsamte, während eine wilde, unbeständige Angst von ihr Besitz ergriff. Und als die flüsternde Worte in ihren Verstand eindrangen, rannte sie. Das bleierne Gefühl in ihren Beinen verstärkte sich mit jedem Meter, den sie hinter sich brachte. Es war, als ob sie immer schwerer wurden, je schneller sie zu laufen versuchte. Dichtes Gestrüpp wuchs zwischen den Bäumen. Schon nach wenigen Schritten blieb Haruka in den dornigen Sträuchern hängen, die das Unterholz fast undurchdringlich machten. Einen Moment verharrte sie und lauschte. Die absolute Stille, die in diesem Wald herrschte, wirkte gespenstisch, ja unerträglich. Dornen hatten sich in ihre Unterarme gebohrt. Sie blutete an mehreren Stellen und fühlte den Schmerz. Allein das sprach dagegen, dass sie noch immer träumte, aber doch war es anders. Haruka vermochte es nicht in Worte fassen zu können. Die vollkommene Stille war kaum zu ertragen. Alle Geräusche, die Haruka vernehmen konnte, verursachte sie selbst. Sie kämpfte sich weiter durch das Gestrüpp. Das Licht des Mondes drang nur hier und da mal durch das Blätterdach, und so konnte sie manchmal kaum die Hand vor den Augen sehen. „Komm… zu mir.“ Haruka gelang es, sich aus dem Dickicht zu befreien und stolperte weiter vorwärts. Und da war plötzlich nichts mehr unter ihren Füßen, auf dem sie Halt zu finden vermochte. Furchtsam ruderte sie mit den Armen, hoffend, dass ihre Finger etwas ertasteten, woran sie festhalten konnte... Aber sie schrie, als die Schwerkraft sie in den Abgrund zog. Eine bodenlose Tiefe, die scheinbar nie enden wollte, dann aber schloss sie ihre Augen und nur noch schwarze, tröstliche Finsternis war um sie herum. Als Haruka ihre Augen wieder öffnete, stand sie aufrecht und spürte keinen Schmerz ob des Aufpralls, der eigentlich tödlich gewesen wäre. Erneut nahm sie ihre Umgebung in Augenschein. Der Wald war verschwunden, und nun nahm sie das sanfte Rauschen von Wellen, begleitet vom dröhnenden Meereswind. Sie war… am Meer? Haruka senkte den Blick auf ihre Füße, während ihre Zehen sich in den weichen Untergrund gruben. Sand fühlte sie unter ihren Füßen. Weder kalt noch besonders warm waren die von der Sonne erhitzten feinen Körner, die sie keinesfalls unangenehm empfand. Der Sand, der salzige Meeresgeruch und das klangvolle Wellenrauschen erinnerten Haruka vielmehr an schwüle Sommertage, an denen das kühle Nass Linderung verschaffte. Ihre Augen wanderten dem Horizont entlang, bis sie auf etwas trafen, was ihr Innerstes erschütterte und den Herzschlag unwillkürlich beschleunigte. Unweit des Strandes ragte ein hoher Fels empor, der an dem die Wellen mit ohrenbetäubender Intensität krachten, sodass weiße Gischt empor stob. Jene Klippe, an der sie nahezu jede Nacht im Schlaf stand. Dann aber zog etwas Weißes ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Horizont. Es trieb auf den Wellen hin- und her wie die Beute, die in den Klauen eines Raubtiers gefangen war. Haruka konnte nicht sagen, was dort draußen war, denn ihre Augen vermochten es nicht klar zu sehen. Ihr war es verwehrt näher zu treten, um ihren Augen die Möglichkeit zu geben, zu erkennen, was dort draußen, unter hohen Wellen und tosendem Winde, auf dem Wasser trieb. Als dieses Etwas unerwartet von einer Welle empor und anschließend zur Seite wegkippte, begriff sie: Ein heller Bastkorb, der im Inneren mit weißem Stoff gefüttert war, schwappte dort unter dem Willen des Ozeans hin- und her. Und dort war ein Bündel hineingelegt worden. Ein… Kind? Plötzlich schwoll das Wüten des Sturmes an. Irgendwo am Himmel grollte der Donner und Blitze zuckten, während die Wellen erzürnt gegen die Felsklippen brandeten und im weißen Schaum auseinander stoben. Heftige Sturmböen zerzausten ihr Haar, welches ihr strähnig ins Gesicht hing. Es hinter die Ohren zu streifen, hätte sowieso nichts gebracht – der Wind hätte sie ohnehin wieder durcheinander gewirbelt. Sodann kehrte die Stille zurück, die ihr allmählich so vertraut war. Nicht einmal ein Luftzug kräuselte sanft die Wasseroberfläche. Wie erstarrt waren die tosenden Wogen und wirkten nun wie ein glatter Spiegel. Den Blick von diesem Schauspiel wandte sie ab – und da erreichte sie ein Windhauch und spielte mit ihren Haaren, als fühlte sie den Atem eines anderen in ihrem Nacken. „Du bist gekommen“, vernahm sie eine weiche, ruhige Stimme, die im völligen Gegensatz zu Harukas wild pochendem Herzen stand, „Haruka.“ Wie erstarrt blieb das Mädchen stehen und rührte sich nicht. Zu große Angst hatte Haruka, als dass sie Ruhe zu bewahren vermochte. Hatte sie den Mut sich umzudrehen? Sie wagte es. Und was sie sah, war eine Frau, deren Gesichtszüge jugendlich, ja beinahe kindlich wirkten, aber dennoch schien sie älter als Haruka zu sein. All ihre Schritte waren voller fließender Anmut. Jedes noch so bedeutungslose Bewegung, wie das Zurückwerfen ihrer silberblau schimmerndes Haare, war schön. „Auf diesen Augenblick habe ich Jahrzehnte gewartet und jetzt“, sprach die Frau in einer Stimme, die sehr zu ihrer Weiblichkeit passte. Sie war nicht tief, aber auch nicht hoch. Sie war eines Engels gleich, kam ihr ein allzu passender Vergleich in den Sinn, „treffen wir uns endlich!“ Eingeschüchtert wich Haruka zurück, während sie ihr aufgebracht schlagendes Herz zu besänftigen versuchte. Daher schloss sie einen Moment die Augen und zwang sich zu einem Moment der Ruhe. Als die Koordinatorin sie wieder öffnete, sah sie eine schwebende große Gestalt, die mächtiger und zugleich anmutiger war, als alles was sie bisher gesehen hatte. Silbern erschien der Leib, getragen von kraftvollen Schwingen, während unentwegt Regung in dem langen Schwanz war, der in zwei seitliche Dornen überging, denn mal pendelte jener nach links, mal rechts und dann wieder links… „Fürchte dich nicht, Menschentochter.“ Das Maul öffnete sich. Sanft waren die animalischen Züge der Kreatur, die auf Haruka herabsah, genauso wie es ihr samtiger Tonfall war. Dieses beklemmende Angstgefühl, das ihr den Hals zuschnürte, ließ sie weiter zurückweichen. Die scharfen Reißzähne warteten doch nur, sie zu zerfetzen! Dennoch… Dieses Wesen hatte auf sie… gewartet? Wer war dieses Geschöpf – oder sollte sie sagen, was? „Ihr Menschen bezeichnet mich als eine Gottheit. Lugia, die Göttin des Wassers“, vermochte dieses furchterregende Wesen ihre Gedanken zu erforschen. „Doch mein wahrer Name lautet Sedna. Ich bin die Hüterin der Ozeane, die seit der Verbannung Kyogres und Groudons über die Meere wacht.“ Haruka traute sich kaum zu atmen, so beengend war das Gefühl, das ihre Kehle zu schnürte. Ihr Herz raste während ihre Finger klamm vor Kälte, aber gleichzeitig schweißnass waren. Eine brennende Hitze, ausgehend von ihrer Furcht und der Aufregung, hatte sich in ihrem Körper breit gemacht. Eine sagenumwobene Göttin, welche sie aus zahlreichen Märchen kannte, war leibhaftig vor ihr, und alle gezeichneten Bilder, die bloß auf Nacherzählungen stützten, gingen ihr durch die Gedanken, aber keine kam der wahren Gottheit gleich. Nicht ein Geschichtenerzähler, der in ihrer Kindheit oft nach Blütenburg kam, um auf Festen seinen sagenhaften Legenden- und Mythengeschichten den Kindern zu erzählen, hatte je die Wahrheit gesprochen. Und jene Göttin hatte auf ihre, Harukas, Ankunft gehofft? „Ge… gewartet?“, kamen ihr die erlösenden Worte zögernd über die Lippen. Die Lefzen zogen sich amüsiert zurück, gerade so, dass die Zähne nicht sichtbar wurden. „Ja, ich habe gewartet. Nur auf dich.“ Haruka war wie gelähmt. Sie vermochte kaum einen klaren Gedanken zu fassen, denn ihr Geist war auf sonderbarer Weise ruhelos und leer. Worte zu finden, die sonst sofort ihr in den Sinn kamen, waren verschwunden, und Sätze zu bilden, fiel ihr so unsagbar schwer, als wäre all das Wissen, was sie in ihrem bisherigen Leben gelernt hat, nie gewesen. Sie hatte Angst. Solch große Angst, dass diese ihre Gedanken betäubte. Haruka wollte schreien und aus diesem vermaledeiten Traum erwachen, aber ihrer Kehle entsprang kein Laut. Als wäre das Wasser weiche Erde, setzte Sedna auf der spiegelgleichen Oberfläche auf. Ihre kraftvollen Schwingen schmiegten sich an ihren stromlinienartigen Körper, dabei hielten die gütigen Augen auf dem furchterfüllten Mädchen inne. „Haruka“, sprach die Göttin, welcher die Menschen den Namen ‚Lugia‘ gaben, das Mädchen an, „du irrst dich. Unsere Begegnung ist kein Traum, aber es ist auch nicht die Realität. Dein Körper ruht, während dein Geist sich von deiner sterblichen Hülle löste und sich nun im Zwielicht befindet.“ Erneut rückte Haruka von Sedna ab und stolperte über einen faustgroßen Stein. Entsetzt kroch das Mädchen rückwärts. Sie wollte schreien, aber ihre Stimme versagte kläglich. All ihre Worte ergaben keinen Sinn. Sie träumte! All dies war bloß das Werk ihres ermüdeten Körpers, welches sie nach ihrem Erwachen wieder vergaß! Doch… Den Sand ließ sie zwischen ihren Fingern hindurch gleiten. Jedes noch so kleine Korn fühlte sich so real an, da der Sand weder kalt noch besonders warm war. Sedna beugte den langen Hals und ihr Atem berührte sanft Harukas Haare. „Lass dich nicht von deinem Herzen täuschen, Haruka, denn in deinen Träumen hast du unzählige Male meinen Geist gestreift und ich den deinen“, ertastete Sedna die Erregung des Mädchens. Dann hob sie wieder den Kopf empor, öffnete das Maul. „Es ist dein Schicksal.“ Haruka keuchte und fasste sich an den Kopf, weil sie schon lange nicht mehr verstand, was sie glauben oder fühlen sollte. Es war ihr Schicksal, eine Gottheit zu treffen? Aus welchem Grund mochte dies sein? Daher brachte sie bloß ein heißeres „Warum?“ heraus. „Der Erde steht ein großes Unglück bevor, denn eine Tragödie aus längst vergessener Zeit wird sich wiederholen, und nur die wahren Auserwählten können sie verhindern“, fuhr Sedna fort. In Schweigen hüllte sich Haruka und flüchtete in die Stille, welche ihr sie nun als sehr tröstlich empfand. Sie gab ihr Zeit, um in ihren Gedanken wieder klar zu werden, und begann sogar die Situation zu akzeptieren. Den Lauf der Zeit zu ändern, vermochte sie ohnehin nicht, und ob es ihre Bestimmung war, die Erde vor Unheil zu bewahren, kam ihr wie in einem Fantasybuch vor. Plötzlich reckte Sedna ruckartig den Kopf dem schwarzen Himmel entgegen und stieß ein wehklagendes Brüllen aus, während sie ihre Flügel fächerte und empor schwebte. Die Schwingen verursachten kräuselnde Wellen auf der Wasseroberfläche. „Haruka… Meine Zeit ist gekommen. Ich muss dich verlassen“, wisperte die Göttin sanft, beinahe mütterlich. „Wir werden uns wiedersehen.“ Sednas Schrei riss Haruka jäh aus ihren Gedanken. Einerseits sah sie in jener grotesken Situation eine Illusion ihrer Träume, aber andererseits empfand Lugias Gegenwart als Trost ihrer Furcht, denn Sedna war ihr so vertraut. Sie wollte nicht, dass Sedna sie alleine zurück ließ und dennoch… Sednas Stimme erstarb und wie ein greller Lichtblitz verblasste ihre silbern strahlende Gestalt. Und alles, was blieb, war Finsternis… Kylah blieb bei Haruka. Er war noch immer an ihrer Seite, als sie nach einiger Zeit plötzlich aus dem Schlaf schreckte und sich rasch aufsetzte. Das Mädchen wirkte nervös, so als hätte es im Schlaf Welten erkundet, die Panik in ihm ausgelöst hatten. Den Priester schien Haruka nicht zu bemerken, daher räusperte sich Kylah leise, aber trotzdem zuckte die Koordinatorin furchtsam zusammen. „Ganz ruhig“, sagte der Priester sanft. „Du hast nur geträumt.“ Angespannt sah sich Haruka um, ehe sie sich Kylah zu wandte. „Scheint so…“, erwiderte das Mädchen so leise, dass es bloß ein schwaches Murmeln war. Ihre Atmung normalisierte sich allmählich, daher war das Luftholen nicht mehr ungleichmäßig und stockend, sondern es war nun ruhig, tief und regelmäßig. Trotzdem vermochte Haruka nicht Ruhe zu finden. Sednas Worte wollten ihre Gedanken nicht loslassen. Der Erde steht ein großes Unglück bevor, denn eine Tragödie aus längst vergessener Zeit wird sich wiederholen, und nur die wahren Auserwählten können sie verhindern, hatte sie Haruka prophezeit. Was es auch immer war, es war anders, als ihre bisherigen Träume. Dennoch war es kein gewöhnlicher Traum gewesen, dass wusste sie. Es fühlte sich zwar unwirklich an, aber gleichzeitig kam es doch der Realität nahe. „Schon wieder“, fügte Haruka, mehr oder minder, verärgert hinzu. Es waren Hirngespinste – nichts weiter! Kylah betrachtete das blasse Antlitz des Mädchens. Ihre Gesichtszüge waren vor Erschöpfung gezeichnet. In den letzten Tagen hatte sie wohl kaum Schlaf gefunden, so vermutete der kundige Priester. Dunkle Ringe unter ihren Augen zeugten von jener ständigen Müdigkeit. „Schon wieder?“, vergewisserte er sich. Jedes noch so feine Zucken ihrer Mundwinkel konnte Kylah deuten. Unwillen und Verärgerung, aber auch Unsicherheit und Angst beherrschte das Mädchen. Haruka schwieg, unsicher ob sie dem fremden Mann vertrauen durfte oder konnte, dem sie das erste Mal an diesem Tag begegnet war und bloß wenige Minuten zuvor kennen gelernt hatte. Dennoch drängte es sich nach so langem Stillschweigen über diese Nachtmahre ihr auf, sich jemanden anzuvertrauen. „Ich habe seit Tagen und Wochen Albträume. Ich… Ich träume immer das Gleiche.“ „Immer den gleichen Traum?“, zweifelte Kylah, denn Menschen, die stets in dieselben Welten traten, sobald sie Schlaf fanden, waren ungewöhnlich und beunruhigend. Doch der Priester spürte, dass ein Hauch von Schicksal an ihr haftete. Als Haruka ob seiner Erstaunen langsam nickte, lächelte er und forderte: „Erzähle mir von diesem Traum.“ Haruka willigte ein. Es fiel ihr nicht schwer, sich an die zahlreichen Einzelheiten ihres Traumgebildes zu erinnern, welches sie Nacht für Nacht durchlebte und stets mit klopfenden Herzen nach dem Erwachen endete. Ebenso schilderte sie ihm die groteske Vision, die sie soeben im Schlaf heimgesucht hatte, aber Haruka verschwieg Kylah die Begegnung mit Lugia. Etwas hielt sie davon ab. Als sie mit ihrer Erzählung geendet hatte, bedachte er sie mit einem kritischen, aber nachdenklichen Ausdruck. Sein verschleierter Blick glitt schließlich hinauf zu dem kunstvollen Deckengemälde. Jene Malerei zeigte Aleera. So war der Name des schwarzhaarigen Mädchens und der erste Wächterin seit der Großen Schlacht. Dass diese Visionen rätselhaft waren, konnte Kylah nicht verleugnen. Womöglich war es ein weiteres Zeichen Lugias… „Das… Das ist doch nicht schlimm… oder?“ Es war eine törichte Frage, aber sein Schweigen hatte das Mädchen beunruhigt. Dachte er darüber nach in welche Anstalt sie verweisen konnte? „Ich möchte dich nicht ängstigen, aber Träume oder Visionen, was es auch immer in deinem Fall ist, sind gewiss außergewöhnlich. Allerdings vermag ich kein Urteil über ihre Bedeutung zu fällen“, war bloß die einzige Erwiderung, die Kylah ihr in jenem Augenblick vermitteln konnte. „Falsche Deutungen können fatale Folgen für den Betroffenen haben, daher solltest du fachkundige Hilfe der Geishas in Teak City ersuchen.“ Geistesabwesend verstummte Haruka und lauschte den heulenden Winden. Sie wusste nicht, was es war, aber vor ihrem inneren Auge blitzte nur einen Herzschlag lang eine Erinnerung auf, die sie nicht zu zuordnen wusste. Etwas, was das Wach sein zu einer Qual werden ließ, denn dessen Fragment beherrschte ihre Gedanken. Der Traum wurde unbedeutend und rückte allmählich in Vergessenheit. Nun weniger furchtsam folgte Kylah ihren Blicken wortlos, als ihre Augen zum kleinen Fenster wanderten. Es dämmerte bereits. Die Wintersonne war bereits als glühender Feuerball im Horizont unter. Nur das letzte Leuchten, das das Meer in blutiges Rot tauchte, kündigte an, dass allmählich die Nacht Einzug hielt. „Schön, nicht wahr?“, erriet er ihre Gedanken mit einem Lächeln. Tief im Inneren des Mädchens wollte etwas „Ja“ erwidern, wie es auch spürte, dass ein anderer Teil sich ein „Nein“ ersehnte. Stattdessen sagte Haruka nichts und wandte sich ab, als legte sie schweigend eine Distanz von ein paar Schritten zwischen ihnen zurück. Die Beine eng an den Körper gezogen und das Kinn auf ihre Knie gelegt, kauerte Haruka auf ihrer Schlafstätte. Sie wollte nicht reden. Mit leerem Blick starrte sie das helle Lodern einer Fackel an, die tanzende Schatten auf die steinerne Wand warf. Es schien geradezu, als wären die fauchenden Flammen lebendig, und das geruhsame Knistern, das das Mädchen an ein Lagerfeuer erinnerte, erweckte ein Gefühl von Sicherheit und Wärme. So schloss Haruka einen Moment ihre Augen und verfiel in eine Art Trance, zwischen Schlaf und Wachsein wandelnd. Jäh durchbrach ein empörtes Miauen die bleierne Stille, und Kylah erhaschte eine rasche Bewegung in der anderen Ecke seines Studierzimmers. Die Pfoten, auf dem Gestein vollkommen lautlos, fingen den Sprung aus einer Höhe, die gewiss drei Meter betrug, federnd und geschmeidig ab. Vollends schleichend, gaben die Tatzen kein Laut wider, während die Katze sich mit blitzenden Augen näherte. Stolz und erhaben trug sie ihren geteilten Schweif hoch empor gereckt, der leicht bei jeder Bewegung ihres anmutigen, schlanken Leibes hin- und herzuckte. Das kurze, fliederfarbene Fell wirkte im schwachen Feuerschein matt und struppig, minderte jedoch nicht die Würde jenes Katzenwesens. Auf jedes Geräusch achtend, waren die Ohren gespannt nach vorne gerichtet. Wie strahlende Amethyste sah die Lichtkatze Kylah eindringlich entgegen, und das Juwel, der auf ihrer Stirn platziert war, fing die tanzenden Flammen auf und brachte es in ein sanftes, mysteriöses Glühen. Das energische Maunzen riss Haruka aus ihren trübsinnigen Gedanken. Als hätte man sie in ihren Grundfesten erschreckt, sah sie Psiana entgegen. Mit einem bösen Funkeln, das ihren Augen inne wohnte, betrachtete die Katze ihre Trainerin. Die Schnurrbarthaare stellten sich nach vorne, während ein leises Knurren ihrer Kehle entkam. „Psiana….“ Nicht wissend, warum sie Psianas Groll auf sich gezogen hatte, streckte Haruka vorsichtig ihre Finger der Katze entgegen. Anklagend sah sie diese an, dann aber doch unterlag sie ihrem inneren Konflikt zwischen Zorn und unendlicher Erleichterung. Stürmisch schmiegte sich Psiana an ihre Hand, stupste sie nachdrücklich an, als wollte sie sagen: „Streichle mich endlich!“ Dieser Bitte kam Haruka lachend an und drückte ihr Pokémon frohgemut an sich. Kylah sah ihnen schweigend zu. „Dein Psiana ist nicht von deiner Seite gewichen“, sprach er schließlich. „Es hat dich keine Sekunde aus den Augen gelassen.“ Psianas Lefzen zuckten. Sie legte die Ohren an und öffnete leicht den Fang. Niemand sollte es wagen, sie als ein „Es“ zu bezeichnen! Schließlich war sie keines dieser Matschhaufen namens Ditto! „Sie“, korrigierte Haruka rasch, um die Katze nicht in ihrem Stolz als Kätzin zu kränken. „Sie legt auch großen Wert darauf, als eine Dame bezeichnet zu werden.“ Der Priester legte die Hand an die Brust und verneigte sich überschwänglich. „Verzeih, du wundervolles Wesen.“ Alle Vorsicht vergessend, streckte er eine Hand nach ihr aus. Wieder zuckten Psianas Lefzen. Gewiss sollte diese Schmeichelei ihre schöne Katzenseele liebkosen, doch diese Worte – oh diese schrecklichen Worte! – waren bloß beißender Hohn in ihren Ohren! Zornig fauchte Psiana und ließ ihre samtigen Pfoten nach vorne schnellen, aus denen scharfe Krallen hervor blitzten. Genüsslich fuhr die Katze ihre Klauen Kylahs Hand herab und ihre Reißzähne bohrten sich tief in das zarte Fleisch seiner Hand. Schlagartig breitete sich brennend stechender Schmerz aus, und Kylah stieß erschrocken einen belegten Laut aus, während er unwillkürlich diese zurückziehen gedachte, doch Psiana ließ ihn nicht frei aus ihrer Umklammerung. Weiterhin pochte die fürchterliche Pein in seiner Rechten. „Psiana! Lass los!“, rief Haruka tadelnd aus, die polternd mit ihrer Hand auf Holz schlug. Zusammenzuckend erschreckte Psiana und gab Kylah frei. Murrend starrte sie ihre Trainerin an. Jene Gelegenheit nutzend, befreite er seine Hand leise auf seine Unachtsamkeit fluchend aus der Gefangenschaft der Katze und begutachtete die tiefen Kratz- und Bissspuren. Wie Feuer brannten sie, welche an den Wundrändern rot und geschwollen waren. Als wäre nichts gewesen, legte sich Psiana auf Harukas Kopfkissen und leckte ihr seidiges Fell, die Schimpftiraden ihrer Trainerin vollkommen missachtend. Das Mädchen wandte sich zu dem Priester um, der mit seiner geschundenen Hand in eine Wasser gefüllte Schale tauchte. Unerträglich loderte der Schmerz auf, als stachen tausend feine Nadeln in die Wunde. Kylah sog scharf die Luft zwischen den Zähnen in seine Lungen. Erleichtert atmete er aus. Das kühle Nass linderte das Brennen der Kratzspuren. „Es-es tut mir leid! I-ich weiß nicht, was in sie gefahren ist!“ Gutmütig lächelte Kylah, während er sich ein feuchtes Tuch um die zerfurchte Hand schlang. Freilich war es seine eigene Achtlosigkeit, denn ihm war bewusst, welch großen und verletzbaren Stolz katzenartige Pokémon hatten. Leicht waren sie gekränkt und ebenso rasch waren sie auch wieder besänftigt. „Dich trifft keine Schuld, ich war unvorsichtig, obwohl ich es besser wissen musste, dass meine Worte Psiana reizen“, beschwichtigte er die Sorgen des Mädchens, das ihn noch immer zweifelnd ansah. Kylah wandte sich an die Lichtkatze, die seine Blicke funkelnd erwiderte. Dann kehrte Psiana dem lästigen Menschen den Rücken, ließ sich wieder nieder und säuberte ausgiebig ihre Pfoten. Schließlich galt die Aufmerksamkeit des jungen Priesters dem Mädchen, über die er so wenig wusste. Zuvor war sie zu schwach gewesen, um ihm die Fragen, die auf seiner Seele lastete, zu beantworten. Es vermochte kein Zufall zu sein, dass am selben Tag, an dem sich Lugias Zorn erhoben hatte, er ein Mädchen vor dem Ertrinken rettete. Sein wacher Geist sagte ihm, dass dies ein Werk des Schicksals war, welches unentwegt, unter den wachsamen Blicken der Götter, seine Fäden spann. „Darf ich dich was fragen?“ „Natürlich. Fragen Sie ruhig.“ Misstrauen lag in ihrer Stimme. Kylah konnte es Haruka nicht verübeln. Schließlich kannten sie sich bloß wenige Stunden, obwohl dem Mädchen offensichtlich bewusst war, dass es jenem Mann ihr Leben zu verdanken hatte. Ihre Haltung war nicht vollkommen abwehrend, eher zurückhaltend und ängstlich. „Du stammst nicht aus Johto, nehme ich an? Woher kommst du?“, verlangte Kylah zu wissen. „Nein, ich bin aus Blütenburg City“, antwortete Haruka schließlich zögernd. „Das liegt an der Westküste von Hoenn.“ „Hoenn also?“, murmelte Kylah mehr zu sich selbst. Unwillkürlich glitt sein Blick zu jenen heiligen Schriften, die zusammengerollt auf seinem Schreibtisch lagen, doch er unterdrückte den Drang, aufzuspringen, um sich die Zeilen einer uralten Prophezeiung ins Gedächtnis zu rufen. Rasch verdrängte er diese Gedanken. Noch war die Zeit nicht reif. Die Stunde nicht gekommen. „Du bist Koordinatorin“ Es war mehr eine Tatsache als eine Frage. Kylah deutete mit einem Fingerzeig auf ihre mittlerweile getrockneten Klamotten, auf denen eine blausilberne Schatulle lag. Das Symbol des Jotho’schen Festivalkomitees war auf der Oberfläche eingraviert. Es war eine einfache, aber kunstvolle Schleife. Verträumt harrten Harukas Blicke auf dem Etui aus, dann nickte sie zögerlich. Irgendetwas beschäftigte das Mädchen, das spürte Kylah deutlich. Es schien, als würde Haruka in Gefilden wandeln, in denen seine Worte sie nicht zu erreichen vermochten. Er schloss daher einen kurzen Moment lang seine Augen, versuchte nach ihrer Aura zu greifen, doch jene glich einem Wirbelsturm aus Energien. Griff er nach ihnen, so verpufften sie fauchend, als würde man Nebel fangen wollen. Sie wirbelten um ihn herum, flüsterten wie leise Winde und dann stand er vor einem klaffenden Abgrund. Irgendwo glaubte er eine Melodie zu hören, die ein längst vergessenes Volk seinen Toten sangen, wenn ihre Leiber dem Meer überlassen wurden. Langsam öffnete Kylah seine Augen. Haruka saß noch immer regungslos auf ihrer Schlafstätte und schien nicht in der Gegenwart zu wandeln. „Warst du auf dem Weg nach Anemonia?“ Erneut wich Haruka Kylahs wachsamen Augen aus, vermochte aber nicht die Tränen zurückhalten, die wie schimmernde Perlen über ihr Gesicht rannen. Kylah streckte die Hand nach ihr aus und wollte sie behutsam nach ihrer Schulter berühren, sie trösten, nahm aber jäh das tiefe Grollen und die funkelnden Amethyste Psianas wahr, die ihn offenkundig warnten, sein Vorhaben umzusetzen. Um das Gemüt der Lichtkatze gütlich zu stimmen, unterließ Kylah, sie wieder zu verärgern. „Was ist passiert?“, fragte der Priester nun vorsichtiger, darauf bedacht, dass seine Worte das Mädchen nicht noch mehr aufwühlten. Haruka aber reagierte nicht. Sie wollte ihm erzählen, was geschehen war, aber es war, als wäre jemand anders in ihren Körper geschlichen, der ihren Verstand unter Kontrolle nahm. Jene Haruka, die lachen und weinen konnte, die reale Haruka, war verschollen; verloren gegangen in den Tiefen des Ozeans. „Wusstest du nicht von der Unwetterwarnung?“ Etwas in ihr wollte „Nein“ schreien, aber es schien, als hätte dieser Jemand ihre Stimmbänder gelähmt. Sie war nicht mehr Herrin ihres Verstands. Kein Laut vermochte aus ihrer Kehle zu dringen. Eng an die kühle Wand gelehnt, hatte Haruka noch immer die Beine an sich gezogen und die Arme über ihre Knie verschränkt. Haruka sah den Priester nicht an, sondern vergrub ihr Gesicht ablehnend an ihren. Sie wollte nicht mit ihm sprechen, wollte einfach ihre Ruhe haben, denn sie fühlte sich, als drängte Kylah sie wie ein verwundetes Rattfratz in die Enge. Daher erhob sich Kylah beinahe lautlos. Bloß sein Gewand raschelte, als er den indigoblauen Stoff raffte. „Ich lasse dich allein.“ Mit jenen Worten trat er zur Tür. Noch immer schwieg Haruka. Sie starrte mit leerem Blick auf eine Miniaturstatur Lugias, während ihre Finger sich in die raue Stoffdecke unter ihr krallten. Kylahs Worte waren unbedeutend; sie hallten wie aus weiter Ferne, die über eine unerreichbare Ebene verklangen und kaum mehr als ein Flüstern zu hören waren. Gleichsam mischten sich dem Wispern warnende Rufe unter, die jedoch von dem ohrenbetäubenden Geräusch tobender Wassermassen vollends verschluckt wurden. Plötzlich schrak Haruka auf, und ihr war auf einmal so, als wären die Temperaturen binnen weniger Minuten in die Minusgrade herab geklettert. Schemenhaft vermochte sie das Grauen zu ertasten, welches sie nicht an sich heran lassen wollte. Haruka wusste bloß, dass sie die Einsamkeit furchtbar erdrückend war, wenn Kylah den Raum verließ. Ihre Blicke suchten verzweifelt nach ihrem Retter, der soeben die Tür durchschritten hatte und jene lautlos schließen wollte. Noch ruhte die Hand auf der Klinke. „Warten Sie!“, rief Haruka bittend. Warum sollte er warten? Drohte das Wissen der letzten Stunde, ihr die Luft zu zuschnüren? „Ich… möchte nicht allein sein.“ Kylah kam ihrem Wunsch nach und nahm wieder seinen Platz an ihrer Seite ein. „Ich habe dich bewusstlos am Ufer aufgefunden“, sprach er irgendwann aus und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, stützte sein Kinn auf die ineinander verhakten Hände, während er Haruka nachdenklich anschaute, so als suchte er etwas in ihren Augen, nach einer Wahrheit, die in den Tiefen ihrer Saphire verborgen war. „Oder besser gesagt, wenn mein Jugong dich nicht gefunden hätte“, fügte er schmunzelnd hinzu. Doch so rasch er einen humorvollen Ton eingeschlagen hatte, ebenso schnell wurde Kylah wieder ernst. „Jedenfalls kannst du von Glück sagen, dass du noch lebst. Es hätte nicht viel gefehlt und du wärst ertrunken.“ Der Priester fuhr sich mit den Fingern durch seine Haare, die sich wallend über seinen Rücken bewegten, und spielte mit einer Strähne, während er auf eine Antwort Harukas wartete, die seinen grauen Augen versuchte auszuweichen. Tränen, so klein wie Perlen, rannen stumm ihren Wangen herab und tropften auf die Leinen ihrer Bettdecke. Feuchte, dunkle Flecken sammelten sich bereits. Noch immer drängte sich Haruka in ihrer abwehrenden Haltung gegen die Wand, aber ihr Kopf ruhte nun auf ihren Knien. Sie wirkte apathisch, die Augen fern auf etwas gerichtet, was bloß für ihre Sinne wahrzunehmen war, gleichzeitig war ihr Körper gespannt, als befürchtete sie jederzeit eine Gefahr. Irgendetwas verstörte das Mädchen so sehr, dass es nicht darüber sprechen wollte – oder konnte. Entweder versuchte sie sich an das verschüttete Wissen der letzten Stunden zu erinnern oder sie wollte jenes abscheuliche Gedankengut krampfhaft vergessen. Kylah wusste es nicht. Er konnte lediglich nur Vermutungen anstellen, keine festen Aussagen, wie sehr Harukas Psyche gelitten hatte. Vielleicht hatte er die Kraft, um den Schmerz ihrer Seele zu lindern? „Egal, was du verdrängen möchtest, erzähle es mir. Ich will dir helfen“, bot Kylah mit sanfter Stimme an. Er wollte sie nicht bedrängen, denn sie sollte aus freiem Willen, den Mut finden, um ihr mögliches Trauma zu erzählen. Haruka sah den Priester nur an, der ihrem bohrenden Blick standhielt. Dann drehte sie sich weg. „Ich… Ich kann mich nicht erinnern“, behauptete die Koordinatorin wispernd. Ihre zitternde Stimme strafte ihre Worte Lügen. Sie wusste, was geschehen war, hatte aber so schreckliche Furcht vor den Erinnerungen. Sie raubten ihr den Atem, drohten sie unter ihrer Last zu ersticken. „Du kannst dich nicht erinnern oder du willst es nicht?“ Kylah wollte sie nicht drängen, doch wollte er auch verhindern, dass sie sich vollends abkapselte und vor sich hin vegetierte. Es war freilich die Natur des Menschen, schmerzhafte Erlebnisse aus seinen Gedanken zu verdrängen. Mensch flüchtete sich in eine eigene Realität, geboren aus seinen Fantasien, die bloß seinem Verstand inne wohnten. Niemanden ließen Traumatisierte an sich heran, sondern schotteten sich vollends aus der gewohnten Umgebung ab und lebten ihr eigenes, einsames Leben, stets zwischen Extremen wandelnd. Nur die Flucht verhieß Linderung für die verwundete Seele, während der Körper wie betäubt, empfindungslos, war. „Versuch es.“ Haruka zögerte, als stände eine abscheuliche Qual hinter den Worten, die ihre Lippen nicht verlassen mochten. „Irgendwie ist alles so… so durcheinander…“, begann das Mädchen stockend und schloss seine Augen für einen Herzschlag lang, dann öffnete es sie wieder, darauf hoffend, neuen Mut gefunden zu haben. „Ja, ich… Ich war auf dem Weg nach Anemonia, aber irgendwie bin ich mir nicht sicher...“ „Bleib ruhig, erzähle es mir von Anfang“, besänftigte Kylah das Mädchen. „Woran kannst du dich erinnern? Warum warst du auf dem Weg nach Anemonia?“ „Ich… Ich weiß nicht…“, schluchzte sie erneut, wollte nur fliehen vor jener Wahrheit, die sie zutiefst beunruhigte. Die Tatsache, dass sie in Oliviana den Wettbewerb verloren hatte und ihr letzte Hoffnung in Anemonia steckte, wollte sich Haruka nicht eingestehen. Kylah seufzte innerlich. Seine Augen blieben gedankenverloren an dem Etui hängen, in dem Haruka ihre offiziellen Wettbewerbsbänder aufbewahrte. Dann wandte er sich ihr wieder zu. „Du bist Koordinatorin und hast zuvor in Oliviana teilgenommen“, stellte er ein weiteres Mal fest. Es diente vielmehr zur Findung der Gewissheit. „Und verloren.“ Haruka schreckte auf. Schändlich ertappt fühlte sich das Mädchen. Sie, eine durchaus erfahrene Koordinatorin wie es in manchen Fachzeitschriften geschrieben stand, hatte ausgerechnet in einem Wettbewerb verloren. Jene letzte Herausforderung hätte ihr letztens Band verheißen! Schon allein der Gedanke, was die Medien über sie schreiben könnten, genügte, um ihr der letzten Mut rauben. Selbst Kylah hatte von ihrem Versagen gehört! Jener mochte zwar von jeglicher Zivilisation abgeschieden leben und sein Dasein als Priester fristen, dennoch war er des Lesens mächtig und war auch mit anderen Medien wie Fernsehen oder Internet vertraut. „Ich habe gehört, dass in Anemonia ein Wettbewerb stattfinden soll. Du willst sicher dort antreten, denn“, zögernd öffnete Kylah die Schatulle, in der Haruka ihre Bänder aufbewahrte; es waren vier, „dort willst du dein letztes Band gewinnen.“ Geistesabwesend starrte Haruka in die leuchtenden Flammen einer Fackel, die bizarre Schatten auf die Wände warfen. Jene bedeutsamen Gebilde tanzten wie wundervolle Schemen, ja belebten Harukas Geist. Sie war gewissermaßen froh, dass Kylah nicht in der Wunde herumstocherte, so wie es Shuu am gestrigen Abend getan hatte. Der Gedanke, dass sie das Versprechen nicht einzuhalten vermochte, schmerzte Haruka. Doch war es überhaupt ein Versprechen, was sie ihm gegeben hatte? „Du warst auf dem Weg dorthin, oder?“, tastete sich Kylah behutsam vorwärts, denn das Mädchen hatte zuvor nicht auf seine Äußerung reagiert. Zögernd, aber wortlos, nickte Haruka zaghaft. Nur schemenhaft vermochte sie klare Bilder in ihren Gedanken aufblitzen zu sehen. Sie waren abstrus und vermischten sich mit Eindrücken, die Haruka nicht zu deuten wusste. Ihr Geist fühlte sich leer, aber auch nicht ausgelastet an, vielmehr war er wie in einem tiefen Schlummer verfallen, der bloß langsam verging. Doch je mehr Haruka sich konzentrierte, desto klarer wurden ihre Gedanken. Langsam malten sich Bilder vor ihrem inneren Auge; schwache Umrisse, die sie immer deutlicher zu erkennen vermochte, gleichzeitig wuchs beständig ihre Furcht. Wie ein Raubtier lauerte sie Haruka auf. „Und warum?“ Gewiss war es eine dumme Frage, denn wenn sie eine Koordinatorin war, dann ist es selbstverständlich, dass sie bloß wegen dem Wettbewerb nach Anemonia wollte. Vielmehr versuchte Kylah durch gezielte Fragen ihre Erinnerungen hervorzulocken. „Ich… Ich verlor gegen meinen besten Freund und…“, sie stockte und dachte an Shuu, was ihr einen erneuten Stich versetzte. Der Priester streckte seine Finger und berührte das Mädchen zaghaft an den Schultern. „Was ist dann geschehen? Zwischen Oliviana und Anemonia ist besteht Fährverkehr. Normalerweise strandet keine einzelne Person bei mir.“ Ein leichter Anflug eines Lächelns breitete sich auf seinen Lippen aus, welches sogleich wieder verflog. Es gab keinen Anlass, anzüglich zu sein. Suchend tasteten Harukas Finger nach ihrer warmen Decke, während sie den Gedanken an Shuu fortjagte, denn dieser wärmte ihr Herz und verwirrte aber gleichzeitig ihren Geist, lärmte ihn beinahe. „Ich… Ich weiß. Die wollte ich auch nehmen, aber… verpasste sie“, fuhr die junge Koordinatorin unsicher fort, schwieg dann einen Moment. Während ihre Niederlage so klar wie noch nie war, war alles andere noch immer verschwommen. Sie versuchte sich zu erinnern, wollte vehement die letzten Puzzleteile der vergangenen Stunden zusammen tragen. Da blitzte jäh Lapras‘ gütiger Blick vor ihrem inneren Auge auf und schien sie wie ein offenes Buch zu lesen. Sie glaubte seine sonore Geistesstimme in ihrem Kopf zu hören, welche aufmunternd zu ihr sprach und schließlich eine uralte Melodie summte. „Lapras…“, hauchte sie. Tränen standen ihr in den Augen. Es war ihre Schuld, dass die Lapras in Gefahr gekommen waren und diese Todesangst erleben mussten. Doch Haruka unterdrückte ihre Trauer und dankte dem Pokémon wortlos, das sein Leben für das ihre geopfert hatte. Sie hob ihren Blick, während sich ihre Entschlossenheit festigte und Gestalt annahm. „Eine Lapras-Schule traf ich und dann… und dann…“ Die Stimme drohte zu versagen. Ein angstvolles Schluchzen entkam ihrer Kehle. Lange vermochte sie ihren Tränenstrom nicht mehr zurück zu halten. Psiana sah Haruka beunruhigt an und stupste sie aufmunternd an, während ihre Pfoten auf dem Arm ruhten. Ihrer Kehle kam ein wohliges Schnurren, als das Mädchen seine Hand über das seidene, lavendelfarbene Fell gleiten ließ. Kylah gab ihr die Zeit, die sie benötigte, um die Erlebnisse in Worte fassen zu können, hinter denen solch große Qualen lagen. „Wir… Wir gerieten in diesen Sturm… und da… da war dieser riesige Strudel… ich wurde unter Wasser gedrückt…“ Die Worte flossen über ihre Lippen und kannten kein Halten mehr. Dann verstummte Haruka und ließ ihrer Furcht freien Lauf, denn sie vermochte nun die Tränen nicht mehr zurück zu halten. „Ich… Ich bekam keine Luft… wollte schreien, aber dann verlor ich das Bewusstsein.“ Glitzernde Perlen rannen ihrer Wange herab und hinterließen auf dem Bettlaken kleine, nasse Flecken. Kylah erhob sich, setzte sich neben das Mädchen und legte seine Arme um es. Haruka ließ es zu. Ihr fehlte die Kraft, um sich seiner zu erwehren. Wie ein Kind wog Kylah sie in seiner Umarmung und tröstete Haruka, bis ihr Weinen sich allmählich beruhigte. Das Schluchzen wich nur noch dem leisen Wimmern. Als sie realisierte, dass Kylah noch immer ihre Schultern fest umschlungen hatte, rückte Haruka von ihm ab und musterte ihn in schuld bewusster Miene. „Es… Es tut mir leid, ich…“ Mit dem erhobenen Zeigefinger brachte der Priester sie zum Schweigen. „Es gibt keinen Grund, dich zu entschuldigen. Ich freue mich wirklich sehr, dass du mir dein Vertrauen schenkst.“ Haruka schloss die Augen. Es war, als fiele eine unendliche Last von ihren Schultern herab. Zwar wühlten die Gedanken sie noch immer auf, aber sie schmerzten nicht mehr allzu sehr. Dass sie dem Priester das Vergangene erzählt hatte, hatte Linderung gebracht, und sie fühlte, wie ihre seelischen Wunden sich zu schließen begannen. Dann erhob sich Kylah von ihrer Schlafstätte, und Haruka folgte seinen fließenden Bewegungen. Der indigoblaue Kimono schränkte den Priester zwar in seiner Freiheit ein, minderte jedoch nicht die Anmut, die jedem seiner Schritte innewohnte. „Du bist sehr erschöpft und solltest dich ausruhen, wenn du wieder zu Kräften kommen willst.“ Er deutete auf einen Teller, nahe ihrer Schlafstätte, den Haruka zuvor nicht gesehen hatte. „Und iss etwas.“ Das Mädchen starrte einen Moment Kylah ungläubig an, während ihre Blicke ihren PokéCom streiften. „Aber… Der Wettbewerb! Ich muss…“, widersprach Haruka mit scheinbar neuem Enthusiasmus, den Kylah ihr sogleich wieder nahm. Mit verschränkten Armen, die Hände in den Ärmeln verborgen, stand er vor der jungen Koordinatorin. „Du musst dich ausruhen“, schärfte er mit strenger Miene ein, die keinerlei Widerworte zuließ. „Dein Körper hat es bitter nötig.“ Erneuter Protest keimte in Haruka auf, aber Psiana machte ihr mit einem unmissverständlichen Grollen klar, dass sie jenen Widerstand nochmals überdenken sollte. Ihre Krallen krümmten sich und stachen ihr sanft, aber bestimmt, in die Haut. Sollte sich ihre Trainerin wehren, würden sie gewiss mehr als nur ein Piksen spüren. Voller Sehnsucht wanderten ihre Augen zum Fenster, hinaus in die tiefe Schwärze und den draußen herrschenden Winden lauschend. Irgendwann wurden ihre Lider träge, so unsagbar schwer, und Haruka ließ sich erschöpft auf ihre Schlafstätte nieder. Dann übertrat sie die Schwelle in die endlosen Ebenen ihres Schlafes… Schwach beleuchtet war der große Tisch in der Bibliothek, während der restliche Teil des Arbeitszimmers in Dunkelheit lag. Bizarr tanzende Flammen loderten und warfen erneut absonderliche Schatten auf die zahlreichen Bücher und Schriftrollen, die unter hohen Decken mühsam in dem Raum untergebracht waren. Die Luft roch muffig und nach altem, staubigem Papier und hätte durch gezieltes Lüften vertrieben werden, dafür aber war das Meeresrauschen, das sich an den Klippen brach, zu laut. Doch Kylah liebten diesen Geruch viel zu sehr, der jedem Schriftstück anhaftete, als dass er diesen wunderbaren Duft zu verjagen vermochte. Hier, umgeben von zahllosen Pergamenten, fühlte er sich heimisch. Dies war sein Heim. Und an jenem Ort suchte er etwas fieberhaft. Etwas mit solch großer Bedeutung, die, so absurd es auch klingen mochte, das Schicksal dieser Welt verändern konnte. Jene uns bekannte Welt war so zerbrechlich wie Porzellan, die im Begriff war sich rasch zu wandeln, denn alte, vergessene Mächte sollten sich bald erheben und das Grauen bringen wie zahlreiche Propheten es vorhersahen. Alles Lebende sollte vergehen, doch die Hoffnung wird den Menschen Kraft geben. Kylah wurde fündig und hätte einen Freudenschrei ausstoßen können, denn jenes Stück, das er zwischen den Händen hielt, war so bedeutend, wie die Legenden und Mythen, auf die diese Welt ruhen mochte. Er wandte sich um und seine Augen ruhten auf seiner Schlafstätte, auf der in Stoff gehüllt, Haruka schlummerte. Selbstsicher lächelte Kylah. Möglicherweise war das Mädchen eine Schachfigur, die Dame, im Spiel der Gottheiten. Möglicherweise galt sie schon bald als Erlöserin… Ein Windzug ließ eine Kerze wie von Geisterhand unerwartet erlöschen, während ein schwaches Leuchten verräterisch flackernd die Schwärze durchbrach. Eine Warnung, die, wenn er jene missachten sollte, bestraft werden würde. Lautlos hastete Kylah in die große Halle. Wie ein stummer Wächter hielt die Göttin des Wassers ihre im Mondlicht silbern strahlenden schützenden Schwingen empor und wachte über jene, die sie um Hilfe anflehten. Ehrfürchtig verbeugte sich vor der majestätischen Statur und kniete nieder. Die Augen vor dem Antlitz seiner Gottheit verschließend, sprach Kylah mit klangvoller Stimme demütig ein Gebet. Schmutz und Staub, die seinen Kimono besudelten, waren unbedeutend. Während Kylah den Kopf erhob, zitierte er wispernd mühelos eine Textstelle eine jahrtausendalten Pergaments; jedes Wort, ja jede Kleinigkeit, die ihm über die Lippen rollte, betonte er. Jenes Wissen, welches in der Alten Schrift verfasst war, war längst aus den Erinnerungen der Menschen getilgt worden: Schatten aus alten Zeiten erheben sich, Raum und Zeit werden Chaos und Zerstörung bringen. Die Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde vereinen sich. Und so beginnt es… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)