Phönixasche von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 15: Mittagsschnaps & präfrontaler Cortex ------------------------------------------------ Für Paddy, weil sie Adrian zwischendurch so wüst beschimpft hat :'D ______________________________________________________________________________ MITTAGSSCHNAPS & PRÄFRONTALER CORTEX Die ersten zwei oder drei Sekunden nach meinem Aufwachen am nächsten Morgen waren unglaublich. Die ersten Augenblicke nach dem Aufwachen waren für mich wie ein kleines Heiligtum: Es waren die einzigen Momente am Tag, an denen keine aufreibenden Gedanken durch meine Synapsen feuerten und mich um den Verstand brachten. Doch diese Sekunden verflogen ebenso schnell, wie sie gekommen waren, und sämtliche Erinnerungen, Eindrücke und Gedanken stürzen wie eine Welle auf mich herein. Mein Herzschlag beschleunigte sich, meine Haut begann wie irre zu kribbeln und plötzlich fühlte ich mich wie in den Club zurückversetzt, spürte die Hitze, die Nähe, den Bass der Musik, fühlte Raphaels Körper an meinem, fuhr durch seine Haare, küsste ihn… FUCK. Ich presste meine Handballen auf meine Augen. Wie hatte ich überhaupt einschlafen können letzte Nacht? Ich wusste es nicht mehr. Ich wusste nicht mehr, wann genau ich die Kontrolle über mein Handeln verloren hatte. Glasklar zeigte mein Hirn mir aber Raphaels glückliches Gesicht, als er mich vor der Haustür des Wohnheims abgeliefert hatte. So losgelöst hatte ich ihn noch nie zuvor gesehen. In diesem Moment war nichts mehr von seiner sonst so schützenden Mauer zu sehen gewesen. Er hatte gestrahlt, geleuchtet, er war so glücklich… Ich nahm die Hände von den Augen und rollte mich auf den Bauch, presste mein Gesichts ins Kissen und versuchte irgendwie klarzukommen mit mir selbst. Ich hatte einen Kerl geknuscht. Und nicht nur Bussi-Bussi-mäßig, sondern full-on frontaler Körpereinsatz, mit allem, was es so zu bieten gab. Das konnte man nicht mehr als Knutschen bezeichnen. Die Stufe hatten Raphael und ich übersprungen. Wir waren vom schüchternen Herantasten gleich ans Eingemachte gegangen und hatten direkt rumgemacht. Rumgemacht. Wie notgeile Fünfzehnjährige. Wie richtig notgeile Fünfzehnjährige. Seit wann war mein Hirn wieder auf dem Stand eines Teenagers? Ich wusste nicht, was mich mehr schockierte: die Tatsache, dass ich mit einem anderen Kerl rumgemacht hatte, oder dass Raphael seinen eigenen — und nicht gerade unerheblichen — Teil zu dieser kleinen Aktion beigetragen hatte. Das war die zweite Sache, die mich ungemein beschäftigte. Raphael hatte mich geküsst. Er hatte das alles begonnen. Ich versuchte, irgendwie logisch an die ganze Geschichte heranzugehen und sie mir möglichst pragmatisch zu erklären, aber daran scheiterte ich ziemlich kläglich. Warum würde Raphael mich küssen? Warum wohl würde er dich knutschen, Rohlfing?, fragte ich mich. Ist doch glasklar: Er steht auf dich. Er ist aller Wahrscheinlichkeit nach… schwul. Ich setzte mich auf und schwang dabei die Beine vom Bett. Logisch, dachte ich. Warum sollte er denn sonst so etwas machen? Wegen einer Wette? Quatsch. Mit wem sollte er denn eine solche Wette füh— Mir wurde zugleich heiß und kalt und ich wusste nicht, ob ich bitter lachen oder einfach — so stinksauer wie ich war — zu Hulk mutieren sollte. Hatte Fernando mir nicht erzählt, man könne jeden Kerl umdrehen, sogar mich? Was, wenn er mit Raphael gewettet hatte? Was, wenn das alles nur ein großes, dummes Spiel gewesen war und die beiden sich gerade irgendwo zusammen fast ins Koma lachten? Doch ehe ich mich ernsthaft in dieser Theorie festbeißen konnte, schob ich den Gedanken an eine Wette zwischen Raphael und Fernando beiseite. Fernando würde keine Wette auf meine Kosten abschließen, zumindest nicht, wenn es um meine Sexualität… oder so… ging. Und Raphael schon gar nicht. Warum sollte er das auch tun? Außerdem… so glücklich, wie er ausgesehen hatte, das hatte er bei bestem Willen nicht geschauspielert. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war halb sechs in der Frühe. Ich staunte für einen kleinen Moment nicht schlecht. Normalerweise befand ich mich um diese Uhrzeit noch in einer Tiefschlafphase. Es war stockduster in meinem Zimmer, nur das Licht der Laternen draußen erhellte den Raum ein wenig. Als ich einen Blick aus dem Fenster warf, stellte ich fest, dass es über Nacht wohl wieder geschneit hatte. Ich fing an, in meinem Zimmer auf- und abzulaufen. Na, wunderbar. Da hatte ich mich ja mal wieder in eine Top-Situation manövriert. Es sollte Handbücher für Lebenssituationen geben: Ich bin eigentlich hetero — zumindest glaube ich das — und habe trotzdem einen anderen Mann geküsst. So lösen Sie Ihr Problem in fünf Minuten oder weniger! Das Handbuch für alle Verwirrten und Unentschlossenen! Ugh, da konnte ich mir auch gleich die Kugel geben. Ich fuhr meinen Laptop hoch und stellte meine Musik-Bibliothek auf Shuffle. Obwohl mir gerade nach einer betäubenden Lautstärke war, beließ ich es bei einer Lautstärke, die keinen meiner Mitbewohner unnötig aus dem Schlaf holen würde. Und dann begann ich mein Zimmer aufzuräumen. So war das mit uns Rohlfings: Wenn wir mental gestresst waren, putzen und räumten wir auf. Während ich die Papierablagefächer in einem meiner Schreibtischregale ausmistete, dachte ich weiter darüber nach, was genau dieser Kuss — oder vielmehr diese Küsse, die es ja gewesen waren — für mich bedeuteten. Hieß das jetzt, dass ich schwul war? Und wenn ja, warum dann erst jetzt? Immerhin hatte ich vorher immer nur etwas mit Frauen gehabt und es war auch nie so gewesen, dass mir etwas gefehlt hatte oder so… und überhaupt, machte es denn Raphael auch gleich… schwul? Aber wenn er schwul wäre, dann hätte ich das doch gewusst. Oder nicht? Warum sollte er mir so etwas nicht erzählen? Andererseits, warum sollte er es mir erzählen? Sexualität war eigentlich nie eines unserer Gesprächsthemen gewesen und ich war irgendwie immer davon ausgegangen, dass er hetero war. Gedankenversunken starrte ich auf ein Übungsblatt aus den Tagen meiner Methodenvorlesungen. Warum sollte Raphael sich denn… warum sollte er etwas von mir wollen? Er wusste doch, dass ich eigentlich hetero war. So toll war ich dann auch wieder nicht, dass jemand, der homosexuell war, sich in mich verschießen würde. Irgendwie ergab das für mich alles keinen Sinn. Ich knüllte das Übungsblatt zusammen und warf es über die Schulter. Es klopfte an der Tür und als ich mich umdrehte, streckte Fernando gerade seinen Kopf herein. Seine Locken sahen aus wie ein Haufen Fussilinudeln, nur… wirrer. Draußen war es mittlerweile hell und meine Füße waren zu Eisklötzen gefroren, weil ich mir keine Mühe gemacht hatte, mich umzuziehen, bevor ich mit dem Aufräumen angefangen hatte. »Alter, Adrian«, sagte er und machte große Augen. »Was geht denn mit dir?« »Gar nichts«, murmelte ich, als ich mich wieder meiner Arbeit zuwandte. Mein Gott, wann hatte ich denn so viel Papier angesammelt? Das war eindeutig Messi-Verhalten. Ich hörte, wie Fernando ins Zimmer kam. Sein Kopf schob sich in mein oberes Blickfeld. »Das ist nicht ›gar nichts‹. Erstens bist du so früh schon wach und so wie es aussieht, sitzt du hier schon eine ganze Weile, und zweitens sortierst du nur so gründlich, wenn es bei dir ordentlich brodelt hier drin.« Er tippte dabei mit der Fingerspitze gegen meine Schläfe. Ich neigte dem Kopf, um der Berührung zu entkommen. »Es brodelt wenn, dann hier vorn, du Noob«, meinte ich nur und tippte mir bedeutend gegen die Stirn. Fernando ließ sich neben mir sinken. Ich warf ihm einen Blick zu. Er grinste breit, verdrehte aber die Augen, als ich ihn ansah. »Es gibt nun mal funktionelle Unterschiede zwischen dem Frontal- und dem Temporallappen«, klugscheißerte ich und kam nicht umhin, ein bisschen stolz auf mich zu sein. »Ja, ja. Es brodelt halt in deinem präfrontalen Cortex, du Smartass«, erwiderte er amüsiert. Ich konnte mir ein kleines Grinsen ebenfalls nicht verkneifen. Er griff nach ein paar aussortierten Blättern. »Also, was ist los in deinem Frontallappen?«, wollte er dann wissen, bevor er die Papiere wieder weglegte und mich aufmerksam anschaute. Ich hasste es, so klar definierbare Macken zu haben. Man konnte daraus lesen wie aus einem offenen Buch. Vielleicht war dieser Aufräum-Fimmel sogar zwangsneurotisch…? Das sollte ich beizeiten mal untersuchen lassen. »Stau«, sagte ich nur, als ich Fernando stirnrunzelnd anschaute. »Ich hab so große Prüfungsangst, dass ich jetzt schon einen Black Out habe.« Fernando boxte mir gegen den Oberarm. »Laber nicht. Ich weiß doch, dass du irgendwas hast. Ich kann mich noch ziemlich genau erinnern, was du mir darüber erzählst hast, als du das letzte Mal so eine Aktion durchgeführt hast.« Ich wedelte mit beiden mit Papierstapeln beladenen Händen vor seinem Gesicht rum. »Ja, das letzte Mal ist schon eine Weile her, kein Wunder, dass nichts mehr in die Ablage passt. Ich bin voll der Papier-Messi!« »Du lenkst vom Thema ab«, sagte Fernando nur und hob wissend die Augenbrauen. Ich ließ die Arme und Schultern sinken, während ich ihn anschaute. Manchmal war es ziemlich nervig, wenn jemand einfach nicht locker lassen konnte. War es denn nicht offensichtlich genug, dass ich nicht darüber reden wollte? Fernando würde sich dann wahrscheinlich nur in seiner kleinen Theorie — der, dass man jeden Kerl, auch mich, umdrehen konnte — bestätigt sehen und vermutlich direkt eine Abhandlung verfassen. Offenbar merkte Fernando, dass ich jetzt nicht in Stimmung war, um über die Vorgänge in meinem präfrontalen Cortex zu sprechen, denn er schlug ein anderes Thema an. »Nachher Mittagsschnaps bei Christie. Bist du dabei?«, fragte er. Beinahe lachte ich los. Mittagsschnaps. Das hatten wir auch schon lange nicht mehr gemacht. Ich konnte mich nicht mal mehr wirklich daran erinnern, woher genau das kam. Allerdings handelte es sich dabei um nicht mehr, als gemeinsames Mittagessen bei Christie, zu dem jeder etwas beitrug, bei dem wir uns in aller Ruhe unterhielten und eben Mittagsschnaps tranken. Was an und für sich schon ziemlich schwach war. Wer trank denn schon Hochprozentigen vor dem späten Abend? Die Säufer-Studenten vom Dienst, natürlich. »Klar. Was bringen wir mit?«, fragte ich, als Fernando sich wieder erhob. »Tagliatelle in Lachssahnesauce«, antwortete er. »Ich geh gleich einkaufen. Die Rechnung können wir ja dann heute Abend oder so teilen.« Ich half Fernando später dabei die Tagliatelle zuzubereiten, bevor wir uns gemeinsam auf den Weg zu Christie machten. Bis dahin hatte ich es sogar geschafft, meinen Schreibtisch auszumisten, den Mülleimer zu leeren, meine Dreckwäsche zu waschen und einen Ordner für meine Unterlagen aus dem letzten Semester anzulegen. Ich hatte fast vergessen, wie groß und geräumig mein Zimmer eigentlich war, wenn ich es sauber hielt. Simon öffnete uns die Tür. Er hatte Ischias auf dem Arm, was wohl darauf hindeutete, dass die beiden jetzt beste Freunde waren. Ischias kläffte aufgeregt, als er uns sah. Ich streichelte ihm kurz über den Kopf, während Fernando sich die Schuhe von den Füßen kickte und den riesigen Topf mit den Nudeln in die Küche trug. »Wie war die Party gestern?«, fragte Simon, als ich mir die Jacke auszog. Er setzte Ischias wieder ab. Ich erstarrte bei der Frage fast. Mein Herzschlag stolperte für einen Moment und ich konnte erneut die Hitze in meinem Körper spüren. Ich setzte ein unverbindliches Lächeln auf, als ich mich Simon zuwandte. »War ganz okay«, antwortete ich, hängte meine Jacke auf und zog meine Schuhe aus. Ich folgte Simon in die Küche — und rannte dabei prompt in Raphael. Für einen Augenblick fühlte ich mich ziemlich wackelig, als die Erinnerung an die vergangene Nacht wieder in all ihrer Intensität an mir vorüberrauschte. Für einen kleinen Moment wurde ich in den Club zurückversetzt. Meine Haut kribbelte wahnsinnig und für den Bruchteil eines Herzschlags wünschte ich mir nichts mehr, als Raphael an mich zu ziehen und ihn wieder zu küssen, als sich wieder dieses glückliche Lächeln auf seinen Lippen ausbreitete. Die freudige Erwartung in seinen Augen zu sehen, tat beinahe physisch weh. Für ihn schien die Welt in Ordnung zu sein. Ich wich seinem Blick aus. Warum ist mir eigentlich nicht in den Sinn gekommen, dass Raphael natürlich auch hier sein würde? Er gehörte immerhin schon zur Clique. Ich fuhr fast zusammen, als es an der Tür klingelte. Als ich den Blick wieder hob, hatte sich Raphaels Gesichtsausdruck verändert. Er lächelte nicht mehr, er sah auch nicht mehr so aus, als würde er irgendeine entgegenkommende Reaktion von mir erwarten. Erkenntnis lag in dem Ausdruck seiner Augen; die Erkenntnis, dass eben nicht alles klar und in Ordnung war. Es hatte ihn bitter getroffen. Raphael war zwar gut darin seine Gedanken und Gefühle vor anderen zu verstecken — und er tat es auch jetzt — aber ich konnte es sehen. »Ich mache die Tür auf«, sagte ich schnell und drehte mich um. Jede noch so kleine Tätigkeit, die mich davon abhielt, mich mit Raphael konfrontiert zu sehen, war mir nur allzu sehr willkommen. Mimi strahlte mir entgegen, als ich die Tür öffnete. Natürlich, Mimi war auch Teil der Gang. Sie hatte etwas wie eine Auflaufform in den Händen. »Ich hab Kaffeetiramisu!«, informierte sie mich fröhlich, als sie in den Flur trat. Ich nahm ihr die Form ab und sie gab mir einen Kuss auf die Wange. Hinter mir hörte ich, wie Raphael Mimi begrüßte. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. »Ich bring das mal in die Küche«, murmelte ich hastig, bevor ich versuchte zu fliehen. Dumm nur, dass alle von der Küche ins Wohnzimmer umgesiedelt waren, denn nachdem ich das Tiramisu in den Kühlschrank verfrachtet hatte und mich zu den anderen gesellen wollte, blockierte Raphael die Tür. Offenbar musste er das… das zwischen uns — was auch immer es war — zur Sprache bringen. »Adrian«, sagte er leise und ruhig. Dabei klang es, wie eine dringende Frage und zur selben Zeit so, als würde er alle Antworten schon kennen. Es fiel mir unglaublich schwer, ihn anzusehen. Wie sollte ich jetzt ein Gespräch mit ihm führen? Einen Haufen der Fragen, die er mir vermutlich stellen würde, konnte ich nicht einmal mir selbst beantworten. Was hatte das gestern zu bedeuten? Ich weiß es nicht. Warum hast du es getan? Keine Ahnung. Wie ist es passiert? Wenn ich das nur wüsste... Ich warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Warum wollten eigentlich immer alle reden? Doch noch einer von uns beiden etwas sagen konnte, rief Christie zum Essen. Das war das Beste, das mir in diesem Moment passieren konnte. Ich drückte mich an Raphael vorbei und setzte mich im Wohnzimmer an den Tisch. Christie und Simon hatten Salat gemacht und der Topf mit den Tagliatellen von Fernando und mir stand in der Mitte des Tischs. Ich übernahm das Auffüllen der Teller und Raphael reichte mir das Geschirr und nahm es mir auch wieder ab. Jedes Mal, wenn unsere Finger sich berührten, schickte mein Hirn heißkalte Schauer meinen Rücken hinab. Ich klinkte mich bei den Gesprächen vollkommen aus und versuchte konzentriert, nur auf mein Essen zu achten. Leider waren Nudeln in Lachs nicht gerade spannend. Außerdem saß Mimi neben mir und unterhielt sich sehr angeregt mit Raphael, sodass sein Blick mich ständig streifte. Es trieb mich fast in den Wahnsinn. An einem Punkt wollte ich ihn verzweifelt anbetteln, mir ein bisschen Zeit zu lassen, damit ich mit mir selbst klarkommen konnte, aber irgendetwas hielt mich zurück. Was hatte er denn auch davon? Aber bis ich mich auskäsen konnte, hatte Raphael aufgegessen und erhob sich. Es gab laute Proteste von Christie und Mimi, als er gehen wollte, doch er tat es mit einem einnehmenden Lächeln ab und sagte, er habe noch viel zu tun und Chemie lernen sei gerade oberste Priorität. Mimi konnte ihn nicht einmal mit Tiramisu locken. Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte, dass Raphael gegangen war, oder nicht. Insgeheim beschloss ich, nicht weiter darüber nachzudenken, weil es mich wohl nur noch mehr verwirrt hätte. »Du hast ihn vergrault, Adrian«, schnaubte Christie, bevor sie ihr kleines mit irgendetwas Hochprozentigem gefülltes Glas zum Prosten anhob. Wir taten es ihr gleich. Gut, dass ich noch nicht getrunken hatte, sonst hätte ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach verschluckt und wäre jämmerlich krepiert. Dafür fiel mir aber fast das Glas aus der Hand. »Was?« Das klang selbst für meinen Geschmack zu hysterisch und zu hoch. »Blödsinn.« »Habt ihr Ärger im Paradies oder…?«, fuhr sie fort, nachdem sie das Glas geext hatte. Ich konnte fühlen, wie Hitze in mir aufstieg. Was wusste sie? Hatte Raphael ihr etwas erzählt? Oder war das Christies schwule Intuition? Fernandos Intuition schien ja gerade nicht so richtig zu funktionieren… »Wovon redest du eigentlich?«, fragte ich. Das war ein ziemlich erbärmlicher Versuch, mein Problem unter den Teppich zu kehren. »Ach, komm schon«, meinte sie und sah mich direkt an. »Ihr habt heute so gut wie kein einziges Mal miteinander gesprochen. Das war ja fast gruselig.« Zu allem Überfluss sah Fernando sich offensichtlich verpflichtet, seinen Senf dazuzugeben. »Er hat sein Zimmer aufgeräumt. Heute um acht«, erklärte er. Dann tippte er sich gegen die Stirn. »Präfrontaler Cortex.« Ein einvernehmliches und bedeutungsschweres »Ooooooooh« machte die Runde. Jeder von uns hatte an dem ein oder anderen Punkt seines Studiums etwas mit funktioneller Neuroanatomie zu tun gehabt, daher konnte auch jeder etwas mit diesem Begriff anfangen. Ich konnte mir ein tiefes, halb genervtes Aufseufzen nicht verkneifen. »Also?«, stieg nun auch Mimi in die Unterhaltung ein und sah mich auffordernd an. »Nichts ›also‹«, erwiderte ich nur. Vier Augenpaare richteten sich auf mich und ich wusste, dass mein Untergang besiegelt war. Hier würde ich nicht lebend wieder herauskommen, wenn ich nicht sofort auspackte. »Wirklich?«, fragte Fernando. »Willst du das wirklich durchziehen?« Ich sah jeden einzelnen von ihnen einmal kurz an. Dann ließ ich mein Besteck auf den Teller fallen, hob die Hände und sagte so schnell ich konnte: »Raphael und ich haben uns geküsst.« Für eine geschlagene Minute herrschte Stille. »Du hast Raphael geküsst?«, fragte Fernando dann und sah dabei aus, als könne er sich nicht ganz entscheiden, ob er das für toll befinden oder ob er es als Scherz verbuchen sollte. »Eigentlich hat Raphael mich geküsst und ich… hab ein bisschen… zurückgeküsst…«, erwiderte ich drucksend und starrte auf meine Hände, die ich mittlerweile wieder sinken lassen hatte. »Warte, warte, warte, warte«, wandte Simon dann ein. »Wieso hat Raphael dich geküsst? Ich meine… warum sollte er das machen?« Christie stöhnte, als wären wir strohblöd und als wäre die Antwort offensichtlich. »Warum sollte er das wohl tun?« »Weil… er sexuelle Frustrationen hat und Adrian zierlich genug ist, um mit ein bisschen Make-Up und anderen Klamotten als Mädchen durchzugehen?«, schlug Fernando stumpfsinnig vor. Mein Protestgeschrei ging kommentarlos unter, weil Simon sich mit seinem Gelächter kaum zurückhielt. Mimi tätschelte meine Schulter, schien sich allerdings ebenfalls ziemlich darüber zu amüsieren. Nur Christie schien es kein Stück witzig zu finden. Sie verdrehte die Augen. »Warum knutscht Fernando andere Typen?«, warf sie dann ein. »Fernando springt sowieso jedem ans Bein, wenn man nicht aufpasst«, sagte ich, woraufhin Fernando mich geräuschlos nachäffte. Ich streckte ihm die Zunge aus, Simon lachte immer noch und Mimi verdrehte diesmal gemeinsam mit Christie die Augen. »Seid ihr eigentlich wirklich so bescheuert oder tut ihr nur so?«, wollte Christie genervt wissen. Fernando, Simon und ich sahen uns abwechselnd an. Ich war offensichtlich nicht der einzige, der komplett auf dem Schlauch stand. »Ich glaube, die Betonung liegt auf ›Typen‹ und nicht auf dem ›Warum‹«, erbarmte Mimi sich schließlich und lächelte nachsichtig. Einen Moment lang schwiegen wir weiterhin, doch dann begann es mir — und ein Blick in Simons und Fernandos Gesicht verriet mir dasselbe — zu dämmern. »Raphael ist… schwul?«, fragte Fernando ungläubig. Er sah von Christie zu Simon zu Mimi zu mir, als erwartete er, dass wir in schallendes Gelächter ausbrachen. Beinahe wartete ich auch darauf, dass jemand anfing zu lachen, aber die Sekunden verstrichen und es tat sich nichts. Ich hatte ja schon zuvor darüber nachgedacht, aber dass es jetzt so offen auch vor den anderen zur Sprache kam… »Tut doch nicht so überrascht«, meinte Christie schließlich, als wäre es keine große Sache. Ich starrte sie ein wenig perplex an. Warum sollten wir nicht überrascht sein? In all der Zeit, in der ich Raphael kannte — und zugegeben, so lange kannte ich ihn noch nicht — war ich nie davon ausgegangen, er wäre schwul. Nicht, dass es mich gestört hätte, aber… woher wusste Christie das überhaupt? Als sie unsere verständnislosen Blicke bemerkte, gab sie ein kurzes »Oh« von sich. »Ich dachte, er hätte es euch erzählt…« »Moment«, sagte ich und beugte mich über den Tisch. »Du hast es gewusst? Wie lange? Woher?« Christie zuckte mit den Schultern. »Schon eine Weile. Wir haben uns mal unterhalten und dann ist es halt zur Sprache gekommen und er hat‘s erwähnt und … joa…« »Und du hast uns nichts gesagt?«, fragte Fernando fassungslos. Er klang so, als hätte Christie die schlimmste aller Straftaten begangen. Sie zuckte wieder nur die Schultern. Irgendwie schien die gesamte Situation überhaupt nicht zu wundern, aber vielleicht hatte sie aufgrund ihres Wissens schon mit so einer Neuigkeit meinerseits gerechnet. Ich konnte es nicht genau sagen. »Wie gesagt, ich dachte, ihr würdet es wissen«, meinte sie unbeeindruckt. »Außerdem… es ist wirklich nicht meine Aufgabe euch solche Dinge zu erzählen. Es wird schon einen Grund haben, warum Raphael euch nichts gesagt hat.« Wir verfielen alle für einige Minuten in Schweigen. Raphaels sexuelle Gesinnung stand nun also außer Frage, blieb noch meine zu klären. Trotzdem half mir das nicht gerade weiter. Warum sollte er etwas von mir wollen? Er wusste doch, dass ich auf Frauen stand… eigentlich. Ich wusste, es gab Leute, denen war das egal, wie das Objekt ihrer Begierde gepolt war, aber Raphael hatte nie etwas getan, dass darauf hatte schließen lassen, dass er… na ja, dass er mich irgendwie… umdrehen wollte. »Wenn ihr euch geküsst habt… zu was macht euch das denn jetzt?«, brach Simon die Stille und schaute mich aufmerksam an. »Ich meine, bisher hast du ja nie… und so.« »Es macht uns zu gar nichts«, antwortete ich langsam. »Sag nicht, du hast ihm Hoffnungen gemacht und ihm dann gesagt, dass es nur… was weiß ich, was es war… war«, meinte Mimi dann. Sie betrachtete mich streng. Es war ein wenig eigenartig, sich mit meiner Ex-Freundin darüber zu unterhalten. Ich verscheuchte den Gedanken. Ich hatte mir vorgenommen, Mimi nicht mehr als meine Ex-Freundin zu bezeichnen. Wir waren Freunde. Punkt. »Ich denke nicht, dass ich ihm Hoffnungen gemacht habe…«, sagte ich und erwiderte ihren Blick, obwohl eine ziemlich laute Stimme in meinem Kopf »LÜGE!« schrie. Wir hatten uns geküsst, aber… konnte man das als Hoffnung machen bezeichnen? Einvernehmliches Seufzen war die Reaktion auf meine Antwort. »Ihr habt euch geküsst… und dann?«, fragte Christie nun. »Dann haben wir uns verabschiedet und dann… präfrontaler Cortex«, meinte ich kleinlaut. »Kein Wunder, dass er sich heute so schnell verzogen hat«, murmelte Fernando. Ich musste wohl nicht erklären, was genau vorgefallen war. Die vier konnten die Situation offenbar perfekt einschätzen und hatten eine genaue Vorstellung von dem, was ich angerichtet hatte. Immerhin schien Raphael in guter Stimmung gewesen zu sein, bevor ich hier aufgetaucht und ihm vor Augen geführt hatte, dass nicht alles in Butter war. Mimi griff nach der Schnapsflasche und schenkte uns alle nach. Wortlos kippten wir das Gesöff runter, bevor sie eine weitere Runde ausschenkte. »Warum hast du ihn geküsst?«, fragte Mimi mich, während sie ihr Glas zwischen den Fingern drehte. Ich starrte in die klare Flüssigkeit in meinem eigenen Glas, als könnte ich darin die Antwort finden. Als ich den Blick wieder hob und antworten wollte, fügte Mimi hinzu: »›Ich weiß nicht‹ gilt nicht.« Damit waren meine Antwortmöglichkeiten stark eingegrenzt. Ich atmete tief durch. Es war gar nicht so einfach, die richtige Antwort darauf zu finden. Ich hatte ihn in der Hitze des Augenblicks geküsst. Ich hatte ihn geküsst, weil ich mich gefragt hatte, wie es sich anfühlen würde. Ich hatte ihn geküsst, weil ich dieses rundum positive Gefühl gespürt hatte. Ich hatte ihn geküsst, weil ich es wollte. »Weil… ich wollte«, antwortete ich schließlich wahrheitsgemäß. »Ich weiß auch nicht, was genau los ist. Seit einiger Zeit sehe ich Raphael nicht mehr so, wie ich… Simon sehe oder Fernando oder irgendeinen anderen Kerl.« Keiner meiner Freunde sagte etwas. Stattdessen erntete ich verständnisvolle Blicke von den Mädchen und Simon und Fernando... schauten wie zwei Autos. »Macht mich das schwul?«, fragte ich dann ein wenig verzweifelt. »Warum erst jetzt? Ich meine, ich hatte Beziehungen mit Frauen und es ging mir immer gut dabei. Ich hatte nie das Gefühl, dass mir etwas fehlt oder dass ich eigentlich etwas anderes möchte oder so.« Simon zog die Schultern an die Ohren. »Es gibt viele Männer, die erst später beziehungsweise spät in ihrem Leben feststellen, dass sie eigentlich schwul sind.« »Es ist doch egal, warum es jetzt erst kommt«, meinte Fernando. »Außerdem kannst du auch ebenso gut bi sein. Darum geht es aber gar nicht. Es geht darum, ob es für dich tatsächlich so schrecklich ist, auch auf Männer zu stehen.« »Bullshit«, sagte Christie kopfschüttelnd. »Es geht darum, was Adrian für Raphael empfindet. Alles andere ist absolut zweitrangig.« Sie schauten mich alle aufmerksam an. »Was ist dein Problem, Adrian?«, fragte Mimi leise. Sie strich mit den Fingerspitzen an der Schläfe durch meine Haare. Ich seufzte kurz. Gute Frage. Ich wusste selbst nicht, was mein Problem war. Es war einfach zu viel auf einmal. Es war ja nicht einmal so, dass es mich störte, dass Raphael ein Kerl war. Es ging auch nicht darum, dass es nach all der Zeit auf einmal doch schwul oder bi sein sollte. Ich war vermutlich einfach viel zu überrascht davon und… unerfahren? Dass Raphael sich zu mir offensichtlich genauso hingezogen fühlte wie ich zu ihm, kam auch ziemlich unerwartet. »Reiß dich am Schlüpper, Rohlfing«, sagte Christie. Sie hob ihr Glas. »Mach aus der Bromance ‘ne Romance.« Egal, wie sehr ich auch versuchte, nicht zu grinsen. Es gelang mir nicht. Wir hoben alle unsere Gläser, prosteten kurz und exten den Alkohol. Der Schnaps brannte in der Kehle, was niemanden daran hinderte noch einen zu trinken… und noch einen und noch einen und noch einen. »Weißt du, ich würde schwul für dich werden«, sagte Simon irgendwann zu mir. Christie rammte ihm mit einem protestierenden »Hey!« den Ellbogen zwischen die Rippen. Simon schnappte kurz nach Luft. »Na ja, wenn ich nicht schon eine tolle Freundin hätte… du weißt schon.« Mimi lehnte ihre Stirn gegen meine. »Wenn es Fernando wäre, würde ich dich ins Koma ohrfeigen. Das weißt du, oder?«, meinte sie mit einem breiten Grinsen. »Aber Raphael…« Mimi zog eine zufriedene und befürwortende Schnute, während sie leicht nickte. Es hätte mich eigentlich nicht wundern sollen, dass meine Freunde es geschafft hatten, mich aus meiner selbsterschaffenen Misere zu holen. Als Fernando und ich später — es war schon dunkel draußen — auf dem Weg nach Hause waren, warf er mir immer wieder Seitenblicke zu, bis ich ihn schließlich fragte, was los sei. Er grinste dreckig. »Und du wurdest doch umgedreht«, sagte er, bevor er wieder seine perverse Lache hören ließ. »Ach, halt’s Maul.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)