Phönixasche von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Billardspiele & Medizinstudenten ------------------------------------------- Da hätten wir auch schon das erste Kapitel. Dieses Kapitel spielt vor dem Prolog. _________________________________________________ BILLARDSPIELE & MEDIZINSTUDENTEN »Die Drei in die Ecktasche«, sagte ich, als ich den Queue ansetzte. Ich beugte mich über den Billardstock, dessen Spitze ich mir über die Beuge zwischen Daumen und Zeigefinger gelegt hatte. Gerade strich ich meine Lorbeeren ein, war auf einem Siegeszug, doch in dem Moment, als ich die weiße Kugel anstoßen wollte, öffnete sich die Eingangstür zum Club, die sich direkt in meinem Blickfeld befand. Herein kam ein Kerl mit blonden Wuschelhaaren mit zwei seiner Freunde. Ich hatte ihn in den letzten zwei Wochen öfter hier gesehen, aber er war neu. Vorher war er hier nie aufgetaucht. Es war nicht so, dass er mir noch nie aufgefallen war — die Besucher dieses Clubs waren allesamt Stammleute. Und ein neues Gesicht stach immer aus der Menge hervor. Ich traf die Weiße falsch und versemmelte meinen Zug. Die Drei eckte an, fiel aber nicht in die Tasche. Seufzend streckte ich mich wieder, während mein Kumpel Fernando zufrieden grinste. Er hatte schon befürchtet, ich würde meine Kugeln alle vom Tisch fegen, ehe er loslegen konnte. Ich setzte das breite Ende des Queues auf den Boden und griff nach dem kleinen Kreidewürfel, der auf dem Rand des Billardtischs stand. Während Fernando summend abschätzte, welche seiner Kugeln er anvisieren sollte, folgte ich mit den Augen unserem neuen Gesicht und kreidete dabei die Spitze des Queues ein. »Die Sechs in die Seitentasche«, meinte Fernando und lenkte damit meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich sah ihm dabei zu, wie er den Stab in Position brachte, mit einer Präzision, die mich an meinen eigenen Fähigkeiten zweifeln ließ. Seine Augen verengten sich ein kleines Stück, als er die Weiße ins Visier nahm. Ich legte mein Kinn auf der Spitze meines Billardstabs ab, hob ihn aber schnell, als mir einfiel, dass ich ihn gerade erst eingekreidet hatte. Kurz verzog ich das Gesicht und wischte mir mit dem Handrücken die Kreide vom Gesicht. Die Sechs landete mit einem — für Fernando — zufriedenstellenden Clack! in der Seitentasche. Fernando schnalzte munter mit der Zunge, als er den Tisch umrundete, um die nächste Kugel zu versenken. Wenn ich Pech hatte, würde er mich heute wieder abziehen. Trotzdem hob ich wieder den Blick und suchte den Raum mit den Augen nach dem Neuen ab. Er stand mit seinen beiden Freunden an einem Billardtisch auf der anderen Seite des Raums, wo bereits zwei andere Kerle spielten. Aber offensichtlich kannten sie sich alle untereinander, so kam es mir zumindest vor, da sie sich miteinander unterhielten. Als ich hörte, wie eine Kugel in einer der Taschen landete, wandte ich den Blick wieder Fernando zu. Seine Augen leuchteten, als er sich den Tisch ansah. Seufzend fuhr ich mir durch die Haare. Wenn er nicht bald verkackte, würde ich den nächsten Monat seine gesamte Schmutzwäsche mitwaschen — und da waschen nicht gerade mein größtes Hobby war, war es mir lieb, wenn ich gewann. »Streck deinen Arsch nicht so raus, sonst fallen sie dich alle an«, sagte ich zu ihm, was Fernando so aus der Fassung brachte, dass die Spitze seines Queues beim Anstoß abrutschte und er seinen Zug vermasselte. Ich grinste verkniffen in mich hinein, als er sich aufrichtete und mich mit einer Mischung aus Ärger und Amüsement ansah. Eigentlich war es so etwas wie eine Sensation, dass er sich so aus der Bahn werfen ließ. Normalerweise war Fernando in allem, was er tat, so konzentriert, dass es nahezu unmöglich war, ihn abzulenken. Was gerade der Grund dafür gewesen war, konnte ich nicht genau sagen. Er schnaubte. »Du solltest besser aufpassen, dass ich dich nicht anfalle.« Ich musste lachen. »Vergiss nicht, dass du das schon mal versucht hast«, erinnerte ich ihn schelmisch. »Auf Katrins Party, als du ein paar Tequila und ein paar Kräuter zu viel intus hattest.« Fernando schnaubte wieder. »Selbst Schuld. Da hast du nämlich deinen Arsch sündhaft verlockend rausgestreckt.« »Daran kannst du dich noch erinnern? Hast du nicht was von totalem Blackout erzählt?«, stichelte ich grinsend. Fernando fuhr sich mit einer Hand durch den dunklen Lockenschopf. Er zuckte gespielt unschuldig die Schultern und sah dabei aus wie ein kleiner Junge, der gerade etwas berissen hatte. »Die schmackhaften Details sind alle hier oben eingebrannt«, erklärte er mir und tippte sich dabei mit zwei Fingern an seine Schläfe. Mühsam verkniff ich mir ein lautes Auflachen. Wenn man sich einmal damit abgefunden hatte, dass ein anderer Kerl, mit dem man befreundet war, schwul war, dann war es eigentlich gar nicht so schwer, sich mit ihm darüber zu unterhalten, seine Witzchen zu machen oder sich anzuschwulen, auch wenn man selbst überzeugt heterosexuell war. Vielleicht ging es nicht allen so — und ich hatte anfangs auch meine Probleme damit gehabt, dass Fernando schwul war —, aber die sexuelle Gesinnung machte aus einer Person im Endeffekt keinen anderen Menschen, sondern genau zu dem, der er war. »Ach?«, erwiderte ich mit wippenden Augenbrauen. »Es gibt eben Situationen, die einen schlagartig ausnüchtern lassen — und wenn auch nur für wenige Augenblicke«, sagte Fernando nickend, als würde das seine Aussage verstärken. Ich lachte leise in mich hinein, während ich um den Tisch herumging und mir eine Kugel aussuchte. Wenn Christie hier gewesen wäre, hätte sie Fernando wahrscheinlich lauthals widersprochen, die elende Medizinstudentin. »Dein rausgestreckter Arsch war so ein Ernüchterungsfaktor.« »Oha«, ließ ich verlauten, als ich stehen blieb und senkte den Blick auf die Kugel, die ich zum Versenken auserkoren hatte. »Und soll ich das jetzt positiv oder negativ auffassen?« Ich warf Fernando einen Blick zu, aber seine Miene war völlig undurchsichtig. Er grinste verwegen, doch eine Antwort gab er mir nicht. Dann konzentrierte ich mich auf die Kugel, stieß die Weiße an und ließ eine von meinen in eine der Taschen segeln. Innerhalb der nächsten Minuten klärte ich den Tisch und schob die Acht hinterher. Fernando stöhnte entnervt, als er sich zwangsläufig geschlagen geben musste. Das hieß, dass er meine Wäsche einen Monat lang waschen musste. Ihm machte das aber bei Weitem weniger aus als mir, da er das durch seine Familie schon gewohnt war. Sein Vater war früh gestorben, also hatte er als ältestes Kind der Familie diese Rolle übernommen und um seiner Mutter zu helfen, teilweise auch den Haushalt geschmissen. Ob er also nur seine oder auch meine Wäsche wusch, war ihm im Prinzip total schnuppe. Fernando warf einen Blick auf die Uhr. Dann legte er seinen Queue auf den Tisch. »Ich muss los«, meinte er. »Sieh mich nicht so anklagend an. Ich muss morgen im Gegensatz zu dir früh raus.« Ich sah ihm dabei zu, wie er sich die Jacke überwarf und den letzten Schluck seines Biers aus der Flasche trank, ehe er sich von mir verabschiedete. Nachdenklich kratzte ich mich am Hinterkopf, dann nahm ich mein Glas, das ich auf dem Rand des Tischs abgestellt hatte, und trank etwas. Ich hatte gerade beschlossen, auch zu gehen, als eine fremde Hand nach Fernandos abgelegtem Queue griff. Als ich dem Arm folgte, sah ich ins Gesicht des Neuen, der mich neugierig anschaute. »Bist du frei?«, wollte er wissen und sah mich aufmerksam an. Ich glotzte wie ein Auto. »Was?« Er grinste verlegen. »Ich meine, hast du Lust auf ein Spiel?« Ach so. »Ja«, antwortete ich; es war das erste, was mir einfiel. »Klar.« »Cool«, meinte er, dann holte er das Formdreieck hervor und legte es auf den Tisch. Zusammen holten wir die Kugeln aus den Taschen. Ich warf ihm dabei verstohlene Blicke zu. Es war das erste Mal, dass ich mit ihm sprach und ihn aus direkter Nähe sah. Außer hier im Club hatte ich ihn auch in der Uni gesehen, da hatten wir eine Lesung zusammen. Wir legten die Kugeln ins Dreieck und bevor wir die Form entfernten, drehte er die Acht zwischen den anderen Kugeln. Danach hob er vorsichtig das Dreieck an und hängte es zurück an den Hacken, der sich seitlich des Tisches befand. »Ich bin übrigens Raphael«, stellte er sich vor und reichte mir über den Tisch hinweg die Hand. Ich ergriff sie. »Adrian«, erwiderte ich. Er drückte meine Hand. »Du bist neu hier, oder?« Raphael lächelte verschwörerisch, als wäre es ein großes Geheimnis, aber dann nickte er. Sein Blick glitt einmal über die Kugeln. Als er die Augen wieder auf mich richtete, rollte ich ihm die weiße Kugel rüber. »Du fängst an«, bestimmte ich, aber Raphael hatte offenbar nichts dagegen einzuwenden. Er platzierte die Weiße ohne groß darüber zu sinnieren und stieß sie kraftvoll mit dem Queue an. Mehrere Clacks folgten aufeinander, als die verschiedenen Kugeln sich gegenseitig anstießen. Zwei davon landeten in je einer Ecktasche. Als ich nachsah, stellte ich fest, dass beides davon Halbe waren. »Hm«, machte Raphael, als er sich die Kugel anschaute, die ich in der Hand hielt, bevor ich sie wieder in die Tasche gleiten ließ. »Irgendwie hab ich was mit den Halben.« »Was meinst du?«, wollte ich wissen, während ich ihn dabei beobachtete, wie er sich die nächste Halbe aussuchte und den Queue anlegte. Er warf mir einen flüchtigen Blick zu, ehe er sich wieder auf das Spiel fokussierte. »In den letzten fünf Spielen, die ich gespielt habe, hatte ich immer die Halben«, erzählte er mir, dann versenkte er eine weitere Kugel in eine der Taschen. Sein Spiel war präzise und scharf. Er überlegte nicht lange, die Stöße seines Queues waren kurz, schnell und kraftvoll. Raphael spielte gut, sicher, schnörkellos. »Gepachtet«, meinte ich nachdenklich und spannte dabei meine Hände über meine Queuespitze. Ein kurzes Grinsen legte sich auf Raphaels Mund, als er mich ansah. Dann spielte er auch schon die nächste Kugel an, die wieder reinging. »Scheint so«, stimmte er mir zu. Der Rest des Spiels verlief ziemlich still. Er sagte nichts, ich sagte nichts. Dafür dauerte es nicht lange. Raphael zog mich ab und ich kam mir neben ihm vor wie ein Anfänger. Ich kam nicht mal zum Zug, weil er eine Kugel nach der anderen versenkte und am Ende die Acht so sicher in die Seitentasche knallte, dass ich mich fragte, wo er gelernt hatte, so zu spielen. Er lächelte mich entschuldigend an, als er sich wieder aufrichtete, und reichte mir die Hand. »Sorry«, meinte er, dann legte er den Queue auf den Tisch. »Man sieht sich.« Damit wandte er sich um und verschwand wieder. Ich schaute ihm kurz nach, dann leerte ich mein Glas, stellte es ab und griff nach meiner Jacke. Nach dieser Niederlage würde ich mich wohl erst mal gar nicht hier blicken lassen können. Ich fuhr mir mit beiden Händen durch die Haare, ging bezahlen und machte mich anschließend auf den Weg nach Hause. Als ich Fernando am nächsten Tag in der Mensa davon erzählte, dass der fremde Neuling mich sauber in die Tasche gesteckt hatte, lachte er sich fast kaputt. Ich grummelte ungehalten, doch Fernando störte sich nicht weiter daran. Er war es gewohnt und ich wusste, dass er es nicht böse meinte. »Ich hätte zu gern dein Gesicht gesehen«, brachte er prustend hervor, während er mit der Gabel in eine Pommes stach, als hätte er Angst, sie würde auf einmal zum Leben erwachen und ihm davonlaufen. »Wie eine Kuh wenn’s donnert.« Die Vorstellung gefiel ihm so sehr, dass er sein Gesicht fast in seinen Teller fallen ließ vor Lachen. Manchmal fragte ich mich, wo Fernando immer seine gute Laune her hatte. Als ich ihn mal danach gefragt hatte, hatte er nur gesagt, es würde in den Genen liegen — und seitdem ich seine Familie kannte, wusste ich, dass es stimmen musste. Sie waren alle sehr ausgelassen und munter, lachten viel und gerne. Ich konnte mich an kein einziges Treffen mit ihnen erinnern, bei dem sie Trübsal geblasen haben. In diesem Moment warf Christie ihre Tasche auf den Tisch und ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen. Sie seufzte tief, dann langte sie rüber und nahm sich eine von Fernandos Pommes. »Was lachst’n so?«, fragte sie kauend und ihr Blick pendelte zwischen Fernando und mir hin und her. Christie hatte sich ihre roten Haare zu zwei Zöpfen gebunden, die ihr über die Schultern fielen. Ich versuchte mir ständig, mir vorzustellen, wie sie so — mit rot gefärbten Haaren, Zungenpiercing, schwarz lackierten Nägeln und leichtem Berliner-Akzent — im weißen Kittel in einem Krankenhaus herumlief, um Patienten zu behandeln. Es war mir bisher kein einziges Mal gelungen. Allerdings täuschte ihr Äußeres über ihre Fähigkeiten und Leistungen hinweg. Sie war eine leidenschaftliche Medizinstudentin. Als wäre sie dafür geboren, als hätte sie schon als Baby nur den einen Plan gehabt, Ärztin zu werden. Fernando schüttelte lachend den Kopf. »Erzähl’s ihr, Adrian«, prustete er amüsiert. »Sie wird sich auch totlachen.« »Was’n erzählen? Worüber werd’ ich mich’n totlachen?«, fragte Christie mit großen Augen. Sie schaute mich an. Wenn sie einen mit so großen Kulleraugen ansah, hätte man meinen können, sie wäre noch ein Kind. Ich fragte mich, ob es nicht besser gewesen wäre, Fernandos Lachflash als Hallu abzutun, aber er hätte es ihr vermutlich so oder so erzählt. Dann konnte ich das auch gleich selbst in die Hand nehmen. »Ich wurde gestern Abend beim Billard abgezogen«, erzählte ich seufzend. »Bin nicht mal zum Zug gekommen.« »Ach«, meinte Christie und wirkte sichtlich unüberrascht. Sie winkte ab, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und ließ den Blick einmal durch die Mensa schweifen. »Ja, Raphael hat mir schon davon erzählt.« Ich glotzte sie sprachlos an. Sie kannte ihn? Woher? Und wie kam er dazu, ihr das zu erzählen? »Wer ist Raphael?«, wollte Fernando wissen. »Woher kennst du ihn?«, fragte ich. Christie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf uns, bevor sie sich wieder eine von Fernandos Pommes nahm. Offensichtlich war sie mal wieder zu faul, um sich selbst was zu essen zu besorgen. Anatomie büffeln — kein Problem, sich etwas zu essen holen — unmöglich. »Raphael is’ Adrians Spielpartner von gestern und ich kenn ihn aus einigen Vorlesungen«, antwortete Christie und tunkte dabei ihre Pommes in die Mayo, bevor sie sich die Kartoffel in den Mund schob. »Er studiert Medizin, hat dieses Semester erst angefangen.« »Wie alt ist er denn?« Irgendwie hatte er auf mich nicht wie ein Ersti gewirkt. Aber was Schätzungen anging, war ich sowieso so mitleiderregend miserabel, dass man mir nur sein Beileid hätte aussprechen können. »Vierundzwanzig, soweit ich weiß. Er is’n Quereinsteiger, hat vorher was anderes studiert«, meinte Christie und zuckte die Schultern. »Is’ auch neu hier in der Stadt, iss’er extra umgezogen für. Er hat’s nicht so mit Chemie und ich hab ihm meine Hilfe angeboten, falls was is’.« »Na, du bist doch sowieso der Liebling aller Erstsemester«, stellte Fernando grinsend fest. Insgeheim stimmte ich ihm dabei zu, während Christie nur die Augen verdrehte, als wäre es eine maßlose Übertreibung. Doch sie konnte nicht bestreiten, was ein unübersehbarer Fakt war: Sie war tatsächlich populär unter den Anfängern. Christie hatte ein Tutorium übernommen und schien so unwiderstehlich toll zu sein, dass sie von allen Seiten angehimmelt wurde wie eine Göttin. Nicht, dass ich es ihr vergönnte — irgendwie konnte ich die Erstis auch verstehen. Sie war zwar nicht immer ein unbeflecktes Stück Gottheit, aber dafür war Christie ein offener, umgänglicher und verständnisvoller Mensch. Irgendwie hatte sie einfach ein Händchen für andere Leute und sie hatte Talent dafür, einem Dinge auf begreiflichste Art und Weise zu erklären. Dafür bewunderte ich sie seit je her. Wenn ich nämlich versuchte, irgendeinen Erklärungsversuch zu starten, dann konnte das nur nach hinten losgehen. Das einzige, was ich Fernando und Christie idiotensicher begreiflich machen konnte, war die klassische Konditionierung nach Pawlow. (Das lag aber vermutlich auch nur daran, dass man diese Konditionierung zeichnerisch darstellen konnte …) »Du könntest ihm auch ein Privat-Tutorium anbieten«, schlug Fernando mit wippenden Augenbrauen vor. Christie warf ihm einen belustigten Blick zu, dann nahm sie ihm die Pommes, die er gerade hielt, aus der Hand und aß sie selbst auf. »Er ’s nich’ mein Typ«, erwiderte sie. »Ich steh’ auf … Latinos.« Sie sprach das letzte Wort betont aus und mit hingebungsvoller Verzückung. Dann fächerte sie sich mit einer Hand Luft zu, um zu verdeutlichen, was sie meinte. Fernando und ich lachten. Aber dann winkte Christie ab. »Nee, er is’ mir ’n bisschen zu schlaksig oder so. Aber du könntest ihm doch auch privaten Biologieunterricht vorschlagen. Vielleicht ist er interessiert«, meinte Christie und wedelte mit einer Pommes vor Fernandos Gesicht herum. Ich fasste mir an den Kopf und schüttelte ihn. Dass die beiden immer in perverse Andeutungen abdriften mussten … nahezu jede Unterhaltung beinhaltete mindestens einen dieser Abstecher. »Was macht Lydia?«, wechselte Christie schließlich das Thema und wandte sich mir zu. Lydia war meine jüngere Schwester und sie war eine Autistin. Das war unter anderen einer der Gründe, warum ich angefangen hatte, Psychologie zu studieren. Ich war damals noch ein Kind gewesen, als die Krankheit begonnen hatte, aber die Ärzte hatten immer gesagt, es sei gut, dass ich da war — es hatte wohl einen guten Einfluss auf Lydia gehabt und sie hatte sich dadurch nicht völlig abgekapselt. Trotzdem war Lydia fremden Leuten gegenüber immer sehr auf Abstand, sie konnte nicht mit ihnen allein sein ohne Panikausbrüche zu bekommen. Dafür konnte sie umso besser mit Tieren. Lydia war … gewissermaßen ein Genie. Sie konnte rasend schnell mit extrem hohen Zahlen rechnen, aber kleine Alltagsaufgaben waren unlösbar. Um das zu demonstrieren hatte ihr Arzt sie mal gefragt, wie viel sie übrig hätte, wenn sie sich von einem Euro für fünfzig Cent einen Apfel kaufe. Zwölf Euro war Lydias Antwort gewesen. Sie begriff, wenn man es ihr erklärte, aber sie konnte es einfach nicht umsetzen. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass sie ziemlich neugierig war. Sie las ein Buch nach dem anderen, angefangen bei Autobiografien über Krimis und Liebesromane zu Lyrik und Dramen bis hin zu Sach- und Fachbüchern. Einmal hatte sie sich das Telefonbuch genommen und es gelesen. Manchmal schien es mir, als könnte sie anschließend den gesamten Inhalt detailgetreu wiedergeben. Als würde sie in dem Moment, in dem sie über das Buch sprach, daraus vorlesen. »Ihr Brief ist vorhin angekommen«, sagte ich nachdenklich. »Ich hab’s aber noch nicht geschafft, ihn zu lesen. Sie war gestern im Zoo, zumindest hat sie in dem Brief von gestern angekündigt, dass sie heute in den Zoo geht. Der Umschlag war ziemlich dick, also gehe ich mal davon aus, dass sie viel zu erzählen hat.« Christie und Fernando lächelten und ich ebenfalls. Lydia schrieb mir jeden Tag einen Brief. Dabei ging es ihr nicht darum, dass ich ihr auf jeden antwortete, sondern einfach darum, mich über jeden ihrer Tage auf dem Laufenden zu halten. Jeden Tag um sieben setzte sie sich an den Tisch und begann zu schreiben — sie machte es auch, wenn ich zu Hause zu Besuch war. Dann schrieb sie aber nur über die Zeit des Tages, in der ich vielleicht gerade mit Freunden unterwegs war oder so. Es war süß, dass sie das tat. Ich freute mich über jeden ihrer Briefe. Mittwochs und sonntags telefonierten wir jeden Abend miteinander, dann fragte sie mich über meine Tage aus. Wenn ich mich dann mit ihr unterhielt, dann erinnerte sie sich an einige von meinen Erlebnissen, die ich schon fast aus meinem Gedächtnis gelöscht hatte. Es war einfach faszinierend, was Lydia sich alles einprägen konnte ohne es zu vergessen. Nach dem Mittag verabschiedeten wir uns voneinander zu unseren nächsten Vorlesungen. Zumindest taten Christie und ich das, Fernando hatte für heute sein Pensum voll, dafür war er schon seit heute früh auf den Beinen. Als ich im Vorlesungssaal saß und darauf wartete, dass die Veranstaltung begann, hörte ich eine Stimme neben mir fragen: »Ist hier noch frei?« Ich schaute auf. Neben mir stand Raphael. Der Raphael, der mich gestern chancenlos platt gemacht und über den ich eben noch gesprochen hatte. Raphael, der Medizin-Erstsemester. Der Quereinsteiger. Der Billardgott. Ich war so verblüfft, dass ich meine Tasche von dem Platz neben mir hob. »Klar«, sagte ich und stopfte sie dabei unter meinen Sitz. »Danke.« Raphael setzte sich neben mich, dann packte er sein Zeug aus. Er lächelte flüchtig in meine Richtung. Danach blieb es wieder still zwischen uns. Bis er mich am Ende der Vorlesung fragte: »Kommst du heute Abend wieder zum Billard?« ___ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)